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Nemo Klammeraffe
Alter: 38 Beiträge: 963 Wohnort: Dresden
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06.03.2016 20:00 Der Nachtfahrer von Nemo
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Zwanzig Minuten vor Mitternacht wird der ICE 1651 eintreffen. Fünf Buchseiten bleiben mir, bevor sich am Taxistand die Fahrgäste einfinden. Ich lege den Roman aufs Lenkrad, schlage ihn auf, aber kann mich nicht konzentrieren und steige aus. Der Mond rollt hinter den Bahndamm, überall Stadtrauschen wie Schlafatmen, müdes Laternenlicht rutscht vom Lack. Ein Kollege steht am Kotflügel seines Taxis und raucht, will mir eine Fluppe spendieren. Ich lehne ab wegen der verschlimmerten Diabetes. Mutter ist davon nachtblind geworden.
Seit Jahren bin ich Nachtfahrer, liebe die freien Straßen, sehe die Welt im Abblendlicht. Manchmal schaue ich nach den Sternen, als müsste ich nach ihnen navigieren, bin der Fährmann auf dem Schattenmeer. In der Stadt der Träumer sammle ich die Verlorenen, die Verstreuten, die Übriggebliebenen vom Tag, der eine fremde Straße für mich ist.
Ein drittes Taxi fährt als Verstärkung ein. In der Bahnhofshalle erschallt das Quietschen der Zugbremsen. Ich suche den Orion in der wolkenlosen Nacht, aber es ist, als habe jemand mit einem schwarzen Öllappen die Sterne weggewischt. Ich kneife die Lider zusammen, meine Augen haschen vergeblich nach Beteigeuze und Bellatrix. Es fängt also an, denke ich. Aber wo soll ich denn hin? In den Tag, auf die fremde Straße?
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Oktoberkatze Eselsohr
Alter: 58 Beiträge: 314
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06.03.2016 22:11
von Oktoberkatze
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Berührende Geschichte, hat mir gut gefallen.
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nothingisreal Bücherwurm
Beiträge: 3994 Wohnort: unter einer Brücke
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06.03.2016 23:03
von nothingisreal
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Hallo Inka/o,
gerne gelesen, schön die Gefühle des Protas eingefangen. Über Abblendlicht bin ich gestolpert und fragte mich, ob das ein Fehler sei oder gewollt. Teilweise sehr schöne Beschreibungen. Das Ende fand ich nicht perfekt, aber im Ganzen sehr schön.
Über Punktevergabe denke ich später nach.
LG NIR
Dieser Kommentar spiegelt meine persönliche Meinung wider und ist aus zeitlichen Gründen kurz und direkt gehalten - wie auch alle anderen Kommentare. Er ist auf jeden Fall nicht böse gemeint.
_________________ "Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten." - William Somerset Maugham |
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Literättin Reißwolf
Alter: 58 Beiträge: 1836 Wohnort: im Diesseits
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07.03.2016 08:22
von Literättin
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Ich will hier nicht viele Worte machen, ich vergebe für diese kleine melancholische Stadt-Nacht-Lebens-Tragik-Geschichte einfach ein paar Punkte. Punkt.
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HerbertH Klammeraffe
Beiträge: 544 Wohnort: terra sol III
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07.03.2016 10:42
von HerbertH
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neutraler kommentar, um werten zu können
_________________ schiefwinklig ist eine kunst
© herberth - all rights reserved |
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Nihil { }
Moderator Alter: 34 Beiträge: 6039
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07.03.2016 12:04
von Nihil
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Zwölf Punkte für dich, sehen halt bloß aus wie zehn.
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hobbes Tretbootliteratin & Verkaufsgenie
Moderatorin
Beiträge: 4298
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07.03.2016 22:20
von hobbes
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Auch so ein Text, der mir zu "methapherig", zu dramatisch, zu "herrje, ich bin doch wirklich der Ärmste von allen" ist. Weniger ist da mehr, in meinem Fall.
Keine Punkte.
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anuphti Trostkeks
Alter: 58 Beiträge: 4320 Wohnort: Isarstrand
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07.03.2016 22:24
von anuphti
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Eine der stilleren Geschichten von einem, der sich in der Nacht zuhause fühlt und erkennt, dass er dieses Zuhause über kurz oder lang verlieren wird.
Gleichzeitig klare medizinische Details und die Namen der Sterne im Sternbild Orion.
Damit hast Du mich gepackt!
Gerne gelesen!
5 Punkte
LG
Nuff
_________________ Pronomen: sie/ihr
Learn from the mistakes of others. You don´t live long enough to make all of them yourself. (Eleanor Roosevelt)
You don´t have to fight to live as you wish; live as you wish and pay whatever price is required. (Richard Bach) |
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KeTam Ungeduld
Alter: 49 Beiträge: 4947
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08.03.2016 12:00
von KeTam
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Platzhalter, meine subjektive Begründung, warum dieser Text unter meinen Favoriten ist, folgt.
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type Leseratte
Beiträge: 152
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08.03.2016 16:30
von type
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Jemand der die ersten Anzeichen des Alterns an sich entdeckt; na mitten aus dem Leben halt.
Und dass er auch beruflich nicht mehr flexibel reagieren kann; vielleicht nur noch die Jahre runterreißen will.
Gerne gelesen.
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Seraiya Mondsüchtig
Beiträge: 924
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08.03.2016 23:09
von Seraiya
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Hallo Inko,
Der Text hat es leider nicht in meine Top Ten geschafft. Bis jetzt kann ich beinahe jedem Text etwas abgewinnen und finde es schade, dass es so wenige Punkte zu vergeben gibt.
LG,
Seraiya
_________________ "Some people leave footprints on our hearts. Others make us want to leave footprints on their faces." |
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tronde Klammeraffe
T
Beiträge: 522
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T 08.03.2016 23:38
von tronde
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Hallo!
Wunderschöne Bilder, das Laternenlicht, das vom Lack rutscht. Melancholische Stimmung, das das wesen des Nachttaxifahrers erfaßt. Genaue Beobachtungsgabe. Aus dem poetischen reißt mich die "Fluppe".
Und noch eine weitere Erbsenzählerei:
"... vom Tag, der eine fremde Straße für mich ist."
Auch hier wirkt es auch mich zu platt im Vergleich zum Rest. Vielleicht "... vom Tag, der auf fremden Straßen fährt." ?
Auf jeden Fall oben dabei.
Grüße
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Tjana Reißwolf
Alter: 63 Beiträge: 1786 Wohnort: Inne Peerle
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09.03.2016 02:08
von Tjana
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Schön gezeichnet, das bisherige Leben und die drohende krankheitsbedingte Veränderung. Ganz ohne Lamentation.
Unbedingt Punkte
_________________ Wir sehnen uns nicht nach bestimmten Plätzen zurück, sondern nach Gefühlen, die sie ins uns auslösen
In der Mitte von Schwierigkeiten liegen die Möglichkeiten (Albert Einstein) |
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crim sex, crim & rock'n'roll
Beiträge: 1578 Wohnort: München
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09.03.2016 07:32
von crim
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Ein kurzer Einblick in das Leben eines Taxifahrers am Taxistand, kurz bevor der Zug eintrifft. Und dieser Taxifahrer wird sehr greifbar. Ich finde das ganz hervorragend, dass alles so stimmig ineinander greift, und sogar eine Stimmung mit vermittelt wird. Mit stimmig meine ich zum Beispiel die Metapher der Straße oder dass die Sterne mit einem Öllappen weggewischt sind. Das kommt direkt aus der Lebenswelt dieses Taxifahrers und unterstützt die Glaubwürdigkeit der Figur. Es wird ein wunderbarer Ton gefunden, zwischen poetisch und einfacher Klarheit. Das transportiert neben Gefühl auch gleich noch ansprechende Bilder mit. Dieser Text kann mich in seiner Gesamtheit überzeugen und deshalb landet er nur ganz knapp hinter dem ersten auf dem zweiten Platz meiner persönlicher Rangliste. 10 Punkte. Herzlichen Glückwunsch!
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Heidi Reißwolf
Beiträge: 1425 Wohnort: Hamburg
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09.03.2016 21:52
von Heidi
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Die Geschichte eines Taxifahrers zum Thema "Nachtseite" finde ich absolut passend. Mir gefällt, wie dein Protagonist zu seinem Beruf steht - seine Liebe zur Nacht und zum nächtlichen Fahren. Umso berührender empfinde ich den Schluss. Hinter den beiden Fragen verbirgt sich so etwas Existenzielles, da steckt viel drin - nicht nur etwas über den Nachtfahrer, sondern auch über das Menschsein an sich.
Du bekommst Punkte von mir.
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firstoffertio Show-don't-Tellefant
Beiträge: 5854 Wohnort: Irland
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09.03.2016 22:26
von firstoffertio
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Finde ich sprachlich schon erzählt. Und ich mag, dass das einerseits eine Art Momentaufnahme die nächtliche Situation des Taxifahrers), gleichzeitig eine Geschichte ist (der Verlust der Sehkraft, die Mutter).
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Jack Burns Reißwolf
Alter: 54 Beiträge: 1443
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09.03.2016 23:21
von Jack Burns
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Gut eingefangen; die Stimmung zwischen Arbeit und Ruhe. In Bereitschaft und trotzdem etwas Zeit zum philosophieren.
Ja. gefällt mir.
Mal sehen, wie viel Punkte es werden.
8 Punkte
_________________ Monster.
How should I feel?
Creatures lie here, looking through the windows. |
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Lapidar Exposéadler
Alter: 61 Beiträge: 2699 Wohnort: in der Diaspora
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10.03.2016 20:52
von Lapidar
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Da fühlt sich jemand wohl in der Nacht und ist gezwungen, sich zu überlegen, ob er in den Tag wechselt.
Sanft geschrieben, steckt viel dahinter.
_________________ "Dem Bruder des Schwagers seine Schwester und von der der Onkel dessen Nichte Bogenschützin Lapidar" Kiara
If you can't say something nice... don't say anything at all. Anonym. |
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Einar Inperson Reißwolf
Beiträge: 1675 Wohnort: Auf dem Narrenschiff
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11.03.2016 22:41 Re: Der Nachtfahrer von Einar Inperson
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Postkartenprosa hat Folgendes geschrieben: | Zwanzig Minuten vor Mitternacht wird der ICE 1651 eintreffen. Fünf Buchseiten bleiben mir, bevor sich am Taxistand die Fahrgäste einfinden. Ich lege den Roman aufs Lenkrad, schlage ihn auf, aber kann mich nicht konzentrieren und steige aus. Der Mond rollt hinter den Bahndamm, überall Stadtrauschen wie Schlafatmen, müdes Laternenlicht rutscht vom Lack. Ein Kollege steht am Kotflügel seines Taxis und raucht, will mir eine Fluppe spendieren. Ich lehne ab wegen der verschlimmerten Diabetes. Mutter ist davon nachtblind geworden.
Seit Jahren bin ich Nachtfahrer, liebe die freien Straßen, sehe die Welt im Abblendlicht. Manchmal schaue ich nach den Sternen, als müsste ich nach ihnen navigieren, bin der Fährmann auf dem Schattenmeer. In der Stadt der Träumer sammle ich die Verlorenen, die Verstreuten, die Übriggebliebenen vom Tag, der eine fremde Straße für mich ist.
Ein drittes Taxi fährt als Verstärkung ein. In der Bahnhofshalle erschallt das Quietschen der Zugbremsen. Ich suche den Orion in der wolkenlosen Nacht, aber es ist, als habe jemand mit einem schwarzen Öllappen die Sterne weggewischt. Ich kneife die Lider zusammen, meine Augen haschen vergeblich nach Beteigeuze und Bellatrix. Es fängt also an, denke ich. Aber wo soll ich denn hin? In den Tag, auf die fremde Straße? |
Ein Text, der uneinheitlich zwischen Poesie und Jargon, zwischen interessanten Bildern und Altbekanntem taumelt.
Es ist zu spät, die Fluppe abzulehnen, die Zukunft ist die fremde Straße.
Ein schönes Spiel mit den beiden Seiten. Hier mal die Nachtseite als die gewünschte, der Tag ist keine erstrebenswerte Alternative.
Das Thema aus einem anderen Blickwinkel, als viele Texte im Bewerb. Herauszuheben.
Auch dein Text ist einer, über den ich lange nachdenken musste, was ich damit mache. Leider hat er es dann doch nicht bis zum Orion geschafft.
_________________ Traurige Grüße und ein Schmunzeln im Knopfloch
Zitat: "Ich habe nichts zu sagen, deshalb schreibe ich, weil ich nicht malen kann"
Einar Inperson in Anlehnung an Aris Kalaizis
si tu n'es pas là, je ne suis plus le même
"Ehrfurcht vor dem Leben" Albert Schweitzer |
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HerbertH Klammeraffe
Beiträge: 544 Wohnort: terra sol III
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12.03.2016 11:38
von HerbertH
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Die Story ist zwingend und gut aufgebaut. Die sich schon länger ankündigende Nachtblindheit wird akut, die Nachtseite der Nachtfahrten, die schon lange zum Lebensinhalt wurden, zwingt auf die Tagseite des Unbekannten, Unvertrauten.
_________________ schiefwinklig ist eine kunst
© herberth - all rights reserved |
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hypnobader Eselsohr
Alter: 63 Beiträge: 420 Wohnort: Voralpen
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12.03.2016 12:31
von hypnobader
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Hat einen stimmig melancholischen touch. Gefällt mir. Manchmal ein bißchen zu gewollt poetisch (der Mond rollt, das Licht rutscht).
Punkte im mittleren Bereich.
_________________ Es gilt das gebrochene Wort |
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rieka Sucher und Seiteneinsteiger
Beiträge: 816
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12.03.2016 14:34
von rieka
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Die Szene gefällt mir. Ein Taxifahrer fürchtet, nachts nicht mehr fahren zu können und fürchtet damit den Verlust der ganz eigenen Atmosphäre dieser Nachtfahrten, in denen er sich aufgehoben, vielleicht sogar geborgen fühlt. Er fürchtet wohl auch den überrollenden Trubel des Tages.
Einige der blumigen Formulierungen behagen mir nicht so sehr. Der rollende Mond, der sich vor meinen Augen zu schnell bewegt, z.B. aber das mag ein sehr individueller Eindruck sein. Das Bild mit dem Öllappen gefiel mir wiederum gut.
Dieser Text hat es bei mir knapp nicht in die ersten Zehn geschafft. Schade.
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