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Diese Werke sind ihren Autoren besonders wichtig Social Call


 
 
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czil
Geschlecht:männlichEselsohr
C

Alter: 63
Beiträge: 399
Wohnort: Dachau


C
Beitrag27.09.2014 22:46

von czil
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Hallo CLS.

Ich finde die Reaktionen deiner Kommentatoren höchst interessant. Lieferst du hier Sätze, mit 20 Wörtern von denen um die 10 Adjektive sind und begeisterst. Selbst  bei wahren Bandwürmern!

Das ist Kunst!

Ich freu mich, dass du so schreibst. Dass dir das gelingt.
Mach weiter so!


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Christof Lais Sperl
Geschlecht:männlichKlammeraffe

Alter: 62
Beiträge: 943
Wohnort: Hangover
Der silberne Roboter


Beitrag28.09.2014 11:18
Onkel. Aus "Social Call" (Teil 3)
von Christof Lais Sperl
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Onkel
In dem hellen, hellen Garten steht ein helles, helles Haus. In dem hellen, kleinen Haus ist ein helles, helles Zimmer und Oma Gretes spitzschwarzlattiger Zaun ist schief um den Garten herumdrapiert. Zur Abwehr der Kaninchenmassen ist das Grundstück mit in stinkendem Franzosenöl getränkten Holzstäben gespickt. Halbdurchsichtige Überziehschuhe aus Gummi stehen vor der Haustür. Die freundlich helle Birke im grünzeugbepflanzten Arrangement wirkt einladend, aber vor Schlechtigkeiten bewahrende Altmütterlichkeit blickt stets besorgt, in ihrer Wirkung mehr oder weniger erfolgreich aber scheinbar gleichzeitig durch alle Fenster hinaus. Von Zeit zu Zeit gibt’s unter der Woche Kaffeekränzchen mit zum Ende hin empörten Tanten, denn der Junge hat in Sexualkunde aufgepasst und hält mit Kenntnissen nicht hinter dem Berg, wenn der ewige Storch und der Würfelzucker wieder einmal aufs Tablett gebracht werden.

Immer sonntags kam der riesenhafte norddeutsch-dürre, riesenhafte Onkel E. Der alte Mann ist ein guter Mensch und ist dies schon immer gewesen, Kind! Doch lobende Erläuterungen bedurfte der Junge nicht. Er hatte den Sonntagsonkel („schmeckt die Schule?“) sehr gemocht und fasziniert dabei zugesehen, wenn der ruhige und milde Mann nach dem üblichen Begrüßungsgebrumm immer schweigend seine Josetti- Juno-Zigaretten auf den filterlosen Stummel geraucht hatte, bis der gelbe Daumen und der Zeigefinger vor Hitze geschmerzt und fast versengt worden waren: Kriegsraucher. Manchmal hatten sie Kippen während ihres kalten Hungers auf Stecknadeln gespießt und gesaugt, bis die Reste wie bei Iwan Denissowitsch vollständig abgebrannt waren. Oder hatten auf Urlaub halb ohnmächtig nach Luft ringend im Treppenhaus gelegen und der verängstigt  und bekümmert fragenden Großmutter  „Wir rauchen uns durch Wald und Feld“ entgegengekeucht. Die dicke Oma Grete hatte dem Jungen später immer wieder vom Tabakmangel erzählt, denn die Rauchwaren hatten sie noch für die letzten Züge der an der Hauptkampflinie der Raumlosen verbliebenen Soldaten benötigt. Der Sonntagsonkel hatte sich, wie viel später dann hinter vorgehaltener Hand zu erfahren war, freiwillig zur SS gemeldet und war daher in gewisser Weise mit schuld an all dem Schlamassel aus der Dunkelheit vor dem Lichtstreifen dieses Kinderlebens, ein guter Mensch sei er, der Onkel, trotzdem immer gewesen, so hatte es  stets und wiederholt geheißen. Vielleicht, so ging die Theorie, hatte er heimlich sogar noch Leute gerettet? Nichts ist ganz schwarz oder weiß, niemand konnte sich  vorstellen, so ging die Erzählung vom guten Menschen, weshalb sie den SPD-Opa nicht wie all die anderen auch mitgenommen und zum Soldaten gemacht hatten. Zum einen war er, das ist die Einschränkung, bei Henschel kriegsrelevant beschäftigt, arbeitete also in dem Teil der Rüstungsindustrie, die den Materialnachschub für den Kampf gegen „den Russen“ fabrizierte. Und doch war er andererseits unbeugsamer Sozialdemokrat und damit auch Staatsfeind gewesen. Als „anständige Menschen“ galten die SSler zwar noch lange ganz und allesamt, bis hinein in unsere Zeit, gelten es ja immer noch, wie des Propagandaleiters geifernde, in der österreichisch zähen Weise aber langgezogen  leiernde Reinkarnation es nicht nur einmal gesagt hat. Doch nicht erst seit Grass wissen wir, dass nicht jedes Mitglied Nazi, und nicht jeder Nazi Mitglied war - Yin und Yang greifen auch hier ineinander. Der Mann aus dem land zwischen Judenburg und Jesenice aber wird sich, nebenbei gesagt, mit Jesus, seinem angeblichen Freund, über die Feinheiten unterhalten und sich in der Arschlochabteilung des Himmels noch erklären müssen, dieses furchig bejahrte, im schnellen Lebensmann-Leben aber zugleich furchtbar junggebliebene, grinsende, glattrasierte und immer wieder neugeborene Faschistengesicht: Selbst nach der Abberufung von ganz oben ist seinesgleichen noch nicht ganz totzukriegen und es fehlt nicht mehr voel zur Heiligsprechung. Haben seine „anständigen Menschen“ vereinzelt manch unbeugsamem Familienmitglied auch mal aus der Patsche geholfen? Und hatte er dies gemeint, als auf den regelmäßig stattfindenden Zusammenkünften voller alter und respektabler Jankerträger vom Rednerpult herab von Beschäftigungsprogrammen gefaselt wurde, von Arbeit auch für diejenigen, welche im Siegesfall in weiter Zukunft dann doch noch ermordet worden wären? Wer war nun gefährlicher: Ein schweigender Onkel, der den Jungen tätschelte und auf den Schoß hob - oder das rhetorisch souveräne und telegene Großmaul, das von Reservaten für Schwarze und guten Beschäftigungsprogrammen faselte? So drehten und dachten sich viel später noch im Augendrücker all die Fragen, auf die niemand eine Antwort wusste.

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MosesBob
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Beiträge: 18339

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Beitrag28.09.2014 12:20

von MosesBob
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Mahlzeit! smile

Ich habe mir erlaubt, diesen Teil an die Flaschenpost zu knüpfen. Für mehrteilige Werke, Fortsetzungen und neue Versionen sehen wir im Forum immer einen Thread vor: klick & klick

Schönen Sonntag und beste Grüße,

Martin


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Das Leben geht weiter – das tut es immer.
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rieka
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Beiträge: 816



Beitrag29.09.2014 20:18

von rieka
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@ Christof,
Die Kritik deines sprachgewandten Textes überlasse ich den Routiniers des Forums.
Lediglich auf meine Kritik vom 13/09/2014 beziehe ich mich nochmal.
Zitat:
Eins ist mir nicht klar. Spricht der Protagonist neben sich stehend über sich selbst, oder gibt es einen Erzähler, der über den Protagonisten spricht. Ich erlebe es so, als würdest du beide Formen hin und her springen lassen.
Beim Lesen deines jetzigen Textes habe ich nicht mehr den Eindruck als würdest du springen. Ich kann dem Erzähler jetzt problemlos folgen.
Grüße
rieka
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firstoffertio
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Beitrag30.09.2014 00:18

von firstoffertio
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Mich zieht das rein. Wenn auch vielleicht ein bisschen viele Adjektive drin sind. Das macht deine Schreibweise sehr dicht, zusammen mit der oft konzentrierten Syntax.

Aber ich finde es interessant, wie du Dinge zu komprimieren weißt, für die andere mehrere Sätze beanspruchen würden, z.B.:

Zitat:
Im desinterssiert wandernden Blick sieht er nebenbei, wie jemand mit kräftigem Schwung eine Autotür zuwirft.


Inhaltlich macht mich das neugierig, weiterzulesen.
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Lorraine
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Beitrag30.09.2014 14:49

von Lorraine
Antworten mit Zitat

Hallo Christof Lais Sperl,
Zu "Flaschenpost. Verbesserte Version"

Ein wenig umständlich, beide Versionen miteinander zu vergleichen. Du hast zB hier:

Zitat:
So dachten sich in ihm trübselige Gedanken die solcherart gingen, dass [...]
einen der längeren Sätze zweigeteilt, was dem Verständnis entgegen kommt. Ich zitiere diese Stelle jedoch deshalb, weil sie mir schon in der ersten Version als Schlüsselstelle aufgefallen ist.

In dem Jungen spielt sich sehr viel ab, es finden gedankliche Auseinandersetzungen und Analysen statt, die in krassem Gegensatz zu dem stehen, wie er offensichtlich von den ihn umgebenden Mit- bzw Gegenmenschen beurteilt wird (>"wenig begabt"). Insofern passte für mich - auch im Nachhinein - die Wahl des Ausdrucks: "Gedanken dachten sich (in ihm)", der mir beim ersten Lesen aufgefallen war.
Mir stellt sich das Folgende dadurch zwar als eher unbewusstes Analysieren dar, aber ich kann dadurch ein Potential dieses Jungen erspüren, dessen er sich nur schwach bewusst ist, gleichzeitig kann ich erahnen, dass seine weitere Entwicklung von einer bis jetzt sehr negativen Erwartungshaltung gegenüber der Zukunft geprägt sein wird. Das macht die Frage nach dem Weg dorthin sehr spannend.

Es gibt zwei Stellen im Text, die mir Probleme bereiten:

Zitat:
Ihren Blick in seine Gedankenwelt hielt er nur bei bestimmten und oft wiederkehrenden Zuständen tiefer Müdigkeit für möglich.
Ich sehe hier einen Widerspruch zwischen "nur" und "oft". Das "nur" bereitet mich auf eher seltene Gelegenheiten des Einblicks vor, dann aber sehe ich, dass sie "oft" auftreten (?). Ich frage mich hier, was du gemeint hast.

Zitat:
während er in den Spiegel sah, aber dennoch dem Genuß wohligen Nervenkitzels nicht widerstehen konnte, das Abbild täglich in Gänsehaut aus rundem gerahmtem Abbild zu betrachten,

Dieser Satz ergibt für mich keinen Sinn, wie ich ihn auch drehe und wende. Er blickt mittels eines einen Spiegels in einen anderen? Oder betrachtet er ein Foto von sich selbst (Kind, frierend, im Urlaub an der See?) Wie auch immer, mir käme es entgegen, wenn in dieser Konstruktion Klarheit geschaffen würde, vielleicht lese ich aber einfach nur "falsch"?

Insgesamt wird hier ein (im Sinne der möglichen Entwicklungen) ein interessanter Charakter gezeigt, ich kann mir den Jungen auch gut vorstellen und gehe von einem  - durch die pubertären Strukturveränderungen ausgelösten - etwas verzerrten Selbstbild des Schülers aus. (Und wie gut seine Zustände im stickigen  Klassenzimmer nachzuvollziehen sind! Er braucht definitiv Ablenkung ...)

Soviel zu diesem Teil, den ich schon im Einstand mit einiger Bewunderung gelesen habe. (Genuß, jetzt mit zwei "s", oder?)
Einen Gruß,
Lorraine
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Rainer Zufall
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

Alter: 70
Beiträge: 801

Pokapro und Lezepo 2014


Beitrag30.09.2014 17:30

von Rainer Zufall
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Hallo Christof,
hab den zweiten Teil zwar schon vor längerer Zeit gelesen, komme aber erst heute dazu, was dazu zu schreiben.

Aber erst mal zu der Zusammenfügung der beiden Teile.
Zum ersten Teil schreibe ich nichts mehr an inhaltlicher Textarbeit. Hab ja schon ausführlich kommentiert und andere auch. Und du hast es so überarbeitet, wie es dir richtig erscheint. Und so soll es ja auch sein.  
Der Zusammenhang ist mir allerdings noch nicht so klar. Momentan wirkt es noch wie zwei Momentaufnahmen von Charakteren, die aber unverbunden nebeneinanderstehen. Ein beiden gemeinsames "Oberthema" ist wohl "social call", wenn ich dich richtig verstehe. Was aber der Junge und der Mann in der Telefonzelle miteinander zu tun haben, verstehe ich noch nicht. Soll das beide Male derselbe sein? Naja, ich warte mal ab und hab Geduld, was das mit der Befreiung wird.

Textarbeit hab ich trotzdem. smile extra
Grundsätzlich wollte ich aber mal vorwegschicken, dass mir der Fernsprecher wesentlich besser gefiel als der erste Text über den Jungen.
Und bitte bitte sag nie wieder, du würdest gerne schreiben wollen wie ich, ich sag nämlich umgekehrt das gleiche smile extra Trotz all meines Gemeckers!
Hab deine nette Antwort auf meine Geschichte erst jetzt gesehen, sorry also, dass ich nicht geantwortet habe, mach ich aber noch, wenigstens kurz.

Zitat:
Es ist ein Friedwald am Rande der Stadt.
Eine Aschenwolke liegt in seiner Erde. Darin wächst ein Baum. Ascheteilchen sind schon in seinen Wurzelkanälen aufgestiegen; allmählich zerschmilzt die unterirdische Wolke und bildet, nur für sich allein betrachtet, das innere Abbild der großen Pflanze, in die sie eingezogen ist.

Sehr schönes Bild. Klar, ich habe noch keine Ahnung, welche Bedeutung es hat, aber als Metapher gefällt es mir und ich kann mir auch vorstellen, dass es als Leitmotiv taugt.
Das Fette würd ich wieder rausschmeißen. Und zwar nicht nur, weil es eine Info ist, von der man nicht weiß, was sie soll, sondern weil es auch deinen schönen Rhythmus unterbricht. Durch die Aneinanderreihungen vorher hast du einen Sog hergestellt, ähnlich wie bei der Zsuzsa Bank kriegst du es da hin, dass der Satz lang ist, rhythmisiert ist und dennoch verständlich. Die Einfügung unterbricht den Fluss.

Zitat:
Umständlich soll er’s tun! Dies ist eine einfache Geschichte. Denn ohne Talent kann nichts wirklich Gutes geschrieben werden und in Groschenromanen wird alles nun einmal wortreich getan. Das bringt Zeilenhonorar und nebenbei das klapprige Satzgerippe in den richtigen Takt. Die Geschichte wird länger und wirkt, als wäre sie in Zeitlupe getaucht.

Oh Nein, das ist super formuliert, auch schön ironisch. Ja. Aber brauchst du das denn wirklich für deine Geschichte? Mittlerweile kriege ich den Eindruck, jeder zweite Text ist ein Metatext über das Schreiben selbst. Oder enthält zumindest Ansätze dazu.  Einmal find ich das ja auch ganz lustig, auch zweimal. Aber irgendwann kommts einem so vor, als würden Autoren dauernd dieselbe schicke Suppe aufwärmen.
Sorry, jetzt kriegst du das ab, was ich schon immer wieder mal denke. Aber dauernd diese Schreibmetatexte, ooaach, wenn soll das denn interessieren außer Leuten, die selbst schreiben.
Gut, aber ich warte mal ab, was du daraus machst.
Davon ab, wirkt die Aussage auf mich widersprüchlich. Wie z. B. Ist die Bemerkung denn ohne Talent kann nichts wirklich Gutes geschreiben werden einzuordnen oder zu verstehen. Sie wirkt wie ein Gegensatz zu dem Groschenroman. Denn die meisten Leute denken nun mal, das Schreiben von Groschendingens wäre einfach.  

Zitat:
Im desinterssiert wandernden Blick sieht er nebenbei, wie jemand mit kräftigem Schwung eine Autotür zuwirft. Ein grauer Mittfünfziger lässt, noch während sich das satte Schließgeräusch ausbreitet, den wichtigtuerischen Blick bilanzierend über die hügelig gewellte Masse der im Nieselregen dampfenden Blechdächer schweifen. Er tut dies um festzustellen, ob zufällige Passanten seine Mondvisage mit der schweren, schwarzen Karosse in Verbindung gebracht haben.

Desinteressiert -Tippfehler
Er tut dies, um – Komma vergessen
Blick ist doppelt und gefällt mir hier als Wiederholung nicht, du könntest den ersten Satz genausogut so schreiben: Er sieht nebenbei, wie ...  Denn auch nebenbei und desinteressiert wandernd sind Verdopplungen.
bilanzierend würde ich rausschmeißen. Oder wichtigtuerisch aus dem Satz davor. Beides  ist mir einfach zuviel des Guten. Vor allem erklärst du im Satz danach eh nochmal, dass er bilanziert. Und aus all dem kommt eh raus dass er wichtigtuerisch ist.
Ich weiß schon, wir sind uns nicht immer einig, was Redundanzen betrifft. Ich bin auch nicht prinzipiell dagegen, redundant zu sein, kommt halt auf Text und Zweck und Intention und persönlichen Stil an. Aber ein kritisches Mustern kann dem Text nichts schaden.

Zitat:
Den durch das satte Zuschlagen ausgelösten, fordernd forschenden aber dennoch von ihm  fast beiläufig kurz gehaltenen Blickkontakt mit der augenscheinlich glotzenden Umwelt wertet der Graue als respektvolle Anerkennung desjenigen, der es nicht nur in der Hierarchie der Kreditwürdigen geschafft hat. Es sogar geschafft hat KOMMA zu denen zu zählen, die gehört und gesehen werden, obwohl sie oft nicht viel zu sagen haben.

Erst mal, ich würde schreiben in die Hierarchie der Kreditwürdigen. Aber das ist eine Kleinigkeit und vermutlich eine Frage des Maßstabs. Den ersten Satz finde ich aufgebläht, da kann eine Menge raus. Warum? Nicht nur, dass es redundant ist, ich finde es hier auch in die eigenen Formulierungen verguckt, zu sehr nach dem Motto, immer noch einmal einen drauf, da geht noch was und aus meiner Sicht leiden die eigentlich gute Idee und das gute Timing.
Und wer bewertet das zum Schluss, das ist für mich wieder der Frage, ob du wirklich so viel Wert legst auf den auktorialen Erzähler.
Man könnte es so machen, da hab ich wirklich nur die für mich ganz unnötigen und blähenden Wörter rausgenommen, um dir nicht deine Intention kaputt zu machen.
Ich finde es eh etwas schwer, wenn man den Zusammenhang der Teile gar nicht kennt, eine profunde Textktitik zu machen. Womöglich würde ich in der Kenntnis aller wichtiger Teile den Dicken ganz rausschmeißen. smile
Den durch das satte Zuschlagen ausgelösten, fordernden, dennoch fast beiläufig kurz gehaltenen Blickkontakt mit der glotzenden Umwelt wertet der Graue als respektvolle Anerkennung desjenigen, der es nicht nur in die Hierarchie der Kreditwürdigen geschafft hat. Es sogar geschafft hat, zu denen zu zählen, die gehört und gesehen werden, obwohl sie nicht viel zu sagen haben.

Zitat:
Der Mann in der Fernsprechzelle hat in all seiner Gleichgültigkeit für belanglosige Prahlerei den Blick ganz schnell gesenkt.

Belanglosige??? Du meinst Belanglose. Oder?
Und ich würde es eh rausschmeißen. Nee, ohne finde ich es schöner.

Zitat:

Eine Geste, die der blitzschnell beobachtende Wichtigmann als verschämtes Eingeständnis der Unterlegenheit des Gegenübers mißinterpretiert, ein triumphierendes Fehlurteil, das seinem guten Befinden dem vermeintlichen Schwanzeinzieher und dem Selbst gegenüber sehr zuträglich ist.

Missinterpretiert muss man übrigens schreiben. Das i ist kurz, also ss.
Des Gegenübers würd ich wieder raustun – von wem sonst?

Zitat:
Wohin man auch blickt, es ist doch immer falsch! resümiert der Mann im Mantel, der langsam und gründlich sein Geld  in den Münzschlitz wirft, das auf seinem Weg nach unten einen Katarakt metallisch klingender Reaktionen auslöst.

Cool
Das find ich eine richtig richtig gute Stelle

Zitat:
Er hört dem klingelnden Rasseln bis zum Ende zu, zündet sich eine der Zigaretten an, und ein langgezogener Klang bedächtig  pirschender, schwerer, nasser Kieswegschritte zischelt hinauf zu einem tiefen, ersten Lungenzug.

Ja, da waren so viel begeistert von dem Satz. Er klingt ja auch gut. Aber ein Problem macht er mir trotzdem. Ich frage mich nämlich sofort, wessen Schritte das sein sollen. Er selbnst ist es nicht, er steht in der Zelle. Ist es der Dicke? Wieso soll der selbstgerechte Sack auf einmal pirschen? Wer pirscht denn da? Jemand Neues? Also das würd ich schon dazuschreiben, dass jemand vorbeiläuft. Dafür aber pirschender und nasser raus. Das Verhaltene und der Sog der Zigarette bleiben immer noch gut dabei.

Schwierigkeiten hatte ich auch mit den berichtenden Ausführungen über die Nikotin- und Suchtwirkungen. Ich hab dann später gelesen, dass dir das aus irgendeinem Grund wichtig ist. Der kann sich mir wohl noch nicht offenbaren. Aber ganz prinzipiell für ich die Beschreibung hier mehr auf den Mann zuschneidern und auf die spezielle Situation. Man merkt dann immer noch, dass er nikotinsüchtig ist und den Beobachter oder Aktor im Schädel hat.  Deine Beschreibung aber wirkt oft so  wie eine allgemeine Berichterstattung über Zigaretten, du wechselst dadurch plötzlich das Thema und gehst aus dem Geschehen raus, das fand ich total schade und du unterbrichst auch die Beobachtung und die Szenerie, die sich dem Leser aufgetan hat. Bleib an dem Mann dran, indem du Verallgemeinerungen rausnimmst. Ganz besonders ungut kam das mit den Erkältungszeiten. Das würde ich völlig rausdotzen.
  
Zitat:
Und noch bevor der sich am anderem Ende befindliche, aus dem Schlaf aufgeschreckte alte Mann versuchen kann, aus der monotonen Stimme des nächtlichen Quälgeistes Rückschlüsse auf ihren Besitzer zu ziehen und sich der noch gültigen Regel entsprechend mit seinem Namen zu melden, hebt die Fernsprecherstimme an, unterbrechungslos und unabwendbar, ganz ohne Platz für Einwürfe in einem milden, doch bestimmten Befehlston zu sprechen.

Die Stimme klingt  nach der eintönig und luftlos wimmernden sonntäglichen Betlitanei süddeutscher Radioprogramme (Frucht deines Leibes und so weiter), und, da sie so tief und dunkel ist, auch ein wenig nach dem nur vom typischen Xylophongeklingel unterbrochenen Sprechpartrhythmus aus Zappas Meisterstück I’m the slime. Ihre Rede ist gut vorbereitet,  hört sich aber nicht so an, als würde bloß vorgelesen.

Okay, wer Zappa kennt, kriegt von mir gleich mal drei goldene Sterne. smile
Aber mit der Stimme übetrreibst du es. Sie hat vorher einen Befehlston, später kann der Alte sich der Überzeugungskraft der Stimme nicht entziehen. Das passt überhaupt nicht zu wimmern. Eine luftlos wimmernde Stimme hat die Überzeugungskraft eines vergessenen, vertrockneten  Wurstzipfels

Zitat:
Er hat einen Klang mit der Wirkung eines Magnetfeldes, Macht, ihn in der Art eines Therapeuten zu verhören um mit aggressivem Stimulus möglichst viel an Response aus der dunklen Seele des Alten herauszuholen

Hier benutzt du zwei Beispiele, um die Macht der Stimme zu zeigen. Wenn man das macht, sollten die Beispiele sich aber steigern, nicht in der Reihe abgeschwächt werden.
Das Magnetfeld finde ich sehr stark. Und es ist eindeutig stärker als ein Therapeut.  
Zu dem Therapeuten noch: Ich weiß zwar, was du mit dem Bild sagen willst, vielleicht sehe ich das sogar ähnlich wie du (zumindest bei machen Therapeuten), aber als allgemeingültiges Bild finde ich es nichht so passend. Viele, viele Leute werden einen Therapeuten nicht als Verhörer noch als agressive Stimuli benutzend sehen. Also würde ich a lieber einen anderen, eher inqisitorisch wirkenden Fragsteller als Beispiel verwenden.
Und dunkle Seele des Alten. Also das dunkle gefällt mir hier gar nicht, ist mir zu vordergründig behauptend, und zu klischeehaft. Also zu oft benutzt.

Ja. Wieder viel Geerbe und Gezähle. Such dir raus, was du magst. Du hast so viele Ideen für coole Bilder und Abläufe, du musst die Schraube der Redundanz und der Formulierungsblüte nicht bis zum Anschlag drehen.
Bin gespannt, was noch alles so kommt. Bevor ich den neuen Teil lese, der jetzt hinter der alten Flaschenpost steht, wollte ich noch mal wissen, an welche Stelle dann Onkel kommt.

Also … bis die Tage und lass es dir gut gehen.
Zufall
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Einar Inperson
Geschlecht:männlichReißwolf


Beiträge: 1675
Wohnort: Auf dem Narrenschiff


Beitrag02.10.2014 23:05

von Einar Inperson
Antworten mit Zitat

Hallo Christof,

ich will mal den Onkel hochpushen, damit er nicht ganz untergeht. Vielleicht meldest du Moses, dass er alle drei Teile zusammenführen soll?

Beispielhaft habe ich einmal kleinere Tippfehler markiert, hier und da würde ich ein Komma anders setzen.

Christof Lais Sperl hat Folgendes geschrieben:
Onkel
In dem hellen, hellen Garten steht ein helles, helles Haus. In dem hellen, kleinen Haus ist ein helles, helles Zimmer und Oma Gretes spitzschwarzlattiger Zaun ist schief um den Garten herumdrapiert. Zur Abwehr der Kaninchenmassen ist das Grundstück mit in stinkendem Franzosenöl getränkten Holzstäben gespickt. Halbdurchsichtige Überziehschuhe aus Gummi stehen vor der Haustür. Die freundlich helle Birke im grünzeugbepflanzten Arrangement wirkt einladend, aber vor Schlechtigkeiten bewahrende Altmütterlichkeit blickt stets besorgt, in ihrer Wirkung mehr oder weniger erfolgreich aber scheinbar gleichzeitig durch alle Fenster hinaus. Von Zeit zu Zeit gibt’s unter der Woche Kaffeekränzchen mit zum Ende hin empörten Tanten, denn der Junge hat in Sexualkunde aufgepasst und hält mit Kenntnissen nicht hinter dem Berg, wenn der ewige Storch und der Würfelzucker wieder einmal aufs Tablett gebracht werden.

Immer sonntags kam der riesenhafte norddeutsch-dürre, riesenhafte  ? Ist die Wiederholung hier auch Absicht? Sie scheint mir anders als oben, nicht zu passen. Onkel E. Der alte Mann ist ein guter Mensch und ist dies schon immer gewesen, Kind! Doch lobende Erläuterungen bedurfte der Junge nicht. Er hatte den Sonntagsonkel („schmeckt die Schule?“) sehr gemocht und fasziniert dabei zugesehen, wenn der ruhige und milde Mann nach dem üblichen Begrüßungsgebrumm immer schweigend seine Josetti- Juno-Zigaretten auf den filterlosen Stummel geraucht hatte, bis der gelbe Daumen und der Zeigefinger vor Hitze geschmerzt und fast versengt worden waren: Kriegsraucher. Manchmal hatten sie Kippen während ihres kalten Hungers auf Stecknadeln gespießt und gesaugt, bis die Reste wie bei Iwan Denissowitsch vollständig abgebrannt waren. Oder hatten auf Urlaub halb ohnmächtig nach Luft ringend im Treppenhaus gelegen und der verängstigt und bekümmert fragenden Großmutter „Wir rauchen uns durch Wald und Feld“ entgegengekeucht. Die dicke Oma Grete hatte dem Jungen später immer wieder vom Tabakmangel erzählt, denn die Rauchwaren hatten sie noch für die letzten Züge der an der Hauptkampflinie der Raumlosen verbliebenen Soldaten benötigt. Der Sonntagsonkel hatte sich, wie viel später dann hinter vorgehaltener Hand zu erfahren war, freiwillig zur SS gemeldet und war daher in gewisser Weise mit schuld an all dem Schlamassel aus der Dunkelheit vor dem Lichtstreifen dieses Kinderlebens, ein guter Mensch sei er, der Onkel, trotzdem immer gewesen, so hatte es stets und wiederholt geheißen. Vielleicht, so ging die Theorie, hatte er heimlich sogar noch Leute gerettet? Statt Leute erschien mir Menschen noch stärker. Nichts ist ganz schwarz oder weiß, niemand konnte sich vorstellen, so ging die Erzählung vom guten Menschen Christologischer Begriff bei Bonhoeffer, in Verbindung mit dem folgenden Jesus ganz stark., weshalb sie den SPD-Opa nicht wie all die anderen auch mitgenommen und zum Soldaten gemacht hatten. Zum einen war er, das ist die Einschränkung, bei Henschel kriegsrelevant beschäftigt, arbeitete also in dem Teil der Rüstungsindustrie, die den Materialnachschub für den Kampf gegen „den Russen“ fabrizierte. Und doch war er andererseits unbeugsamer Sozialdemokrat und damit auch Staatsfeind gewesen. Als „anständige Menschen“ galten die SSler zwar noch lange ganz und allesamt, bis hinein in unsere Zeit, gelten es ja immer noch, wie des Propagandaleiters geifernde, in der österreichisch zähen Weise aber langgezogen leiernde Reinkarnation es nicht nur einmal gesagt hat. Doch nicht erst seit Grass wissen wir, dass nicht jedes Mitglied Nazi, und nicht jeder Nazi Mitglied war - Yin und Yang greifen auch hier ineinander. Der Mann aus dem land zwischen Judenburg und Jesenice aber wird sich, nebenbei gesagt, mit Jesus, seinem angeblichen Freund, über die Feinheiten unterhalten und sich in der Arschlochabteilung des Himmels noch erklären müssen, dieses furchig bejahrte, im schnellen Lebensmann-Leben aber zugleich furchtbar junggebliebene, grinsende, glattrasierte und immer wieder neugeborene Faschistengesicht: Selbst nach der Abberufung von ganz oben ist seinesgleichen noch nicht ganz totzukriegen und es fehlt nicht mehr voel zur Heiligsprechung. Haben seine „anständigen Menschen“ vereinzelt manch unbeugsamem Familienmitglied auch mal aus der Patsche geholfen? Und hatte er dies gemeint, als auf den regelmäßig stattfindenden Zusammenkünften voller alter und respektabler Jankerträger vom Rednerpult herab von Beschäftigungsprogrammen gefaselt wurde, von Arbeit auch für diejenigen, welche im Siegesfall in weiter Zukunft dann doch noch ermordet worden wären? Wer war nun gefährlicher: Ein schweigender Onkel, der den Jungen tätschelte und auf den Schoß hob - oder das rhetorisch souveräne und telegene Großmaul, das von Reservaten für Schwarze und guten Beschäftigungsprogrammen faselte? So drehten und dachten sich viel später noch im Augendrücker all die Fragen, auf die niemand eine Antwort wusste.


In diesem Textteil gibt es in meinem Lesen stärkere (grün: als Beispiel)und schwächere (braun: Beispiele)Passagen.

Aus den braun markierten Stellen höre ich den Empörungsschrei heraus, allerdings wirken sie auf mich mehr als Kommentare im Text, die, so scheint es mir, der Text nicht nötig hat. Ob die Stellen als echter Schrei, gegen jemanden / etwas angeschrieen vielleicht besser wirken?


_________________
Traurige Grüße und ein Schmunzeln im Knopfloch

Zitat: "Ich habe nichts zu sagen, deshalb schreibe ich, weil ich nicht malen kann"
Einar Inperson in Anlehnung an Aris Kalaizis

si tu n'es pas là, je ne suis plus le même

"Ehrfurcht vor dem Leben" Albert Schweitzer
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Christof Lais Sperl
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Der silberne Roboter


Beitrag03.10.2014 09:23
Onkel 2.0
von Christof Lais Sperl
Antworten mit Zitat

Nach konstruktiver Ktitik habe ich eine neue Onkel-Version geschrieben:

Onkel
In dem hellen, hellen Garten steht ein helles, helles Haus. In dem hellen, kleinen Haus ist ein helles, helles Zimmer und Oma Gretes spitzschwarzlattiger Zaun ist schief um den Garten herumdrapiert. Zur Abwehr der Kaninchenmassen ist das Grundstück mit in stinkendem Franzosenöl getränkten Holzstäben gespickt. Halbdurchsichtige Überziehschuhe aus Gummi stehen vor der Haustür. Die freundlich helle Birke im grünzeugbepflanzten Arrangement wirkt einladend, aber vor Schlechtigkeiten bewahrende Altmütterlichkeit blickt stets besorgt, in ihrer Wirkung mehr oder weniger erfolgreich aber scheinbar gleichzeitig durch alle Fenster hinaus. Von Zeit zu Zeit gibt’s unter der Woche Kaffeekränzchen mit zum Ende hin empörten Tanten, denn der Junge hat in Sexualkunde aufgepasst und hält mit Kenntnissen nicht hinter dem Berg, wenn der ewige Storch und der Würfelzucker wieder einmal aufs Tablett gebracht werden.

Immer sonntags kam der norddeutsch-dürre Onkel E. Der alte Mann ist ein guter Mensch und ist dies schon immer gewesen, Kind! Doch lobende Erläuterungen bedurfte der Junge nicht. Er hatte den Sonntagsonkel („schmeckt die Schule?“) sehr gemocht und fasziniert dabei zugesehen, wenn der ruhige und milde Mann nach dem üblichen Begrüßungsgebrumm immer schweigend seine Josetti- Juno-Zigaretten auf den filterlosen Stummel geraucht hatte, bis der gelbe Daumen und der Zeigefinger vor Hitze geschmerzt und fast versengt worden waren: Kriegsraucher. Manchmal hatten sie Kippen während ihres kalten Hungers auf Stecknadeln gespießt und gesaugt, bis die Reste wie bei Iwan Denissowitsch vollständig abgebrannt waren. Oder hatten auf Urlaub halb ohnmächtig nach Luft ringend im Treppenhaus gelegen und der verängstigt  und bekümmert fragenden Großmutter  „Wir rauchen uns durch Wald und Feld“ entgegengekeucht. Die dicke Oma Grete hatte dem Jungen später immer wieder vom Tabakmangel erzählt, denn die Rauchwaren hatten sie noch für die letzten Züge der an der Hauptkampflinie der Raumlosen verbliebenen Soldaten benötigt. Der Sonntagsonkel hatte sich, wie viel später dann hinter vorgehaltener Hand zu erfahren war, freiwillig zur SS gemeldet und war daher in gewisser Weise mit schuld an all dem Schlamassel aus der Dunkelheit vor dem Lichtstreifen dieses Kinderlebens, ein guter Mensch sei er, der Onkel, trotzdem immer gewesen, so hatte es  stets und wiederholt geheißen. Vielleicht, so ging die Theorie, hatte er heimlich sogar noch Menschen gerettet? Nichts ist ganz schwarz oder weiß, niemand konnte sich  vorstellen, so ging die Erzählung vom guten Menschen, weshalb sie den SPD-Opa nicht wie all die anderen auch mitgenommen und zum Soldaten gemacht hatten. Zum einen war er, das ist die Einschränkung, bei Henschel kriegsrelevant beschäftigt, arbeitete also in dem Teil der Rüstungsindustrie, die den Materialnachschub für den Kampf gegen „den Russen“ fabrizierte. Und doch war er andererseits unbeugsamer Sozialdemokrat und damit auch Staatsfeind gewesen. Als „anständige Menschen“ galten die SSler zwar noch lange ganz und allesamt, bis hinein in unsere Zeit, gelten es ja immer noch, wie des Propagandaleiters geifernde, in der österreichisch zähen Weise aber langgezogen  leiernde Reinkarnation es nicht nur einmal gesagt hat. Doch nicht erst seit Grass wissen wir, dass nicht jedes Mitglied Nazi, und nicht jeder Nazi Mitglied war - Yin und Yang greifen auch hier ineinander. Du, Mann aus dem Land zwischen Judenburg und Jesenice, aber wirst dich, nebenbei gesagt, mit Jesus, deinem angeblichen Freund, über die Feinheiten unterhalten und sich in der alleruntersten Schublade des Himmels noch erklären müssen, du furchig bejahrtes, im schnellen Lebensmann-Leben aber zugleich auch furchtbar junggebliebene, glattrasiertes immer wieder neugeborenes Grinsegesicht: Selbst nach der Abberufung von ganz oben ist deinesgleichen noch nicht ganz totzukriegen und es fehlt nicht mehr viel zu deiner Heiligsprechung. Haben deine „anständigen Menschen“ vereinzelt manch unbeugsamem Familienmitglied auch mal aus der Patsche geholfen? Und hattest du dies gemeint, als auf den regelmäßig stattfindenden Zusammenkünften voller alter und respektabler Jankerträger vom Rednerpult herab von Beschäftigungsprogrammen gefaselt wurde, von Arbeit auch für diejenigen, welche im Siegesfall in weiter Zukunft dann doch noch ermordet worden wären? Wer war nun gefährlicher: Ein schweigender Onkel, der den Jungen tätschelte und auf den Schoß hob - oder das rhetorisch souveräne und telegene Großmaul, das von Reservaten für Schwarze und guten Beschäftigungsprogrammen sprach? So drehten und dachten sich viel später noch im Augendrücker all die Fragen, auf die niemand eine Antwort wusste.


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Einar Inperson
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Beitrag03.10.2014 09:40

von Einar Inperson
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Hallo Christof,

gefällt mir viel besser.

Ach übrigens: Den ersten, ersten Absatz finde ich sehr gelungen.


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Traurige Grüße und ein Schmunzeln im Knopfloch

Zitat: "Ich habe nichts zu sagen, deshalb schreibe ich, weil ich nicht malen kann"
Einar Inperson in Anlehnung an Aris Kalaizis

si tu n'es pas là, je ne suis plus le même

"Ehrfurcht vor dem Leben" Albert Schweitzer
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Christof Lais Sperl
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Beitrag05.10.2014 12:42
Fernsprecher 2 aus "Social Call" Teil 3, 5.10.14
von Christof Lais Sperl
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Fernsprecher 2
Wie du lange schon weißt, wird das Geleut weder aufmerksam auf dich, noch will es deine Meinung gelten lassen, so hatte der Sprecher im Mantel begonnen. Und weil so er gnadenlos unverstellt, Art und Zeit des Anrufes so außergewöhnlich waren, wirkte er nach anfänglichem Erstaunen wohltuend auf den Altgewordenen, denn der hatte schon so lange auf seiner vergilbten Bude gehockt, dass sie ihm blass und fad geworden, sein verrauchter Tagesablauf zu einer vom Laschor geknüpften Kette von immer wieder in aller Antriebslosigkeit zu verrichtenden Routinehandlungen verkümmert war, derer er sich längst nicht mehr erfreut, sondern nur zur gleichen Uhrzeit täglich noch hinter sich gebracht wissen wollte. Doch schon begann der Alte nach der willkommenen Abwechslung zu gieren, hatte sogar die Gardinen zur Seite gezogen, das flach einfallende Sonnenlicht des nahenden Frühlings durchteilte draußen den Nebel, im Zimmer die Schichten der Rauchschwaden, er hatte ganz gegen seine Gewohnheit sogar noch ein Fenster geöffnet, und nicht schnell genug ging ihm das polternde Stakkato der fernmündlichen Darbietung:

Deine müden Gedanken und blassen Überzeugungen sind der öffentlichen Diskussion nicht würdig, so war der Sprecher fortgefahren, du spürst es, leidest daran, ist es nicht so? Merkst  du noch, wie deine zaghaften Einwurfversuche mit der Überheblichkeit der Dummen nur unvollständig verborgen mit vorgehaltener Hand belächelt werden? Du liegst darüber quälend lange Nächte wach, kannst vor Wut nicht schlafen wenn Aufregung und  Racheverlangen die Luftröhre auf und ab kriechen, und unablässig tanzende Denkschleifen dich daran erinnern, wie sie hinter deinem Rücken wieder abgelacht haben. Wie scharfer Alkohol, der die Brust herunterbrennt, fühlt sich das laut schimpfende und immergleich mühlenhaft argumentierende Kreisen der Hirngespinste an. Auf und ab. Die Imaginationskringel wirbeln im Rausch immer weiter um sich selbst, drehen sich mit dir, in dir, reißen dich mit, durchstechen das Gemüt und ersticken bessere Gedanken. Nur mit der Hand an der Wand und dem Fuß auf dem Boden kannst du den reißenden Strudel noch ein wenig bremsen.

Am Morgen kommt die Angst vor der schmerzhaft pochenden Unwucht im Kopf, die durch das dumme, stumpfe und übermüdete Bewusstsein dringt und dazu, als sei all das nicht schon genug, ihre Lieblingsparolen keift: Alphamännchen bist du nicht, sondern ein bizarr geformter Zweig an den Ästen der Evolution, genau so wie es im „Mann ohne Eigenschaften“ steht. Bei dir ist’s allerdings noch schlimmer als bei Musil, denn du bist nichts weiter als ein grotesker Metallklumpen, der beim Bleigießen auf der Betriebsfeier eines besoffen grölenden und kreischenden Schicksalsmanagements entstanden sein muss. Schwach, ungelenk und ungeschickt. Daher Tag und Nacht die Gedankengedanken, in immer rascherer Folge, samt Schweißausbrüchen und Bettgewälz. Ein Charäkterlein, dem unter dem frühen Einfluss küchenfeministischer Maßregelung auch noch das zum Erfolg unentbehrliche Quäntchen frecher Bosheit fehlt. Ein Etwas ohne Gerissenheit, ein Weichei, Mappi, lebendes Fragezeichen. Und, entschuldige, wer wie du auch noch ein wenig dumm, jedenfalls nicht wirklich schlau ist, sollte zum Ausgleich doch wenigstens ein wenig ansehnliche T-Shirt-Körperlichkeit und einen symmetrischen Quadratschädel sein Eigen nennen, eine Eigenschaft, wie sie oft bei den unvermeidlichen Sportreportern anzutreffen ist, denjenigen also, die mit der Sprache immer so große Probleme haben und davon berichten, wie unglaublich sie es finden, wie ein „Unparteiischer“ die nach dem rasanten Vogel benannte, dümmlich wirkende Finte  „hochsterlisiert“ hat. Du aber: Gottergottergott! Mit hundertsiebzig Zentimetern leptosomem Körperbaus, hohem Bauchansatz, essiggurkenförmigem Torso und minderem Bartwuchs, da werden weder Cem-Özdemir-Koteletten noch die Maske des gepflegt Unrasierten der letzten drei Tage möglich. Egal welche Klamotte du aus dem Schrank kramst, sie wirkt an dir nur blass, während Anderen jedes NKD-T-Shirt steht. Und mit diesem Stimmchen als peinlicher Dreingabe hast Du erste recht keine Chance und keinen Schlag bei den stolzesten Frau’n. Zumal das aufgeregt hohe Stimmchen im erdrückenden Angesicht passender Zeitgenössinnen auch noch luftzittrig wird, und hinter dem verkorksten Kackgesicht nicht einmal ein Funken von Intelligenz vermutet werden kann. Und dann gehst du auch noch mit attraktiveren Freunden auf die Rolle, so wirkst du im Vergleich noch blasser. Auf den Gedanken, einmal mit einem Marty-Feldman-artigen Moster feiern zu gehen, um vom Kontrast zu profitieren, kommst du einfach nicht. Das Bankkonto erlaubt nicht einmal den Bezug eines jener stets nach oben hin überbordenden  Exemplare vom  Schlage dauergrinsende Spielerfrau, und auch deshalb denkt bei deinen Gegebenheiten keine an Genshopping, infolgedessen deine Wut auch nicht körpermittig abgeschossen werden kann, herrscht doch eklatanter Mangel an Gelegenheit, die schlappe  DNA zu verbreiten. Mit sechzehn nix vor die Flinte, mit Mitte zwanzig Flaute, mit dreißig Rückzug ins Schicksal und mit vierzig tote Hose. Aber mit nunmehr fünfzig rennen sie alle hinter dir her, als wärest du ein Porsche fahrende Kieferchirurg vom Killesberg. Mein verheirateter Kumpel aus München hat das daraus resultierende unwägbare Gefühl in einer alkoholisch getrübten Debatte einmal „Sackfrausen“ genannt und das ist unvergesslich. Sie sehen dich als Ausgleich für ein zu langes, ereignisloses Leben voller nicht wahrgenommener Gelegenheiten, wie eine Vaterfigur mit Faltenbonus, wo doch die Batterie nun schon fast leer und alles schon zu spät ist! Auf der maskulinen Schönheitsskala hättest Du in deinen Dreißigern den Rang einer späten Elvers oder Collins eingenommen, knüpfte man zwischen Männlein und Weiblein Querverbindungen mit Linien zur Mädchenparade, wie bei den zusammenzufügenden Satzteilen aus dem langweiligen Englischbuch, in dem die Abdrücke der  wegradierten Bleistiftstriche  von Schülern längst vergessener Jahrgänge oft falsch angeordnet noch sichtbar sind. Längst, Angst, bald kommt der Tod. Schwarz wie die Nacht. Dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig, siebzig, dann geht’s  klack! ab in den Tunnel. Nun ja, wenigstens eine Sache ist dabei noch gut: Wer nicht mehr weiß, dass es dunkel geworden ist, dem kann’s auch nicht mehr finster ums Gemüt werden. Damit hätten wir das ewige Kreuz mit dem Religiösen schon einmal geklärt.


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czil
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Beitrag09.10.2014 13:48

von czil
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Auch was gutes kann noch besser werden, trotz Verbesserungen.

Du aber, Mann aus dem Land zwischen Judenburg und Jesenice, aber wirst dich, nebenbei gesagt, mit Jesus, deinem angeblichen Freund, über die Feinheiten unterhalten und dsich in der alleruntersten Schublade des Himmels noch erklären müssen, du furchig bejahrtes, im schnellen Lebensmann-Leben aber zugleich auch furchtbar junggebliebenes, [oder: jungegeblieben glattrasiertes] glattrasiertes immer wieder neugeborenes Grinsegesicht:


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Saga
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Beitrag11.10.2014 16:27

von Saga
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Gefällt mir!
Wunderbar bissig und stilfest formuliert.
Aber - na klar - ich hätte auch eine Anmerkung oder zwei ...

Zum Anfang dieses Satzes zum Beispiel:
Zitat:
Und weil so er gnadenlos unverstellt, Art und Zeit des Anrufes so außergewöhnlich waren, wirkte er nach anfänglichem Erstaunen wohltuend auf den Altgewordenen, ...

Das mit dem "Und weil er so gnadenlos unverstellt, ..." kriege ich mit dem Rest des langen Satzes nicht zusammen. Müssen einfach "so" und "er" umgedreht werden? Dann ergäbe mir das mehr Sinn; aber "unverstellt" ragt trotzdem noch irgendwie unbegreiflich heraus.

Zitat:
... zu einer vom Laschor geknüpften Kette ...

Was ist ein "Laschor"?

Und damit wären wir bei meinem Hauptpunkt angekommen.
Ich finde den Text wirklich toll, aber ich fände ihn noch besser, wenn keine real existierende Literatur, keine real existierenden Figuren oder Gegenstände zur Illustration herangezogen würden.
Das Folgende soll einfach nur illustrieren, wo ich "hängengeblieben" bin. Es erhebt keinen Anspruch auf "Richtigkeit", und sagt in erster Linie etwas über mich aus. Aber vielleicht ist es ja für dich nützlich:

    Mag sein, dass es damit zusammenhängt, das ich schon so lange nicht mehr in Deutschland lebe, aber Cem Özdemirs Koteletten würden mir als "70er-Jahre-Backenbart" besser gefallen.

    Wer Musil nicht gelesen hat (wie zum Beispiel ich), für den ist die Erwähnung des Titels keine Bereicherung, sondern sie zieht einen aus der Erzählung heraus.

    Die nach dem Vogel benannte, "hochsterilisierte" Finte hätte ich gerne mitbekommen, aber leider habe ich keinen Schimmer von Fußball.

    Was ist ein "NKD-T-Shirt"? Da flutscht mir das Bild weg, wenn ich das nicht weiß. Und das ist schade, weil der Rest so gut ist.

    Auch Elvers und Collins bereiteten mir Kopfzerbrechen. Die eine ist nach meinem Verständnis eine ziemlich blasse Figur mit Hysterie-Bonus, die andere ein waschechter Hollywood-Drachen. Um zu diesem Schluss zu kommen, musste ich allerdings eine Weile nachdenken - und anschließend darüber, was du wohl meinen könntest, in Bezug auf das Wesen des Protagonisten.


Ich weiß nicht, in welchem Zusammenhang dieser Text erscheint. Der Titel lässt vermuten, dass er Teil eines größeren Ganzen ist. So für sich alleine genommen, ist er eine sehr gut ausgeleuchtete Szene, in der einem alternden Mann der Spiegel vorgehalten wird. Da ich nun aber nicht weiß, wo die Geschichte begann oder wie sie weitergeht, würde ich mir als die Leserin, die ich nun einmal bin, wünschen, dass die aktuellen Bezüge durch "ewig gültige" ersetzt würden.
Dann wäre die Stimme des Mannes im Mantel geradezu "wahr-sagerisch".
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    Christof Lais Sperl
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    Der silberne Roboter


    Beitrag12.10.2014 10:35
    Fernsprecher 2 neue Version aus "Social Call" 10/2014
    von Christof Lais Sperl
    Antworten mit Zitat

    Fernsprecher 2
    Wie du lange schon weißt, wird das Geleut weder aufmerksam auf dich, noch will es deine Meinung gelten lassen, so hatte der Sprecher im Mantel begonnen. Und da er so gnadenlos unverstellt, Art und Zeit seines Anrufes so außergewöhnlich waren, wirkte er nach anfänglichem Erstaunen wohltuend auf den Altgewordenen, denn der hatte schon so lange auf seiner vergilbten Bude gehockt, dass sie ihm blass und fad geworden, sein verrauchter Tagesablauf zu einer vom Seelenbremser geknüpften Kette von immer wieder in aller Antriebslosigkeit zu verrichtenden Routinehandlungen verkümmert war, derer er sich längst nicht mehr erfreut, sondern nur zur gleichen Uhrzeit täglich noch hinter sich gebracht wissen wollte. Doch schon begann der Alte nach der willkommenen Abwechslung zu gieren, hatte sogar die Gardinen zur Seite gezogen, das flach einfallende Sonnenlicht des nahenden Frühlings durchteilte draußen den Nebel, im Zimmer die Schichten der Rauchschwaden, er hatte ganz gegen seine Gewohnheit sogar noch ein Fenster geöffnet, und nicht schnell genug ging ihm das polternde Stakkato der fernmündlichen Darbietung:

    Deine müden Gedanken und blassen Überzeugungen sind der öffentlichen Diskussion nicht würdig, so war der Sprecher fortgefahren, du spürst es, leidest daran, ist es nicht so? Merkst  du noch, wie deine zaghaften Einwurfversuche mit der Überheblichkeit der Dummen nur unvollständig verborgen mit vorgehaltener Hand belächelt werden? Du liegst darüber quälend lange Nächte wach, kannst vor Wut nicht schlafen wenn Aufregung und  Racheverlangen die Luftröhre auf und ab kriechen, und unablässig tanzende Denkschleifen dich daran erinnern, wie sie hinter deinem Rücken wieder abgelacht haben. Wie scharfer Alkohol, der die Brust herunterbrennt, fühlt sich das laut schimpfende und immergleich mühlenhaft argumentierende Kreisen der Hirngespinste an. Auf und ab. Die Imaginationskringel wirbeln im Rausch immer weiter um sich selbst, drehen sich mit dir, in dir, reißen dich mit, durchstechen das Gemüt und ersticken bessere Gedanken. Nur mit der Hand an der Wand und dem Fuß auf dem Boden kannst du den reißenden Strudel noch ein wenig bremsen.

    Am Morgen kommt die Angst vor der schmerzhaft pochenden Unwucht im Kopf, die durch das dumme, stumpfe und übermüdete Bewusstsein dringt und dazu, als sei all das nicht schon genug, ihre Lieblingsparolen keift: Alphamännchen bist du nicht, sondern ein bizarr geformter Zweig an den Ästen der Evolution, wie es bei Musil geschrieben steht. Bei dir ist’s allerdings noch schlimmer als bei dem, denn du bist nichts weiter als ein grotesker Metallklumpen, der beim Bleigießen auf der Betriebsfeier eines besoffen grölenden und kreischenden Schicksalsmanagements entstanden sein muss. Schwach, ungelenk und ungeschickt. Daher Tag und Nacht die Gedankengedanken, in immer rascherer Folge, samt Schweißausbrüchen und Bettgewälz. Ein Charäkterlein, dem unter dem frühen Einfluss küchenfeministischer Maßregelung auch noch das zum Erfolg unentbehrliche Quäntchen frecher Bosheit fehlt. Ein Etwas ohne Gerissenheit, ein Weichei, Mappi, lebendes Fragezeichen. Und, entschuldige, wer wie du auch noch ein wenig dumm, jedenfalls nicht wirklich schlau ist, sollte zum Ausgleich doch wenigstens ein wenig ansehnliche T-Shirt-Körperlichkeit und einen symmetrischen Quadratschädel sein Eigen nennen, eine Eigenschaft, wie sie oft bei den unvermeidlichen Sportreportern anzutreffen ist, denjenigen also, die mit der Sprache immer so große Probleme haben und davon berichten, wie unglaublich sie es finden, wie ein „Unparteiischer“ die nach dem nahenden Regen anzeigenden, rasanten Vogel benannte, dümmlich wirkende Finte  „hochsterlisiert“ hat. Du aber: Gottergottergott! Mit hundertsiebzig Zentimetern leptosomem Körperbaus, hohem Bauchansatz, essiggurkenförmigem Torso und minderem Bartwuchs, da werden weder 70er-Koteletten noch die Maske des gepflegt Unrasierten der letzten drei Tage möglich. Egal welche Klamotte du aus dem Schrank kramst, sie wirkt an dir nur blass, während Anderen jedes Billigshirt steht. Und mit diesem Stimmchen als peinlicher Dreingabe hast Du erste recht keine Chance und keinen Schlag bei den stolzesten Frau’n. Zumal das aufgeregt hohe Stimmchen im erdrückenden Angesicht passender Zeitgenössinnen auch noch luftzittrig wird, und hinter dem verkorksten Kackgesicht nicht einmal ein Funken von Intelligenz vermutet werden kann. Und dann gehst du auch noch mit attraktiveren Freunden auf die Rolle, so wirkst du im Vergleich noch blasser. Auf den Gedanken, einmal mit einem Marty-Feldman-artigen Moster feiern zu gehen, um vom Kontrast zu profitieren, kommst du einfach nicht. Das Bankkonto erlaubt nicht einmal den Bezug eines jener stets nach oben hin überbordenden  Exemplare vom  Schlage dauergrinsende Spielerfrau, und auch deshalb denkt bei deinen Gegebenheiten keine an Genshopping, infolgedessen deine Wut auch nicht körpermittig abgeschossen werden kann, herrscht doch eklatanter Mangel an Gelegenheit, die schlappe  DNA zu verbreiten. Mit sechzehn nix vor die Flinte, mit Mitte zwanzig Flaute, mit dreißig Rückzug ins Schicksal und mit vierzig tote Hose. Aber mit nunmehr fünfzig rennen sie alle hinter dir her, als wärest du ein Porsche fahrende Kieferchirurg vom Killesberg. Mein verheirateter Kumpel aus München hat das daraus resultierende unwägbare Gefühl in einer alkoholisch getrübten Debatte einmal „Sackfrausen“ genannt und das ist unvergesslich. Sie sehen dich als Ausgleich für ein zu langes, ereignisloses Leben voller nicht wahrgenommener Gelegenheiten, wie eine Vaterfigur mit Faltenbonus, wo doch die Batterie nun schon fast leer und alles schon zu spät ist! Auf der maskulinen Schönheitsskala hättest Du in deinen Dreißigern den Rang einer späten Elvers eingenommen, knüpfte man zwischen Männlein und Weiblein Querverbindungen mit Linien zur Mädchenparade, wie bei den zusammenzufügenden Satzteilen aus dem langweiligen Englischbuch, in dem die Abdrücke der  wegradierten Bleistiftstriche  von Schülern längst vergessener Jahrgänge oft falsch angeordnet noch sichtbar sind. Längst, Angst, bald kommt der Tod. Schwarz wie die Nacht. Dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig, siebzig, dann geht’s  klack! ab in den Tunnel. Nun ja, wenigstens eine Sache ist dabei noch gut: Wer nicht mehr weiß, dass es dunkel geworden ist, dem kann’s auch nicht mehr finster ums Gemüt werden. Damit hätten wir das ewige Kreuz mit dem Religiösen schon einmal geklärt.


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    Lais
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    Bressler
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    Beitrag12.10.2014 11:41

    von Bressler
    Antworten mit Zitat

    Hallo Christoph

    Dein Fernsprecher 2 saugt einen rein. Ich habe den Text mit Spannung und Lust an den Formulierungen gelesen. Die Einwände von Saga verstehe ich, doch teile ich sie nicht unbedingt.

    Selbst wenn mir Namen, Bezüge, Worte nicht bekannt sind oder wären (unter Laschor kann ich mir nichts vorstellen, doch lässt der Kontext eine Vermutung, die soweit befriedigt, zu), stört es mich nicht, denn es wird immer klar aus dem Gesamten, was gemeint ist oder gemeint sein könnte. In diesem Sinne finde ich, der Text kann so stehen bleiben, wie er ist. Entweder die Leserin, der Leser fahren darauf ab (wie man in der Schweiz sagt) und dann spielen allfällig Unverständliches oder kleine Holprigkeiten keine Rolle. Schliesslich mäkelt man auch nicht an Zeichnungen, Bildern oder Graffiti rum. Sie springen einen an - und dann ist man nachsichtig für kleine Mängel. Oder sie springen einen nicht an - und dann ist jede Korrektur vergeblich.

    Schönen Sonntag

    Bressler.


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    Saga
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    Beitrag12.10.2014 12:37

    von Saga
    Antworten mit Zitat

    Ja - das gefällt mir besser! - und damit möchte ich mich jetzt nicht zum Richter machen ...
    Das "unverstellt" hat jetzt Sinn.
    Durch die Entfernung von "Özdemir" wird man nicht mehr durch den Einschub aktueller Politk abgelenkt.
    Einfach "Musil" statt des Titels finde ich eine gute Lösung.

    Ich weiß jetzt, dass von einer "Schwalbe" die Rede ist - leider verstehe ich aber immer noch nicht, was mit "hochsterilisiert" gemeint ist.
    Zitat:
    ... wie sie oft bei den unvermeidlichen Sportreportern anzutreffen ist, ..., die ... davon berichten, wie unglaublich sie es finden, wie ein „Unparteiischer“ die ... dümmlich wirkende Finte „hochsterlisiert“ hat.
    Was jetzt kommt, ist kein "Vorschlag", nur eine spontane Idee:
    - ... wie ein „Unparteiischer“ die ... dümmlich wirkende Finte zum XYZ "hochsterilisiert". -

    Billigshirt: Ist sehr wenig bildhaft. Da du ja das T-shirt im Zusammenhang mit dem Sportler bereits erwähnt hast, könnte man es vielleicht ganz streichen und durch eine Umschreibung ersetzen?
    - Egal welche Klamotte du aus dem Schrank kramst, sie wirkt an dir nur blass, während Anderen jeder noch so billige Reklameaufdruck steht. -

    Der Verzicht auf Collins macht den Satz eindeutig. Gefällt mir.

    Nachschlag:
    Zitat:
    Auf den Gedanken, einmal mit einem Marty-Feldman-artigen Moster feiern zu gehen, um vom Kontrast zu profitieren, kommst du einfach nicht.

    Kleiner Schreibfehler: Im "Monster" fehlt ein "n".
    Ah - ich möchte nicht nerven. Ich sage es trotzdem: Das "Marty-Feldman-artige Monster" ist mir zu abstrakt, zu lang (als Wort/Begriff) und auch zu ablenkend. Generell finde ich "xxx-artige" Dinge in Texten eher uninspirierend. Ich würde versuchen, herauszufinden, welche monsterhafte Eigenschaft genau den Protagonisten am deutlichsten kontrastiert, und eine Umschreibung ohne konkreten Namen verwenden. So, wie es da jetzt steht, muss ich an "Frankenstein" denken, an Feldmans Glubschaugen (na klar), und das ist (unpassend oder gewollt?) erheiternd und führt mich von deinem Text weg hin zu etwas völlig Anderem.

    Soviel für diesmal. Ich hoffe, ich habe den richtigen Ton getroffen. Meine textlichen Ideen sind nur das - nämlich spontane Einfälle - und wenn ich wüsste, wie ich mich anderweitig konkret verständlich machen könnte, hätte ich sie nicht erwähnt ...
    Lg, Saga
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    Christof Lais Sperl
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    Beitrag12.10.2014 13:46
    Ortung aus "Social Call" Teil 4: 10/2014
    von Christof Lais Sperl
    Antworten mit Zitat

    Ortung
    Dahl hatte als Jüngster in der ersten Reihe der Grundschulklasse direkt vor dem Augendrücker gesessen, damit Rahm, der Lehrer, ihn stets im Blick hatte und an kurzer Leine halten konnte. Wir schreiben die Zeit um 68, in der Meister Propper noch der einzige Skinhead weit und breit ist, und Dahl kommt dessen Aussehen mit seinem Null-Komma-Fünfer-Schnitt sehr nahe. Der goldgezähnte, skandalumwitterte, in den Amtsstuben gerahmt hängende Schwarzweiß-Ministerpräsident  sieht aus wie ein Wiedergänger Ceauşescus, und Rahm wie ein iranischer Oberpostbeamter mit nach hinten gegeltem Gilbert-Bécaud-Haar. Lehrerinnen wie diejenigen, welche sich in  Ermangelung akademischer Titel mit interessant gemeinten Doppelnamen à la Leutheusser-Schnarrenberger versehen, gibt es noch nicht. Sie heißen, voller Nüchterheit, Katzenberg, Bitter und Bratsche. Wie der Unterricht der skispringerinnenhaft-drahtigen und furchtbar kurzhaarigen Bitter war, versteht sich von selbst, und in all dem stickigen Elend führt selbst er, der angebliche Freund aus der ersten Reihe, den Jungen hinters Licht: Dahl ist Menschentyp und Mädchenschwarm und auch noch wesentlich schlauer. Mit fünf hatten sie den Dahl schon eingeschult. Doch das war ihm zu Beginn nicht gut bekommen, denn er hatte fortwährend an die Decke gestarrt, seine Nackenhaut sich in weichbewegliche Wülste gelegt, deren mäandernde hirnrindenartige Furchenlandschaft der träumende Junge immer dann fasziniert beobachtete, wenn er sich gerade einmal nicht die Augen drückte.

    Und dann kam aber immer Lesen dran. Lehrer vor der Tafel:
    Der erste Buchstabe ist das L! Malt euch das mal ab. Es ist  der Läufer mit dem großen Fuß! Seht ihr den? Er Läuft, läuft, läuft, fällt in ein U-Loch und heult laut Uuuuu! Das U wird griffelmäßig mit der Fausthand und Zungenspitze im Mundwinkel notiert. Und all die eifrig nach vorn blickenden Beschulten rufen Oooo!, weil der Läufer ihrem den Kindern in ihrem Mitgefühl so leid tut. Das O wird ebenfalls an der Tafel gesichert, abgemalt, im Loch sollte dann auch noch Schlamm sein und alle scheien Iiii! Und so geht das jeden Tag, bis das gesamte Alphabet durchgenommen, alle Zahlen der Welt addiert und subtrahiert worden sind und die Gymnasialanstalt droht. Die ewigen Krähen sahen vom Baum aus zu und verstanden viel mehr, als man ihnen zutraute.



    Endlich die schrille, laute Klingel. Mit Wirthi in die Straße Zum Feldlager. Hinter der auf dem Weg liegenden Kirche heißt sie immer noch so, steigt aber nach Norden hin überraschend steil an. Dem deutschen Gesetz zur Straßennamenkontinuität zufolge musste sich auch an dieser Stelle an Kreuzungen die Bezeichnung wenigstens inoffiziell ändern; wenigstens im Volksmund wird sie daher Himmelsleiter genannt und passt somit gut zur traurigen Kirche, einem steinernen Gotteshaus in der elenden Architektur der Fünfziger , das Nachfolger einer nach dem Krieg aus Holz gezimmerten Notkirche war, von der noch heute ein paar Teile in einer allgemein als  Hütte bezeichneten Wandererunterkunft in der Nähe eines granitsäulenumgebenen Silbersees verbaut sind, von dem im Sommer Rohrdommeln ihre nach elektronischer Musik klingenden Rufe bis in den umgebenden Wald hervorstoßen. Das mittlerweile begradigte untere Ende der Himmelsleiter, welches früher in einer Doppelkurve verlief, war Ort einer der öffentlichen Müllkippen gewesen, Plätze, wie sie an vielen Stellen auch diesem Stadtteil zu finden waren, und deren wilde Verwandte den Kindern mit ihren langnasigen ausrangierten LKW, den Matratzen und Oldtimerkarossen als vorzügliche Spielplätze dienten. An vielen Stellen hatten sich solche Kippen befunden, die in den späten Siebzigerjahren als störende Schandflecke in einem sich gern optisch und vor allem auch politisch als gesäubert gebendem Land beseitigt worden waren. Das Stadtteilbild war annehmbarer geworden, die Zukunft vielversprechend, und doch sollten ab Beginn des nächsten Jahrtausends die bewegungsfaulen und übergewichtigen Futtertrogbesucher der wie Pilze aus dem Boden schießenden Mc-Freß-Filialen nach der Nahrungsaufnahme die ökologisch gestalteten Papp-Verpackungen ihrer Sättigungseinheiten einfach aus den Autofenstern werfen, und in ihrer ignoranten Rücksichtslosigkeit  Straßen und Bürgersteige abermals so vergammeln und entstellen, dass sie den Bildern aus den frühen Siebzigern  - wenn auch zunächst nur im Bescheidenen – wieder gleichen sollten.
     

    Der Himmel voller Taubenschwarm und Goldammer, Aussäen von Wildblumen verboten droht ein Schild, viele freundliche junge Birken und einige der trüben Kiefern ragten rundweich oder zerklüftet ins Blau hinein. Über das landschaftliche Arrangement wachten  belehrende Lärchen mit ihren erhobenen Fingern, folgsame Tannen standen mit hängenden Armen dabei und lauschten den Moralpredigten. Der Mensch kaufte bei Konsum, später beim blauweißen Coop, und die Alten nannten das Kind in ihrem nach einer Sandsteinlawine klingenden Kasselänerisch Krischtof, das sich über diese zusätzliche Verweichlichung ärgerte, aber aus Antriebslosigkeit nicht weiter protestierte. Es gab jährliche Wiesensommerfeste mit Papphütchen, Sack- und Eierlauf, und am Waldrand waren für die Kinder  bunt lackierte und aufgestapelte Autoreifen als Hüpfspiele aufgestellt. Die Normal-8-Bilder der guten Erinnerungen schimmern, von grellweiß blitzenden Flecken und zuckenden Streifen durchzogen, oft in den satten Farben von Kodak und die Schlechten in den dezenteren von Agfa. Im Rückgebäude der Stadtteil-Kneipe befand sich ein Tante-Emma-Laden. Fünfunddreißig Gewerbe gab es in dem kleinen, ländlichen Stadtteil, von denen heute nur noch eine Handvoll verblieben sind, und wo man nichtmal etwas kaufen kann. Die Wirtin  hatte ein Verfahren am Hals, weil sie im fahrenden Auto dem Fahrzeugführer, wie es hieß, irgendwas mit dem Mund gemacht und einen Unfall mit Verletzten verursacht hatte. Zwei stets gut gelaunte spitzbäuchige Hakennasen-Brüder aus der Kneipenfamilie, Henner und Schorsche, fallen als nach unten spitz zulaufende Kreiselfiguren mit sich spannenden schwarzen Westen ins ruckelnde Bild des Schmalfilm-Auges, unter den dunklen Bäumen am oberen Spielplatz ein Wasserspeicherhaus, roter Backstein, eine am Dach befestigte Alarmsirene mit monatlichem Angstgejaule, das den Alten noch den Kriegsschweiß auf die Stirn treibt. Um das Gebäude herum ein wassergefüllter Außengraben samt darin schwimmenden und süßkäsig stinkenden Mäusekadavern. Die Bahnlinie nach Aachen durchteilt immer noch mit ihrem elend trüben und grauen Gewirr von Geleisen, rostigen Zäunen und feuchten Tunneln den Stadtteil und konnte jahrzehntelang nur an zwei Schranken überquert werden, hinderlichen und gefährlichen Ärgernissen, von denen die auf der Anhöhe gelegene, zu einem Fußweg führende, nicht von Autos benutzt werden durfte. An ihrer westlichen Seite führte ein Pfad  bergab in Richtung Grundschullehrerdomizil, das einst auch einigen versteckten Juden während der Hitlerzeit als Versteck gedient hatte.  Kurz bevor der Hauptweg sich in einen geradeaus verlaufenden kleinen Pfad zur Endstation der Straßenbahnlinie 1 und in einen breiteren teilte, der  nach rechts zum Frasenweg abbiegt, sprudelt noch heute, wenn auch wesentlich schwächer als zuvor, eine kleine Quelle, in der einst Frauen Wäsche wuschen, deren Häuser noch kein fließend Wasser hatten.


    Lehrer Holbein aus dem Beerenberg hatte im Krieg Notunterricht irgendwo in der ellenlangen Wegmannstraße gegeben. Die Kollegen  waren gezwungen worden im Krieg den teutonischen Heldentod zu sterben und die Mutter hatte einen kleinen Schultisch auf dem Kopf bis zur Behelfsschule tragen müssen, da Holbein die Kinder den weiten Weg bis in den nächsten Stadtteil nicht allein gehen lassen wollte. Es war ein Weg von 15 Minuten. Vom  letzten Haus am Osterberg bis zum ersten Haus unterhalb des Friedhofes.  Doch auf dem Weg hätte es für die Kinder keinen Keller als Unterschlupf bei einem Fliegeralarm gegeben, von daher hatte das Möbelschleppen in ein Privathaus gerührt.  Bäcker Salzmann brachte nach dem Krieg das Brot mit einem Goliath –LKW, der jede Woche beim Abbiegen an der Ecke Eisenbahnweg-Kiefernweg umfiel, nachdem er keuchend die Anhöhe erklommen hatte - die Anwohner mussten ihm schaukelnd wieder auf seine drei Räder helfen.

    Der Junge begleitete durch diese modelleisenbahnartige Landschaft den schwereren und stärkeren Wirthi bis zu einer Abzweigung an der Himmelsleier, von der er in sicherer Entfernung dem frühen Besitzer eines Rades mit echter Torpedo-Dreigangschaltung Beleidigungen zurufen konnte. Er rannte angestrengt schnaufend weiter vor, wartete an einem Wegpunkt, den der schwächere Junge unbedingt passieren musste, gab ihm in täglichem Ritual symbolisch eins auf die Mütze, und dennoch gingen beide den restlichen Weg bis zum Haus des Jungen zusammen, denn sie waren Freunde. Der Stärkere durchquerte am Ende der gemeinsamen Strecke das Wäldchen in Richtung seines Elternhauses. Zum Abschied spielten sie sich in der Manier zweier Tennisspieler Schreie zu, die nach Urwaldvogelrufen klangen. Bei den Hausaufgaben am Nachmittag sehnte der Junge sich nach der beschützenden Stärke des Freundes und rannte, sobald diese erledigt worden waren durch den Wald, um mit dem anderen Cowboy und Indianer  zu spielen.

    Samstag abends Disco: Richter. Licht aus wromm! und Alvin Stardust drehte die lederverkleidete Hand ins Objektiv des Zett Deh Eff, in dem, wenn man Glück hatte, gleich nach dem Geschrei von Heck und seinem Reinhard, bitte abfahren! Slade, Sweet und Hammond spielten und es Serien wie Immer wenn er Pillen nahm, Mini Max, Enterprise und Sesamstraße auf Englisch zu sehen gab. Davor und danach Treets, Top Set is groovy oder der Afri-Cola-Rausch. Der als Kartoffelquetscher berühmt gewordene Raimund Harmstorf prägte eine zeitlang den Ton, denn auf einmal sagte jeder Beeilung, ich geh’ kaputt, ein Spruch aus der Serie Semesterferien, in der sich ein paar Gutgebaute mit nacktem Oberkörper durch fremdländische Safarilandschaften quälten. Süßer Duft von Delial bräunt ideal und R6 lag in sommerlicher Luft, im Bad lag eine Tube Grüner Geist, Pril-Blumen kleben unter pastellfarbenen Küchenuhren, hellgelbe Plastikbecher mit weißgelben Rautenmustern oder rote mit weißen Pünktchen standen neben den Mostflaschen im Regal und das Bier kam in Holzkisten ins lichtbedeckte Haus. Lattenzäune säumten dunkelgraue Schotterwege, die kleinen Siedlerhäuser hingen an Elektromasten mit Porzellanisolatoren in der fetten Form von Michelinmännchenbeinen, das Radio sang Strahlerküsse schmecken besser und Ein rosaroter Apfelbaum -  Und wenn man einen besonders guten Tag hatte, auch mal Jeepster von T.Rex. Die Jungen bemühten sich, ein irrer Typ zu sein, und ich, der ich durch diese bunte Welt lebe habe Zeit mich zu fragen, ob Spock, der doch immer das Wort faszinierend im Munde führt, nicht doch Emotionen hatte, denn wie sollte ein gefühlloses Wesen von irgendetwas begeistert sein können?




    Wir leiteten die erzählte direkte Rede mit mit einem abfallend intonierten Ja ein: Und sie sagte, jaaa, wie komme ich denn dazu? Heute eröffnen und markieren Jugendliche diese aufgeregt sensationsheischende Redeform mit dem Wort so: Und ich so wieso kommst du nicht? - und er so wozu denn? Die Überlappung aus beiden Techniken ergibt die Mischform: Er so jaaa, das geht aber nicht. Die So-Form muss aus der onomatopoetischen Comicsprache kommen, die wir uns in den späten Siebzigern zu anzueignen begannen: Vom die Dose so plopp zum Und ich so schluck! klingt es nach sprachlicher Pop Art, Sprechblasen wie bei Lichtenstein stiegen über den langhaarigen Köpfen auf.

    Die Zukunft leuchtete.

    War der Vater da, brüllten die Fußballreporter entweder gekünstelt überschnappende Begeisterung oder abrupt abgebremste, stakkatohafte, sprachlich oft knapp danebenliegende Empörung ins Haus. Kann man denn über diesen Sport nur schreiend berichten und die Radiohörer stets befürchten lassen, der Herzinfarkt stünde unmittelbar bevor? Die öde Swing-Titelmelodie vom Sport-Studio klingt heute noch im Fernseher, als sei die Zeit wie am Rande eines schwarzen Loches einfach stehen geblieben. Den Jungen störte dieses Sport-Gebrüll, während der Großmutter die zeittypische Rockmusik Kopfschmerzen bereitete. Immer wieder fragte sie den Jungen, wie man solch ein Geschrei bloß als Musik bezeichnen könnte. Sonntags hörte der Junge durch den Bratensaucenduft den Gesprächen von Heiner, Philipp und Babett zu, die  zwischen Fetzen von Big-Band-Sounds eingebettet waren. Er verstand den Inhalt dieser Gespräche nicht, doch der Vater, der am Sonntag schon wieder an die nächste quälende Woche in seinem Glaskasten denken musste, waren sie ein willkommenes Ritual, das eine Linderung seiner depressiven Stimmung brachte.

    Im Sommer kam die Großmutter ganz dünn aus Offenbach angereist, mästete sich drei Wochen bei der gepunktet faltenberockten Mutter und fuhr ganz dick wieder nach Frankfurt zurück. War die Familie aber einmal bei der Großmutter eingeladen, herrschte in der Wohnung des Winters eine Temperarur von fünfzehn Grad, für fünf Personen standen drei Kartoffeln und eine kleine Scheibe Braten mit einem Löffel Sauce auf dem Tisch, der Junge füllte sich vorsichtig den Teller, die Großmutter hatte ihm  den Löffel weggenommen, jetzt langt’s aber gesagt, und die Mutter ihm später ein sättigendes Schnitzel im Gasthaus bezahlt. Das Leben war sparsam, das Schnitzel reinste Prasserei, kalt blies der Wind, und nach einer Lungenentzündung, die das Kind fast aus dem Leben geworfen hatte, kamen nun regelmäßig  in Doppeltönen und sogar Dreiklängen pfeifende, bedrückende nächtliche Asthmaanfälle; im aufgeregten Fieberhusten wurden Atemzüge zu blauen Zylindern, die durch die Luft schwirrten, Hustenstöße zu schweren Kugeln, deren beide Elemente sich zusammenfügten und im Kinderzimmer nächtliche Wahntraumbilder erzeugten. Manches Mal war er in einer solchen Nacht in einer schwarzweiß flimmernden Welt gefangen, einer Dimension purer, körniger Gravitation, in der die Luft erdrückend schwer lastete, man nicht atmen konnte, und nach dem Aufwachen die Glieder eines vollkommen gelähmten Organismus einzeln wieder zum Leben erweckt werden mussten. Der Junge begann sich, ausgehend vom kleinen Zeh, nach dem rettenden Erwachen sukzessive mit kleinen Muskelbewegungen den Körper zurückzuerobern.


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    Beitrag13.10.2014 00:14
    Re: Ortung aus "Social Call" Teil 4: 10/2014
    von tronde
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    Hallo!
    Die Bilder, die Du mit Deinen Worten malst, mag ich sehr:
    Meister Proper der einzige Skinhead weit und breit, die folgsamen Tannen zum Bespiel.
    Mir fehlt allerdings der Rote Faden, der alles zusammenhält. Schon klar, eine Art Sittengemälde ist es, über längere Zeit hinweg. Während Du Deine Bilder malst, wirkt es auf mich, als kämst Du vom Hundertsten zum Tausendsten
    Und daher sind mir Deine Sätze viel zu lang, der längste hat 93 Wörter, den habe ich im Folgenden zerlegt.


    Christof Lais Sperl hat Folgendes geschrieben:
    Ortung


    Endlich die schrille, laute Klingel. Mit Wirthi in die Straße Zum Feldlager. Hinter der auf dem Weg liegenden Kirche heißt sie immer noch so, steigt aber nach Norden hin überraschend steil an. Dem deutschen Gesetz zur Straßennamenkontinuität zufolge musste sich auch an dieser Stelle an Kreuzungen die Bezeichnung wenigstens inoffiziell ändern Punkt Im Volksmund wird sie daher Himmelsleiter genannt und passt somit gut zur traurigen Kirche, einem steinernen Gotteshaus in der elenden Architektur der Fünfziger (kein Leerzeichen vor dem Komma, aber lieber ein PUNKT)  Davor stand an dieser Stelle eine nach dem Krieg aus Holz gezimmerten Notkirche, von der noch heute ein paar Teile in einer allgemein als  Hütte bezeichneten Wandererunterkunft in der Nähe eines granitsäulenumgebenen Silbersees verbaut sind, von dem im Sommer Rohrdommeln ihre nach elektronischer Musik klingenden Rufe bis in den umgebenden Wald hervorstoßen. (Das hat mit der Straße nichts mehr zu tun) Das mittlerweile begradigte untere Ende der Himmelsleiter, welches früher in einer Doppelkurve verlief, war Ort einer der öffentlichen Müllkippen gewesen, Plätze, wie sie an vielen Stellen auch diesem Stadtteil zu finden waren, und deren wilde Verwandte den Kindern mit ihren langnasigen ausrangierten LKW, den Matratzen und Oldtimerkarossen als vorzügliche Spielplätze dienten.


    Mein Kommentar harrt hier schon seit dem Nachmittag auf’s Absenden, und so langsam kann ich in Worte fassen, was mich beschäftigt. Dein auktorialer Erzähler vermittelt mir den Eindruck der assoziativen Gelockertheit, ohne zu unterscheiden, was wichtig ist und was nicht. Mit bildgewaltigem Overkill werde ich erschlagen von einer Unzahl an Dingen, die ich nicht wissen will. Mich interesiert, was mit dem Jungen und dem Lehrer passiert. Stattdessen weiß ich jetzt, dass es nur einen für Autos nutzbaren Bahnübergang gibt.
    Trotzdem kämpfe ich mich durch den Text, weil mich die Genauigkeit Deiner Beobachtungen und deren Kommentierung beeindrucken, das Spiel mit der Sprache. Wenn das noch leicht dahinfließend daherkäme und mich nicht mit diesen Brocken von Sätzen erschlagen würde ... Sicher bin ich aber auch das falsche Publikum für diese Art von Literatur, mein Kopfkino braucht Handlung; längere, nicht handlungsrelevante Beschreibungen überfliege ich gerne. Ich will beim Lesen Gleiten, nicht Stapfen.
    Keine Ahnung, ob das jetzt hilfreich für Dich ist.
    Grüße
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    Beitrag18.10.2014 11:10
    Fernsprecher anch Kritik
    von Christof Lais Sperl
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    Fernsprecher
    Es ist ein Friedwald am Rande der Stadt.
    Eine Aschenwolke liegt in seiner Erde. Darin wächst ein Baum. Ascheteilchen sind schon in seinen Wurzelkanälen aufgestiegen; allmählich zerschmilzt die unterirdische Wolke und bildet, nur für sich allein betrachtet, das innere Abbild  der großen Pflanze, in die sie eingezogen ist.

    An der Mauer am Baum steht eine gläserne Kabine, wie ein aufrecht gestellter, gelb gerahmter Schneewittchensarg. Darin kramt ein Mann umständlich eine Packung filterloser Zigaretten aus der Manteltasche, während er mit der anderen Hand nach ein paar Geldstücken für den klobigen Fernsprecher sucht. Umständlich soll er’s tun! Dies ist eine einfache Geschichte. Denn ohne Talent kann nichts wirklich Gutes geschrieben werden und in Groschenromanen wird alles nun einmal wortreich getan. Das bringt Zeilenhonorar und nebenbei das klapprige Satzgerippe in den richtigen Takt. Die Geschichte wird länger und wirkt, als wäre sie in Zeitlupe getaucht.

    Im desinteressiert wandernden Blick sieht er nebenbei, wie jemand mit kräftigem Schwung eine Autotür zuwirft. Ein grauer Mittfünfziger lässt, noch während sich das satte Schließgeräusch ausbreitet, den Blick bilanzierend über die hügelig gewellte Masse der im Nieselregen dampfenden Blechdächer schweifen. Er tut dies, um festzustellen, ob zufällige Passanten seine wichtigtuerische Mondvisage mit der schweren, schwarzen Karosse in Verbindung gebracht haben. Den durch das satte Zuschlagen ausgelösten, fordernd forschenden aber dennoch von ihm  fast beiläufig kurz gehaltenen Blickkontakt mit der augenscheinlich glotzenden Umwelt wertet der Graue als respektvolle Anerkennung desjenigen, der es nicht nur in der Hierarchie der Kreditwürdigen geschafft hat. Es sogar geschafft hat, zu denen zu zählen, die gehört und gesehen werden, obwohl sie oft nicht viel zu sagen haben.

    Der Mann in der Fernsprechzelle hat in all seiner Gleichgültigkeit für belanglosige Prahlerei den Blick ganz schnell gesenkt. Eine Geste, die der blitzschnell beobachtende Wichtigmann als verschämtes Eingeständnis der Unterlegenheit des Gegenübers missinterpretiert, ein triumphierendes Fehlurteil, das seinem guten Befinden dem vermeintlichen Schwanzeinzieher und dem Selbst gegenüber sehr zuträglich ist. Wohin man auch blickt, es ist doch immer falsch! resümiert der Mann im Mantel, der langsam und gründlich sein Geld  in den Münzschlitz wirft, das auf seinem Weg nach unten einen Katarakt metallisch klingender Reaktionen auslöst. Er hört dem klingelnden Rasseln bis zum Ende zu, zündet sich eine der Zigaretten an, und ein langgezogener Klang wie von bedächtig  pirschenden, schweren Schritten auf regennassen Kieswegen zischelt hinauf zu einem tiefen, ersten Lungenzug. Der Mann wählt eine Nummer, hört erst den Wählton, dann den langsamen, runden Klang des Freitones aus dem schweren und schwarzen, noch kalten Bakelithörer an sein Ohr dringen. Der Hörer ist durch ein metallspiralenummanteltes Kabel in der Art eines Duschschlauches mit dem an der Wand montierten Apparat verbunden. Der Zug klinkt ein. Nikotin flutet an, wird zu Beschleunigung, Kick, kräftigem Puls, zu Kraft, und manchmal zittrig kalten Fingern. Die Beste ist immer noch die erste am Morgen, sagt der Betäuber im Kopf, und alle darauf Folgenden sind nur blasse Schatten dieser Frühstückskippe. Die Sucht nagt und ackert zeitig schon mitten durch den Körper: Vom Solarplexus zieht sie ganz langsam die Brusthöhle empor und ist gleich nach dem Aufstehen schon zu spüren. Doch dann legt der mit Glücksgefühlen getränkte blaue Morgennebel sich satt und angenehm weich mit dem erlösenden, dumpfen Schmerz auf Bronchien und Luftröhre, durchdringt kraftvoll Herz und Muskeln, der Betäuber zieht sich zufrieden ins Kuckucksuhrengehäuse der Seele zurück und kann einstweilen an den Aktor übergeben. Das Frühstück muss kurz sein, um das vom heißen Kaffee begleitete Abbrennen des ersten Glimmstengels und den darauf folgenden Tatendrang nicht hinauszuzögern. Zu Erkältungszeiten wird der Tabakgeschmack in einer übertrieben fülligen Rundheit unangenehm klebrig, bekommt einen beißenden Oberton und greift wie eine hölzerne Hand in Mund und Rachen - doch wäre das bißchen Maulkorbgefühl auch dann noch lange kein Grund, der wunderbaren Sucht zu entsagen.



    Der Mann räuspert seine Stimme frei und eiskalter Wind bahnt sich seinen Weg durch die undicht klappernde Glastür, gegen die der stärker gewordene Regen klatscht. Und noch bevor der sich am anderem Ende befindliche, aus dem Schlaf aufgeschreckte alte Mann versuchen kann, aus der monotonen Stimme des nächtlichen Quälgeistes Rückschlüsse auf ihren Besitzer zu ziehen und sich der noch gültigen Regel entsprechend mit seinem Namen zu melden, hebt die Fernsprecherstimme an, unterbrechungslos und unabwendbar, ganz ohne Platz für Einwürfe in einem milden, doch bestimmten Befehlston zu sprechen. Die Stimme klingt, da sie so tief und dunkel ist, nach dem nur vom typischen Xylophongeklingel unterbrochenen Sprechpartrhythmus aus Zappas Meisterstück I’m the slime. Ihre Rede ist gut vorbereitet,  hört sich aber nicht so an, als würde bloß vorgelesen. Der Angerufene kann sich trotz seiner Müdigkeit den Wörtern nicht entziehen, muss zuhören, denn der Anrufer hat ohrenscheinlich all das, was er selbst noch nie besaß: Ruhe, Kraft und einen überzeugend kräftigen Ton, dem man auch in sicherer Entfernung kaum ausweichen kann: Einen machtvollen Klang, die Kraft, den schon Wehrlosen zu verhören um mit aggressivem Stimulus möglichst viel an Response aus der gefügigen Seele des Alten herauszuholen, sie ist ein Magnetfeld, dem er sich nicht mehr entziehen kann.


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    Beitrag18.10.2014 11:47
    Ortung 2 (verbessert nach Kritik)
    von Christof Lais Sperl
    Antworten mit Zitat

    Ortung
    Dahl hatte als Jüngster in der ersten Reihe der Grundschulklasse direkt vor dem Augendrücker gesessen, damit Rahm, der Lehrer, ihn stets im Blick hatte und an kurzer Leine halten konnte. Wir schreiben die Zeit um 68, in der Meister Propper noch der einzige Skinhead weit und breit ist, und Dahl kommt dessen Aussehen mit seinem Null-Komma-Fünfer-Schnitt sehr nahe.  Der goldgezähnte, skandalumwitterte, in den Amtsstuben gerahmt hängende Schwarzweiß-Ministerpräsident  sieht aus wie ein Wiedergänger Ceauşescus, und Rahm wie ein iranischer Oberpostbeamter mit nach hinten gegeltem Gilbert-Bécaud-Haar. Lehrerinnen wie diejenigen, welche sich in  Ermangelung akademischer Titel mit interessant gemeinten Doppelnamen à la Leutheusser-Schnarrenberger versehen, gibt es noch nicht. Sie heißen, voller Nüchterheit, Katzenberg, Bitter und Bratsche. Wie der Unterricht der skispringerinnenhaft-drahtigen und furchtbar kurzhaarigen Bitter war, versteht sich von selbst, und in all dem stickigen Elend führt selbst er, der angebliche Freund aus der ersten Reihe, den Jungen hinters Licht: Dahl ist Menschentyp und Mädchenschwarm und auch noch wesentlich schlauer. Mit fünf hatten sie den Dahl schon eingeschult. Doch das war ihm zu Beginn nicht gut bekommen, denn er hatte fortwährend an die Decke gestarrt, seine Nackenhaut sich in weichbewegliche Wülste gelegt, deren mäandernde hirnrindenartige Furchenlandschaft der träumende Junge immer dann fasziniert beobachtete, wenn er sich gerade einmal nicht die Augen drückte.

    Und dann kam aber immer Lesen dran. Lehrer vor der Tafel:
    Der erste Buchstabe ist das L! Malt euch das mal ab. Es ist  der Läufer mit dem großen Fuß! Seht ihr den? Er Läuft, läuft, läuft, fällt in ein U-Loch und heult laut Uuuuu! Das U wird griffelmäßig mit der Fausthand und Zungenspitze im Mundwinkel notiert. Und all die eifrig nach vorn blickenden Beschulten rufen Oooo!, weil der Läufer ihrem den Kindern in ihrem Mitgefühl so leid tut. Das O wird ebenfalls an der Tafel gesichert, abgemalt, im Loch sollte dann auch noch Schlamm sein und alle scheien Iiii! Und so geht das jeden Tag, bis das gesamte Alphabet durchgenommen, alle Zahlen der Welt addiert, subtrahiert und geteilt worden sind, und die Gymnasialanstalt droht. Die ewigen Krähen sahen vom Baum aus zu und verstanden viel mehr, als man ihnen zutraute.



    Endlich die schrille, laute Klingel. Der Himmel voller Taubenschwarm und Goldammer, viele freundliche junge Birken und einige der trüben Kiefern ragten rundweich oder zerklüftet ins Blau hinein. Über das landschaftliche Arrangement wachten  belehrende Lärchen mit ihren erhobenen Fingern, folgsame Tannen standen mit hängenden Armen dabei und lauschten den Moralpredigten. Der Junge begleitete den schwereren und stärkeren Wirthi bis zu einer Abzweigung an der Himmelsleiter, von der er in sicherer Entfernung dem frühen Besitzer eines Rades mit echter Torpedo-Dreigangschaltung Beleidigungen zurufen konnte, der  angestrengt schnaufend weiter vorrannte und an einem Wegpunkt wartete, den der schwächere Junge unbedingt passieren musste. Er gab ihm in täglichem Ritual symbolisch und mit fast zärtlicher Gewalt symbolisch eins auf die Mütze, nach der gespielten Attacke gingen beide den restlichen Weg bis zum Haus des Jungen gemeinsam, denn sie waren schließlich Freunde. Der Stärkere durchquerte am Ende der gemeinsamen Strecke ein Wäldchen in Richtung seines Elternhauses. Zum Abschied riefen sie sich Schreie zu, die nach Urwaldvogelrufen klangen. Bei den Hausaufgaben am Nachmittag sehnte der Junge sich nach der beschützenden Stärke des Freundes und rannte, sobald diese erledigt worden waren, durch den Wald, um mit dem anderen Cowboy und Indianer  zu spielen.

    Samstag abends Disco: Richter. Licht aus wromm! und Alvin Stardust drehte die lederverkleidete Hand ins Objektiv des Zett Deh Eff, in dem, wenn man Glück hatte, gleich nach dem Geschrei von Heck und seinem Reinhard, bitte abfahren! Slade, Sweet und Hammond spielten und es Serien wie Immer wenn er Pillen nahm, Mini Max, Enterprise und Sesamstraße auf Englisch zu sehen gab. Davor und danach Treets, Top Set is groovy oder der Afri-Cola-Rausch. Der als Kartoffelquetscher berühmt gewordene Raimund Harmstorf prägte eine zeitlang den Ton, denn auf einmal sagte jeder Beeilung, ich geh’ kaputt, ein Spruch aus der Serie Semesterferien, in der sich ein paar Gutgebaute mit nacktem Oberkörper durch fremdländische Safarilandschaften quälten. Süßer Duft von Delial bräunt ideal und R6 lag in sommerlicher Luft, im Bad lag eine Tube Grüner Geist, Pril-Blumen kleben unter pastellfarbenen Küchenuhren, hellgelbe Plastikbecher mit weißgelben Rautenmustern oder rote mit weißen Pünktchen standen neben den Mostflaschen im Regal und das Bier kam in Holzkisten ins lichtbedeckte Haus. Lattenzäune säumten dunkelgraue Schotterwege, die kleinen Siedlerhäuser hingen an Elektromasten mit Porzellanisolatoren in der fetten Form von Michelinmännchenbeinen, das Radio sang Strahlerküsse schmecken besser und Ein rosaroter Apfelbaum -  Und wenn man einen besonders guten Tag hatte, auch mal Jeepster von T.Rex. Die Jungen bemühten sich, ein irrer Typ zu sein, und ich, der ich durch diese bunte Welt lebe habe Zeit mich zu fragen, ob Spock, der doch immer das Wort faszinierend im Munde führt, nicht doch Emotionen hatte, denn wie sollte ein gefühlloses Wesen von irgendetwas begeistert sein können?




    Man leitet die erzählte direkte Rede mit mit einem abfallend intonierten Ja ein: Und sie sagte, jaaa, wie komme ich denn dazu? eine sensationsheischende und aufgeregt wirkende Redeform, die heute von den  Jugendlichen mit dem Wort so eingeleitet und markiert wird: Und ich so wieso kommst du nicht? - und er so wozu denn? Die Überlappung aus beiden Techniken ergibt eine Mischform: Er so jaaa, das geht aber nicht. Die So-Form musste aus der onomatopoetischen Comicsprache gekommen sein, die wir uns in den späten Siebzigern anzueignen begonnen hatten: Vom die Dose so plopp zum Und ich so schluck! klingt es nach sprachlicher Pop Art, Sprechblasen wie bei Lichtenstein stiegen über den langhaarigen Köpfen auf. Im Hintergrund leuchtete die Zukunft.

    War der Vater da, brüllten die Fußballreporter entweder gekünstelt überschnappende Begeisterung oder abrupt abgebremste, stakkatohafte, sprachlich oft knapp danebenliegende Empörung ins Haus. Kann man denn über diesen Sport nur schreiend berichten und die Radiohörer stets befürchten lassen, der Herzinfarkt stünde unmittelbar bevor? Die öde Swing-Titelmelodie vom Sport-Studio klingt heute noch im Fernseher, als sei die Zeit wie am Rande eines schwarzen Loches einfach stehen geblieben. Lais störte dieses Sport-Gebrüll, während der Großmutter die zeittypische Rockmusik Kopfschmerzen bereitete. Immer wieder fragte sie den Jungen, wie man solch ein Geschrei bloß als Musik bezeichnen könnte. Sonntags hörte der Junge durch den Bratensaucenduft den Gesprächen von Heiner, Philipp und Babett zu, die  zwischen Fetzen von Big-Band-Sounds eingebettet waren. Er verstand den Inhalt dieser Gespräche nicht, doch der Vater, der am Sonntag schon wieder an die nächste quälende Woche in seinem Glaskasten denken musste, waren sie ein willkommenes Ritual, das eine Linderung seiner depressiven Stimmung brachte.

    Im Sommer kam die Großmutter ganz dünn aus Offenbach angereist, mästete sich drei Wochen bei der gepunktet faltenberockten Mutter und fuhr ganz dick wieder nach Frankfurt zurück. War die Familie aber einmal bei der Großmutter eingeladen, herrschte in der winterlichen Wohnung eine Temperarur von fünfzehn Grad, für fünf Personen standen drei Kartoffeln und eine kleine Scheibe Braten mit einem Löffel Sauce auf dem Tisch, der Junge füllte sich vorsichtig den Teller, die Großmutter hatte ihm  den Löffel weggenommen, jetzt langt’s aber gesagt, und die Mutter ihm später ein sättigendes Schnitzel im Gasthaus bezahlt. Das Leben war sparsam, das Schnitzel reinste Prasserei, kalt blies der Wind, und nach einer Lungenentzündung, die das Kind fast aus dem Leben geworfen hatte, kamen nun regelmäßig  in Doppeltönen und sogar Dreiklängen pfeifende, bedrückende nächtliche Asthmaanfälle; im aufgeregten Fieberhusten wurden Atemzüge zu blauen Zylindern, die durch die Luft schwirrten, Hustenstöße zu schweren Kugeln, deren beide Elemente sich zusammenfügten und im Kinderzimmer nächtliche Wahntraumbilder erzeugten. Manches Mal war er in einer solchen Nacht in einer schwarzweiß flimmernden Welt gefangen, einer Dimension purer, körniger Gravitation, in der die Luft erdrückend schwer lastete, man nicht atmen konnte, und nach dem Aufwachen die Glieder eines vollkommen gelähmten Organismus einzeln wieder zum Leben erweckt werden mussten. Der Junge begann sich, ausgehend vom kleinen Zeh, nach dem rettenden Erwachen sukzessive mit kleinen Muskelbewegungen den Körper zurückzuerobern. Nach jedem Fieberschub folgte eine Stufe neuer, höherer Reife, und bevor man sich versah, war die Jugend gekommen.


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    Beitrag19.10.2014 14:29
    Bohrungen aus "Social Call" Teil 5
    von Christof Lais Sperl
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    Meister der Bohrungen
    S. , diese hochnäsige, frühbereifte, mit zwölf schon zungenschlagende, viel früher als geplant schon mit dreizehn von diversen Liebhabern durchgepimperte und zimtzickige Aalglattfresse, hatte dich, in beifallheischendem Rundblick und dem Aufstampfen der fetten Beine den Wasserkopf genannt, was noch schlimmer als ihr Grundschulwort vom Schweineauge gewesen war. Bloß wegen der philosophischen, durch die blöden, angepappten Locken verunstalteten Kopfform. Sie, das schlampenhafte Ebenbild einer selbstverliebten aber unattraktiven Mutterpute, die dich im Rückspiegel des bescheidenen Autos mit der Überheblichkeit einer ägyptischen Königin stirnrunzelnd und auftrumpfend-böse anstarrte sobald die Verkehrssituation es zuließ, da du es gewagt hattest, dich mit hängendem Kopf wartend in das Bürgersteiggrüppchen einzureihen um nach Schulschluss an der bequemen, samstäglichen Gymnasial-Fahrgemeinschaft teilzunehmen, die für Deinesgleichen in der oft unergründlichen Logik der anfänglich beschriebenen, uns daher bereits vertrauten Simulation als nicht standesgemäß angesehen worden war. All die vor lauter Bosheit schmerzenden Blicke, der Wasserkopf, all das auftrumpfende Großfressentum, das saß und sitzt bis heute. Und die freche Kuh brauchte in der fünften Klasse in der Umkleide nicht mal viel Watte in den BH zu stopfen. Die konnte mit ihren sprießenden Fettkegeln damals schon jeden trockenfaltigen Schwengel tanzen lassen, der ihr zufällig in die Quere kam. Natürlich auch den vom stets wütend verschwitzten, rotgesichtigen und immergeilen Hausi Mixmann, bei dessen Namensnennung hoffentlich viele an Nina Hagens Lied Heiß denken müssen. In unserer Geschichte aber gilt: Das M steht richtigrum im backsteinroten Gymnasium.

    Mein Ste-hern-chen! rief der Schwarzhaarige mit  dem Akzent auf den ersten zwei Silben des Kosenamens täglich durch den stets gebohnert stinkenden Aufgang. Was hat sie ihn scharf gemacht, diesen Rex Guildo der Handwerkerzunft mit dem breiten Toastgesicht. Wie ein hormongesteuerter Vollidiot geilte der braunglänzende Ölhaarige in seinem Hosenscheißer-Drillich herum der nur daran denken konnte, wo er seinen Schwanz als nächstes reinhängen könnte. Hast du, Schweineauge, damals schon geahnt, wie wenig oft dazu gehört, was aus dem Leben rauszuholen? Muss allerdings an der richtigen Stelle sein, das Wenige, und ganz frech daherkommen. Was aus der mittels übertrieben hochdeutscher Aussprache Intelligenz simulierenden Pute dann noch geworden ist, wagen wir uns gar nicht vorzustellen. Irgendeine Kim- oder M-rauchende Sekretärinnenschnepfe mit einer unter Schichten von Makeup verborgenen Schildkrötenhaut muss nach den Erkenntnissen der unbezahlbaren Lebenserfahrung das Resultat geworden sein.

    Wie eine späte Freundin einmal lehrte, werden Frauen im Alter entweder zur Kuh oder Ziege, doch das Sternchen war schon mit zwölf beides zugleich gewesen: Ein übersättigt speckiges, glänzendes und vollkommen gegenwärtiges, und durch die mütterlicherseits zeitraubende Anstrengung Wohlstand vorzutäuschen verwahrlostes Etwas, das ständig nach wahrer Liebe schrie. Was aber blieb dir in der Zwischenzeit?  Die unansehnliche Ina, die sowieso jeden ranlassen musste, da sie schon ahnte, dass es schnell zu spät sein würde und mit den schon damals ein wenig überschüssigen, aber festen Pfunden der Jugend und dem in noch heranwachsender Frische leuchtenden Gesicht nicht lang gewuchert werden konnte. Interesse war da nicht, vielmehr taktiler Forscherdrang. Und ein schales Gefühl von leichter Übelkeit nach der wöchentlichen, von ihr selbst durch die Verteilung von im Frisörsalon geklauter, süßlicher Attika-Zigaretten beinahe erzwungenen Gruppen-Fleischbeschauen, die unter Teilnahme mehrerer Jungen in der Enge eines verlassenen Schrebergartenhäuschen mit der Folge süßblumig riechender, klebriger Finger allwöchentlich stattfinden mussten. Danach wurden Kaffebohnen gekaut, um den Zigarettengeruch vor all den strafenden Müttern zu verbergen. Die Hütte der heimlichen Erforschungen steht noch dumm und braun inmitten ihres verwilderten Gartens. Ob heute noch jemand mit heißem Kopf hineingeht?

    Mit der Solidarität unter den Halbwüchsigen war’s auch nicht viel gewesen: Nicht Wasserkopf, Pisspott hatte man dich ganz allgemein genannt, wegen dieses elenden Vornamens nach braver Knabenmanier. Da muss man sich auch wie ein Chorsänger, kann sich gar nicht schlecht benehmen, n’est-ce pas Ein rabiater Christof? Unvorstellbar wie eine schwarzhaarige Susanne oder ein terrorverdächtiger Tobias. Oh, blonder Name Kirsten! Oh, lieber, süßer, kleiner und glatthaariger Name Tim! Aber Christof, zumal noch mit diesem skandinavisierend frugalen Final-f klingt nach mathematikbegabtem Überflieger. Nach Schniegelknaben mit Seitenscheiteln à la Christian Wulff. Nach Frauenversteher und Wollpollunder. Oder schlimmer noch: nach Junger Union, Palomino-Jeans mit Jackett, Diplomatenkoffer und  Kassenbrille. Nach Helmut!-Helmut!-Rufen, Eckart von Klaeden oder gutem Freund mit Theologiestudium. Also einem, mit dem man Probleme bespricht, der selber aber schon wegen Treibstoffmangel in den Landeanflug übergehen will. Ich will nicht labern, ich will ficken, hatte der riesenhafte Klusch einmal gesagt, als er einmal als Zufallsgast einer Unifete an eine nicht unattraktive, aber viel zu redselige Germanistin geraten war, der er, der Handwerker,  auch noch die Abschlussarbeit tippen musste. Egal, weg mit der Tusse, hatte sowieso an jedem Finger zwanzig. Angstfreier Mensch. Und kam außerdem auf  zwei Meter zehn, hinter denen sich sich im Café Musique am Friedrichsplatz immer ein freier Kegel in der Masse der Tanzflächengaffer bildete, denn hinter ihm konnte man nichts sehen. Und du? Nix davon. Pisspott. Na ja, ich weiß, Kinder sind grausam, aber die Wahrheit sagen nun mal Betrunkene und Gören. Du brauchst erst einmal einen neuen, klingenderen Namen! Dass du kraft all dieser frühen Lebenskacke solchen Ingrimm hast, habe ich schon bei einer früheren, aber heimlichen Begegnung gespürt. Klar, Wut und Empörung sind zur kabarettistischen Entfaltung unabdingbar, hatte schon der alte Hildebrandt gesagt. Eine schöne Rage ist das. Da ist so viel Hingabe, dass man nicht anders kann, als sie aufzufangen, abzustauben und zu behüten.

    Bei Nethercod kam der ganze Furor raus. Er hat dem geilen Hausmeister ungestraft was auf’s Maul gegeben. Affekt-da-unter-sieben-Sekunden, hatten sie gesagt. Waren’s Sieben? Es sind immer sieben: Tage, Wunder, Zwerge und Todsünden. Johlgrölend  ähtschender Klassenapplaus fürs Großmaul, das, vom Gang kommend, das Klassenzimmer betrat. Klar, das Sternchen konnte keiner leiden. Aber den Mixmann wollte man trotzdem nicht dran rumfummeln lassen und schließlich war es immer noch in unserer Klasse. Der Hausmeister begann wegen seiner obsessiven Mädchengeilheit nasskalte Angst aufzubauen. Paßte das Sternchen hinter Steinsäulen ab, wenn’s in die Pause ging. Man konnte ihn mit der Rattigkeit steuern und gefügig machen, genau so wie es die Religionen mit der Todesangst zu tun pflegen. Da gab’s dann mal mehr Kreide oder einen neuen Schwamm, auch mal zur Beruhigung eine pyramidenförmige Milchtüte umsonst. Irgendwann aber konnte er sich nicht mehr bremsen, es kamen die in die Mädchenumkleidewand gebohrten Löcher. Und dahinter die einsamen Spanner-Ejakulationen: Warme, feuchte, nach Methylan riechende, auf die die aus der Fünften gezielte, traurige Eiweißspasmen während der Dienstzeit. Und vielleicht auch nächtliche feuchte Träume in Tempotaschentüchern und Flecken der Unachtsamkeit auf  staatlichen Wandfliesen, fast wie beim Zauberer von Nabokov, der Vorskizze zu Lolita, in der ein geifernder, vorgeblicher Magier eine OP-narbenentstellte Alte mit kleiner, glatthäutiger, noch beinbeflaumter Tochter heiratet, um sich nach dem frühen Tod der Mutter, nachdem er sich ehepflichtgemäß und widerwillig auch das eine oder andere Mal über den geschundenen alten Körper hergemacht hatte,  an das zarte Kind heranzupirschen.


    Mixmann aber hatte eine der billigen, früh gealterten und grell aufgedonnerten Kopftuchputzfrauen mit ihren Hasenohrenknoten, wie sie noch in den Siebzigern so typisch waren, von der Schule weg geheiratet. Allerdings ohne eine Tochter aus früherer Verbindung. Und daher bohrte sich seine auf dem sommerlichen Schulhof entdeckte Mädchenliebe mit dem zunehmenden Welken der kräftig Geschminkten eben ihren Weg durch die Mauer der Umkleide. Sie haben ihn nach der Entdeckung der Wandlöcher gleich entlassen. Aber wie sie’s genau entdeckt haben, wusste keiner.

    Mit dem breitbeinig schwankenden Gang der Blöden verlässt der Geohrfeigte Text und Schulhof in Richtung Horizont des nahezu Vergessenen.


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    Beitrag19.10.2014 15:04

    von KeTam
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    Hallo Christof,

    ich bin jetzt die ganze Zeit am Überlegen, ob ich was sage oder nicht, doch ja, mir stößt es unheimlich auf, dass du deinen Text als Erotik UND Kindergeschichte deklarierst. Ich habe mir das jetzt mal durchgelesen, ob und wie es mir gefällt, das tut jetzt erst mal nichts zur Sache. Aber: Wie kommst du darauf, dass dieser Text für Kinder im Alter von 10 bis 13 Jahren geeignet sein könnte?
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