29.06.2014 21:00 Der Brief von Andrea Conrad
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Es war nicht das erste Mal, dass sie auf das monströse Gebäude
zuging. Diesmal allerdings schien es sie geradezu zu erdrücken.
Der gigantische Stahlbetonbau wirkte bedrohlich in der Dunkel-
heit des neuen Tages. Novembergraues Licht und voluminöse Wolken
hüllten den Flughafen ein. Berlin-Tempelhof; seit einem halben
Jahr jetzt Annes Arbeitsplatz. Die elegante Bauweise; die
gleichförmige Architektur; die Ruhe, die dieser Bau auszustrah-
len schien, hatte ihr Ehrfurcht abverlangt. Heute allerdings
wirkte es erdrückend. Sie wusste nicht, ob es an dem Wetter,
ihrer Stimmung oder der Ereigniss lag. Eine Windbö, die ihr
unter ihren Rock fuhr und die Seitenteile ihres Mantels anhob,
ließ sie erschaudern. Mit klammen Fingern zog sie den Stoff
fester um sich und beeilte sich, in das Gebäude zu gelangen. Der
Seiteneingang war wie immer um diese Zeit unverschlossen. Anne
stemmte sich gegen die schwere Tür und drückte sie auf. Mit
einem leisen Knirschen in den Scharnieren gab sie nach. Der
kleine Flur lag noch im Halbdunkeln. Ein Zeichen, dass sie die
erste ihrer Schicht war, die den Arbeitsplatz für den heutigen
Tag erreicht hatte. Sie blieb am Eingang stehen und betrachtete
den Flur, der sich von ihr weg perspektivisch verjüngte. Es
hatte den Anschein, das Wände, Decke und Boden sich zusammen-
zogen, je weiter sie den Blick ins Innere des Raumes schweifen
ließ. Mit einem schlurfenden Geräusch fiel die Tür hinter ihr
ins Schloss. Nun war es noch düsterer. Das fahle Tageslicht war
ausgesperrt und lediglich die Notbeleuchtung erhellte den Flur.
Das leise Zischen und Stöhnen der Neonlichter an der Decke war
zu vernehmen.
Anne ging weiter. Sie brauchte keine zusätzliche Lichtquelle.
Sie kannte den Weg mittlerweile auswendig; zählte aus Gewohnheit
die Türen ab, die sie passieren musste, bis sie die erreicht
hatte, hinter der sich für die nächsten Stunden ihr Leben
abspielen sollte.
Ihr Leben - sie dachte darüber nach, während sie zwischen Nummer
fünf und sechs verharrte. Eigentlich hatte alles so gut angefan-
gen. So gut, dass ihr schwindlig geworden war dabei. Georg und
sie hatten sich auf dem Sommerfest des Schützenvereins kennenge-
lernt. Er gerade aus Köln hierher gezogen; sie eine Berliner
Pflanze durch und durch. Ihre anfänglichen Verständigungsprob-
leme hatten zu allerlei komischen Situationen geführt. Sie
schmunzelte, als sie daran dachte, |