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Jocelyn Bernsteinzimmer
Alter: 59 Beiträge: 2251 Wohnort: Königstein im Taunus
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11.02.2010 22:54 ganz einfach von Jocelyn
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ein durchbrochener morgen
in halogenlicht
du hast dir frühstück geholt
dann bist du gegangen
stumpfe eierschalen auf porzellan
mit johannisbeergelee
ein angerissenes tütchen salz
auf dem rand
draußen weht es
in kaltem zucker
an deinem Messer klebend
ein sonnenblumenkern
leckt man nicht ab
weiß ich
Weitere Werke von Jocelyn:
_________________ If you dig it, do it. If you really dig it, do it twice.
(Jim Croce)
Die beständigen Dinge vergeuden sich nicht, sie brauchen nichts als eine einzige, ewig gleiche Beziehung zur Welt.
(Aus: Atemschaukel von Herta Müller, Carl Hanser Verlag, München 2009, Seite 198)
"Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer."
(Voltaire) |
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anuphti Trostkeks
Alter: 58 Beiträge: 4320 Wohnort: Isarstrand
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11.02.2010 23:44
von anuphti
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Hallo Jocelyn!
Zwei Zeilen und ich war mittendrin.
An dem Frühstückstisch mit dem verwüsteten Teller, Eierschalen, Gelee und auch noch Salz.
Da frage ich mich, wie achtsam der Protagonist isst?
Unglaublich präzise Schilderung, und für mich wäre es das letzte Frühstück mit dieser Person.
Ich lecke lieber das Messer ab, als dass ich das Gelee an den Teller schmiere. Oder ist es dorthin getropft? running jam?
Sehr schön und dicht.
Mag ich!
Liebe Grüße
Imke
_________________ Pronomen: sie/ihr
Learn from the mistakes of others. You don´t live long enough to make all of them yourself. (Eleanor Roosevelt)
You don´t have to fight to live as you wish; live as you wish and pay whatever price is required. (Richard Bach) |
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Jocelyn Bernsteinzimmer
Alter: 59 Beiträge: 2251 Wohnort: Königstein im Taunus
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13.02.2010 07:55
von Jocelyn
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Danke, Imke, für deine Anerkennung und Federung!
Es waren die Bilder des Tages, die mich inspirierten.
Ich hatte Pause im Dienst. Der Schnee wurde vorm Küchenfenster stoßweise in Puderschleiern von den Giebeln gehoben. Vor mir stand ein elfenbeinfarbener Porzellanteller mit feinem Goldrand, darauf die Eierschalen, Krümel, das abgerissene Salztütchen mit dem obligatorischen gelben Dreieck. Kurz zuvor hatte ich mir Philadelphia mit Johannibeermarmelade aufs Brötchen gemacht. Alle anderen waren zur Klingel oder zum OP. Das Stillleben gefiel mir, das zerbrochene. Und ich fragte mich, warum immer diese Obstschalen, Tischdecken, Gläser.
Einen Sonnenblumenkern hatte ich nicht. Der entsprang der Sehnsucht. Deshalb bin ich mit dem Ablecken unentschlossen.
Ich lecke mein Messer in der Regel nicht ab. Ich streiche es am Brot ab.
An Groll hatte ich in dem Gedicht nicht gedacht.
Liebe Grüße, Jocelyn
_________________ If you dig it, do it. If you really dig it, do it twice.
(Jim Croce)
Die beständigen Dinge vergeuden sich nicht, sie brauchen nichts als eine einzige, ewig gleiche Beziehung zur Welt.
(Aus: Atemschaukel von Herta Müller, Carl Hanser Verlag, München 2009, Seite 198)
"Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer."
(Voltaire) |
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BlueNote Stimme der Vernunft
Beiträge: 7306 Wohnort: NBY
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13.02.2010 10:41
von BlueNote
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Hi Jocelyn,
"ganz einfach" frohlockte ich, dann versteht ich's vielleicht auch. So dachte ich es mir zumindest. Jocelyn, deine Gedichte sind für mich immer die schwierigsten des ganzen Forums. Ich spüre den Hauch Poetik zwar, habe aber nie so richtig das Gefühl, etwas verstanden zu haben. Seltsam, nicht? So ist mir auch hier wieder die 2. Strophe ein absolutes Rätsel.
Trotzdem: Du hast einen sehr eigenen Stil und eine ganz besondere Bilderwelt. Voller Neid lese ich, dass andere gleich nach 2 Zeilen mittendrin sind. Warum muss ich immer draußen bleiben?
BlueNote
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MosesBob Gehirn²
Administrator Alter: 44 Beiträge: 18339
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13.02.2010 11:25
von MosesBob
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Jocelyn hat Folgendes geschrieben: | Vor mir stand ein elfenbeinfarbener Porzellanteller mit feinem Goldrand, darauf die Eierschalen, Krümel, das abgerissene Salztütchen mit dem obligatorischen gelben Dreieck. Kurz zuvor hatte ich mir Philadelphia mit Johannibeermarmelade aufs Brötchen gemacht. |
Danke, jetzt hab ich Kohldampf.
Guten Morgen, Jocelyn!
Erstens: Ich finde, dass du die Morgenstimmung schön eingefangen hast. Ich habe ein Faible dafür, wenn man den alltäglichen und banalen Dingen eine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Es hebt hervor, was sonst unauffällig im Hintergrund funktioniert und häufig die Strippen zieht, ohne dass wir es merken. Manche dieser Selbstverständlichkeiten sind wie das Räderwerk in einer Uhr. Vieles, was wir wahrnehmen, würde ohne das, was wir nicht wahrnehmen, gar nicht funktionieren. Und schon ein schimmeliger Flaum auf unserer Lieblings-Mama-lade kann uns unrettbar den Tag vermiesen.
Zweitens: Das hier ist das dritte Gedicht, das ich binnen einer Woche lese, in dem Eierschalen vorkommen. Zwei davon waren von dir. Ein anderes war, glaube ich, von Enfant Teribble. Übernehmen die Eierschalen die Weltherrschaft?
Besorgte Grüße von der Güteklasse A
_________________ Das Leben geht weiter – das tut es immer.
(James Herbert)
Die letzte Stimme, die man hört, bevor die Welt untergeht, wird die eines Experten sein, der versichert, das sei technisch unmöglich.
(Sir Peter Ustinov)
Der Weise lebt still inmitten der Welt, sein Herz ist ein offener Raum.
(Laotse) |
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Enfant Terrible alte Motzbirne
Alter: 30 Beiträge: 7278 Wohnort: München
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13.02.2010 12:30
von Enfant Terrible
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MosesBob hat Folgendes geschrieben: | Zweitens: Das hier ist das dritte Gedicht, das ich binnen einer Woche lese, in dem Eierschalen vorkommen. Zwei davon waren von dir. Ein anderes war, glaube ich, von Enfant Teribble. Übernehmen die Eierschalen die Weltherrschaft? |
Ja, damit verdrängen sie die grünen Bierflasche, Lederschürzen und Zäpfchen.
_________________ "...und ich bringe dir das Feuer
um die Dunkelheit zu sehen"
ASP
Geschmacksverwirrte über meine Schreibe:
"Schreib nie mehr sowas. Ich bitte dich darum." © Eddie
"Deine Sprache ist so saftig, fast möchte man reinbeißen." © Hallogallo |
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ono Eselsohr
O
Beiträge: 347
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O 13.02.2010 12:47
von ono
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und ich hatte schon gehofft, jocelyn-in-wonderland,
das wunderübsche ding da wär mal kein selbstbildnis, sondern das "du" wäre einer wirklich abhanden gekommen, geblieben nur eine flüchtige spur, ein verwischter fußabdruck als rest einer berührung. statt abschiedskuss ein sonnenblumenkern auf zuckriger messerschneide.
jetzt hast du mir den frühstücksraum eines hotelzimmers vor der nase zugehauen und die verschwundene liebschaft im op-müll versenkt, du ruchlose.
wovon, bitteschön, soll ich jetzt träumen, während draußen die meisen so tun, als wär's nicht mitten im winter? dennoch: chapeau!
liebe grüße aus der unterwelt
ono
p.s.: nach neuesten ermittlungen verzehrt jeder deutsche per annum nicht unter 248 eier. das sind allein in münchen jeden tag eine million. es wird zeit, dass sich dies repräsentativ niedrschlägt in der literatur. nicht immer nur herz, schmerz und allerlei seelische grundlüssigkeiten, sondern eier. "eier!", rief olli k. während der letzten tage seiner karriere, "wir brauchen eier!!".
so please go 4 it.
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Jocelyn Bernsteinzimmer
Alter: 59 Beiträge: 2251 Wohnort: Königstein im Taunus
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13.02.2010 23:12
von Jocelyn
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Hallo, ihr Netten!
Ja, ihr müsst euch nicht einschränken.
Jeder kann den Dingen seine eigenen Geschichten und Träume geben.
Für die Eierschalenlandschaft kann ich nichts.
Das ewig kalte Wetter klebt wie Gelee.
Die Kälte schneidend wie ein Messer.
Das Gelee so süß.
Der Sonnnenblumenkern kann ein Meer von Sonneblumen zaubern.
Die Eier zerbrechen vielleicht, weil man mit den Hühner aufstehen muss.
Das Salz die Würze zum (Über)leben.
Und dann dieser Anstand, das Aushaltenmüssen.
Das tut man, das tut man nicht, und hätte man doch...
Und, und, und...
Denkt euch aus, was ihr wollt.
Schön, dass es so einigermaßen gefällt.
BlueNote: Warum hast du nur ein Problem?
Ist doch einfach.
(Aber die Titelfindung war verdammt schwer für mich, ich weiß auch noch nicht, ob er der beste ist.)
Liebe Grüße, Jocelyn
_________________ If you dig it, do it. If you really dig it, do it twice.
(Jim Croce)
Die beständigen Dinge vergeuden sich nicht, sie brauchen nichts als eine einzige, ewig gleiche Beziehung zur Welt.
(Aus: Atemschaukel von Herta Müller, Carl Hanser Verlag, München 2009, Seite 198)
"Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer."
(Voltaire) |
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ono Eselsohr
O
Beiträge: 347
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O 13.02.2010 23:38
von ono
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ich hab nicht nur ein problem, jocelyn-in-wonderland, sondern bestimmt ein paar tausend, je nach der tagesform.
eins davon ist, dass ich es nicht mag, dass man geschichten erklärt. eine gute geschichte lässt mindesten soviele lesarten zu, wie ono problemchen hat. wird sie erklärt, stirbt sie. ich riech bei deinem text jetzt immer das lysol der krankenhausluft, ob ich will oder nicht.
fandest du es nicht auch furchtbar, als uns die lehrer im deutschunterricht den wilhelm tell, die schwarze galeere und die blechtrommel erklären wollten? es war grausam.
betrübte grüße aus der tiefe
ono
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halcyonzocalo Einsamer Trancer
Alter: 34 Beiträge: 1202 Wohnort: Irgendwo im Nirgendwo
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13.02.2010 23:46
von halcyonzocalo
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Hey Jocelyn.
Auch mir hat dein Gedicht gut gefallen.
Was ich interessant finde, ist, dass man das Gedicht teilweise auf mehrere verschiedene Arten lesen kannst.
Du hast zwar gesagt, dass du dich von den Bildern des Tages hast inspirieren lassen und den Schnee draußen gesehen hast, aber ich für mich lese das Gedicht an dieser Stelle auf zwei Arten und Weisen:
draußen weht es
in kaltem zucker
an deinem Messer klebend
ein sonnenblumenkern
leckt man nicht ab
weiß ich
Man könnte den Vers "draußen weht es" auch für sich alleine stehen lassen. Der Sonnenblumenkern klebt dann am "Zuckermesser".
Die Süße des Zuckers und das Leben des Sonnenblumenkerns werden vom LI nicht abgeleckt. Auf dieser Basis sind dann weitere Deutungen möglich.
Einfache Worte und doch eine unglaubliche Dichte. Das ist für mich eine Kunst, die nur zu beneiden ist.
Gruß
halcyonzocalo
(Sebastian)
_________________ Die minimaldeterministische Metaphernstruktur mit ihrer mytophoben Phrasierung spiegelt den ideeimmanent abwesenden Bedeutungsraum. |
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Jocelyn Bernsteinzimmer
Alter: 59 Beiträge: 2251 Wohnort: Königstein im Taunus
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14.02.2010 18:12
von Jocelyn
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halcyonzocalo hat Folgendes geschrieben: |
Einfache Worte und doch eine unglaubliche Dichte. Das ist für mich eine Kunst, die nur zu beneiden ist.
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Danke!
@ ono: Sei nicht betrübt. Lies einfach nur das Gedicht in einem Jahr oder wann immer oder vergiss es.
_________________ If you dig it, do it. If you really dig it, do it twice.
(Jim Croce)
Die beständigen Dinge vergeuden sich nicht, sie brauchen nichts als eine einzige, ewig gleiche Beziehung zur Welt.
(Aus: Atemschaukel von Herta Müller, Carl Hanser Verlag, München 2009, Seite 198)
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(Voltaire) |
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