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Auf der anderen Seite des Ganges


 
 
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anderswolf
Geschlecht:männlichReißwolf


Beiträge: 1069



Beitrag15.08.2018 17:36
Auf der anderen Seite des Ganges
von anderswolf
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Seltsam, hier einen Einstand zu geben nach einem zweidrittel Dutzend Jahren, doch auf dem Weg in die Werkstatt wurde ich sanft darauf hingewiesen, dass ich unqualifiziert sei. Hier also ein Beispiel dafür, was ich nicht kann. Mir Sachen ausdenken zum Beispiel, denn das ist mir wirklich passiert. Außerdem bin ich unzufrieden mit dem Ende. Hilfe!


Es war der 3. Juli, zu Beginn dieses großen und langen Sommers, als man noch dachte, die sonnigen Tage würden rasch wieder Regen und Kälte weichen. Noch schwitzte man heimlich, Flüssigkeit drang literweise aus allen Poren, sollte aber nur die eigene Haut berühren. Noch versuchte man, die thermale Überforderung vor Anderen zu verbergen, niemand sollte sich ekelbedingt abwenden müssen. Erst später, als der Sommer kein Ende und die Hitze alltäglich neue Höhen finden würde, wurden alle Hemmungen fortgeschwemmt.
An jenem 3. Juli schwitzte ich in Hanau wartend auf den Zug, der mich nach Hause bringen sollte. In Frankfurt hätte ich in einer klimatisierten Bahnhofsbuchhandlung warten können. Da eine Baustelle aber die Strecke nach Norden blockierte, wurden alle Züge über Hanau umgeleitet und schufen ein Nadelöhr, das sämtliche Ankünfte und Umstiege, Ab- und Durchfahrten verzögerte. So stand ich nicht nur die 13 angekündigten Minuten auf einem schattenlosen Bahnsteig, sondern dreimal so lang, während die Sonne die Gleise summen, die Sitzmulden aus Gitterdraht glühen und vor allem alle Reisenden unaufhörlich schwitzen ließ.

Im Zug, der schließlich hielt, saßen auf allen Plätzen Pendler, die in Frankfurt arbeiteten, nicht aber dort lebten: vor allem Menschen in den farblosen Uniformen der Wichtigen, aber auch jene bunt gekleideten Dienstleister, die den Bankern und IT-lerinnen in Vormittags- und Mittagspausen Getränke verkauften und Essen bereiteten. Ihre gesellschaftliche Position mochte sie trennen, in der Hitze des Zuges aber litten sie gleich unter dem Schweiß, der auf allen Stirnen stand, der Hemden und Blusen auf Oberkörper klebte und Achseln dunkel färbte. Gleich ihrer Herkunft schwitzten sie, denn die Klimaanlage des Zuges hatte versagt. Gleich ihrer Ziele schwitzten sie und machten sich klein und eng auf ihren Sitzen, um nicht den eigenen mit dem Schweiß des Nachbarn zu vermischen.
Das würde nicht glücken. Den ohnehin gut gefüllten Zug bestiegen in Hanau Dutzende Reisende, teils führten sie noch Koffer und Fahrräder mit sich. Mein Gepäck bestand aus einer schweren Tasche, die ich, kaum dass ich mich in die letzte Lücke im Eingangsbereich des Wagens gequetscht hatte, zwischen meine Füße auf den Boden stellte. Wieder aufblickend erkannte ich, neben wem ich stand: Rechterhand ein Bilderbuch-Punker mit rot-orange gefärbtem Irokesenschnitt und Sicherheitsnadeln in den Ohren, schwarzem Netzhemd über rotkarierter Hose, die in schwarzen Stiefeln steckte. Links von mir eine Nonne in schwarzem Habit mit weißem Schleier.
Vielleicht, dachte ich, hat mir die Sonne einen Stich verpasst. Weder mit dem einen noch mit dem anderen Menschen kann ich etwas anfangen, wie wahrscheinlich ist es da, dass ich zwischen ihnen stehe? Vielleicht, vermutete ich, habe ich sie nicht nur beim Einsteigen nicht gesehen, sondern sehe sie auch jetzt nicht. Vielleicht sind sie eine Gaukelei meines überhitzten Gehirns. Was aber mochte dann die Wahrheit sein? Zwischen Menschen stand ich doch, mit jedem Ruckeln und Schaukeln des Zuges stießen meine Ellbogen gegen groben Stoff einerseits und bloße Arme andererseits. So verband ich ungewollt zwei Menschen, die so unterschiedlich waren und doch nur zwei von vielen, die schwitzten wie ich. Ob wir, grübelte ich, wohl in einer anderen Situation vielleicht ins Gespräch gekommen wären? Ob wir wohl unsere verschiedene Sicht auf die Welt hätten diskutieren wollen, gar Gemeinsamkeiten gefunden hätten jenseits unserer Fähigkeit zur Transpiration und diesseits unserer Vorstellung von Transzendenz?

Der Zug hielt, wie ich fand, unvermittelt, doch als die Türen sich öffneten, erkannte ich die Realität eines Bahnsteigs. Frische Luft zog über meine Haut, und instinktiv trat ich einen Schritt hinaus. Erst als zu meinen Seiten Menschen mich passierten, wurde mir bewusst, was ich getan hatte: viel zu früh aus vollem Zug gestiegen, noch dazu die Tasche drin vergessen! Die Hitze, der Mangel an Sauerstoff, die Müdigkeit vom langen Warten in der Sonne. Vielleicht doch ein Sonnenstich.
Die Tasche stand, wie ich sie verlassen hatte. Beim Wiedereinstieg zog ich mir den Gurt wieder über den Kopf, das Gewicht belastend und beruhigend an Schulter und Hüfte. Im Zug war nun mehr Platz, auch die Nonne und der Punker hatten den Zug verlassen. Ob ich sie mir doch nur eingebildet hatte? Sitzplätze waren noch nicht freigegeben worden, rechts und links standen Menschen, blickten aus Fenstern, starrten in Handys. Sie sprachen nicht, noch nicht einmal über das Wetter, zu dem doch alle eine Meinung haben mussten. Die Menschen schwitzten nur in den Gängen und wünschten sich wohl wie ich, endlich daheim zu sein.
Und dann entdeckte ich einen jungen Mann, der nicht etwa im Gang stand, sondern im Fußraum eines Vierersitzes. Egoistisch, dachte ich, aber auch schlau, wie er sich an der Reling der Gepäckablage festhält, die schweißdurchtränkte Achsel seines Hemdes den übrigen Passagieren zugewandt, gleichzeitig die Ohren mit Kopfhörern verschlossen. Niemand würde auf den Gedanken kommen, sich setzen zu wollen, so deutlich war doch, dass dieser Raum nicht zu teilen war. Ein junger Banker musste das sein angesichts der schwarzweißen Kluft und der von aller Verantwortung schwer hängenden Schultern.  

Wieder hielt der Zug, wieder öffneten sich Türen, wieder strömten Menschen hinaus. Gänge und Plätze leerten sich. Auch der junge Mann war verschwunden, sein Vierersitz verlassen. Dorthin aber setzte ich mich nicht, sondern auf die andere Seite des Ganges, wo eine junge Frau abwechselnd aus dem Fenster und in ihr Smartphone blickte. Die Leere war verdächtig. Vielleicht waren die Plätze vollgesogen mit Schweiß, vielleicht verflucht, vielleicht nur ungewöhnlich unbequem.
Die junge Dame starrte mich an, die Augen verkniffen, die Brauen zusammengezogen, die Lippen aufeinandergepresst. Ich sollte nicht so nahe bei ihr sitzen, vermutete ich, schwer, ihr das übelzunehmen. Mir lief Schweiß über Arme und Gesicht, sie hingegen schien trocken, ihre Haut ohne jeden Glanz. Doch so sehr mir meine Schwitzigkeit unangenehm war, so wenig konnte ich dagegen tun. Als sie mein aufmunterndes Lächeln mit noch mehr Eisigkeit konterte, schlug ich meine Beine wenigstens so übereinander, dass sie möglichst wenig Raum einnahmen.
Diese Haltung öffnete meinen Blick in den Gang, in dem soeben der junge Banker wiedererschien. Er war doch nicht ausgestiegen, hatte sich nur in die Toiletteneinheit zurückgezogen. Seine Rückkehr wird das Geheimnis des Vierersitzes klären, dachte ich, sein Anblick jedoch gab mir nur mehr Rätsel auf: Ein Banker war er offensichtlich nicht, denn seine fadenscheinige Hose zierten handtellergroße Löcher, das knitterige Hemd steckte nur teilweise in einem Bund, der keinen Gürtel hielt. Noch immer trug er die Kopfhörer, und beim Schlurfen durch den Gang klebte sein Blick auf dem Display seines Smartphones. Ohne Zögern setzte er sich auf einen der freien Sitze.
Für einen Moment überlegte ich, ihn anzusprechen, wollte mich aber nicht aufdrängen. Den Wunsch, in seinen Kopf blicken zu können, verwarf ich: Hitze und Schweiß waren eklig genug. Immerhin schien auch die junge Dame einzusehen, warum ich mich zu ihr gesetzt hatte, ihr Blick, mit dem sie abwechselnd mich und den jungen Mann betrachtete, hatte seine Kälte verloren. Fast einträchtig beobachteten wir den jungen Mann, der lesend mit seiner Linken auf seinem Handy herumdrückte. Mit dem Mittelfinger der Rechten kratzte er sich an der Nase, mit dem Ringfinger am Ohr, zupfte mit Zeigefinger und Daumen an den Bartstoppeln, steckte den kleinen Finger in den Mund. Zunächst biss er nur auf das vorderste Glied, wie man das manchmal macht, denkt man nach. Dann schob er den Finger bis zum zweiten, bis zum dritten Glied in den Raum zwischen Zähnen und Wangen, fuhr sich deutlich sichtbar über das Zahnfleisch erst der rechten, dann der linken Gesichtshälfte. Dem kleinen Finger folgte der Ringfinger, der über die Innenseite der Zähne strich. Was tut er da? Ich starrte, blinzelte nicht, atmete kaum. Schweiß und Hitze waren vergessen, nur die wandernden Finger zählten, die Lippen und Zähne, Zunge und Gaumen erforschten. Der Mittelfinger schob sich über die ganze Länge und Breite der Zunge, der Zeigefinger tastete den Gaumen ab.
Hand und Mund schienen wie abgetrennt vom restlichen Körper zu sein. Hätte der junge Mann nicht einen, zwei, nein, vier Finger gleichzeitig in seinen weit aufgesperrten Rachen gesteckt, den Daumen unter dem Kinn verhakt, er wäre ein zwar nachlässig gekleideter, aber doch unauffälliger Mensch gewesen.

Ich blinzelte. Wandte den Blick ab. Dieser intime Moment eines Menschen, der sich selbst berührt, war obszön, nicht für den Anblick durch Andere gemacht, obschon dieser Exhibitionismus sich den Voyeuren ja doch aufzwang. Zugleich zweifelte ich, je länger ich in den Gang, auf den Boden, meine Füße, meine Hände blickte, umso mehr an der Erinnerung an die absonderliche Kosung. Hatte die Exploration wirklich stattgefunden oder war sie – wie Nonne und Punker – nur eine Irritation meines erhitzten Geistes, der den Selbstekel vor dem eigenen schwitzenden Leib in das Missverhalten eines anderen Menschen übertrug? Wenn ja: welche Gedanken und Sehnsüchte hatte ich unterdrückt, dass sie sich nun so Bahn brachen? Sehnte ich mich nach der Fähigkeit absoluten Glaubens an etwas Höheres und gleichzeitig nach der maximalen Freiheit eines die Gesellschaft herausfordernden Individuums? Verstand ich mich als Mittler zwischen jenen Außenstehenden und jenen in der Mitte der Gesellschaft, wo ich mich doch in keiner dieser Welten wirklich verwurzelt sah? Wie ich es drehte und wendete: Der junge Mann passte so wenig in diese Erklärung wie eine Faust in einen Mund.
Um nicht wieder starren zu müssen, zwang ich meinen Blick nach rechts, Richtung Fenster. Da saß die junge Frau, Augen und Mund geöffnet, auch sie schien zu sehen, was ich gesehen hatte, auch sie zweifelte vielleicht an ihrer Wahrnehmung, denn nun suchte ihr Blick bei mir die Bestätigung, dass auch ich gesehen hatte, was sie sah. In unserem Entsetzen waren wir unerwartete Verbündete geworden, Zeugen einer Anomalie, die wir uns alleine nicht erklären konnten. Hatte sie mich vor Minuten noch abgelehnt und fortgewünscht, gaben ihr meine Anwesenheit und mein Nicken die Sicherheit, dass sie nicht fehlsah.
Ein Kichern stieg in ihr auf, ein Glucksen, das, je länger es dauerte, immer weniger Komplizenschaft und immer mehr Irrnis lautmalte. Meine Bestätigung war nicht beruhigend genug gewesen, und ein Blick zurück zu dem jungen Mann zeigte, dass meine Annahme, eine Faust passe nicht in einen Mund, naiv gewesen war. Als wolle er auch noch die Beschaffenheit seiner Speiseröhre untersuchen, hatte der junge Mann seine Hand bis über das Daumengrundgelenk in seinen Mund gezwängt, während er, als läse er ein Handbuch für orale Penetration, seinen Blick nicht vom Bildschirm seines Smartphones genommen hatte.
Das Lachen der jungen Frau war einem gutturalen Jammern gewichen. Sie würgte, als wolle sie sich übergeben. Sie schluckte hörbar, doch das Schlucken schien nur zu verschlimmern, was sie zu vermindern gehofft hatte. Ihr Atem beschleunigte, verflachte, ihre Pupillen verengten sich, auf ihre Stirn traten nun doch noch Schweißperlen. Und dann zog sie sich ihre Handtasche heran, steckte ihre Hände hinein und zog ein Fläschchen hervor, aus dem sie eine stark nach Eukalyptus riechende Flüssigkeit in ihre Handfläche goss, in ihren Händen verrieb, die Unterarme hinauf bis zu den Ellenbeugen. Dann schloss sie die Augen, lehnte sich zurück, atmete tief ein und langsam wieder aus.

Der Zug hielt überraschend an meiner Station. Rasch griff ich nach meiner Tasche, eilte zur Tür und trat aus dem überhitzten Zug in erfreuliche Kühle. In der letzten halben Stunde war die Temperatur gefallen. Mein T-Shirt, das im Zug nicht getrocknet war, hing mir klamm am Oberkörper. Bis ich zuhause ankäme, würde mich diese Kühle bestimmt wieder freuen.
Auf dem Heimweg dachte ich nach über Menschen, die so gleich und doch so anders waren, dass Gegensätze nebeneinanderstehen und sich doch nicht wahrnehmen mochten wegen all der kleinen Sphären aus Musik, Glauben oder Technologie. Sphären, die einander so wenig berührten wie Menschen an einem schweißtreibenden Tag. Gleichzeitig konnten diese Menschen sich so fern sein, als seien sie wie durch einen breiten Fluss getrennt, und sich doch so intim berühren, dass der Eine sich die Finger in den Hals stecken kann und der Andere davon würgen muss.

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d.frank
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Beitrag15.08.2018 18:56

von d.frank
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Hallo anderswolf,

Zitat:
Es war der 3. Juli, zu Beginn dieses großen und langen Sommers, als man noch dachte, die sonnigen Tage würden rasch wieder Regen und Kälte weichen. Noch schwitzte man heimlich, Flüssigkeit drang literweise aus allen Poren, sollte aber nur die eigene Haut berühren. Noch versuchte man, die thermale Überforderung vor Anderen zu verbergen, niemand sollte sich ekelbedingt abwenden müssen. Erst später, als der Sommer kein Ende und die Hitze alltäglich neue Höhen finden würde, wurden alle Hemmungen fortgeschwemmt.
An jenem 3. Juli schwitzte ich in Hanau wartend auf den Zug, der mich nach Hause bringen sollte. In Frankfurt hätte ich in einer klimatisierten Bahnhofsbuchhandlung warten können. Da eine Baustelle aber die Strecke nach Norden blockierte, wurden alle Züge über Hanau umgeleitet und schufen ein Nadelöhr, das sämtliche Ankünfte und Umstiege, Ab- und Durchfahrten verzögerte. So stand ich nicht nur die 13 angekündigten Minuten auf einem schattenlosen Bahnsteig, sondern dreimal so lang, während die Sonne die Gleise summen, gestolpert zum ersten Mal die Sitzmulden aus Gitterdraht glühen und vor allem alle Reisenden unaufhörlich schwitzen ließ.

Im Zug, der schließlich hielt, saßen auf allen Plätzen Pendler, die in Frankfurt arbeiteten, nicht aber dort lebten: vor allem Menschen in den farblosen Uniformen der Wichtigen, aber auch jene bunt gekleideten Dienstleister, die den Bankern und IT-lerinnen in Vormittags- und Mittagspausen Getränke verkauften und Essen bereiteten. wirklich nur die Beiden ?Ihre gesellschaftliche Position mochte sie trennen, in der Hitze des Zuges aber litten sie gleich unter dem Schweiß, der auf allen Stirnen stand, der Hemden und Blusen auf Oberkörper klebte und Achseln dunkel färbte. Gleich ihrer Herkunft schwitzten sie, denn die Klimaanlage des Zuges hatte versagt. das steht so ein bisschen verloren..als wäre die Klimaanlage Richter über Gedei und Verderb, das soll aber sicher so, denk ichGleich ihrer Ziele schwitzten sie und machten sich klein und eng auf ihren Sitzen, um nicht den eigenen mit dem Schweiß des Nachbarn zu vermischen.
Das würde nicht glücken. Den ohnehin gut gefüllten Zug bestiegen in Hanau Dutzende Reisende, teils führten sie noch Koffer und Fahrräder mit sich. das liest sich angehängt Mein Gepäck bestand aus einer schweren Tasche, die ich, kaum dass ich mich in die letzte Lücke im Eingangsbereich des Wagens gequetscht hatte, zwischen meine Füße auf den Boden stellte. Wieder aufblickend erkannte ich, neben wem ich stand: Rechterhand ein Bilderbuch-Punker mit rot-orange gefärbtem Irokesenschnitt und Sicherheitsnadeln in den Ohren, schwarzem Netzhemd über rotkarierter Hose, die in schwarzen Stiefeln steckte. ist das nicht zu viel? Links von mir eine Nonne in schwarzem Habit mit weißem Schleier.
Vielleicht, dachte ich, hat mir die Sonne einen Stich verpasst. Weder mit dem einen noch mit dem anderen Menschen kann ich etwas anfangen, wie wahrscheinlich ist es da, dass ich zwischen ihnen stehe? Vielleicht, vermutete ich, habe ich sie nicht nur beim Einsteigen nicht gesehen, sondern sehe sie auch jetzt nicht. Vielleicht sind sie eine Gaukelei meines überhitzten Gehirns. Was aber mochte dann die Wahrheit sein? Zwischen Menschen stand ich doch, mit jedem Ruckeln und Schaukeln des Zuges stießen meine Ellbogen gegen groben Stoff einerseits und bloße Arme andererseits. So verband ich ungewollt zwei Menschen, die so unterschiedlich waren und doch nur zwei von vielen, die schwitzten wie ich. Ob wir, grübelte ich, wohl in einer anderen Situation vielleicht ins Gespräch gekommen wären? Ob wir wohl unsere verschiedene Sicht auf die Welt hätten diskutieren wollen, gar Gemeinsamkeiten gefunden hätten jenseits unserer Fähigkeit zur Transpiration und diesseits unserer Vorstellung von Transzendenz?

Der Zug hielt, wie ich fand, unvermittelt, doch als die Türen sich öffneten, erkannte ich die Realität eines Bahnsteigs. Frische Luft zog über meine Haut, und instinktiv trat ich einen Schritt hinaus. Erst als zu meinen Seiten Menschen mich passierten, wurde mir bewusst, was ich getan hatte: viel zu früh aus vollem Zug gestiegen, noch dazu die Tasche drin vergessen! Die Hitze, der Mangel an Sauerstoff, die Müdigkeit vom langen Warten in der Sonne. Vielleicht doch ein Sonnenstich.
Die Tasche stand, wie ich sie verlassen hatte. Beim Wiedereinstieg zog ich mir den Gurt wieder über den Kopf, das Gewicht belastend und beruhigend an Schulter und Hüfte. Im Zug war nun mehr Platz, auch die Nonne und der Punker hatten den Zug verlassen. Ob ich sie mir doch nur eingebildet hatte? Sitzplätze waren noch nicht freigegeben worden, rechts und links standen Menschen, blickten aus Fenstern, starrten in Handys. Sie sprachen nicht, noch nicht einmal über das Wetter, zu dem doch alle eine Meinung haben mussten. Die Menschen schwitzten nur in den Gängen und wünschten sich wohl wie ich, endlich daheim zu sein.
Und dann entdeckte ich einen jungen Mann, der nicht etwa im Gang stand, sondern im Fußraum eines Vierersitzes. Egoistisch, dachte ich, aber auch schlau, wie er sich an der Reling der Gepäckablage festhält, die schweißdurchtränkte Achsel seines Hemdes den übrigen Passagieren zugewandt, gleichzeitig die Ohren mit Kopfhörern verschlossen. Niemand würde auf den Gedanken kommen, sich setzen zu wollen, so deutlich war doch, dass dieser Raum nicht zu teilen war. Ein junger Banker musste das sein angesichts der schwarzweißen Kluft und der von aller Verantwortung schwer hängenden Schultern.

Wieder hielt der Zug, wieder öffneten sich Türen, wieder strömten Menschen hinaus. Gänge und Plätze leerten sich. Auch der junge Mann war verschwunden, sein Vierersitz verlassen. Dorthin aber setzte ich mich nicht, sondern auf die andere Seite des Ganges, wo eine junge Frau abwechselnd aus dem Fenster und in ihr Smartphone blickte. Die Leere war verdächtig. Vielleicht waren die Plätze vollgesogen mit Schweiß, vielleicht, verflucht, hab hier ein Komma gelesen? vielleicht nur ungewöhnlich unbequem.
Die junge Dame starrte mich an, die Augen verkniffen, die Brauen zusammengezogen, die Lippen aufeinandergepresst. Ich sollte nicht so nahe bei ihr sitzen, vermutete ich, schwer, ihr das übelzunehmen. Mir lief Schweiß über Arme und Gesicht, sie hingegen schien trocken, ihre Haut ohne jeden Glanz. Doch so sehr mir meine Schwitzigkeit unangenehm war, so wenig konnte ich dagegen tun. Als sie mein aufmunterndes Lächeln mit noch mehr Eisigkeit konterte, schlug ich meine Beine wenigstens so übereinander, dass sie möglichst wenig Raum einnahmen.
Diese Haltung öffnete meinen Blick in den Gang, in dem soeben der junge Banker wiedererschien. Er war doch nicht ausgestiegen, hatte sich nur in die Toiletteneinheit zurückgezogen. Seine Rückkehr wird das Geheimnis des Vierersitzes klären, dachte ich, sein Anblick jedoch gab mir nur mehr Rätsel auf: Ein Banker war er offensichtlich nicht, denn seine fadenscheinige Hose zierten handtellergroße Löcher, das knitterige Hemd steckte nur teilweise in einem Bund, der keinen Gürtel hielt. Noch immer trug er die Kopfhörer, und beim Schlurfen durch den Gang klebte sein Blick auf dem Display seines Smartphones. Ohne Zögern setzte er sich auf einen der freien Sitze.
Für einen Moment überlegte ich, ihn anzusprechen, wollte mich aber nicht aufdrängen. Den Wunsch, in seinen Kopf blicken zu können, verwarf ich: Hitze und Schweiß waren eklig genug. Immerhin schien auch die junge Dame einzusehen, warum ich mich zu ihr gesetzt hatte, ihr Blick, mit dem sie abwechselnd mich und den jungen Mann betrachtete, hatte seine Kälte verloren. Fast einträchtig beobachteten wir den jungen Mann, der lesend mit seiner Linken auf seinem Handy herumdrückte. Mit dem Mittelfinger der Rechten kratzte er sich an der Nase, mit dem Ringfinger am Ohr, gleichzeitig?  zupfte mit Zeigefinger und Daumen an den Bartstoppeln, steckte den kleinen Finger in den Mund. Zunächst biss er nur auf das vorderste Glied, wie man das manchmal macht, denkt man nach. Dann schob er den Finger bis zum zweiten, bis zum dritten Glied in den Raum zwischen Zähnen und Wangen, fuhr sich deutlich sichtbar über das Zahnfleisch erst der rechten, dann der linken Gesichtshälfte. Dem kleinen Finger folgte der Ringfinger, der über die Innenseite der Zähne strich. Was tut er da? Ich starrte, blinzelte nicht, atmete kaum. Schweiß und Hitze waren vergessen, nur die wandernden Finger zählten, die Lippen und Zähne, Zunge und Gaumen erforschten. Der Mittelfinger schob sich über die ganze Länge und Breite der Zunge, der Zeigefinger tastete den Gaumen ab.
Hand und Mund schienen wie abgetrennt vom restlichen Körper zu sein. unterbricht den Fluss Hätte der junge Mann nicht einen, zwei, nein, vier Finger gleichzeitig in seinen weit aufgesperrten Rachen gesteckt, den Daumen unter dem Kinn verhakt, er wäre ein zwar nachlässig gekleideter, aber doch unauffälliger Mensch gewesen.

Ich blinzelte. Wandte den Blick ab. Dieser intime Moment eines Menschen, der sich selbst berührt, war obszön, nicht für den Anblick durch Andere gemacht, obschon dieser Exhibitionismus sich den Voyeuren ja doch aufzwang. Zugleich zweifelte ich, je länger ich in den Gang, auf den Boden, meine Füße, meine Hände blickte, umso mehr an der Erinnerung an die absonderliche Kosung. weiß nich Hatte die Exploration wirklich stattgefunden oder war sie – wie Nonne und Punker – nur eine Irritation meines erhitzten Geistes, lieber raus der den Selbstekel vor dem eigenen schwitzenden Leib in das Missverhalten eines anderen Menschen übertrug? Wenn ja: welche Gedanken und Sehnsüchte hatte ich unterdrückt, dass sie sich nun so Bahn brachen? Sehnte ich mich nach der Fähigkeit absoluten Glaubens an etwas Höheres und gleichzeitig nach der maximalen Freiheit eines die Gesellschaft herausfordernden Individuums? Verstand ich mich als Mittler zwischen jenen Außenstehenden und jenen in der Mitte der Gesellschaft, wo ich mich doch in keiner dieser Welten wirklich verwurzelt sah? Wie ich es drehte und wendete: Der junge Mann passte so wenig in diese Erklärung wie eine Faust in einen Mund.
Um nicht wieder starren zu müssen, zwang ich meinen Blick nach rechts, Richtung Fenster. Da saß die junge Frau, Augen und Mund geöffnet, auch sie schien zu sehen, was ich gesehen hatte, auch sie zweifelte vielleicht an ihrer Wahrnehmung, denn nun suchte ihr Blick bei mir die Bestätigung, dass auch ich gesehen hatte, was sie sah. In unserem Entsetzen waren wir unerwartete Verbündete geworden, Zeugen einer Anomalie, die wir uns alleine nicht erklären konnten. Hatte sie mich vor Minuten noch abgelehnt und fortgewünscht, gaben ihr meine Anwesenheit und mein Nicken die Sicherheit, dass sie nicht fehlsah.
Ein Kichern stieg in ihr auf, ein Glucksen, das, je länger es dauerte, immer weniger Komplizenschaft und immer mehr Irrnis lautmalte. Meine Bestätigung war nicht beruhigend genug gewesen, und ein Blick zurück zu dem jungen Mann zeigte, dass meine Annahme, eine Faust passe nicht in einen Mund, naiv gewesen war. Als wolle er auch noch die Beschaffenheit seiner Speiseröhre untersuchen, hatte der junge Mann seine Hand bis über das Daumengrundgelenk in seinen Mund gezwängt, während er, als läse er ein Handbuch für orale Penetration, seinen Blick nicht vom Bildschirm seines Smartphones genommen hatte.
Das Lachen der jungen Frau war einem gutturalen Jammern gewichen. Sie würgte, als wolle sie sich übergeben. Sie schluckte hörbar, doch das Schlucken schien nur zu verschlimmern, was sie zu vermindern gehofft hatte. Ihr Atem beschleunigte, verflachte, ihre Pupillen verengten sich, auf ihre Stirn traten nun doch noch Schweißperlen. Und dann zog sie sich ihre Handtasche heran, steckte ihre Hände hinein und zog ein Fläschchen hervor, aus dem sie eine stark nach Eukalyptus riechende Flüssigkeit in ihre Handfläche goss, in ihren Händen verrieb, die Unterarme hinauf bis zu den Ellenbeugen. Dann schloss sie die Augen, lehnte sich zurück, atmete tief ein und langsam wieder aus.

Der Zug hielt überraschend warum? an meiner Station. Rasch griff ich nach meiner Tasche, eilte zur Tür und trat aus dem überhitzten Zug in erfreuliche Kühle. In der letzten halben Stunde war die Temperatur gefallen. Mein T-Shirt, das im Zug nicht getrocknet war, hing mir klamm am Oberkörper. Bis ich zuhause ankäme, würde mich diese Kühle bestimmt wieder freuen.
Auf dem Heimweg dachte ich nach über Menschen, die so gleich und doch so anders waren, dass Gegensätze nebeneinanderstehen und sich doch nicht wahrnehmen mochten wegen all der kleinen Sphären aus Musik, Glauben oder Technologie. Sphären, die einander so wenig berührten wie Menschen an einem schweißtreibenden Tag. Gleichzeitig konnten diese Menschen sich so fern sein, dopplung wegen gleichzeitig als seien sie wie durch einen breiten Fluss getrennt, und sich doch so intim berühren, dass der Eine sich die Finger in den Hals stecken kann und der Andere davon würgen muss.


Also, hab mir mal angemaßt. Embarassed
Dieser Typ hat sich also wirklich die ganze Faust  in Hals und Mund gesteckt?
Das ist ehrlich grotesk, das möchte man dir gar nicht abkaufen.
Und die Frau? Bekam die dann wirklich einen halben Krampfanfall?
Und das Ende? Weiß nicht, wo da dein Problem jetzt ist. Hättest du es gern subtiler? Verbindender? Wenn man länger darüber nachsinnt, mag das sein, dass sich hier eine zu einfache Moral versteckt. Ich habe den letzten Satz aber zum Beispiel gebraucht. Er hat mich wieder zentriert, denn ich war von dieser Groteske gefangen und abgestossen zugleich und habe darüber alles andere fast wieder vergessen. Auch die vorhergehenden Trugbilder (ohne deinen Einwand, wüsste man jetzt nicht, was real, was vielleicht nur erfunden ist) rücken den Schlussatz so ein bisschen ins Nichts.
Vielleicht, wenn man den Auftakt ein bisschen strafft?
Was die Geschichte auf jeden Fall schafft ist, dass man darüber nachdenkt!
Und vielleicht denkst du, das Ende nimmt dem zu viel vorweg?
Was ich da im Text so fettgemacht habe, das nur, weil von Werkstatt die Rede war und letztendlich bin ich auch gerne mal blind.


_________________
Die Wahrheit ist keine Hure, die sich denen an den Hals wirft, welche ihrer nicht begehren: Vielmehr ist sie eine so spröde Schöne, daß selbst wer ihr alles opfert noch nicht ihrer Gunst gewiß sein darf.
*Arthur Schopenhauer
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charls
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Beitrag15.08.2018 21:45

von charls
Antworten mit Zitat

"Flüssigkeit drang literweise aus allen Poren, sollte aber nur die eigene Haut berühren"
Widerspruch. Es sei denn du trugst ein Panzerhemd.

"Im Zug, der schließlich hielt, saßen auf allen Plätzen Pendler, die in Frankfurt arbeiteten, nicht aber dort lebten:"
Inhaltliche wiederholung. Ueberfluessig.

"Menschen in den farblosen Uniformen der Wichtigen---
Bitte was soll das sein? Schildere diese Farbloigkeit naeher damit ich sie mir vorstellen kann.  

"Gleich ihrer Ziele schwitzten sie...."
Bedeutet das wenn ich ein anderes Ziel gehabt haben wuerde , wuerde ich nicht schwitzen?

"Ein junger Banker musste das sein angesichts der schwarzweißen Kluft und der von aller Verantwortung schwer hängenden Schultern.   " Klischee.

"Auf dem Heimweg dachte ich nach über Menschen, die so gleich und doch so anders waren"
Aus der Phrasendreschmaschine?

Es sind nur punktuelle Ausschnitte die ich zitiere, als Beispiel wo Fehlerquellen des Handwerks liegen.
Ansonst, mit Verlaub, fand ich die Geschichte oede und leer. Das sind jene Momente in denen der Lehrer die Schueler fragt: was wollte uns der Dichter damit sagen?
Nicht mal ein Spannungsbogen war zu entdecken. Sorry.


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Was waeren wir ohne die Liebe? Sag, was waeren wir, ausser Gottloses Gesindel?
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anderswolf
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Beitrag16.08.2018 17:42

von anderswolf
pdf-Datei Antworten mit Zitat

d.frank hat Folgendes geschrieben:
Hallo anderswolf

Hallo Diana!
Zitat:
während die Sonne die Gleise summen, gestolpert zum ersten Mal die Sitzmulden aus Gitterdraht glühen und vor allem alle Reisenden unaufhörlich schwitzen ließ.

Froh bin ich, dass Du hier erst gestolpert bist. Aber dass Du gestolpert bist, da gebe ich Dir recht. Die Formulierung ist umständlich.

Zitat:
Pendler, die in Frankfurt arbeiteten, nicht aber dort lebten: vor allem Menschen in den farblosen Uniformen der Wichtigen, aber auch jene bunt gekleideten Dienstleister, die den Bankern und IT-lerinnen in Vormittags- und Mittagspausen Getränke verkauften und Essen bereiteten. wirklich nur die Beiden ?

In einer vorigen Version stand da noch ein vor allem, das habe ich dann wieder gestrichen. Im Wesentlichen ist es eh wurscht, wer da sitzt, denn das ganze klischierte Personal hat ja mit der Episode nix zu tun.

Zitat:
Gleich ihrer Herkunft schwitzten sie, denn die Klimaanlage des Zuges hatte versagt. das steht so ein bisschen verloren..als wäre die Klimaanlage Richter über Gedei und Verderb, das soll aber sicher so, denk ich

Dass das da so steht, ist Folge einer Streichung. Und dass die Klimaanlage da überhaupt erwähnt wird, ist nur Folge der Erkenntnis, dass die Bahn im Sommer seltener ihre Züge kühlen kann als nicht.

Zitat:
teils führten sie noch Koffer und Fahrräder mit sich. das liest sich angehängt

Ist es auch. Folge einer Zusammenlegung/Streichung.

Zitat:
schwarzem Netzhemd über rotkarierter Hose, die in schwarzen Stiefeln steckte. ist das nicht zu viel?

Zumindest unnötig.

Zitat:
Im Zug war nun mehr Platz, auch die Nonne und der Punker hatten den Zug verlassen.

Stimmt.

Zitat:
der von aller Verantwortung schwer hängenden Schultern.

Tatsächlich wollte ich da die Grammatik nochmal geprüft haben. Danke!

Zitat:
vielleicht, verflucht, hab hier ein Komma gelesen?

Muss ich drüber nachdenken. Wahrscheinlich ist das 'verflucht' auch überflüssig, dann muss ich mir keine Gedanken darüber machen, wie ich das automatisch eingelesene Komma vermeide.

Zitat:
Mit dem Mittelfinger der Rechten kratzte er sich an der Nase, mit dem Ringfinger am Ohr, gleichzeitig?

In der Tat war das nacheinander.  

Zitat:
Hand und Mund schienen wie abgetrennt vom restlichen Körper zu sein. unterbricht den Fluss

Hätte ich auch streichen können.

Zitat:
an die absonderliche Kosung. weiß nich

Folge von Wortverliebtheit. Hätte ich streichen sollen.

Zitat:
meines erhitzten Geistes, lieber raus

Ja.

Zitat:
Der Zug hielt überraschend warum?

Ich war, weil so sehr abgelenkt, überrascht, dass ich schon aussteigen musste, hatte nicht mitbekommen, dass wir schon da waren.

Zitat:
Gleichzeitig konnten diese Menschen sich so fern sein, dopplung wegen gleichzeitig

Offensichtlich verwende ich 'gleichzeitig' gerne.

Zitat:
Also, hab mir mal angemaßt. Embarassed
[…]
Was ich da im Text so fettgemacht habe, das nur, weil von Werkstatt die Rede war und letztendlich bin ich auch gerne mal blind.

So war es auch gedacht. Der Text basiert auf einer Impro-Übung für die Bühne, die wiederum auf einer tatsächlichen Zugfahrt basiert. Für die Theater-Übung brauchte ich den langen Einstieg, der, wenn man ihn spricht und gleichzeitig (ha!) geht, dynamischer wirkt. Die ganze Finger-Sache habe ich dann nicht gesprochen, sondern nur gespielt, erst im letzten Halt des Zuges bin ich dann wieder ins Erzählen gegangen. Irgendwie wollte ich das in einen lesbaren Text übersetzen. Und das Ergebnis ist definitiv werkstattfähig.

Zitat:
Dieser Typ hat sich also wirklich die ganze Faust  in Hals und Mund gesteckt?
Das ist ehrlich grotesk, das möchte man dir gar nicht abkaufen.
Und die Frau? Bekam die dann wirklich einen halben Krampfanfall?

Das war wirklich grotesk. Bis heute weiß ich nicht, was das sollte, auch wenn ich mittlerweile Vermutungen habe. Spannender fand ich aber ohnehin die Frau, die sich wirklich vor lauter Fremdekel beinahe übergeben hätte. Müsste ich abwägen, wer psychologisch interessanter ist, würde ich sie wählen.

Zitat:
Und das Ende? Weiß nicht, wo da dein Problem jetzt ist. Hättest du es gern subtiler? Verbindender? Wenn man länger darüber nachsinnt, mag das sein, dass sich hier eine zu einfache Moral versteckt. Ich habe den letzten Satz aber zum Beispiel gebraucht. Er hat mich wieder zentriert, denn ich war von dieser Groteske gefangen und abgestossen zugleich und habe darüber alles andere fast wieder vergessen. Auch die vorhergehenden Trugbilder (ohne deinen Einwand, wüsste man jetzt nicht, was real, was vielleicht nur erfunden ist) rücken den Schlussatz so ein bisschen ins Nichts.
Vielleicht, wenn man den Auftakt ein bisschen strafft?
Was die Geschichte auf jeden Fall schafft ist, dass man darüber nachdenkt!
Und vielleicht denkst du, das Ende nimmt dem zu viel vorweg?

Der Schlussgedanke soll quasi die Klammer des ganzen Textes sein, mich stört vor allem die Formulierung, in der der eigentliche Gedanke eingefasst wird. Dass körperliche Berührungen auf zwischenmenschlicher Ebene so sehr verpönt sind, dass allein die Vorstellung einer Berührung dazu führen kann, dass man spürt, was gar nicht da ist.
Wahrscheinlich hätte ich das gerne subtiler (danke für die Anregung, das so zu formulieren), als auch ein wenig gesellschaftskritischer: also eben das unausgesprochene Berührungsverbot, das durch die durchaus menschliche Lust an Exhibitionismus/Voyeurismus komplett unterlaufen wird.
Der Auftakt muss definitiv straffer sein und vor allem mehr ins Thema einschwenken, da verbringe ich zu viel Zeit mit unnützen Beschreibungen und vor allem mit Schweiß, als wollte ich mich selbst davon überzeugen, wie eklig Schweiß ist, wo ich doch gerade erst in diesem Sommer erfahren habe, wie toll Schweiß sein kann, wenn an einem unglaublich heißen Tag nur mal kurz ein Lüftchen über die Haut streicht.

Vielen Dank für die Auseinandersetzung mit meinem Text Smile
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anderswolf
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Beitrag16.08.2018 17:58

von anderswolf
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charls hat Folgendes geschrieben:
"Flüssigkeit drang literweise aus allen Poren, sollte aber nur die eigene Haut berühren"
Widerspruch. Es sei denn du trugst ein Panzerhemd.

Stimmt. Gemeint war natürlich, dass keine fremde Haut berührt werden sollte.

Zitat:
"Im Zug, der schließlich hielt, saßen auf allen Plätzen Pendler, die in Frankfurt arbeiteten, nicht aber dort lebten:"
Inhaltliche wiederholung. Ueberfluessig.

Stimmt. Folge einer unvollständigen Überarbeitung. Zuvor waren die Pendler noch Menschen.

Zitat:
"Menschen in den farblosen Uniformen der Wichtigen---
Bitte was soll das sein? Schildere diese Farbloigkeit naeher damit ich sie mir vorstellen kann.

Auch eine Kürzungsfolge. Ist notiert.

Zitat:
"Gleich ihrer Ziele schwitzten sie...."
Bedeutet das wenn ich ein anderes Ziel gehabt haben wuerde , wuerde ich nicht schwitzen?

Interessante Frage. Wäre in diesem Sommer eine tolle Taktik gewesen. Natürlich ist dem aber nicht so. | Die ganze Formulierung ist aber eh albern.

Zitat:
"Ein junger Banker musste das sein angesichts der schwarzweißen Kluft und der von aller Verantwortung schwer hängenden Schultern.   " Klischee.

So war er auch gedacht, weil er ja später meinem Klischee gar nicht mehr entspricht.

Zitat:
"Auf dem Heimweg dachte ich nach über Menschen, die so gleich und doch so anders waren"
Aus der Phrasendreschmaschine?

Freut mich, dass das so deutlich war.

Zitat:
Es sind nur punktuelle Ausschnitte die ich zitiere, als Beispiel wo Fehlerquellen des Handwerks liegen.
Ansonst, mit Verlaub, fand ich die Geschichte oede und leer. Das sind jene Momente in denen der Lehrer die Schueler fragt: was wollte uns der Dichter damit sagen?
Nicht mal ein Spannungsbogen war zu entdecken. Sorry.

Das einzige, was ich da nicht verstehe, ist das 'Sorry' am Ende. Als könntest Du was dafür, dass ich keinen Spannungsbogen in einem Text unterbringen kann, der nicht weiß was er will. Über die Entstehung des Textes habe ich in der Antwort auf d.frank ja schon kurz was geschrieben (Verschriftlichung einer Bühnenübung), ebenso über die lose 'Moral' (Ferne zwischen den Menschen, die auf ungewöhnliche Weise überbrückt wird). Was ich relativieren würde: dies ist keine Geschichte, es ist eine fragmentarische Anekdote. Die darf natürlich trotzdem Anfang, Schluss und Ende, vielleicht auch einen Spannungsbogen haben und eine Botschaft. Möglicherweise kann ich, wenn ich mir klarer bin über die Absicht, warum ich das erzählen wollte, das Fragment zu einer Geschichte ausbauen, die mehr Inhalt aufweist.
Vielen Dank für die Auseinandersetzung mit meinem Text Smile
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anderswolf
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Beitrag03.09.2018 10:32
Jenseits des Ganges
von anderswolf
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Zweiter Versuch. Immer noch habe ich keine Ahnung, was ich sagen will. Ja, Fremdekel und Faszination. Die Hitze ist raus, aller Schweiß auch. Aber der Sommer ist ja auch vorbei.
Die Tempi sind seltsam, weil ich vor lauter Plusquamperfekt gar keinen Rhythmus mehr gefunden habe. Und der Schluss ist immer noch unrund. Dass es ein anderer als vorher ist, hat nicht geholfen. Fragment halt.


Wie durch einen breiten Fluss von dem jungen Mann getrennt sitze ich jenseits des Ganges in einem Vierersitz, den ich mir mit einer jungen Frau teile, die mit ihrem ersten Blick auf mich beschlossen hat, mich zu hassen. Gleichzeitig teilen sie und ich ein Interesse: herauszufinden, was mit dem jungen Mann nicht stimmt.

Mit seinem zu weiten weißen Hemd und der fadenscheinigen Stoffhose hätte er ein unauffälliger Mensch sein können, tatsächlich scheint er aber einem Panoptikum entflohen. Anfangs hat er sich nicht unterschieden von den anderen Menschen im Zug, ja, auch nicht von der jungen Dame, die wie alle anderen den Blick abwechselnd auf den Handybildschirm und aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft geheftet hielt. Dann jedoch hat er sich die Hand in den Mund gesteckt.

Die Linke hielt das Handy, der Daumen scrollte durch einen Text, dem die Augen folgten. Die Rechte aber hatte ein irritierendes Eigenleben: Erst kratzte der Mittelfinger an der Nase, dann bohrte sich der Ringfinger ins Ohr, schließlich zupften Zeigefinger und Daumen an den Bartstoppeln, zuletzt verschwand der kleine Finger im Mund.

Manches Mal, wenn ich nachdenke, klemme ich mir das Gelenk des Zeigefingers zwischen die Zähne. Manche Kinder lutschen an ihrem Daumen, bis ihnen diese Angewohnheit in der Grundschule weggemobbt wird. Dieser junge Mann allerdings beschränkte sich aber auf weder das Eine noch das Andere: Er biss auf das äußerste Fingerglied, dann schob er den Finger zur Hälfte, schließlich ganz in den Raum zwischen Zähnen und Wangen, fuhr deutlich sichtbar über das Zahnfleisch erst der rechten, dann der linken Gesichtshälfte. Dem kleinen Finger folgte der Ringfinger, der über die Innenseite der Zähne strich.

Mein Zahnarzt hat mir mehrfach einen ungewöhnlich großen Kiefer attestiert. Beim Abformen meiner oberen Zahnreihe für Implantat und Krone benötigte dementsprechend eine Sonderanfertigung. Meinem großen Kiefer mit den nicht entsprechend großen Zähnen verdanke ich weite Zahnzwischenräume, in denen immer wieder Speisereste auf Lockerung und Lösung warten. Dann bearbeite ich mit meiner Zunge Zähne und Zahnfleisch, presse Spucke hindurch, in der Hoffnung, lästigen Mohn oder Fetzen von Petersilie zu befreien. Versagt meine Selbstbeherrschung, kratze ich auch mal mit dem Fingernagel eine hartnäckige Fleischfaser heraus. Niemals jedoch in der Öffentlichkeit. Und niemals mit solcher Hingabe.

Ich starre den jungen Mann an, blinzele nicht, atme kaum. Der Mittelfinger schob sich über die ganze Länge und Breite der Zunge, der Zeigefinger tastete den Gaumen ab. Hand und Mund schienen wie abgetrennt vom restlichen Körper zu sein. Hätte der junge Mann nicht einen, zwei, nein, vier Finger gleichzeitig in seinen weit aufgesperrten Rachen gesteckt, den Daumen unter dem Kinn verhakt, nichts an ihm hätte meine Aufmerksamkeit erregt.

Mit Gewalt drehe ich meinen Kopf nach rechts, Richtung Fenster. Da sitzt die junge Frau, Augen und Mund geöffnet, auch sie gefangen von der irritierenden Darbietung. Als ich mich zu ihr gesetzt habe und nicht zu dem jungen Mann, hat sie mich wütend angestarrt. Wie ich es wagen könne, in ihren persönlichen Raum einzudringen, schienen ihre Augen mir sagen zu wollen. Ob ich denn nicht verstehen könne, dass sie sich eine Frau als Sitznachbarin wünsche, wenn es denn überhaupt nötig sei, den freien Platz zu teilen. Ihr Blick war von einer Wut gefüllt gewesen, die nun Entsetzen und einer nahenden Irrnis gewichen war.  

Ihre Mundwinkel zucken, die Lippen ziehen sich in die Breite, die Nase kraust sich. Ein Glucksen steigt die Kehle hinauf, ein beginnendes Kichern, das aber, bevor es in ein Lachen übergehen kann, in ein Wimmern kippt, ein gutturales Jammern gebiert. Sie würgt, als wolle sie sich übergeben, schluckt hörbar, was nur zu verschlimmern scheint, was vermindert werden sollte. Ihr Atem beschleunigt, verflacht, ihre Pupillen verengen sich, auf ihre Stirn treten Schweißperlen. Und dann holt sie sich ihre Handtasche heran, steckt ihre Hände hinein und zieht ein Fläschchen hervor, öffnet es. Menthol füllt die Luft, sticht in meiner Nase, beruhigt aber die Panik der jungen Frau, die aus dem Fläschchen eine Flüssigkeit in ihre Handfläche gießt, in ihren Händen verreibt, die Unterarme hinauf bis zu den Ellenbeugen. Dann verschließt sie Fläschchen, Tasche und Augen, lehnt sich zurück und atmet.

Ich will den Blick nicht wieder nach links wenden und will es doch. Wie man aber immer wieder an einem lockeren Zahn spielen will, muss ich nachsehen, was der junge Mann treibt. Sofort wünsche ich mir, ich hätte es tatsächlich unterlassen. Als wolle er auch noch die Beschaffenheit seiner Speiseröhre untersuchen, hat er seine Hand bis über das Daumengrundgelenk in seinen Mund gezwängt, während er, als läse er ein Handbuch für orale Penetration, seinen Blick nicht vom Bildschirm seines Smartphones genommen hat.

Schon häufig habe ich mich gefragt, ob das überhaupt geht, eine ganze Hand in einen Mund. Schlangen können ihren Kiefer aushängen, ein Volk auf Papua-Neuguinea glaubt, im Maul eines göttlichen Krokodils finde die gesamte Welt Platz. Doch als mir nun aus nächster Nähe, fern von Zoos und Mythologie, die Antwort auf meine schlummernde Frage gegeben wird, wünsche ich mir, mein Geist hätte sich so ferngehalten von jeder Neugier wie ich mich auch sonst gerne von allen Menschen ferngehalten hätte, als wäre ich von ihnen wie durch einen breiten Fluss getrennt.
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Michel
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Beitrag03.09.2018 14:03

von Michel
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Steht die Neufassung so komplett oder bildet sie einen Ausschnitt, der in den Gesamttext noch integriert wird? Als Standalone finde ich schwer hinein.

Das Leben schreibt immer noch die besten Geschichten. Ich tue mich schwer, mir den Akt des Handversenkens bildlich vorzustellen, bin aber auf morbide Weise fasziniert und empfinde gleichzeitig Scham, so schamlos zuzusehen. Wie gut, dass ein LI das für mich übernimmt. Die Gestalt in der fadenscheinigen Hose finde ich die wesentlich spannendere, weil so ungewöhnlich. Die Reaktion der schweißlosen Dame auf der anderen Seite (schöner Gegensatz) dagegen nicht so ungewöhnlich. Dass man würgen muss, wenn man etwas subjektiv Ekliges beobachtet, habe ich selbst schon erlebt. Spießer wie ich sind da ganz schnell dabei.

Die detailgenauen Beobachtungen nehmen mich hinein, zumindest im zentralen Teil der Geschichte. Sie verstärken noch einmal dieses groteske Bild und transportieren die Faszination des LI. Weniger faszinierend fand ich in Fassung 1 den langwierigen Start in gefühlt gestelzter Sprache und mit einer Attitüde, die das LI über die Banker stellt. Der Ich-Erzähler tut letztlich nichts anderes als die Objekte seiner Betrachtung: Er hält sich (in meiner Lesart) für etwas Besseres. Es würde mich nicht stören, wenn der größte Teil davon rausfliegt. Den Gegensatz von Nonne und Punk fand ich dagegen reizvoll, habe aber auf irgendeine Reaktion, irgendein Verhalten gewartet. Im Moment stehen sie relativ statisch herum.

Ich finde, der Text gewinnt durch die Umstellung auf Präsens deutlich an Intensität, allerdings haben sich diverse Tempuswechsel eingeschlichen - oder sind die beabsichtigt? Für mich geht das wild hin und her; ein konsequentes Entweder-Oder fände ich hilfreicher, von Einschüben wie dem Zahnarzt mal abgesehen, wo sich der Erzähler direkt an den Leser wendet. (Unangenehm, sich so gespiegelt zu sehen, mit der Petersilie zwischen den Zähnen ...)

Letzter Absatz (erste Fassung): Die Betrachtungsweise des Ich-Erzählers lasse ich trotz meiner anderen Erfahrungen gerne gelten, dieser für mich ungewöhnliche Blick, das Zusammenziehen zu einer Klammer. Den Rest des Absatzes überfliege ich etwas. Dass ein Zug "überraschend" hält, passiert eher bei Nothalt oder Streckensperrung (Ja, ich weiß, was Du meinst).  Die nachlassende Hitze, das nach wie vor verschwitzte T-Shirt, v.a. das "Ich dachte nach" - das verwässert für mich die so eindrückliche Szene. Hier sehe ich die Möglichkeit, noch deutlich zu kürzen.  Oder fliegt der Absatz ganz raus? Das fände ich wiederum schade.
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anderswolf
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Beitrag04.09.2018 17:39

von anderswolf
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Hallo Michel,
vielen Dank für Deine Beschäftigung mit meinem Text, der so gesehen eine (ans Leben angelehnte) Schreibübung darstellt und wohl über das Fragmentarische nie rauskommen wird. Dementsprechend war auch die neue Fassung gedacht als  Standalone, der lahme Part zu Beginn hat nicht nur Dich abgeschreckt. Die oberflächliche, ja abschätzige Betrachtung war zwar auch als Verdeutlichung dafür gedacht, wie wenig sich Menschen manchmal ineinander einfühlen wollen/können, andererseits ist halt echt zu wenig dabei passiert, was es lesenswert gemacht hätte.

Nonne und Punker hätte ich gerne drin gelassen, allerdings sind sie wirklich zu früh ausgestiegen, als dass sie Wesentliches hätten beitragen können. Je weiter sich die Anekdote allerdings vom Erlebten entfernt, umso mehr bin ich geneigt, die Verschwundenen wieder auftauchen zu lassen (ohne Ahnung wie). Ganz kurz dachte ich, sie könnten die Beobachteten werden, wobei dann aber aus Dramaturgie- und Skurrilitätsgründen die Nonne zur Selbstverschlingenden transformiert wäre. Erschien mir dann aber doch zu unglaubwürdig. Ist ja so schon hart.

Und wie Du schreibst: morbid faszinierend. Auch die Fern-Beziehung von Voyeur und Exhibitionist fällt ja im Wesentlichen unter das Thema des (Nicht-)Berührtwerdens. Wie bei einem Unfall kann man dann nicht anders als hinsehen, schaudern, sich am Absonderlichen ergötzen. Und sich gleichzeitig für die eigene und die un-eigene Schamlosigkeit (fremd-)schämen.

Gut, dass die Detailfülle nicht überfrachtet, überfordert, was eine Befürchtung war. Der Gedanke ist ja durchaus immer da, dass man nicht alles beschreiben muss, sondern auch dem Leser noch einen Rest an Vorstellungsarbeit lassen darf.

Es freut mich ebenso, dass das Präsens den Leser besser mitnimmt. Die vielen Tempuswechsel waren tatsächlich irgendwie Absicht, vor allem zu Beginn kann es jedoch sehr irritieren, dass zuerst im Präsens über die Beziehung zwischen LI und junger Dame berichtet wird und dann als "Rückblende" berichtet wird, was der junge Mann getan hat, um so viel Aufmerksamkeit zu erregen. Vielleicht könnte man auch das im Präsens tun, es fühlte sich aber nicht richtig an.
Besondere Absicht sind die Einschübe, die sich an den Leser wenden, also eben Zahnarzt und Krokodil, weil hier ja die Anekdote verlassen wird. (Erfreulich, dass die Petersilie gewirkt hat  Wohow )

Der letzte Absatz sollte tatsächlich raus, wobei mir in der Neufassung tatsächlich noch etwas fehlt, um diese Klammer herzustellen, die ich wirklich haben wollte. In dem Absatz selbst war aber so viel blöd (Tempo, Beschreibungen, Streckensperrung). Vielleicht finde ich aber noch eine Möglichkeit, beide Teile zu verbinden. Wahrscheinlich, wenn ich wieder einen Einstieg in den Zug habe (und nicht den Text erst beginne, wenn LI schon sitzt), denn dann rechtfertigt sich auch erzählerisch der Ausstieg.

Danke nochmals für die Auseinandersetzung!
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anderswolf
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Beitrag21.09.2018 17:50

von anderswolf
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Dritter Versuch. Immer noch keine Ahnung, was ich sagen will. Immerhin wird es von Mal zu Mal kürzer.

Eine Zugfahrt. Draußen die Welt in flirrender Hitze und drinnen ebenso, als gäbe es nichts Trennendes dazwischen. Die Fahrgäste machen sich in ihren Sitzen klein, um einander nicht zu berühren. Mit unseren Blicken aber, die von Mensch zu Mensch springen, betasten wir uns doch. Jene zumindest, die nicht digital versunken sind.

Einer jener, die in ihr Smartphone und nicht aus dem Fenster blicken, ist der junge Mann auf der anderen Seite des Ganges. Wischt über den Bildschirm, tippt auf das Glas, verschlingt, was an Futter sich ihm bietet. Einer jener, denke ich, die nachmittags von der Stadt ausgespuckt, am nächsten Morgen aber wieder geschluckt werden. Tag für Tag, Sommer für Sommer, stets unverdaut.

Eine jener, die mit mir beobachten – die Welt draußen, die Menschen drinnen -, ist die junge Frau mir gegenüber. Wie ich ist sie Reisende, Wandernde, Wundernde. Vermute ich, weil ich nicht den Mut oder den Mund aufbringe, sie zu fragen. Als ob es so schwer wäre, ein Gespräch zu beginnen. Da sind wir uns so nah, und doch so fern, weil mir kein Thema greifbar scheint.

Dann steckt der junge Mann sich die Hand in den Mund.

Zuerst ist es nur der kleine Finger, dessen äußerstes Glied zwischen den Zähnen liegt, dann fährt die Fingerspitze ganz in den Raum zwischen Zähnen und Wangen, wandert über das Zahnfleisch erst der rechten, dann der linken Gesichtshälfte. Dem kleinen Finger folgt der Ringfinger, der über die Innenseite der Zähne streicht. Der Mittelfinger schiebt sich über die ganze Länge und Breite der Zunge, der Zeigefinger tastet den Gaumen ab. Als solle auch noch die Beschaffenheit der Speiseröhre untersucht werden, steckt schließlich die ganze Hand bis über das Daumengrundgelenk im Mund des jungen Mannes, der – wie von seiner Hand getrennt – gänzlich ungerührt erscheint.

Die Iatmul am mittleren Sepik glauben, ein Krokodil habe alles Leben in seinem Rachen erschaffen. Im Himmel erkennen die Iatmul seinen Oberkiefer, seinem Unterkiefer entstammen Berge und Erde. Ein Junge – glauben die Iatmul – werde von einem Krokodil gefressen und als Mann wieder hervorgewürgt. Als Zeichen der Reife schneiden sie sich rituelle Wunden in den Körper, Narben wie von Zähnen.

Die Miene der jungen Frau mir gegenüber ist verzerrt von Entsetzen, ich erkenne das Weiße rund um ihre Pupillen, hinter ihren Lippen sehe ich Zähne und Zunge. Ihr Atem geht flach und schnell, ein Keuchen weicht Schlucken und Würgen. Dann reißt sie sich los, wendet sich ab, presst das Gesicht ans Glas, die Augen hält sie geschlossen.

Ich hefte ich den Blick auf den Boden. Ich fühle den Schweiß auf meiner Haut. Ich atme Hitze ein. Ich atme Hitze aus. Ich denke nicht nach über einen Menschen, der sich so sehr selbst berührt, dass andere Menschen davon würgen müssen. Ich denke an die Narben, die wir auf unserer Haut und unerreichbar in unserer Seele tragen. Dann – irgendwann – hält der Zug.
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Catalina
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Beitrag21.09.2018 19:14

von Catalina
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Mir gefällt die dritte Version am besten. Auch der Schluss. Mit dem hast Du für mich schon ganz viel Aussage drin. Eine, die mich anspricht. Nicht das absondere Verhalten unserer Mitmenschen ist relevant, sondern wie es dazu gekommen ist... So verstehe ich es.

anderswolf hat Folgendes geschrieben:

Da sind wir uns so nah, und doch so fern

Das ist mir zu phrasenhaft.

anderswolf hat Folgendes geschrieben:

Dann steckt der junge Mann sich die Hand in den Mund.

Das ist jetzt Hardcore.
Ich mochte das "hinführende Erzählen" des ersten Textes an dieser Stelle lieber... Aber das ist wahrscheinlich eine Frage der Vorliebe des Geschmacks.
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firstoffertio
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Beitrag21.09.2018 22:50

von firstoffertio
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Ich lese hier schon eine Weile mit. Antworte jetzt mal auf die dritte Fassung.

Für mich interessant ist, wie mich das Verhalten des Mannes mehr verwundert als sonst das der Leute im Zug, die dauernd nur auf ihr Handy gucken, und was weiß ich da sehen. Was mich immer schon sehr verwundert.

Den Abschnitt über die Iatmul bräuchte es m. E.  nicht, auch nicht den Schlusssatz.
Nach würgen müssen könnte dein Text aufhören.
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Heidi
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Beitrag21.09.2018 23:24

von Heidi
Antworten mit Zitat

Hallo anderswolf,

ich hab nur die dritte Version gelesen; in die erste hab ich reingelesen als sie ganz neu war, konnte mich zu dem Zeitpunkt aber nicht gut darauf einlassen, sie hat mich nicht reingezogen. Anders ist es nun mit dieser hier. Ich konnte nicht mehr aufhören zu lesen. Sehr gut.

Der Text hat etwas extrem Nahes. Schwer, zu umschreiben, wie ich das meine. Es sind die Figuren, die allesamt wichtig sind, selbst die Fahrgäste, die sich klein machen; obwohl sie scheinbar nur Nebenrollen haben, wirken sie intensiv. Denn sie haben keine Nebenrollen. Schon am Anfang kommt dieses Betasten. Es spielt für alle eine Rolle. Klar gibts dann auch die Versunkenen, aber selbst die sehe ich deutlich vor mir. Du entwickelst schon beim Einstieg starke Bilder, ohne die Umgebung detailliert zu beschreiben. Ich nenne es mal ein Umschreiben von innen heraus.

anderswolf hat Folgendes geschrieben:
Einer jener, die in ihr Smartphone und nicht aus dem Fenster blicken, ist der junge Mann auf der anderen Seite des Ganges. Wischt über den Bildschirm, tippt auf das Glas, verschlingt, was an Futter sich ihm bietet. Einer jener, denke ich, die nachmittags von der Stadt ausgespuckt, am nächsten Morgen aber wieder geschluckt werden. Tag für Tag, Sommer für Sommer, stets unverdaut.


Das fett Markierte hier, halte ich für sehr wichtig. Der Ich-Erzähler gibt verdammt viel über sich Preis, indem er erzählt, wie er empfindet, was mit diesem einen Menschen geschieht, den er beobachtet. Im Grunde kann er das nicht wirklich, weil er nicht in ihm drinsteckt, es ist seine subjektive Empfindung. Mir gefällt dieses Bild, des Ausspuckens, des Verschlingens. Es hat was Radikales, auch was hart-Realistisches. Vermittelt Kälte von außen, so wie die Welt eben tickt. Mit diesem Zusatz "stets unverdaut", entwirfst du ein tolles Bild. Wo auch immer dieser Mensch arbeitet, also wovon er dann ausgespuckt wird, es verdaut ihn nicht. So lese ich das. Er verrichtet Arbeit, leistet für die Welt, aber der Ort, an dem er leistet, verlangt nach anderem, als den Fähigkeiten, die in diesem Menschen vielleicht "sitzen".

Dann fängst du diese kleinen Situationen gelungen ein, die jeder Mensch kennt. Vermutlich. Eine Begegnung, die durch einen Blick zustande kommt, vielleicht Interesse an diesem Menschen, aber im öffentlichen Verkehr ist die Zeit begrenzt, die Stimmung anders als etwa abends in einem Club oder bei einer Party:

anderswolf hat Folgendes geschrieben:

Eine jener, die mit mir beobachten – die Welt draußen, die Menschen drinnen -, ist die junge Frau mir gegenüber. Wie ich ist sie Reisende, Wandernde, Wundernde. Vermute ich, weil ich nicht den Mut oder den Mund aufbringe, sie zu fragen. Als ob es so schwer wäre, ein Gespräch zu beginnen. Da sind wir uns so nah, und doch so fern, weil mir kein Thema greifbar scheint.


Nähe/Distanz. Körperlich nahe irgendwie, weil sich Körper an Körper aneinandergereiht im Zug befinden, aber gedanklich und empfindungsmäßig dann doch eine Distanz. In diesem Fall, weil der Ich-Erzähler kein gemeinsames Thema greifen kann. Die Frau offensichtlich auch nicht.

anderswolf hat Folgendes geschrieben:
Dann steckt der junge Mann sich die Hand in den Mund.


Eine Wende in eine völlig andere Richtung, durch ein groteskes Bild, das nicht mehr aus dem Kopf geben will. Mag ich sehr. Du steigerst es, indem du es konkret zeigst. Ich sehe alles vor mir, wie er vorgeht usw. Finde ich gut umgesetzt.

anderswolf hat Folgendes geschrieben:
Die Iatmul am mittleren Sepik glauben, ein Krokodil habe alles Leben in seinem Rachen erschaffen. Im Himmel erkennen die Iatmul seinen Oberkiefer, seinem Unterkiefer entstammen Berge und Erde. Ein Junge – glauben die Iatmul – werde von einem Krokodil gefressen und als Mann wieder hervorgewürgt. Als Zeichen der Reife schneiden sie sich rituelle Wunden in den Körper, Narben wie von Zähnen.


Dann dieses Hintergrundwissen hinzugefügt. Sehr spannend einerseits und dann auch noch die Sache, dass das Bild von vorhin dadurch verstärkt wird.
Diese Transformation - vom Jungen zum Mann, durch den Verdauungsprozess eines Krokodils. Das hat viel von Schmerz - die Wunden, aber auch etwas sehr Reales, wenn ich kombiniere: Der Oberkiefer = Himmel, der Unterkiefer = Berge/Erde. Für mich dann auch ein Bild für das Leben. Ein Junge beginnt sein Leben auf der Erde, unter dem Himmel und geht auch (natürlich nicht ausschließlich) durch die Härte und Kälte der Welt, die (auch) emotionale Wunden hinterlässt. Reiben an der Erde, an Stoff. Diese Gedanken kamen mir beim Lesen.

anderswolf hat Folgendes geschrieben:
Die Miene der jungen Frau mir gegenüber ist verzerrt von Entsetzen, ich erkenne das Weiße rund um ihre Pupillen, hinter ihren Lippen sehe ich Zähne und Zunge. Ihr Atem geht flach und schnell, ein Keuchen weicht Schlucken und Würgen. Dann reißt sie sich los, wendet sich ab, presst das Gesicht ans Glas, die Augen hält sie geschlossen.


Und die Reaktion der Außenwelt auf Schmerz, erzeugt Ekel. Jemandem geht es schlecht (es könnte auch ein Obdachloser sein) und Menschen müssen würgen. Warum geschieht das? Weil Elend nicht gerne angeschaut wird?
Du bewegst interessante Fragen in mir. Der Text macht das.

anderswolf hat Folgendes geschrieben:
Ich hefte ich den Blick auf den Boden. Ich fühle den Schweiß auf meiner Haut. Ich atme Hitze ein. Ich atme Hitze aus. Ich denke nicht nach über einen Menschen, der sich so sehr selbst berührt, dass andere Menschen davon würgen müssen. Ich denke an die Narben, die wir auf unserer Haut und unerreichbar in unserer Seele tragen. Dann – irgendwann – hält der Zug.


Und hier sprichst du dann die Seele an, das Innere. Die Narben auf der Seele und bestätigst meine Gedanken von weiter oben abschließend.
Den von mir eingefetteten Satz mag ich besonders, weil dieses Selbst-Berühren vorkommt. Jemand steckt sich die Hand in den Mund. Vollständig. Er berührt sich selbst. Unabhängig vom Krokodil-Bild, worauf du damit hinauswillst, vermutlich, finde ich das eine starke Stelle. Sich selbst berühren.
Bestimmt könnte ich noch jede Menge dazu schreiben, aber ich lass das erst mal so stehen.

Hat mich sehr gefreut, diesen Text lesen zu dürfen.

Liebe Grüße
Heidi
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d.frank
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D

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D
Beitrag22.09.2018 17:34

von d.frank
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Hallo Wolf,

Ich würde den Schweiß, die Schwüle nicht komplett herausnehmen.
Für mich sind sie eine gute Metapher für dieses Klebrige, die Ausdünstungen von Menschlichkeit, um die es dir geht mE, die einen nackt machen und anwidern und in denen man sich dann doch auch wiederfindet.
Ich habe den zweiten Text zum Beispiel nur angelesen. Keine Ahnung, warum.
Wahrscheinlich weil du der Frau (von der du selbst sagtest, dass sie die Interessantere der beiden Figuren wäre) hier keinen Platz lässt und dich sofort auf den Jungen fokussierst.
Von daher wollte ich deine Arbeit nicht kaputtmachen und habe von einer weiteren Einschätzung abgesehen.
Die dritte Version ist sehr kurz, sehr komprimiert. Mir würde wahrscheinlich eine Mischung aus eins und drei gefallen.
Ich mochte das sanfte Heranführen aus der ersten Version, wie gesagt, auch die Gedanken zu Schweiß und Körperflüssigkeiten, die im Bild des Jungen dann einen Höhepunkt finden, weil der sozusagen in seinen eigenen Körper kriecht... Wink
Ich mochte auch die zuvor stattfindende Annäherung an die Frau, wie eben noch misstrauische Fremde durch ein gemeinsames Feinbild zu Verbündeten werden, und wie die Frau sich mit dem Zeug einreibt, als wollte sie sich eine Schutzschicht anlegen.

Die Wörtchen jene, jener blasen die Sätze ganz schön auf. Es klingt nach Bühne und Dirigenten. Wink

Über die Assoziation zur Krokodillegende habe ich lange nachgedacht. Du führst das Thema des ersten Textes damit auf ganz andere Wege. Auch die Gedanken zum Jungen unterstreichen das: Er wäre unverdaut ausgespuckt worden, unfertig, auf eine ar­cha­ische Art authentisch. Durch die Assoziation wirkt er weniger ordinär, durch die Gedanken zur Unfertigkeit beinahe tragisch und weil du das so nebeneinandersetzt, wird für mich daraus ein Zwiespalt, bei dem ich nicht weiß, auf welche Seite ich mich erretten möchte. Wenn du es jetzt noch hinbekommst, der Abwehr der Frau auch weiterhin ihren Platz zu geben (denn in der letzten Version ist sie ja fast nur noch eine Randbemerkung), dürfte das diesem Zwiespalt weitere Tiefe bescheren.

Ich mochte auch diesen Satz aus der ersten Version:

Zitat:
wegen all der kleinen Sphären aus Musik, Glauben oder Technologie.
,

weil der Junge sie einfach durchbricht.
Und das Bild aus der Klammer: Einer tuts, der andere reagiert. Das ist immer noch da, aber geht jetzt ganz schön unter.


Und das hier:

Zitat:
Bis heute weiß ich nicht, was das sollte, auch wenn ich mittlerweile Vermutungen habe.


Magst du mich aufklären?


_________________
Die Wahrheit ist keine Hure, die sich denen an den Hals wirft, welche ihrer nicht begehren: Vielmehr ist sie eine so spröde Schöne, daß selbst wer ihr alles opfert noch nicht ihrer Gunst gewiß sein darf.
*Arthur Schopenhauer
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anderswolf
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Beitrag24.09.2018 17:36

von anderswolf
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Zunächst: vielen Dank Euch, dass Ihr Euch die Zeit und Mühe gemacht habt, meinen Text zu lesen (und auch seine Evolution zu verfolgen). Mir ist über diese drei Versionen einer Begegnungsbeschreibung so klar wie vorher nicht geworden, wie wertvoll dieses Forum und seine Mitglieder sind.

Die drei Iterationen sowie Eure Eindrücke und Anmerkungen haben mir geholfen, zweierlei zu erkennen: welchen Unterschied Formulierungen einerseits haben können und andererseits, was mich tatsächlich irritiert und fasziniert hat, an dieser Begegnung: tatsächlich die Distanz zwischen den Menschen, das Berührtwerden ohne berührt zu werden. Im Grunde steht das ja genau schon in der ersten Fassung, aber ich habe es irgendwie nicht gesehen, bis ich jetzt daraufgestoßen wurde.

Und dadurch wurde mir natürlich auch die dritte Ebene der Begegnung deutlich: Die Menschen im Zug sehen sich und sehen sich doch nicht, berühren sich und berühren sich doch nicht, sie sind so sehr vertieft in das, was nicht ist: Tiefen, die digital, pixelig, elektrisch sind, vor allem aber unerreichbar, weil inexistent. Sie kratzen am Glas einer Welt, die ihnen vorgespielt wird, in der Hoffnung auf eine wie auch immer geartete Berührung überschwemmen sie ihren Geist mit fremden Gedanken von Menschen, die sie nie treffen. Statt sich mit den Menschen direkt gegenüber zu unterhalten, statt ihre Hand zu halten, werfen sie sich ins Internet. Ihre Hoffnung, dass ihre Herzen dort ihren Hunger stillen können, ist trügerisch, weil sie sich so nur selbst verzehren.

Das wahrscheinlich ist das Ziel, auf das ich hinarbeiten will mit diesem Text, auf das ich alleine aber nicht gekommen wäre. Darum also danke ich Euch, dass Ihr Euch mit mir auf diese Reise gemacht habt, die vorerst aus diesen drei Halten besteht und, sobald ich Eure Kommentare beantwortet und meinen Text überarbeitet habe, vielleicht endlich auch eine Endstation bekommt.
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anderswolf
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Beitrag24.09.2018 17:53

von anderswolf
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Catalina hat Folgendes geschrieben:
Mir gefällt die dritte Version am besten. Auch der Schluss. Mit dem hast Du für mich schon ganz viel Aussage drin. Eine, die mich anspricht. Nicht das absondere Verhalten unserer Mitmenschen ist relevant, sondern wie es dazu gekommen ist... So verstehe ich es.

Mittlerweile finde ich die beiden vorigen Versionen auch nicht mehr überzeugend, die dritte ist sehr komprimiert im Vergleich. Freut mich, dass Dir das ebenso gefällt wie mir.
Und danke für das Augenöffnen, dass ich das Warum suche. Denn das ist tatsächlich meine Hauptmotivation in meiner Betrachtung des Lebens: Ich will verstehen, warum Dinge sind, wie sie sind, und warum Menschen tun, was sie tun. Nicht immer finde ich sofort eine Antwort, manchmal erkenne ich auch erst im Gespräch mit anderen, was eigentlich offensichtlich ist.

Zitat:
anderswolf hat Folgendes geschrieben:

Da sind wir uns so nah, und doch so fern

Das ist mir zu phrasenhaft.

Mir auch. Wenn es nicht mein Text gewesen wäre, hätte ich das sicherlich auch angemahnt.

Zitat:
anderswolf hat Folgendes geschrieben:

Dann steckt der junge Mann sich die Hand in den Mund.

Das ist jetzt Hardcore.
Ich mochte das "hinführende Erzählen" des ersten Textes an dieser Stelle lieber... Aber das ist wahrscheinlich eine Frage der Vorliebe des Geschmacks.

Ja und Nein. Das Hinführen hat den Vorteil, dass der Leser gar nicht mitbekommt, in welche Groteske er hineinschliddert, das mochte ich schon auch. Das Abrupte seinerseits fordert den Leser so heraus, dass er sich vielleicht erst fragt, ob der Autor das ernst meint, dann stellt sich raus: Ja, es ist so drastisch und unglaublich.
Ich bin noch unentschlossen, was mir besser gefällt.

Vielen Dank auf jeden Fall für die Beschäftigung mit meinem Text!
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anderswolf
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Beitrag24.09.2018 18:03

von anderswolf
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firstoffertio hat Folgendes geschrieben:
Ich lese hier schon eine Weile mit. Antworte jetzt mal auf die dritte Fassung.

Vielen Dank für diese Vorbemerkung. Sie nimmt mir ein bisschen das schlechte Gewissen, das ich manchmal habe, wenn ich Texte lese und Faden verfolge, aber mich nie äußere. Freut mich, dass ich da nicht alleine bin.

Zitat:
Für mich interessant ist, wie mich das Verhalten des Mannes mehr verwundert als sonst das der Leute im Zug, die dauernd nur auf ihr Handy gucken, und was weiß ich da sehen. Was mich immer schon sehr verwundert.

Die Handymenschen sind tatsächlich sehr verwirrend. Vor allem bei den Pendlern im Frankfurter Speckgürtel, wo man doch denkt: Die sitzen den ganzen Tag vor Bildschirmen, die freuen sich bestimmt auch mal, wenn sie nicht auf Pixel schauen müssen. Weit gefehlt. Irgendwann können sie offensichtlich nicht mehr anders. Vielleicht, das fällt mir eben ein, passiert auch das mit dem jungen Mann: er kann nicht mehr anders, und ohne dass er noch eine Kontrolle darüber hätte, was er sich damit antut, lässt er zu, dass die Pixelei ihn auffrisst. Ob ich wohl, wäre ich länger geblieben, gesehen hätte, wie er sich am Ende mit Haut und Haar in sich selbst auflöst?

Zitat:
Den Abschnitt über die Iatmul bräuchte es m. E.  nicht, auch nicht den Schlusssatz.
Nach würgen müssen könnte dein Text aufhören.

Bei den Iatmul bin ich mir noch nicht sicher, bei den beiden Sätzen nach würgen müssen, gebe ich Dir recht: die sind so nicht haltbar. Der erste ist zu pathetisch, der zweite ist wieder nur so ein Klammer-Ding, um das Ende mit dem Anfang zu verbinden.

Vielen Dank für die Beschäftigung mit meinem Text!
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anderswolf
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Beitrag26.09.2018 16:09

von anderswolf
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Da ist mir doch tatsächlich mein eigentliches Projekt dazwischengekommen und hat mich zu einer Pause hier genötigt. Weiter also.

Heidi hat Folgendes geschrieben:
Ich konnte nicht mehr aufhören zu lesen. Sehr gut.

Der Text hat etwas extrem Nahes. Schwer, zu umschreiben, wie ich das meine. Es sind die Figuren, die allesamt wichtig sind, selbst die Fahrgäste, die sich klein machen; obwohl sie scheinbar nur Nebenrollen haben, wirken sie intensiv. Denn sie haben keine Nebenrollen. Schon am Anfang kommt dieses Betasten. Es spielt für alle eine Rolle. Klar gibts dann auch die Versunkenen, aber selbst die sehe ich deutlich vor mir. Du entwickelst schon beim Einstieg starke Bilder, ohne die Umgebung detailliert zu beschreiben. Ich nenne es mal ein Umschreiben von innen heraus.

Ich bilde mir ein, dass meine Schreib-Superkraft im Anrühren von Emotionen beim Leser besteht. Nicht ich beschreibe, sondern der Leser findet den Hintergrund der Geschichte in sich selbst. Leider kann ich das Instant-E von "Wodka Martini" nicht immer gezielt anwenden, wäre (bis auf die Trunkenheit beim Rezipienten) dennoch ein Träumchen.

Zitat:
anderswolf hat Folgendes geschrieben:
stets unverdaut.


Das fett Markierte hier, halte ich für sehr wichtig. […] Mir gefällt dieses Bild, des Ausspuckens, des Verschlingens. Es hat was Radikales, auch was hart-Realistisches. Vermittelt Kälte von außen, so wie die Welt eben tickt.

Tatsächlich: nicht nur erfüllt den Menschen, der sich da sinnlos verschleißt, seine Arbeit nicht, er erfüllt auch diese sinnlos verschleißende Arbeit nicht. Er ist schlicht ungeeignet (siehe Peter-Prinzip), leider nicht nur für sein Tagwerk, sondern fehlt ihm auch die Erkenntnisfähigkeit, sich als unpassendes Rädchen im Mechanismus zu sehen. Und das frisst ihn auf, ohne dass er es wahrnimmt, bis er schließlich anfängt, sich sichtbar selbst zu verzehren.
Für ihn kommt das schätzungsweise zu spät, vielleicht können aber andere davon lernen, sich aus ihren Fesseln zu befreien, bevor sie sich komplett zerstören. (Boah, welch unsubtile Verachtung ich doch für die konsensuell BIP-Erwirtschaftung besitze. wechselt mal die Musik)

Zitat:
Dann fängst du diese kleinen Situationen gelungen ein, die jeder Mensch kennt. […] Nähe/Distanz.

Was ja - wie ich mittlerweile erkannt zu haben glaube - den Kern der ganzen Begegnung trifft: diese Unfähigkeit, noch miteinander über offensichtliche Wege zu kommunizieren. So wie es den Begriff der "augmented reality" für computergestützte Wirklichkeitswahrnehmung gibt (obwohl da ja gar nicht die Wirklichkeit wahrgenommen wird, sondern nur eine künstlich-intelligente Interpretation davon), könnte es auch eine "augmented society" geben, wo statt direkter Nähe Interaktion nur simuliert wird. Ach, ich Depp. Während ich das tippe, fällt mir auf, dass es das sehr wohl schon gibt mit den asozialen Medien.
Worauf ich hinauswill: Wir haben es verlernt. Und das verursacht so viel Schmerz.

Zitat:

Zitat:
Dann steckt der junge Mann sich die Hand in den Mund.


Eine Wende in eine völlig andere Richtung, durch ein groteskes Bild, das nicht mehr aus dem Kopf geben will. Mag ich sehr. Du steigerst es, indem du es konkret zeigst. Ich sehe alles vor mir, wie er vorgeht usw. Finde ich gut umgesetzt.

Andere haben die langsame Anbahnung aus den vorigen Versionen vermisst. Geht Dir das auch so? Wäre weniger Holzhammer besser?

Zitat:
Dann dieses Hintergrundwissen [über die Iatmul] hinzugefügt. Sehr spannend einerseits und dann auch noch die Sache, dass das Bild von vorhin dadurch verstärkt wird.

Auch hier gibt es ja andere Meinungen. Mir erscheint der Iatmul stimmig, auch wenn es vom eigentlichen Thema ein bisschen abweicht. Oder vielleicht auch nicht? Da der Junge ewig unverdaut bleibt, kann er auch nie in die Gesellschaft der Männer (was auch immer das bedeuten soll) aufgenommen werden. Er muss sich seine Ritualnarben darum selbst zufügen, weil niemand das Krokodil in seinem Leben spielen will.

Zitat:
Und die Reaktion der Außenwelt auf Schmerz, erzeugt Ekel. Jemandem geht es schlecht (es könnte auch ein Obdachloser sein) und Menschen müssen würgen. Warum geschieht das? Weil Elend nicht gerne angeschaut wird?
Du bewegst interessante Fragen in mir. Der Text macht das.

Juhu! Ziel erreicht.
Ernsthaft: das freut mich. Denn darum geht es mir - siehe oben - ja im Grunde: andere zu bewegen, anzustoßen, zu berühren, ohne sie zu berühren Wink
Und ja, es ist ein Elend, das man da beobachtet, wenn sich jemand so unbedacht und nicht exhibitionistisch entblößt. Denn es zeugt ja von sozialer Verwahrlosung, und das ist ja für die viele Menschen (selbst für die, die sich die Nächte mit den gruseligsten Pornos rumschlagen) ein noch größerer Ekelfaktor als alles, was man beim Dschungelcamp zu sehen bekommt. Und gleichzeitig (siehe Küblböck) sind dann wieder alle ganz fasziniert vom Schicksal eines Außenseiters, wenn er nur ordentlich leidet.

Zitat:
Zitat:
Ich denke nicht nach über einen Menschen, der sich so sehr selbst berührt, dass andere Menschen davon würgen müssen. Ich denke an die Narben, die wir auf unserer Haut und unerreichbar in unserer Seele tragen.


Und hier sprichst du dann die Seele an, das Innere. Die Narben auf der Seele und bestätigst meine Gedanken von weiter oben abschließend.
Den von mir eingefetteten Satz mag ich besonders, weil dieses Selbst-Berühren vorkommt. Jemand steckt sich die Hand in den Mund. Vollständig. Er berührt sich selbst. Unabhängig vom Krokodil-Bild, worauf du damit hinauswillst, vermutlich, finde ich das eine starke Stelle. Sich selbst berühren.

Stimmt, das ist mein anderes Thema, nicht nur das Andere-Berühren, sondern eben auch das Selbst-Berühren. Denn so sehr man sich auch mit anderen verbunden fühlen kann, so wenig nützt das, wenn man sich von sich selbst entfernt dabei. Wenn man immer nur für andere lebt und ihre Wünsche und Vorstellungen umsetzt (wie so viele unverdaute Menschen), dann erkennt man sich irgendwann selbst nicht mehr, findet sich nicht mehr, spürt sich nicht mehr.

Zitat:
Bestimmt könnte ich noch jede Menge dazu schreiben, aber ich lass das erst mal so stehen.
Hat mich sehr gefreut, diesen Text lesen zu dürfen.

Ich danke Dir sehr für Deine ausführlichen und anregenden Gedanken zu meinem Text. Die Auseinandersetzung mit der Wirkung, die meine Worte auf andere haben, erleichtert mir sehr zu verstehen, was mich bewegt und bewogen hat, diese Geschichte überhaupt zu erzählen. Und es freut mich, dass die kleine Geschichte Dich ebenso bewegt hat. Vielen Dank!
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anderswolf
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Beitrag27.09.2018 15:13

von anderswolf
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Neuer Tag, nächster Anlauf Smile

d.frank hat Folgendes geschrieben:
Ich würde den Schweiß, die Schwüle nicht komplett herausnehmen.
Für mich sind sie eine gute Metapher für dieses Klebrige, die Ausdünstungen von Menschlichkeit, um die es dir geht mE, die einen nackt machen und anwidern und in denen man sich dann doch auch wiederfindet.

Ich bin auch versucht, dieses Element wieder reinzubringen, weiß nur noch nicht genau, wie mir das gelingt ohne es zu oberflächlich (ha!) oder eben zu ausführlich zu beschreiben. Schätzungsweise wird es aber wieder reinwandern.

Zitat:
Ich habe den zweiten Text zum Beispiel nur angelesen. Keine Ahnung, warum.
Wahrscheinlich weil du der Frau (von der du selbst sagtest, dass sie die Interessantere der beiden Figuren wäre) hier keinen Platz lässt und dich sofort auf den Jungen fokussierst.
Von daher wollte ich deine Arbeit nicht kaputtmachen und habe von einer weiteren Einschätzung abgesehen.


Oft blockiert mir eine erste Version im Kopf die Bereitschaft, mich auf eine Variation derselben Begegnung einzulassen. Nicht weniger versuchte ich ja mit meinen drei Iterationen, insofern nachvollziehbar (für mich), dass es nicht nur mir so geht.
Gleichzeitig hast Du recht, die junge Dame kommt in der zweiten Version zu kurz, fungiert erst als Spiegel, als schon eigentlich alles geschehen ist. Andererseits ist ihre Reaktion damit ja durchaus noch beschrieben, der Leser bekommt sie, wenn auch spät, noch zu Gesicht. Sie aber früher vorzustellen, unterstriche ihre Funktion als verlängertes Wahrnehmungsinstrument des LI.
Und kaputtmachen dieses Textes ist ja eh kaum möglich, der ja doch durch so viele Wandlungen geht, dass am Ende eh nix vom Original überbleibt außer wahrscheinlich der Beschreibung von Hand-in-Mund. Ich freue mich ja vielmehr über Anregungen und Hinweise, selbst wenn sie Schwächen meiner "Vorlage" aufzeigen.

Zitat:
Die dritte Version ist sehr kurz, sehr komprimiert. Mir würde wahrscheinlich eine Mischung aus eins und drei gefallen.
Ich mochte das sanfte Heranführen aus der ersten Version, wie gesagt, auch die Gedanken zu Schweiß und Körperflüssigkeiten, die im Bild des Jungen dann einen Höhepunkt finden, weil der sozusagen in seinen eigenen Körper kriecht... Wink
Ich mochte auch die zuvor stattfindende Annäherung an die Frau, wie eben noch misstrauische Fremde durch ein gemeinsames Feinbild zu Verbündeten werden, und wie die Frau sich mit dem Zeug einreibt, als wollte sie sich eine Schutzschicht anlegen.

Ja, gerade das letzte Bild hat mir am Ende auch gefehlt, weil ich mich kurzfassen wollte, habe ich es rausgeworfen. Aber es hilft vielleicht bei der Erkenntnis von Schutzmechanismen, die Außenstehende nutzen, um sich vor Empathie zu bewahren.

Zitat:
Die Wörtchen jene, jener blasen die Sätze ganz schön auf. Es klingt nach Bühne und Dirigenten. Wink

Das wäre tatsächlich das erste gewesen, was wieder rausgeflogen wäre. Fand ich auch nur beim Schreiben hübsch.

Zitat:
Über die Assoziation zur Krokodillegende habe ich lange nachgedacht. Du führst das Thema des ersten Textes damit auf ganz andere Wege. Auch die Gedanken zum Jungen unterstreichen das: Er wäre unverdaut ausgespuckt worden, unfertig, auf eine ar­cha­ische Art authentisch. Durch die Assoziation wirkt er weniger ordinär, durch die Gedanken zur Unfertigkeit beinahe tragisch und weil du das so nebeneinandersetzt, wird für mich daraus ein Zwiespalt, bei dem ich nicht weiß, auf welche Seite ich mich erretten möchte. Wenn du es jetzt noch hinbekommst, der Abwehr der Frau auch weiterhin ihren Platz zu geben (denn in der letzten Version ist sie ja fast nur noch eine Randbemerkung), dürfte das diesem Zwiespalt weitere Tiefe bescheren.

Zu meinen Gedanken mit dem Krokodilsglauben habe ich ja schon ein wenig was gesagt, aber je mehr ich drüber nachdenke, umso mehr mag ich die Assoziation, auch wenn die endgültige Aussage dadurch weit vom ersten Text abwiche. Eine gewisse Form von Tiefe/Doppelbödigkeit hat mir im ersten Versuch ja sehr gefehlt. Fraglich natürlich, wie sich dieser doch sehr männliche Reifekult nun noch mit einer ebenso rituell anzuklingenden Abwehr der jungen Frau verbinden ließe (wobei das wohl wirklich zu gekünstelt wirkte. Ihr einfach nur den Raum als verständnislose Betrachterin einzuräumen, den sie ja in meiner Erstwahrnehmung eigenommen hat, dürfte wahrscheinlich schon reichen.

Zitat:
Ich mochte auch diesen Satz aus der ersten Version:
Zitat:
wegen all der kleinen Sphären aus Musik, Glauben oder Technologie.
,
weil der Junge sie einfach durchbricht.
Und das Bild aus der Klammer: Einer tuts, der andere reagiert. Das ist immer noch da, aber geht jetzt ganz schön unter.

Das mit den Sphären fand ich auch ganz hübsch, war mir aber unsicher, ob ich das wirklich "brauche" oder ob es nicht beim Runterbrechen der epischen Breite auf ein bodenständigeres Niveau zu esoterisch verquast anmutet (und dann schreibe ich was von göttlichen Krokodilen rein...).

Zitat:
Und das hier:
Zitat:
Bis heute weiß ich nicht, was das sollte, auch wenn ich mittlerweile Vermutungen habe.

Magst du mich aufklären?

Ich habe zwei Vermutungen. Einerseits könnte es eine gewollte Provokation gewesen sein, gewissermaßen eine Kunstaktion, um zu sehen, was wohl passiert, wenn ein Mensch die Konvention durchbricht, dass man sich im Zug irgendwie ordentlich zu verhalten hat. Also ein wirklich exhibitionistischer Moment mit Absicht.
Andererseits könnte der junge Mann auch Drogen auf der Toilette konsumiert haben und wollte die Reste, die er noch an den Fingern hatte, komplett auf seinen Schleimhäuten verteilen, hat dann aber während des einsetzenden Hypes irgendwie seinen Ausstieg verpasst, weil ihn die ungewöhnliche Sensation von Fingern im Mund so sehr weggefönt hat. (Andererseits sind meine Drogenkonsumerfahrungen auf die Klischees aus Film und Fernsehen beschränkt, insofern kann ich da auch ziemlich danebenliegen.)

Vielen Dank, Diana, dass Du Dich nochmal mit meinem Text auseinandersetzen mochtest.
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Heidi
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Der goldene Durchblick


Beitrag30.09.2018 21:33

von Heidi
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anderswolf hat Folgendes geschrieben:
Heidi hat Folgendes geschrieben:

Eine Wende in eine völlig andere Richtung, durch ein groteskes Bild, das nicht mehr aus dem Kopf geben will. Mag ich sehr. Du steigerst es, indem du es konkret zeigst. Ich sehe alles vor mir, wie er vorgeht usw. Finde ich gut umgesetzt.

Andere haben die langsame Anbahnung aus den vorigen Versionen vermisst. Geht Dir das auch so? Wäre weniger Holzhammer besser?


Ich hab nun die beiden anderen Versionen auch gelesen (mehr oder weniger) und muss sagen, dass mir die dritte Version eindeutig am besten gefällt. Schon der Einstieg - sehr viel besser. Du entwirfst eine Szene, es wirkt beinahe wie ein Drehbuch. Mir gefällt das so in der Form sehr gut, ist aber natürlich Geschmackssache und jedem kannst du es sicherlich nicht recht machen.
Einen Holzhammer fühle ich nicht. Im Gegenteil, dadurch, dass du stark gekürzt hast, konzentrierst du dich auf das Wesentliche. Vorher waren viele Hintergrundinfos, die mich beim Lesen erschlagen haben, es ist mir schwer gefallen, in die Geschichte reinzukommen. Die dritte Version konzentriert sich auf die Szene und die Beobachtungen der Ich-Figur. Das ist gut. Ich kann mir meine eigenen Gedanken machen. Das mag ich.

anderswolf hat Folgendes geschrieben:
Heidi hat Folgendes geschrieben:
Dann dieses Hintergrundwissen [über die Iatmul] hinzugefügt. Sehr spannend einerseits und dann auch noch die Sache, dass das Bild von vorhin dadurch verstärkt wird.

Auch hier gibt es ja andere Meinungen. Mir erscheint der Iatmul stimmig, auch wenn es vom eigentlichen Thema ein bisschen abweicht. Oder vielleicht auch nicht? Da der Junge ewig unverdaut bleibt, kann er auch nie in die Gesellschaft der Männer (was auch immer das bedeuten soll) aufgenommen werden. Er muss sich seine Ritualnarben darum selbst zufügen, weil niemand das Krokodil in seinem Leben spielen will.


Ich finde hier keine Abweichung des Themas, sondern eine Erweiterung der Möglichkeiten für den Leser/ die Leserin.

anderswolf hat Folgendes geschrieben:
Heidi hat Folgendes geschrieben:
Und die Reaktion der Außenwelt auf Schmerz, erzeugt Ekel. Jemandem geht es schlecht (es könnte auch ein Obdachloser sein) und Menschen müssen würgen. Warum geschieht das? Weil Elend nicht gerne angeschaut wird?
Du bewegst interessante Fragen in mir. Der Text macht das.

Juhu! Ziel erreicht.
Ernsthaft: das freut mich. Denn darum geht es mir - siehe oben - ja im Grunde: andere zu bewegen, anzustoßen, zu berühren, ohne sie zu berühren Wink
Und ja, es ist ein Elend, das man da beobachtet, wenn sich jemand so unbedacht und nicht exhibitionistisch entblößt. Denn es zeugt ja von sozialer Verwahrlosung, und das ist ja für die viele Menschen (selbst für die, die sich die Nächte mit den gruseligsten Pornos rumschlagen) ein noch größerer Ekelfaktor als alles, was man beim Dschungelcamp zu sehen bekommt. Und gleichzeitig (siehe Küblböck) sind dann wieder alle ganz fasziniert vom Schicksal eines Außenseiters, wenn er nur ordentlich leidet.


Außenseitergeschichten haben einen gewissen Magnetismus an sich, vielleicht, weil sie etwas zeigen, was jeder Mensch in irgendeiner Form nachvollziehen kann, selbst dann, wenn er sich nicht als Außenseiter empfindet (kann aber sein, dass ich mich täusche). Möglicherweise ist es der Schicksalsgedanke, den du hier ja auch ansprichst. Warum ist der Außenseiter Außenseiter? Warum verhält er sich anders? Verhält er sich überhaupt anders? Vielleicht ist es gar andersrum. Alle anderen sind Außenseiter und er ist eigentlich richtig. Das sind viele Fragen, die Außenseitergeschichten aufwerfen können. Und Geschichten über jemanden, der sich heute mal anders verhält, als die Norm vorgibt. Was aber ist die Norm?
Ja, faszinierend das Thema, über das man stundenlang quatschen könnte. Ein Unendlichkeitsthema vermutlich. Laughing

anderswolf hat Folgendes geschrieben:
Heidi hat Folgendes geschrieben:
Bestimmt könnte ich noch jede Menge dazu schreiben, aber ich lass das erst mal so stehen.
Hat mich sehr gefreut, diesen Text lesen zu dürfen.

Ich danke Dir sehr für Deine ausführlichen und anregenden Gedanken zu meinem Text. Die Auseinandersetzung mit der Wirkung, die meine Worte auf andere haben, erleichtert mir sehr zu verstehen, was mich bewegt und bewogen hat, diese Geschichte überhaupt zu erzählen. Und es freut mich, dass die kleine Geschichte Dich ebenso bewegt hat. Vielen Dank!


Hab sie dir gern mitgeteilt, meine Gedanken.
Ich kenn das, nachher versteh ich meine Texte immer leichter und ich weiß dann auch, was mich zum Schreiben bewegte (nachher = Interpretationen von Lesern).

Liebe Grüße
Heidi
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