Abenteuer Orient Express

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Eine Patchwork-Geschichte mit freier (und respektvoller) Adaption von Fragmenten aus Originalwerken.

Abenteuer Orient Express


Marguerite Arlette Sophie von Hinkelstein, Baronesse und Erbin eines ansehnlichen Rittergutes, raffte die Kleider und eilte leichtfüßig
über den Waldboden. Die Gelegenheit war günstig und ihr Kutscher durch eine erheblich beschleunigte Verdauung außer Gefecht gesetzt.
Woran sie nicht unschuldig war. Denn sie musste um jeden Preis den Orient Express erreichen und niemand würde sie heute daran
hindern. Das Wäldchen wirkte aufgeräumt und angenehm kuhfrei – wie hasste sie doch sämtliche Viecher, die an Blumen und Hecken des
Schlossgartens knabberten. Platsch!
Da lag sie auch schon – ausgerutscht auf der Hinterlassenschaft eines Ochsen, oder Hirsches - und ein wenig damenhaftes Wort entglitt
ihren Lippen. Sie riss Moos heraus und säuberte ihre nagelneuen Spangenpumps. Auseinanderhalten konnte sie die Vierbeiner sowieso
nicht. Sie entsann sich, wie sie in ihrem Sonntagskleidchen aus der Kutsche steigen wollte und von einem baumelnden Schädel angeglotzt
wurde – Opa natürlich wieder, der den Koloss geschossen hatte und wie gewöhnlich auf dem Kutschdach beförderte - und voila(!),
schon hatte sie den edlen roten Samt der Kabine vollgekotzt.

Kuh, Hirsch, Schaf, egal. Sie interessierte sich eh nur für gehobene Themen wie Kunst. Konkret gesagt, für den ein oder anderen Künstler.
Das kleine Igelwäldchen hatte sie zügig passiert. Hinter den Wiesen am Ende des langen Hanges konnte sie bereits die Bahnstation
erkennen, knapp zwanzig Fuß entfernt. Im Schätzen war sie weder besonders treffsicher, noch wollte sie wissen, um wessen Schuhgröße
es hierbei ging.
Sie eilte an einem Burschen vorbei, der weiße Vögel hütete. Diese schienen besser genährt als die Täubchen aus dem Schlossgarten und
Marguerite fand auf die Schnelle keine Erklärung dafür. Mit der einfachen Landbevölkerung pflegte sie üblicherweise kaum Konversation.
Doch die Frage nach dem Eintreffen des Zuges war enorm important. Da behauptete dieser dusslige Bauernlümmel, der wohl noch nie
was von einer Verbeugung gehört hatte, dass der Express hier gar nicht halten würde. Normalerweise hätte sie losgeschrien und mit den
Füßen gestampft. Doch in Gegenwart niederen Personals verkniff sie sich überschwängliche Gesten und beließ es bei einer kurzen Hand-
bewegung, die besagte, dass sie selbstverständlich Bescheid wisse und er sich trollen möge.
Keine Haltestation? Nicht mit der Erbin derer von Hinkelstein! Notfalls musste eine Ohnmacht her, am besten vor der heraneilenden
Lokomotive.

Als sie das Stationshäuschen erreichte, tutete es laut. Kaum betrat sie den Bahnsteig, raste die Lock in den Bahnhof und … zischte an ihr
vorbei. Marguerite war außer sich: Opas Flinte, und sie hätte diesen impertinenten Lokführer von seinem Bock geschossen.
Der vierte, fünfte, sechste … Waggon flog vorbei. Langweiliges glänzendes Blau. Dann kam der letzte Wagen und wirkte so lustig, dass er
fast aus den Gleisen hüpfte - genau wie sie sich einen Orient Express vorgestellt hatte. Wilde Charlestonklänge wummerten über den
Bahnsteig und ihre Beine begannen rhythmisch zu zappeln. Doch nur bis zum Bauchnabel, der Rest zerschmolz grad zu einem feuchten
Schluchzen. Dort fuhr er - Marguerites Traum von Freiheit und Unanständigkeit.
Ohrenbetäubendes Quietschen riss sie aus der Hilflosigkeit. Quelle folie - Vollbremsung!
Eine Herde schwarz-weiß gefleckter Viecher passierte das Gleis. Baronesse von Hinkelstein hätte jedes der Ungetüme einzeln umarmen
können. Dazu war jetzt nicht die Zeit und so hob sie ihre Kleider - in angemessenem Rahmen - und rannte was sie konnte zwischen den
Gleisen entlang.

Die aufregende Klaviermusik im letzten Waggon war verstummt und auf dem Perron erschien ein noch aufregender junger Mann.
Marguerite bremste etwas ab, um auf den letzten drei Schritten Haar und Kleider zu richten. Charmant lächelnd beugte er sich über das
Geländer und fragte, ob sie seit Paris gefolgt sei.
Marguerite blinzelte. „In gewisser Weise. Sind Sie der Lokführer?“
„Bedaure Mademoiselle. Forscher, Pianist, Fotograf, Poet, Abenteurer, Parfümeur, Mädchenschwarm, … - suchen Sie sich was aus!“
„Eine Strickleiter eventuell?“
„Pas de problème!“ Er rannte in den Waggon und kehrte mit einem Hocker zurück, den er Marguerite herunterreichte. Sie kletterte rauf,
fasste seine Hände und gelangte auf die Perronstufen.

Der Zug fuhr an. Marguerite lehnte sich an das Geländer der Plattform. „Lassen Sie mich kurz verschnaufen.“
„Ganz wie Sie wünschen. Ich kann Sie ja hier nicht allein lassen.“
„Dann haben Sie den Charleston auf dem Piano gespielt, Monsieur …?“
„Francesco. Francesco Bertani. Der Charleston, ach ja … Die Musik hat Ihnen gefallen?“
„Naturellement, wunderbar!“
„Nun, ich tu’ mein Bestes, hier etwas Schwung reinzubringen.“
‚Ein Pianist, und was für einer!’, Marguerite spürte ihr Herz pochen.
Er schmunzelte. „Wohin reisen Sie, Mademoiselle …?“
„Baronesse von Hinkelstein. Marguerite Arlette Sophie von Hinkel … “, hilfesuchend schaute sie sich um, „ … in die Stadt der Künste.“
„Eine so junge Baronesse – und hübsche noch dazu – fährt ganz allein nach Mailand?“
„Wer sagt Ihnen, dass ich allein reise?“, antwortete sie schlagfertig.
„Instinkt?“ Francesco überlegte. „Sie tragen keinen Ring, mit dieser Frisur hätte Ihre Mutter Sie nie auf die Gleise gelassen …“
Marguerite errötete, da war etwas Wahres dran. Sie musterte seine schmucke Uniform.
Francesco strich über seine Weste. „Das gehört zur Ausrüstung …, für die wissenschaftlichen Ausgrabungen, und die Fotosafari.“
Safari klang faszinierend und sie wollte wissen, was er denn am liebsten fotografiere.
„Zufälle.“ Francesco lächelte vielsagend und ergänzte: „Spinnen, Schildkröten, Kühe, Hirsche, den Mond hinter den Bergen ...“
Marguerite überlegte angespannt, welche Zufälle hinter Bergen lauern und ob es vielleicht etwas mit dem Begriff Hintergedanken zu tun
haben könnte.
Dass er in die Mongolei fahre, wisperte er in ihr Ohr. Sie hörte es mit einer gewissen Erleichterung, hatte sie den Orient doch viel weiter
weg vermutet. Francesco erwähnte einen Monsier Dschingis Khan und ein traditionelles Fest, das er unbedingt besuchen wolle. Wobei er
auffallend zwinkerte. Marguerite ahnte schon, dass man dort ohne Schlüpfer hinging und griff nach ihrem Täschchen, in dem sich das winzige
Schwarze fürs Mann-weiß-ja-nie-wann’s-geschieht befand.

Und weil sie ihm auch ein wenig imponieren wollte, berichtete sie von ihrer Idee, in die Vergangenheit zu gelangen. Francesco lauschte mit
leuchtenden Augen. So hörte er, wie Marguerite tagelang rückwärts ging, erfuhr, wie sich Vater, Mutter, Köchin, Kutscher und schließlich -
wenn auch nicht ganz freiwillig - das gesamte Rittergut anschlossen.
Marguerite hatte sich in Eifer geredet. „Irgendwann gaben wir es auf, ganz Frankreich zum Rückwärtsgehen zu bewegen“, beendete sie
ihre Ausführungen, „und Opa stellte das Gewehr zurück in den Schrank.“
„Impressionante!“ Francesco hatte seinen Blick nicht einen Moment von ihr gelassen. Er hob ihre Hand, hauchte einen Kuss darüber und
schnupperte: „Diesen Duft gibt es nicht zu kaufen.“
„Monsieur Bertani, das ist Kuhsch …“
„Pst, lassen Sie mich raten. Sagen Sie nichts, Teuerste!“, und er legte zwei Finger auf ihre Lippen. „Hm. Ein verführerischer Duft von
Freiheit und …“
„Unanständigkeit?“

Statt einer Antwort riss er Marguerite an sich. Sie genoss den ersten langen Kuss ihres Lebens und bekam nicht mit, wie die
Nachmittagssonne sanfte Hügellandschaften in warmes Licht tauchte, Weiden mit schwarz-weiß gefleckten Kühen und saftige Wiesen
vorbeizogen, aus dem Waggon erneut wilde Charlestonklänge drangen, die Rufe nach einem verdammten italienischen Steward immer
heftiger wurden, … und dass heute eigentlich nicht ihr Tag war.






Quelle folie = (Was für ein) Wahnsinn (!)

[anuphti]

Ich hoffe, Du hast beim Schreiben genausoviel Spaß gehabt, wie ich beim Lesen.

Und dass meine bescheidene Geschichte mit einem Wukong gemischt wird ... c'est trop d'honneur ...

Amüsierte Grüße
Nuff

[KeTam]

Ich hab Tränen gelacht!
DANKE!

     

[anuphti]

Also beim gefühlten 10. Lesen habe ich jetzt noch die Spuren aus "Das Siegel der Raben " von kskreativ entdeckt, Ke Tams Spuren waren ja geradezu überdeutlich, und die kuhlosen Zeiten von Sun Wukong auch.

Aber Seitenlinie hat mir verraten, dass noch ein Autor verbraten wurde, aber ich komm nicht drauf welcher ...



Muss ich wohl noch ein paar mal lesen


Wobei mich jetzt interessieren würde, ob das jetzt eine Parodie ist, oder eine Pastiche, oder was sonst auch immer?

Irgendein geneigter User, der sich hier auskennt?

Köstlich amüsierte Grüße
Nuff

[gold]

[Sun Wukong]

Hallo Seitenlinie.
Ja wow, ich hatte zufälligerweise den Hinweis am Anfang übersprungen und mich dann schon gewundert, warum mir einige Details so bekannt vorkommen. Sehr schön, diese Collage aus lauter beschwingten Versatzstückchen zwischen Charleston und Kuhgeruch im Abenteuerroman-Ton. (Und ich hatte ein bisschen das interessante Gefühl, etwas, dass von mir sein könnte, gelesen zu haben. Schön!)

Zu anuphtis Frage, wie man so etwas u.a. nennen kann, hat Seitenlinie ja netterweise noch einen Hinweis eingebaut: Marguerite Arlette Sophie von Hinkelstein bzw. mash(-up), was soviel bedeutet, wie die Vermischung verschiedenster Texte. Also ich bin auch gespannt, wieviel da noch drinsteckt.

Grüße!
Christian

[KeTam]

Ist mir eine Ehre, dass Fragmente meines "Kotz-Textes" hier Verwendung finden! Da hast du ja sprichwörtlich aus Sch.., ich mein, aus Kotze Gold gemacht!

[seitenlinie]

Hallo ihr Lieben.

Oh, das ist guter Tag, wenn jedermann erheitert und niemand verschnupft ist. Auch Nuff hatte gewisse Befürchtungen und mir
schnell eine Nachricht geschickt.

Der Text ist ein wenig Pastiche und ein wenig Montage (Collage). Es ist Satire und dennoch Hommage an die vielen tollen Ideen,
die hier eingestellt werden. Wo findet man sonst einen derartigen Schöpfbrunnen?

Nicht alles ist perfekt, was im Forum erdacht und gestaltet wurde - doch fast alles hat Charme. Und so geistern Fragmente in
meinem Kopf herum, regen mich an, bringen mich ein Stück vorwärts. Auch wenn ich leider, leider zu wenig Zeit finde, um auf
die vielen interessanten Beiträge eingehen zu können.

[KeTam]

[crim]

Hi Seitenlinie,
schöne Collagearbeit. m-a-s-h war wirklich nicht intendiert? Das fand ich nämlich herrlich. Und mich freut es, einen kleinen Beitrag zu diesem Text geleistet zu haben, weil ich ihn mag. Verleitet mich dazu, nochmal all die Geschichten anzuschauen, aus denen du das Mosaik geformt hast. Das, denke ich, ist das größte Lob. Dass es Lust macht, auch anderes erneut zu lesen.
LG Crim

[seitenlinie]