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arle Wortedrechsler
A Alter: 69 Beiträge: 61 Wohnort: im Südwesten
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A 30.09.2008 11:14 Rot von arle
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Achtung, diesmal nicht besonders lustig....
Der Mann grinst. Eindeutig. Das ist kein abgeklärtes, wissendes Lächeln, kein Schmunzeln über die Albernheit der Welt. Es ist ein Grinsen. Ein zufriedenes, sattes Grinsen. Er liegt in der Sonne, gemütlich auf dem Bauch ausgestreckt, die Haare fallen ihm in die Stirn, die Augen sind geschlossen, die Wange liegt auf seiner Faust. In der Gesäßtasche steckt eine leere Flasche mit dem Etikett irgendeiner No-Name-Schnapsmarke. Alles passt zusammen: das Wetter, die zwitschernden Vögel, der Lärm der vorbei fahrenden Autos, die Rufe und das Lachen der Passanten. Das Blut, das ihm in dickem, regelmäßig pulsierendem Strahl aus dem Hinterkopf und aus der Nase schießt, fügt sich nahtlos in dieses Bild ein. Das Rot, das Grau des Asphalts, die gelbe Plastiktüte, der schwarze Bart, die weiße Haut.... Einfach schön. Ästhetisch schön. Schön kitschig.
Vor etwa vier Minuten habe ich ihn an der Hauswand lehnen sehen. Mit der rechten Hand hielt er sich an der Wand fest, mit der linken an seiner Tüte. Einer von den vielen Pennern, Säufern, Verlorenen, Umgeknickten, die diese Straße in dieser mir immer noch so fremden Stadt bevölkern. Jeden Mittwochmittag stehen sie zu vierzig, fünfzig vor der Suppenküche schräg gegenüber von meinem Fenster. Man nimmt sie wahr, verschwendet einen oder keinen Gedanken an sie, macht weiter mit seiner Arbeit. Bis zum nächsten Mittwochmittag.
Der ist nicht nur besoffen, denke ich noch, als ich ihn so kämpfen sehe. Und: Gerne tu ich’s zwar nicht; aber sollte er noch da stehen, wenn ich vom Kiosk zurück komme, werde ich ihn ansprechen, fragen, ob er Hilfe braucht. Lächerlich. Natürlich braucht er Hilfe. Aufatmen auf dem Rückweg. Er ist weg. Als erstes sehe ich das Rot, dieses wunderschöne, warme, lebendige, fließende Rot. Ein Fuß auf dem Gehweg, die gelbe Tüte daneben, der Körper im Rinnstein. Er grinst mich an, ganz verschwörerisch, wie eine alte Freundin, um deren Geheimnisse er seit langem weiß, und unwillkürlich muss ich zurück grinsen. Am liebsten würde ich mich zu ihm setzen, ihm einen freundschaftlichen Knuff in die Seite geben und sagen: Na, altes Haus? Wo hast du denn so lange gesteckt? Wie ich sehe, geht's dir blendend.
Stattdessen tu ich, was man in einer solchen Situation wohl tun muss: Ich laufe hinauf in die Wohnung und wähle die 110. Als ich wieder auf der Straße stehe, hat sich ein Häuflein Menschen um meinen Freund versammelt. Sie sind erschrocken, neugierig, debattieren, schütteln die Köpfe. Ich setze mich etwas entfernt von den anderen auf den Bordstein, um auf den Krankenwagen zu warten. Tja, junge Frau, sagt der Sanitäter, als er meinen Blick bemerkt, da sind wir wohl ein bisschen zu spät gekommen; der Mann ist tot.
Erst als ich wieder oben in der Wohnung bin, beginnen die Knie weich zu werden, die Hände zu zittern, überfallen mich der Brechreiz und die Gewissensbisse. Aber all das hört wieder auf, nach ein paar Stunden, ein paar Tagen. Heute sind die Knie wieder stabil, die Hände ruhig, der Magen besänftigt, und sogar das Gewissen tönt nicht mehr so laut. Auch das Grau, das Gelb, das Schwarz verblassen mit der Zeit. Nur das Rot. Das bleibt.
_________________ Am Jüngsten Tag, wenn die Posaunen schallen und alles aus ist mit dem Erdeleben, sind wir verpflichtet, Rechenschaft zu geben von jedem Wort, das unnütz uns entfallen. - J.W. Goethe |
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Marten Reißwolf
Alter: 50 Beiträge: 1660
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30.09.2008 11:30
von Marten
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Hallo arle,
Sehr schön. "Schön kitschig."
Mich stört nur eines die "No-Name" Flasche liest sich nicht schön und passt nicht zum restlichen Text. Kannst du das nicht durch ein einfaches "billig" oder ähnliches austauschen? So wirkliche No-Name "Marken" gibt es ja auch nicht.
LG Marten
_________________ Und so erkannten die Großen derer, dass was sie einst sagten, auch gegen sie verwendet werden kann!
Die einzigen Zeilen für deren Veröffentlichung ich bezahlen werde, sind die auf meinem Grabstein und selbst das werde ich nicht mehr erleben.
Life is a long way, in a short time, we are allways on the run! |
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arle Wortedrechsler
A Alter: 69 Beiträge: 61 Wohnort: im Südwesten
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A 30.09.2008 11:53 Wow! von arle
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Was für eine prompte Antwort. Und dann auch noch so ne schöne. Ich danke dir, Marten.
Ist schon seltsam, dass man solche Stellen wie die von dir zu Recht bemängelte immer wieder überliest, oder? Klingt erstens nicht gut, und zweitens ist eine No-Name-"Marke" ein Widerspruch in sich. Könnte man ja durch einen Klick ändern. Aber ich kann ja nicht mehr editieren. Wasmachichnurwasmachichnur....
Vielleicht überlesen andere die Stelle ja auch? Was ich nicht wirklich glaube, da du ja nun dankenswerter Weise den Finger in die offene Wunde gelegt hast. grr
Egal. Schön, dass du mit der Geschichte was anfangen kannst.
Viele liebe Grüße
Silvia
_________________ Am Jüngsten Tag, wenn die Posaunen schallen und alles aus ist mit dem Erdeleben, sind wir verpflichtet, Rechenschaft zu geben von jedem Wort, das unnütz uns entfallen. - J.W. Goethe |
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Bananenfischin Show-don't-Tellefant
Moderatorin
Beiträge: 5339 Wohnort: NRW
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30.09.2008 12:06
von Bananenfischin
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Liebe Silvia,
beim Lesen deines Textes habe ich gegen Ende eine richtige Gänsehaut bekommen. Ein größeres Kompliment kann ich, glaube ich, nicht nicht machen...
Insbesondere der letzte Absatz ist einfach klasse.
Liebe Grüße
von Bananenfischin,
die übrigens wegen der "Bananenfischerin" ganz und gar nicht böse war...
_________________ Schriftstellerin, Lektorin, Hundebespaßerin – gern auch in umgekehrter Reihenfolge
Aktuelles Buch: Geliebte Orlando. Virginia Woolf und Vita Sackville-West: Eine Leidenschaft
I assure you, all my novels were first rate before they were written. (Virginia Woolf) |
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arle Wortedrechsler
A Alter: 69 Beiträge: 61 Wohnort: im Südwesten
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Rheinsberg écrivaine émigrée
Alter: 64 Beiträge: 2251 NaNoWriMo: 35000 Wohnort: Amman
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30.09.2008 12:32
von Rheinsberg
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Stimmt, es gruselt. Kitschig allerdings finde ich den Text nicht.
Das mit der Flasche hätte ich auch moniert, was mich noch etwas störte war:
Zitat: | Als ich wieder auf der Straße stehe, hat sich ein Häuflein Menschen um meinen Freund versammelt. |
Freund? Das scheint mir nicht so recht zu passen, auch wenn etwas weiter oben du schreibst, er Zitat: | grinst mich an, ganz verschwörerisch, wie eine alte Freundin | . Aber vielleicht ist das nur mein völlig subjektiver Eindruck.
Gern gelesen!
_________________ "Write what should not be forgotten…" Isabel Allende
"Books are written with blood, tears, laughter and kisses. " - Isabel Allende
"Die größte Gefahr ist die Selbstzensur. Dass ich Texte zu bestimmten Themen gar nicht schreibe, weil ich ahnen kann, welche Reaktionen sie hervorrufen." - Ingrid Brodnig |
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Marten Reißwolf
Alter: 50 Beiträge: 1660
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30.09.2008 12:37
von Marten
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Doch doch, der Freund passt gut, es zeigt im Gegensatz zu dem Mob eine nähere Verbundenheit und ist gleichsam ironisch zu betrachten. Die Stelle hat mir sehr gut gefallen.
Das Farbenspiel ist Kitschig, das Farbenspiel, nicht die Situation.
LG Marten
_________________ Und so erkannten die Großen derer, dass was sie einst sagten, auch gegen sie verwendet werden kann!
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arle Wortedrechsler
A Alter: 69 Beiträge: 61 Wohnort: im Südwesten
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A 30.09.2008 13:58
von arle
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Oh, ne Diskussion....
Da bringe ich mich doch gleich noch mal mit ein.
Auch dir, liebe Rheinsberg, vielen Dank für deinen Kommentar. Ich verstehe, was du meinst mit dem Freund, der hier natürlich nicht ganz wörtlich zu nehmen ist. Trotzdem möchte ich ihn unbedingt drin lassen, weil er - wie Marten schon sagt - die Verbundenheit der Protagonistin mit diesem Mann ausdrückt; auch wenn es nur eine "Beziehung" von wenigen Minuten war.
Protagonistin ist in diesem Zusammenhang eigentlich ein dummes, unangebrachtes Wort. Es geht um mich, die diese Geschichte vor ein paar Jahren genau so erlebt hat. Es geht um meine Gefühle an diesem Tag und noch Wochen später. Und es geht darum, dass dieser Mensch, den ich nicht kannte und den ich weder sympathisch noch unsympathisch fand, mir in diesem Augenblick haushoch überlegen war. Er war bereits "drüben"; er wusste, und ich wusste überhaupt nichts. Das hat mich und meine Sicht auf die Dinge entscheidend geprägt.
Schuld, Scham darüber, nicht im richtigen Moment das Richtige getan zu haben, Scheu vor dem Fremden an sich, Nachlässigkeit, Unachtsamkeit und noch vieles mehr waren die Intention, dieses Erlebnis aufzuschreiben.
Viele Grüße
Silvia
_________________ Am Jüngsten Tag, wenn die Posaunen schallen und alles aus ist mit dem Erdeleben, sind wir verpflichtet, Rechenschaft zu geben von jedem Wort, das unnütz uns entfallen. - J.W. Goethe |
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Niconé Gänsefüßchen
Beiträge: 17
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05.10.2008 11:31
von Niconé
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Liebe arle,
naturalistisch schockierend, so auf den Sonntagvormittag. Fantastisch.
Wenn man eine Bitte äußern dürfte. Ich wäre sehr an deiner Intonation zu diesem Text interessiert, da er sich doch von deinem bisherigen Werk unterscheidet.
Niconé
_________________ Toleranz ist das unbehagliche Gefühl, der Andere könnte am Ende vielleicht doch recht haben.
Robert Forst
Interpunktion und Orthographie dieser Nachricht sind frei erfunden.
Eine Übereinstimmungen mit Reglungen der Rechtschreibung jeder Art, wären rein zufällig und sind nicht vom Autor beabsichtigt. |
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caro Gänsefüßchen
C
Beiträge: 18
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C 05.10.2008 14:33
von caro
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Oh, liebe arle,
solche Gefühle, das schlechte Gewissen hätten mir verboten, dann eine Geschichte davon zu schreiben. Aber es ist Dir gut gelungen, ALL DAS mit reinzupacken. Kann man dann besser damit klar kommen ?
Liebe Grüße caro
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arle Wortedrechsler
A Alter: 69 Beiträge: 61 Wohnort: im Südwesten
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arle Wortedrechsler
A Alter: 69 Beiträge: 61 Wohnort: im Südwesten
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Nina Dichterin
Beiträge: 5012 Wohnort: Berlin
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05.10.2008 15:03 Re: Rot von Nina
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Hallo arle,
Deine Geschichte macht mich unendlich traurig. Es gibt Momente, da muss man sofort reagieren, und wenn man es nicht tut, sind sie vorbei, ist es zu spät, - so wie in Deiner Geschichte. Es ist ein Symbol dessen, was leider ... ach, egal.
Ich habe ein paar kleine Schönheitsfehler im Text entdeckt:
arle hat Folgendes geschrieben: | Vor etwa vier Minuten habe ich ihn an der Hauswand lehnen sehen. Mit der rechten Hand hielt er sich an der Wand fest, mit der linken an seiner Tüte. Einer von den vielen Pennern, Säufern, Verlorenen, Umgeknickten, die diese Straße in dieser mir immer noch so fremden Stadt bevölkern. |
Das zweite "Wand" kann weg und macht dennoch Sinn, und zwar denselben.
Die "Umgeknickten" gefallen mir gut..., also gut im Sinne von "treffend gesagt".
arle hat Folgendes geschrieben: | Der ist nicht nur besoffen, denke ich noch, als ich ihn so kämpfen sehe. Und: Gerne tu ich’s zwar nicht; |
Das treibt mir schier Tränen in die Augen...
arle hat Folgendes geschrieben: | Am liebsten würde ich mich zu ihm setzen, ihm einen freundschaftlichen Knuff in die Seite geben und sagen: Na, altes Haus? Wo hast du denn so lange gesteckt? Wie ich sehe, geht's dir blendend. |
Ja...
arle hat Folgendes geschrieben: | Erst als ich wieder oben in der Wohnung bin, beginnen die Knie weich zu werden, die Hände zu zittern, überfallen mich der Brechreiz und die Gewissensbisse. |
Da würde ich einfach die Artikel weglassen bei Brechreiz und Gewissensbisse.
Ansonsten: sehr gut, sehr ehrlich geschrieben.
Kann leider nichts weiter dazu schreiben, außer: gut, dass Du 110 gewählt hast. Würde gern was Tröstendes sagen, ...aber es geht nicht...verzeih...
Traurige Grüße
Nina
_________________ Liebe tut der Seele gut. |
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arle Wortedrechsler
A Alter: 69 Beiträge: 61 Wohnort: im Südwesten
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A 05.10.2008 16:09
von arle
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Nina,
das wollte ich nun wirklich nicht, dich an diesem ohnehin so trüben Sonntag noch zusätzlich traurig machen.
Gleichzeitig freut es mich sehr, mit welcher Sensibilität du die Intention der Geschichte erkannt hast:
Zitat: | Es gibt Momente, da muss man sofort reagieren, und wenn man es nicht tut, sind sie vorbei, ist es zu spät |
Genau darum ging es mir.
Sehr liebe Grüße
Silvia
_________________ Am Jüngsten Tag, wenn die Posaunen schallen und alles aus ist mit dem Erdeleben, sind wir verpflichtet, Rechenschaft zu geben von jedem Wort, das unnütz uns entfallen. - J.W. Goethe |
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