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FaithinClouds Leseratte
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Beiträge: 158 Wohnort: Südlich vom Norden
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F 19.08.2023 07:10 Du solltest öfter ins Kino gehen von FaithinClouds
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Kleiner Text für die langen Tage im Sommer. Liebe Grüße und alles Gute euch!
Du solltest öfter ins Kino gehen
Wenn du einem Mann die Hand gibst, versuchst du immer, aus seinem Händedruck abzuleiten, wie er im Bett ist. Du weißt nicht, warum. Du stehst ja nicht mal auf Männer, ganz ehrlich. Aber irgendwie macht es Spaß, sich so etwas zu fragen. Besonders dann, wenn du dir dein Gegenüber überhaupt nicht beim Sex vorstellen kannst.
Irgendwie stehst du neben dir. Schon seit Tagen geht es so. Du erzählst irgendwas und dein Blick löst sich. Wenn dich jemand darauf ansprichst, neigst du den Kopf und zuckst mit den Schultern, so wie du es von deinem Vater kennst. Du wirst immer mehr wie deine Eltern, die gleiche Haltung, wenn du nachdenkst, die gleichen eigenartigen Bewegungen, das Nackenreiben, Auf-der-Stelle-Treten. Wie du dich immer darüber lustig gemacht hast.
Am Freitag hattest du ein Date, das erste seit einem halben Jahr. Das Restaurant hatte sie vorgeschlagen. Du warst so früh da, dass es dir fast peinlich war. Sie war Krankenschwester in der Kinderchirurgie und kam gerade von der Spätschicht. Sie gähnte nach jedem Satz. Das Glas Rotwein tat sein Übriges.
Gegen neun bist du kurz auf die Toilette gegangen und als du zurückkamst, schlief sie. Du wusstest gar nicht, wie du reagieren solltest. Irgendwann hast du dir ein Vanilleeis bestellt. Während du so da saßt und sie beobachtetest, fandest du sie noch hübscher als vorher. Ihr Gesicht schien so entspannt. Du konntest sie dir richtig gut mit einem kranken Kind vorstellen.
Als sie irgendwann aufgewacht ist, war es fast schade. Sie blinzelte und wurde augenblicklich rot.
„Sorry“, sagte sie, hielt sich dabei die Hand vors Gesicht.
„Ist nicht schlimm“, hast du geantwortet.
„Es war ein langer Tag.“
„Alles gut.“
„Was ist?“, fragte sie. „Hab ich was im Gesicht?“ Sie fuhr sich über die Wange.
Du hast den Kopf geschüttelt. „Ich hab mir das nur anders vorgestellt. Das mit dem Miteinander-Schlafen.“
Sie lachte. Dann hob sie die Augenbraue. „Du hast dir vorgestellt, dass wir miteinander schlafen?“
Jetzt wurdest du rot.
„Ich nehm dich bloß auf den Arm.“
Als ihr später draußen standet - das Licht aus dem Lokal fiel vor eure Füße - hat sie gesagt, sie habe dich kaum kennenlernen können.
„Ich hab eh nicht viel zu erzählen. Also über mich“, hast du gesagt und dein Blick wanderte währenddessen zu deinen Schuhen.
Es stimmt. Du bist Chemikant bei Bayer. Morgens stehst du immer zwei Stunden früher auf und gehst ins Fitnessstudio. Wenn du mit dem Fahrrad am Rhein entlangfährst, ist es auf einmal richtig einfach, zu glauben, du seist der einzige Mensch auf der Welt, und das gibt dir ein Gefühl von Sicherheit.
„Es muss schön sein, wenn man was arbeitet, was wirklich Sinn macht“, hast du gesagt, weil ihr schon ziemlich lange geschwiegen hattet.
„Es fühlt sich nur manchmal an, als würde es Sinn machen.“
Sie schien jetzt wacher und es lag nur zur Hälfte daran, dass sie gerade geschlafen hatte.
„Wir können das ja irgendwann wiederholen“, meinte sie.
Du hast sie dann aber doch nicht angerufen.
Du bist nicht fürs Daten gemacht. Du kannst nicht gut über deine Gefühle sprechen. Dein Vater löste seine Probleme, indem er so viel Gewicht, wie er gerade noch halten konnte, auf eine große Stahlstange hob, und sie zehnmal emporstemmte, bis er vergessen hatte, warum er eigentlich traurig gewesen war.
Früher hast du solche Vorschläge als Beleidigung deiner Intelligenz aufgefasst, inzwischen weißt du überhaupt nicht mehr, was du denken sollst.
Wenn du mit deinen Eltern telefonierst, hörst du ihnen an, dass sie dich vermissen, und du erträgst es nicht, länger als eine halbe Stunde mit ihnen zu sprechen, weil du auf die Fragen nach deinem Tag immer nur mit Ausflüchten antworten kannst.
Du bist jetzt 21 Jahre alt und manchmal fragst du dich, ob du dich jemals erwachsen fühlen wirst.
Auf der Arbeit reden deine Kollegen viel über Sex. Du glaubst nicht, dass sie wissen, wovon sie sprechen. Leute, die viel über Sex reden, haben in der Regel nicht oft Sex und wenn sie doch welchen haben, ist er wahrscheinlich ziemlich unbefriedigend.
Andererseits redest du kaum darüber, obwohl dein letztes Mal schon mehr als ein halbes Jahr her ist.
Uli, einer der älteren Kollegen, meinte letzte Woche, die anderen glaubten, dass du eine Schwuchtel oder sowas wärst.
„Warum? Suchen die einen Freund?“, hast du geantwortet.
„Dachte nur, du solltest das wissen“, meinte Uli.
Du hast ihn angeschaut, ohne etwas zu sagen.
Uli schüttelte den Kopf. „Mir wär's egal, wirklich.“
„Mir auch.“
Du fragst dich, ob du die Frauen im Großen und Ganzen verstanden hast. Du fragst dich, ob du überhaupt jemanden je wirklich verstanden hast, weil du insgeheim glaubst, dass man Menschen generell nicht verstehen kann. Und du glaubst auch nicht, dass dich je jemand richtig kennengelernt hat.
Manchmal kannst du nicht schlafen. Meist gegen zwei, drei Uhr wirst du ganz wahnsinnig und hast den Drang, irgendetwas zu zerreißen. Ein paar Mal bist du dann schon aufgestanden, hast dir eine Jogginghose angezogen und bist zu irgendeiner Tankstelle gegangen, wo du dann viel zu lange vor einem der Kühlregale standest, weil das Licht – dieses alles ausleuchtende Licht – dir in diesem Moment gut tat. Und dann fülltest du deine Hände mit etwas Brauchbarem: einer Flasche Evian, einem Feuerzeug oder einer Sportzeitschrift. Du hast dich daran festgehalten, während du durch die Nacht gingst. Doch als du zuhause ankamst, war das Gefühl verschwunden, irgendwo auf dem Weg war es dir aus der Hand gefallen, und du hättest es selbst dann nicht gefunden, wenn du zurückgegangen wärst und die ganze Straße abgesucht hättest.
Du fühlst dich wie Daisy in „der große Gatsby“,weil du das ganze Jahr auf den längsten Tag des Jahres wartest. Und du weißt selbst nicht, was du dir von diesem Leben versprichst. Du hast bloß richtig Angst, dass es vorbei ist, bevor du es herausfindest.
Weitere Werke von FaithinClouds:
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Gast
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19.08.2023 08:23 Re: Du solltest öfter ins Kino gehen von Gast
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FaithinClouds hat Folgendes geschrieben: | Und du weißt selbst nicht, was du dir von diesem Leben versprichst. Du hast bloß richtig Angst, dass es vorbei ist, bevor du es herausfindest. |
Mich hat er, dieser Ich-Erzähler, feiner Beobachter seines eigenen Lebens, zwischen "lost", verwundert und ängstlich mäandernd ... ein guter, starker Text! Warum im Trash?
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crim sex, crim & rock'n'roll
Beiträge: 1578 Wohnort: München
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19.08.2023 09:52
von crim
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Ich sehe das auch so. Ein wunderbarer Erzählstil ist das. Zeigt nicht zuviel, nicht zu wenig und erschafft eine ganz eigene Stimmung dadurch. Mit einfachen Worten Tiefgang erschaffen - das funktioniert hier sehr schön. Leise Töne, die Kraft haben, selbstreflektiert und nachdenklich.
LG crim
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HansGlogger Klammeraffe
H Alter: 65 Beiträge: 614 Wohnort: Bayern
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H 19.08.2023 10:30
von HansGlogger
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Ich kann mich nur anschließen. Toller Text. Warum im Trash?
Die Erzählform in der 2.Person kam mir anfänglich etwas seltsam vor. Aber dann gegen Ende erscheint sie angemessen, so zwischen der zu distanzierten dritten Person und der zu nahen ersten.
_________________ Wenn keiner ja sagt, sollt ihr's sagen.
Wenn keiner nein sagt, sagt doch nein.
Wenn alle zweifeln, wagt zu glauben.
Wenn alle mittun, steht allein.
Lothar Zenetti, Was keiner wagt |
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Häherfeder Eselsohr
H
Beiträge: 204
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Constantine Bücherwurm
Beiträge: 3311
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19.08.2023 12:59
von Constantine
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Hallo FaithinClouds
Hab deinen Text gestern im Zug gelesen. Liest sich gut in einem Rutsch durch. Danke.
LG Constantine
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Günter Wendt Exposéadler
Beiträge: 2865
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19.08.2023 15:54 Re: Du solltest öfter ins Kino gehen von Günter Wendt
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FaithinClouds hat Folgendes geschrieben: | Als sie irgendwann aufgewacht ist, war es fast schade. Sie blinzelte und wurde augenblicklich rot.
„Sorry“, sagte sie, hielt sich dabei die Hand vors Gesicht.
„Ist nicht schlimm“, hast du geantwortet.
„Es war ein langer Tag.“
„Alles gut.“
„Was ist?“, fragte sie. „Hab ich was im Gesicht?“ Sie fuhr sich über die Wange.
Du hast den Kopf geschüttelt. „Ich hab mir das nur anders vorgestellt. Das mit dem Miteinander-Schlafen.“
Sie lachte. Dann hob sie die Augenbraue. „Du hast dir vorgestellt, dass wir miteinander schlafen?“
Jetzt wurdest du rot. |
Exemplarisch.
Bitte die Zeitformen überprüfen.
Edit 16.36 Uhr
Bester Trash ever.
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Brombärchen Eselsohr
Beiträge: 258
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19.08.2023 17:53
von Brombärchen
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Hallo Faithinclouds:)
Der Stil ist mit sich ziehend. Einmal angefangen, konnte ich nicht mehr aufhören. Du gibst immer ein wenig Information preis, die immer ein „und“ oder „aber“ beinhalten, ein Rätsel stellen, sodass der Leser von seiner Neugierde durch die Geschichte getragen wird.
Inhaltlich auch sehr ergiebig.
Würde denken, dass das lyrische du auch hier für eine entfremdete Perspektive auf sich selbst steht. Zusätzlich geht der Leser am Anfang von einem weiblichen Du aus, was geschickt die Verwirrung des lyrischen Du’s nachfühlbar macht.
Er ist wegen seiner sexuellen Orientierung verwirrt. Würde denken, er steht kurz davor zu begreifen, dass er schwul ist. Doch er hat Angst davor. Weshalb das Leben an ihm vorbeizieht. Er identifiziert sich mit Daisy (eins meiner drei Lieblingsbücher übrigens:) dein Stil erinnert mich gegen Ende sogar ein bisschen an Fitzgerald. Vor allem auch die verlorene Stimmung, die symbolisch an Dinge geknüpft wird. ) und „sollte öfters ins Kino gehen“. Der Handschlag mit einem anderen Mann ist für ihn erotisch, aber er hat es selbst noch nicht erfasst.
Der Text ist ein kleines Zauberwerk, feinsinnig sich einfühlend in die Verwirrung eines homosexuell veranlagten Menschen in einer heterosexuellen Gesellschaft. Ich habe dadurch etwas gelernt über die Welt und meine Mitmenschen.
Also das exakte Gegenteil von Trash. Nämlich pure Poesie und große Literatur.
Zumindest, aber bestimmt nicht nur meiner Meinung nach:)
Liebe Grüße von brombärchen
_________________ Wild schlafend, Erdbeerblut verschmiert
heldenhaft freundlich, harmlos verliebt,
Gänseblümchens toll wütiger Bruder |
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Constantine Bücherwurm
Beiträge: 3311
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19.08.2023 18:01
von Constantine
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Brombärchen hat Folgendes geschrieben: | Würde denken, er steht kurz davor zu begreifen, dass er schwul ist. |
Interessant, trifft es genau meinen Gedanken über den Protagonisten. Der latent homosexuelle Protagonist und im gesamten Text das wiederkehrende Thema Sex: beim Händeschütteln mit Männern, beim (halbjährlichen) Daten und der Erwartung als Abschluss des Abends, das Gesprächsthema auf der Arbeit des Protagonisten.
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Arminius Reißwolf
Alter: 65 Beiträge: 1239 Wohnort: An der Elbe
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19.08.2023 19:44
von Arminius
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Eine selten verwendete Erzählperspektive. An diese hautnahe Identifikation muss man sich als Lesender erst mal gewöhnen. Dafür dürfte der Erinnerungswert solcher Geschichten recht hoch sein. Gern gelesen:thumbup:
_________________ A mind is like a parachute. It doesn´t work if it is not open (Frank Zappa)
There is more stupidity than hydrogen in the universe, and it has a longer shelf life (Frank Zappa)
Information is not knowledge. Knowledge is not wisdom. Wisdom is not truth. Truth is not beauty. Beauty is not love. Love is not music. Music is the best (Frank Zappa) |
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FaithinClouds Leseratte
F
Beiträge: 158 Wohnort: Südlich vom Norden
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F 30.08.2023 13:35
von FaithinClouds
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Danke für die vielen Gedanken von euch.😄
Im Trash ist es gelandet, weil es aus meiner Sicht nicht so wirklich eine Geschichte war, zumindest war es nicht als solche angedacht.
Außerdem wollte ich damit kennzeichnen, dass ich am Text nicht mehr viel ändern werde. Ich fand ihn aber auch nicht so rund, dass ich das Ganze unter Feedback reinstellen wollte.
Es ist schön, zu lesen, wie er dich beschäftigt hat, Brombärchen. Nicht alles, was du so aus dem Text herausbekommen hast, ist wirklich so eindeutig. Aber es ist ja auch richtig schön an Geschichten, dass sie irgendwann nicht mehr nur einer Person gehören.
Und wer bin ich schon, dass ich irgendeine Deutungshoheit für mich einfordere?😅 Wahrheit ist in der Literatur nicht unbedingt dichotom und das ist auch irgendwie ganz gut so. Danke jedenfalls für dein Interesse und die vielen Worte. Es ist ein großes Kompliment, wenn man reflektiert bekommt, dass man jemanden irgendwie zum Nachdenken gebracht hat. Und das meine ich mit aller Demut.
@GüntherWendt Das mit den Sprüngen zwischen Perfekt und Imperfekt war gewollt. Ich finde, dadurch hat der Text etwas Nahbareres. Ich wollte, dass es so klingt wie etwas, was einem ein vertrauter Mensch erzählen würde.
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