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Badum


 
 
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Reimeschreiberin
Geschlecht:weiblichEselsohr


Beiträge: 220



Beitrag11.08.2022 19:00
Badum
von Reimeschreiberin
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Badum

badum, badum, badum. Dieses monotone Geräusch begleitet uns während der ganzen Fahrt auf der Autobahn. Es ist das Geräusch, wenn der Trabi über die Fugen der Platten fährt. Badum, badum, badum.
Übertönt wird das Geräusch vom Geheul des Motors. Bei 90 km/h denkt man, dass der Motor einem jeden Augenblick um die Ohren fliegt, oder dass der Trabi jeden Moment abhebt.
„Bleib gefälligst auf deiner Seite!“ Das kleine Schwesterherz meldet sich schreiend zu Wort, um die Motoren- und Fahrgeräusche zu übertönen.
Darauf gibt es nur eine mögliche Reaktion: „Bleib doch selbst auf deiner Seite!“ schreie ich zurück. Nach einem tadelnden Blick unserer Mutter versuche ich dann doch, meine Beine irgendwie anders zu sortieren. Mit dem Gepäck, das den ganzen Fußraum bis zur Oberkante der Rückbank ausfüllt, ist das allerdings gar nicht so einfach. Was in der Nacht, als wir losgefahren sind, noch als bequeme Liege herhielt, wird nun im Sitzen zunehmend unbequemer. Bei vier Personen muss eben jede Ecke optimal genutzt werden. Auch wenn ich Tetris zu dem Zeitpunkt noch nicht kenne, beschreibt das wohl am ehesten den Vorgang des Bepackens unseres Trabis. Darin ist unser Vater absoluter Meister. Am Vorabend sortierte er die Taschen in den Kofferraum. Er drehte sie mal längs, mal quer, manche sogar hochkant. Wenn sie nicht in die Lücke passten, versuchte er es mit einer anderen Tasche. Auf diese Weise verschwanden nach und nach alle Gepäckstücke. Und was nicht mehr in den Kofferraum passte, füllt nun unseren Fußraum.

Endlich, nach mehrstündiger Tortur verlassen wir die Autobahn und fahren auf die Landstraße. Kleine Dörfer und Felder ziehen vorüber, und dann noch mehr Dörfer und noch mehr Felder, ein kleines Wäldchen und weitere Felder. Die mit nörgelnder Stimme lauthals gestellte Frage „Wann sind wir denn endlich da?“ müssen sich meine Eltern nicht nur einmal von uns anhören. Nach mehreren Stopps und kurzen Blicken auf die Karte mit Bemerkungen wie „Bist du dir sicher, dass es hier langgeht?“ von meiner Mutter und entnervten „Ich weiß es doch auch nicht, aber wenn du es besser weißt, dann fahr doch selber.“ von meinem Vater hören wir endlich die erlösenden Worte: „Hier muss es sein.“
Aha, hier soll es sein. Ganz sicher? Denn wir stehen vor einem ziemlich heruntergekommenen Bauernhaus, links davon nur Feld, rechts davon nur Feld und erst in der Ferne das nächste Haus. Was man nirgends sieht, ist Wasser. Dabei sollte das doch ein Ostseeurlaub sein. Aber wir sind alle froh, uns aus dem engen Auto herauszuschälen. Erst einmal die Glieder ausstrecken und tief durchatmen.

Nicht ganz unvoreingenommen gehen wir zur Tür. Vater schließt auf, und ein fauliger, schimmeliger Geruch schlägt uns entgegen. Puh. Mutter versucht, das aufkommende Unbehagen zu überspielen: „Wir sind anscheinend die ersten Gäste dieses Jahr. Nach gründlichem Durchlüften ist es bestimmt gleich besser.“ Mit einer einladenden Geste tritt sie ein: „Willkommen in unserem…“, und wird von einem Fliegenschwarm begrüßt, „Huch...in unserer Fliegenburg.“ Wir schauen uns an und prusten alle los. Kurz darauf, beim Erkunden von Haus und Umgebung, bleibt uns das Lachen im Halse stecken: Wasser gibt es nur aus dem Brunnen, Trinkwasser müssen wir von dem nächsten Haus an der Straße holen, das Bettzeug ist klamm und überall sitzen oder schwirren Fliegen. Kein Wunder, hinter dem Haus verbreitet ein riesiger Misthaufen die viel gepriesene Landluft.

Nun ist es kaum noch zu leugnen, der Urlaub ist gelaufen. Ein Blick auf meine Schwester verrät mir, dass sie das genauso sieht. Immerhin, unsere Eltern geben nicht auf. Ratzfatz ist der Trabi ausgeladen, wir zwängen uns nochmal hinein und zuckeln ans Meer. Boltenhagen. Schlussendlich sehen wir heute doch noch einen Strand und die Ostsee.
„Wer zuerst im Wasser ist!“ Ich reiße mir die Sachen runter und sprinte ins Meer, dicht gefolgt von meiner Schwester. Als wir wieder rauskommen, reden unsere Eltern mit einer Frau. Es ist Vaters Bekannte Annegret. Wie sich herausstellt, zeltet sie mit ihrer Familie in Boltenhagen. Und was noch weitaus besser ist, sie hat uns eingeladen, ein paar Tage bei ihnen im Zelt zu verbringen. Schöne Aussichten. Doch jetzt warten ein klammes Bett in einem Haus voller Fliegen, kaltes Wasser und äußerst aufdringliche Landluft auf uns.

Mäh, mäh. Was soll das? Mühsam öffne ich die Augen und reibe mir den letzten Schlaf heraus. Schaut da wirklich ein Schaf durchs Fenster? Tatsächlich. Das Schaf streckt seinen Kopf in unser Zimmer, kaut genüsslich auf etwas Gras herum und krümelt unseren Boden voll. „Juliane, wach auf, schnell!“ Meine Schwester ist mindestens genauso erstaunt wie ich. Sie kreischt und springt aus dem Bett: „Wie süß, kann ich es streicheln?“ Da wird es dem Schaf doch zu viel und es trabt davon. So was sieht man auch nicht alle Tage.

Nach dem Frühstück packen wir eilig ein paar Sachen und schon geht es los Richtung Zeltplatz. Bei einem kurzen Halt am Dorfkonsum wollen wir noch etwas Essen einkaufen, als Gastgeschenk sozusagen. Im Laden sind wir die einzigen Gäste. Es zeigt sich schnell warum. Die wenigen Regale sind so leer wie unser Kühlschrank am Montag Morgen. Naja, nicht komplett leer. Ein Guglhupf alle ein bis zwei Meter versucht, die Leere zu überdecken. Dann bringen wir eben einen Guglhupf mit, besser als nichts.
Was dann folgt, ist ein nahezu perfekter Tag am Strand, mit Planschen im Meer, Murmelburg bauen, Volleyball spielen und einfach nur faul in der Sonne liegen. Am Abend im Zelt wird es zwar etwas eng, aber es ist immer noch angenehmer als die Nacht in der Fliegenburg. Annegret und ihre Familie schlafen im Wohnwagen und wir im Vorzelt. Mit der Vorfreude auf das Frühstück legen wir uns schlafen, denn morgen früh essen wir unseren Guglhupf. Wann gab es schon jemals Kuchen zum Frühstück? Juliane und ich streiten noch ein wenig darüber, wer wohl das größte Stück abbekommt, und schlafen letztlich doch zufrieden und glücklich ein.

Am nächsten Morgen werden wir früher geweckt als gedacht. Ich höre draußen Mutter und Vater reden, dann Geraschel und dann lacht meine Mutter auf. Etwas verstört schiebe ich meinen Kopf durch den Reißverschluss. „Was ist denn hier los?“
Mutter und Vater stehen vor dem Zelt, mit Plastikschnipseln in der Hand, und schauen beide in die gleiche Richtung.
„Du wirst es nicht glauben, aber Ratten haben sich in unser Zelt geschlichen, den Guglhupf heraus geschleift und sich dann um die fette Beute gestritten.“
Vater ergänzt: „Sie haben uns mit ihrem Gequieke und Geraschel geweckt. Als wir hinaus gegangen sind, waren nur noch ein paar Krümel und diese Verpackungsreste übrig. Das wird wohl nichts mit unserem süßen Frühstück.“
War ja klar. Alles andere wäre auch viel zu schön gewesen. Aber gut, wir sind noch auf dem Zeltplatz und können zwei weitere Tage direkt in Strandnähe genießen. Danach geht es wieder zurück zu unserer Fliegenburg, wo noch drei Nächte in Landidylle auf uns warten.

Diese zwei Tage lassen wir es uns noch einmal richtig gut gehen. Zum Glück spielt auch das Wetter einigermaßen mit. Dann holt uns das Unvermeidliche ein - der Morgen des Abschieds ist da. Wir packen alles zusammen. Vor der Abfahrt machen wir einen kleinen Spaziergang hinauf auf den Hügel. Von hier aus blicken wir über das Ufer und das weite Meer. Mein Vater streckt den Arm aus.
„Siehst du den Landstrich dort am Horizont?“, fragt er mich. „Dorthin werden wir niemals kommen.“
Badum. Einen Moment scheint es, als würde die Welt still stehen. Mir war schon lange klar, dass wir nicht überall hinfahren können. Aber hier und jetzt mit diesem einen Satz im Ohr und der fernen Küste vor Augen ist es echt, wahrhaftig. All die anderen Dinge, die unwirtliche Fliegenburg, die gefräßigen Ratten, das Gestreite mit meiner Schwester um die Mitte der Rückbank, die leeren Regale, einfach alles schrumpft angesichts dessen bis zur Bedeutungslosigkeit. Ich fühle mich eingesperrt und hilflos. In dem Moment weiß ich, dass meine Kindheit mit ihrer Naivität und Sorglosigkeit ein für alle Mal vorbei ist. Ich habe sie verloren in Boltenhagen im August 1989 mit einem leisen
Badum.

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Schlomo
Geschlecht:männlichEselsohr

Alter: 67
Beiträge: 215
Wohnort: Waldperlach


Beitrag21.08.2022 22:34

von Schlomo
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Ich war zwar nie in der DDR, aber diese Art von Urlaub kenne ich nur zu gut. Vollgestopfter VW Käfer, schimmelige Flossenbürg (der Bauernhof) der ältesten Schwester meines Vaters, da werden Erinnerungen wach.

Habe während des Lesens die sich anbahnende Veränderung vermisst, obwohl ich schon vermutet habe, worauf es hinaus läuft, aber mit dem Datum war dann alles klar.

Hat mich von allen Geschichten am meisten angesprochen.

Nachtrag: Bei uns haben Ameisen den von meiner Schwester gebackenen Gugelhupf besiedelt. Wir hatten ihn in Alufolie vor dem Zelt gelagert, und am nächsten Morgen war er hohl. Obwohl, eigentlich nicht richtig hohl, sondern von Ameisen in einer Ameisenbau verwandelt ... Hm.


_________________
#no13
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d.frank
Geschlecht:weiblichReißwolf
D

Alter: 44
Beiträge: 1129
Wohnort: berlin


D
Beitrag23.08.2022 00:29

von d.frank
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Darf man das mögen, auch wenn es sich selbst widerspricht?
Es gibt so ein Kinderlied: https://hulusmusik.wordpress.com/2015/12/24/vicki-vomit-edward-snowden-2/, diese Reise hat mich daran erinnert. Vielleicht, wenn die Einsicht sich nicht am Ende, an diesem Satz aufhängen würde. Das ist, als ob die Geschichte sich selbst nicht ernst nimmt, irgendwie, aber das ist auch ein guter Gedankenansatz, gerade, wo ich den Liedtext und folgende Zeilen nochmal gelesen habe:

und soll alle Aussicht haben,
ob am Land, ob in der Stadt,
ob in der Stadt.

Wo die Welt war, da soll die Welt sein
und die Erde mitten drin.
Dass ich selber auch ein Ahne,
ungeborner Menschen bin,

Insofern ist dieser Widerspruch sicher gewollt und auch berechtigt, nur vielleicht zu schnell, zu einfach hineingeschoben?


Edit: Die Gewichtung stimmt leider nicht, das Ende kommt wie ein Fallbeil, ohne die geringste Vorbereitung, deshalb 6 Punkte, obwohl es hätten mehr sein können.


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Die Wahrheit ist keine Hure, die sich denen an den Hals wirft, welche ihrer nicht begehren: Vielmehr ist sie eine so spröde Schöne, daß selbst wer ihr alles opfert noch nicht ihrer Gunst gewiß sein darf.
*Arthur Schopenhauer
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V.K.B.
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Alter: 51
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Das goldene Rampenlicht Das silberne Boot
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Beitrag23.08.2022 13:44

von V.K.B.
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Hallo Inky,

ein Urlaub in der DDR, und das Ende einer jugendlichen Naivität. Immerhin bleibt er dann nicht mehr allzulange in seinem gerade erkannten Gefängnis, sind ja nur noch drei Monate. Die Geschichte liest sich gut, authentisch und glaubhaft, aber schauen wir mal, wie sie als Zehntausendertext abschneidet:

E-Lit: barely, würde ich sagen. Ja, es ist Gegenwartsliteratur (auch wenn es schon ein paar Jahrzehnte in der Vergangenheit spielt), aber wirklich E ist es nicht, eher gute U-Literatur (meiner Meinung nach)
Sperrig: diesen Gesichtspunkt von 10k-Texten hast du ziemlich ignoriert. Das ist traditionell und geradeaus erzählt, was an und für sich nichts Schlechtes ist, aber bei Zehntausendertexten erwarte ich etwas mehr Ungefügigkeit.
Thema Sommergäste: Geht um einen Sommerurlaub, von daher check.  Eine tiefergehende Beschäftigung mit dem Thema findet aber nicht statt.
Begegnungen/Abschiede: Dito. Bis auf das Thema Abschied, weil wir hier noch den Abschied von der jugendlichen Naivität haben.
ungehörter Schuss: Könnte der Zusammenbruch der DDR sein, aber der bleibt wirklich ungehört, wird nur über die leeren Regale angedeutet. Und vielleicht metaphorisch über die Ratten.
Hintergrund Veränderung: Da ist das Szenario gut gewählt.  
Persönliches Gefallen: Wie gesagt fand ich die Geschichte gut zu lesen und unterhaltsam. Aber für einen Zehntausendertext ist mir das zu wenig.


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Hang the cosmic muse!

Oh changelings, thou art so very wrong. T’is not banality that brings us downe. It's fantasy that kills …
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thepriest
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Beitrag23.08.2022 16:24

von thepriest
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Ich mag diese Art von Urlaubsgeschichten. Pagnol klingt nach: "der Ruhm meines Vaters". Hier aber sind wir woanders. Am Ende einer Epoche, eines Staates im akuten Verwesungszustand. Die Fliegen kreisen schon. Das Zelt wird zur Verheißung. Aufbruch in ein neues Land, auch wenn die Ratten den Kuchen fressen. Was mit Leichtigkeit aufgeschrieben scheint, offenbart eine zweite, weitaus tiefer gehende Ebene.

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dürüm
Wolf im Negligé

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Vorlesbar I


Beitrag23.08.2022 20:53

von dürüm
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Hallo Inco,

sehr gerne gelesen. Erinnerungen an Urlaub in der ehemaligen DDR. und ein trotz allem überraschendes Ende.

Flüssig geschrieben, emotional dicht, alles sehr authentisch, ich würde wetten, persönliche Erfahrung?

7 Punkte

Gruß
Kerem


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Versuchungen sollte man nachgeben. Wer weiß, ob sie wiederkommen.
(Oscar Wilde)
Der Willige wird vom Schicksal geführt. Der Störrische geschleift.
(Seneca)
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Reimeschreiberin
Geschlecht:weiblichEselsohr


Beiträge: 220



Beitrag23.08.2022 21:56

von Reimeschreiberin
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Ich bin's nur, und ich bin gespannt auf Eure Kommentare und Bewertungen.
Zumindest zu einem Punkt erwarte ich diesmal keine Kritik, zur Formatierung. Wink
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Constantine
Geschlecht:männlichBücherwurm


Beiträge: 3311

Goldener Sturmschaden Weltrettung in Bronze


Beitrag25.08.2022 09:55

von Constantine
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Bonjour Señora Incógnita

Eine Geschichte, die still daherkommt und nebenbei für Zwischendurch gelesen werden kann. Insgesamt gefällig geschrieben und nett.
Aber:
 
Señora Incógnita hat Folgendes geschrieben:
Mein Vater streckt den Arm aus.
„Siehst du den Landstrich dort am Horizont?“, fragt er mich. „Dorthin werden wir niemals kommen.“
Badum. Einen Moment scheint es, als würde die Welt still stehen. Mir war schon lange klar, dass wir nicht überall hinfahren können. Aber hier und jetzt mit diesem einen Satz im Ohr und der fernen Küste vor Augen ist es echt, wahrhaftig.
All die anderen Dinge, die unwirtliche Fliegenburg, die gefräßigen Ratten, das Gestreite mit meiner Schwester um die Mitte der Rückbank, die leeren Regale, einfach alles schrumpft angesichts dessen bis zur Bedeutungslosigkeit. Ich fühle mich eingesperrt und hilflos. In dem Moment weiß ich, dass meine Kindheit mit ihrer Naivität und Sorglosigkeit ein für alle Mal vorbei ist. Ich habe sie verloren in Boltenhagen im August 1989 mit einem leisen
Badum.

Hier wird ein gewisser Comig-of-Age-Charakter plötzlich in die Story ans Ende gepfropft, und ich denke mir, hoppla, wo kommt das denn plötzlich her. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass den jungen Protagonisten in irgendeiner Weise klassische Themen von Coming-of-Age-Stories
    neue Freundschaften
    Die erste große Liebe
    Konflikte in der Familie
    Probleme in der Schule
    Druck und Erwartungen
    Trennungen und Verluste
    Infragestellung der Sexualität
    Infragestellung des Geschlechts
    Wege und Schritte zur Selbstfindung


beschäftigen.

Ich weiß noch nicht, was ich damit mache. Es hinterlässt einen ziemlich schalen Beigeschmack, mir diesen Text jetzt als etwas verkaufen zu wollen, was er mMn nicht ist. Es passt nicht.
Die Charaktere sind alle ziemlich oberflächlich gezeichnet: Der Text beschränkt sich größtenteils auf das äußere Abenteuer und bekannte Familienmuster, aber lässt mir vor allem das, worum es dem Text am Ende beim angepinnten Ende geht, außen vor.

Im Vergleich mit allen Wettbewerbstexten und da zehn Texte bepunktet werden müssen, bekommt dieser hier: deux points.

Merci beaucoup
Constantine
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Babella
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

Alter: 61
Beiträge: 890

Das goldene Aufbruchstück Der bronzene Roboter


Beitrag26.08.2022 11:36

von Babella
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Es kommt sicher immer etwas drauf an, in welcher Lebenssituation und mit welcher Hintergrunderfahrung man etwas liest. Hier las eine, die das "badum" noch ein bisschen kennt, wenngleich sie im Westen aufwuchs, die aber seit Jahren immer wieder nach Boltenhagen kommt und dort immer wieder daran erinnert wird, wie es einmal gewesen ist.

Die Aussicht auf die Änderung, die in diesem Sommer 1989 schon dräute, ist perfekt umgesetzt. Die Erlebnisse mit Gugelhupf und Ratten, Zelten und eben den holprigen Straßen wirken hundertprozentig authentisch - Jugenderinnerungen, die all diese Ungeheuerlichkeiten, die man sich heute nicht mehr so vorstellen kann, so beschreiben, wie man sie wohl wahr- und angenommen hat.

Gefällt mir sehr.
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Heidi
Geschlecht:weiblichReißwolf


Beiträge: 1425
Wohnort: Hamburg
Der goldene Durchblick


Beitrag28.08.2022 20:20

von Heidi
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Das Thema

behandelt die Freiheit, die gewissen Menschen nicht gewährt wird und das Bewusstwerden eines Kindes, viel zu früh eine unbeschwerte Kindheit hinter sich lassen zu müssen.

Der Titel

Sehr originell. Hat es mir wirklich angetan, ist eigentlich der beste Titel des kompletten Wettbewerbs. Er macht sofort neugierig und ist in allen Punkten dem Text zugewandt.

Der Anspruch / Die Ungefügigkeit / Die Eigenständigkeit

Der Anspruch steckt in der Thematik, die Ungefügigkeit und Eigenständigkeit in dem, dass der Text sich ein Badum traut, genauso wie ein Mäh, Mäh.

Die Sprache

zeigt eindeutig, dass es ein Kind ist, das seine Geschichte erzählt, wird dabei aber nie kindisch und bekommt auch keinen Bilderbuchcharakter dadurch. Es ist nichts übertrieben, was die Sprache betrifft, es werden klare Bilder transportiert, die mich in eine andere Zeit zurückversetzen, in ein völlig konträres Leben als das, was ich in meiner Kindheit erfahre habe. Das wird sprachlich sehr gut gestützt und dadurch auch erfahrbar.

Der Gesamteindruck

Das ist ein Text, der von Leichtigkeit erzählt, von sommerlicher frische und zeitgleich auch von ganz viel Düsternis. Da sind die Fliegen, da ist das klamme Bettzeug, da ist die stinkende Landluft. Aber trotz all der Unannehmlichkeit nehmen Eltern sowie Kinder ihr Schicksal immer wieder hin, haben sich lieb, geben nicht auf, erfreuen sich an dem, was sie haben. Und so erfahren sie auch das Glück, dass sie wenige Nächte im Zelt verbringen können, wo sie schöne Tage haben, auch wenn die Ratten das Kuchenfrühstück verderben.

Es sind Wellenbewegungen im Text spürbar, die sanft von sonnenhell ins Dunkelgrau führen und dabei immer wieder den Bogen weiterführen in den lichten Moment, um wieder abzugleiten in die Düsternis. Am Ende erfolgt die Klarheit darüber, dass sie wahr ist, die Unfreiheit und somit auch das Ende der Kindheit eingeläutet wird. Ein Bewusstseinsprozess hat begonnen, es gibt keine Rückkehr mehr in alles, was zuvor war.
Dass in einem Badum auszudrücken finde ich gelungen, denn ein Wort, das bereits existiert, kann man dazu kaum verwenden.
So hinterlässt diese Geschichte in mir eine leichte Melancholie, die aber auch Hoffnung in sich trägt, weil es da dennoch diese lichtdurchzogenen Momente gegeben hat, die das erwachsen gewordene Kind als Erinnerung in sich weiterträgt und nicht zulässt, sein inneres Kind zu verlieren.

Mir gefällt an diesem Text das Verhältnis zwischen Kindlichkeit und Erwachsensein; mir gefällt, wie Kleinigkeiten in wenigen Worten sehr bildhaft erzählt werden, wie etwa das Autopacken im Vergleich mit dem Tetris-Spiel, oder die Gugelhupfe im Supermarkt, die alle zwei Meter versuchen, die Leere zu überdecken. Der Text ist inhaltlich, sprachlich und auch bildlich, ausgesprochen gut gelungen und bekommt von mir zwölf Punkte.
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Globo85
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Beiträge: 744
Wohnort: Saarland
Das silberne Eis in der Waffel DSFo-Sponsor


Beitrag29.08.2022 11:53

von Globo85
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"Ausreiseverbot" oder Friendship!

Vorgaben:
  • Begegnungen und/oder Abschiede: Ja.
  • Anbahnende Veränderung: Die Wende?
  • Sommergäste/Nichtbeachteter Schuss: Ja und nein.
  • Ist das E? Für mich nicht.

Eindrücke:
Hm, das ist gut geschrieben und nett zu lesen, aber dann auch irgendwie ein wenig banal.

Lieblingsstelle:
Zitat:
Es ist das Geräusch, wenn der Trabi über die Fugen der Platten fährt.


Fazit:
Hat nicht für meine Top Ten gereicht. Keine Punkte.
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F.J.G.
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Beiträge: 1955
Wohnort: Wurde erfragt


Beitrag30.08.2022 18:34

von F.J.G.
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Liebes verfassendes Wesen,

nett, wirklich nett! In der ersten Hälfte hegte ich die Befürchtung, du willst uns den kompletten Plot unterschlagen und war umso begeistert vom sinnschöpfenden Klimax am Ende.

Übrigens, erst jetzt fällt mir auf, dass ostdeutsche Themen in diesem Forum absolut unterrepräsentiert sind …

Ich wünschte, ich könnte anders entscheiden, denn ich fand den Text gut. Da er jedoch leider nur an seinem Ende zu hängen kommt, fehlt ihm die Handlung in Anfang und Hauptteil. Nach langem Abwägen bin ich zum Schluss gekommen, dass es ganz knapp nicht für eine Punktewertung reicht.

Gern lese ich aber mehr von so etwas!

Ciao
Kojote


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sleepless_lives
Geschlecht:männlichSchall und Wahn

Administrator
Alter: 58
Beiträge: 6477
Wohnort: München
DSFo-Sponsor Pokapro und Lezepo 2014
Pokapro VI Weltrettung in Gold


Beitrag31.08.2022 20:35

von sleepless_lives
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Das ist, ehrlich gesagt, eigentlich kein Text für den Zehntausender in der vorliegenden Form. Nicht wegen des Sujets oder der beschriebenen Handlung, im Gegenteil, das hätte richtig gut werden können, sondern wegen der Sprache, der Erzählweise und der Art der Beobachtungen und ihrer Schilderungen.   

Ein paar Beispiele:
Zitat:
Übertönt wird das Geräusch vom Geheul des Motors.

Das Badum-Geräusch, das so zentral ist und sogar den Titel liefert, ist eigentlich sekundär. Das kann gut so sein und muss ihm nicht zwangsläufig die Bedeutung nehmen. Doch dann muss man das halt klarstellen. Sagen wir, irgendetwas in der Art, dass der Motor mal wenig, mal mehr heult, mal klingt wie [Vergleich], mal wie [Vergleich], aber das Badum bleibt immer gleich, Minuten, Stunden, [Vergleich]. Irgendetwas, das seine Bedeutung in den Vordergrund schiebt, obwohl der Motor dominanter ist.

Zitat:
Das kleine Schwesterherz meldet sich schreiend zu Wort

Das ist so behäbig formuliert. Warum schreit die ‚Schwester‘ (ohne Herz) nicht einfach. ‚Zu Wort melden‘ das ist etwas, das beispielsweise ein Teilnehmer in einer Podiumsdiskussionen tun würde.

Zitat:
Auch wenn ich Tetris zu dem Zeitpunkt noch nicht kenne, beschreibt das wohl am ehesten den Vorgang des Bepackens unseres Trabis.

Eine umständliche Ankündigung. Warum nicht mitten in die Sache hinein, etwas in der Art ‚unser Vater ist absoluter Meister im Tetris‘ und dann klar machen, dass es nicht um das Spiel geht, dass es den Personen gar nicht bekannt war, sondern um das Bepacken des Trabbi. Was ja auch sogar noch eine räumliche Dimension, eine Schwierigkeit, hinzufügt.  

Zitat:
Nicht ganz unvoreingenommen gehen wir zur Tür.

Hier schon wieder. Doppelte Verneinung, die wenig passt hier, distanziert klingt und – sorry – wie direkt aus einem Kaminfeuer-Geschichten-Klischee. Und der Stil wird ja auch nicht beibehalten, kontrastiert mit deutlicher Umgangssprache wie zum Beispiel hier:
Zitat:
Ratzfatz ist der Trabi ausgeladen, wir zwängen uns nochmal hinein und zuckeln ans Meer
  
  
Das zieht sich so durch den gesamten Text und befördert ihn auf das Niveau einer schriftlich festgehaltenen (fiktiven oder nicht) Familienerinnerung, aber nicht eines literarischen Textes mit einem gewissen Anspruch. Wie anders könnte das zum Beispiel sein, wenn nicht betulich rückblickend erzählt werden würde, sondern direkt aus der Perspektive der kindlichen oder jugendlichen Heldin, mit dem ganzen Drama, den ganzen Emotionen. Das wird hier und da versucht, aber nie konsequent durchgehalten.

Der letzte Absatz, das ganze Ende, erscheint dann aufgesetzt und das in doppelter Weise. Den ganzen Text hindurch war keine Rede von anderen Zielen oder von der Freiheit zu reisen, wohin man will. Und genauso war da nichts, das mit dem Ende der Kindheit zu tun zu haben schien, keine einzige Andeutung. Dadurch wirkt die plötzliche Entwicklung hin zum Erwachsenwerden unglaubwürdig, wie ein erzählerischer Trick. Verstärkt wird das noch durch die Erwähnung des Geräusches, das ja im beschriebenen Moment nicht zu hören ist.


Trotz allem hätte der Text von mir 1 Punkt erhalten für seiner Direktheit.


_________________
Es sollte endlich Klarheit darüber bestehen, dass es uns nicht zukommt, Wirklichkeit zu liefern, sondern Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann. (Jean-François Lyotard)

If you had a million Shakespeares, could they write like a monkey? (Steven Wright)
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nicolailevin
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 260
Wohnort: Süddeutschland


Beitrag01.09.2022 17:59

von nicolailevin
Antworten mit Zitat

Der Titel gefällt mir. Badum, das könnte ein französischer Badeort sein (man denke sich den gesprochenen Nasal) oder eine Onomatopoesie (ja, das Wort hab ich nachgeschlagen), Badap-badum-schiwu …

Das Badum hier ist eine Lautmalerei, das klärt sich gleich zu Anfang. Ein Sommer an der Ostsee. Eine DDR-Familie (wer führe sonst Trabant?) erlebt Ferien mit Widrigkeiten. Am Ende deutet der Vater auf die westdeutsche Küste am Horizont, sagt, dass man da nie hinkommen werde und der Icherzähler weiß, dass seine Kindheit vorbei ist.

Das ist von kleinen sprachlichen Holperern abgesehen alles durchaus ansprechend erzählt, aber es fängt mich doch nie so richtig ein. Hübsch, aber zu bieder. Nichts sagt mir, worauf diese Geschichte hinauslaufen soll: Glückliche Kindheit? Unglückliche Kindheit? Konflikt mit der Schwester?

Auch die DDR wirkt (vom leergekauften Konsumladen abgesehen) nicht hinein ins Geschehen: Wie steht die Familie zum Staat? Sind das (oberflächlich wenigstens) Träger der Obrigkeit? Oder Dissidenten? Dazu: Kaum eines der Fährnisse, welche die Familie erleidet, ist DDR-spezifisch. Die Erkenntnis vom Ende der Kindheit kommt damit unvorbereitet und für mich nicht nachvollziehbar. Mir fehlt die Wendung, der Bruch, das Rätsel.

Der Schuss, den keiner hört, müsste ja der Beginn der Wende zur deutschen Einheit sein: In jenem Sommer der beginnende Groll und der Exodus der DDR-Bürger_innen via Ungarn. Der wird aber mit keinem Wort erwähnt …

Am Ende knapp nicht mehr in den Punkten.
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silke-k-weiler
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

Alter: 49
Beiträge: 750

Das goldene Schiff Der goldene Eisbecher mit Sahne


Beitrag02.09.2022 21:37

von silke-k-weiler
Antworten mit Zitat

Lieber Text,

irgendwie musste ich bei Deiner Lektüre ein klein wenig an das Lied "Es war nicht alles schlecht" von den Prinzen denken. Wink Obwohl ich nicht weiß, ob ich die Familie für diesen fast schon trotzigen Optimismus bewundern soll. (Stichwort: Wir sind anscheinend die ersten Gäste dieses Jahr.)
Oder ist dieses sich "mit-den-Gegebenheiten-arrangieren" eher gruselig?
Dann finde ich es aber wieder eigentlich ganz schön, wie sie gemeinsam das Beste draus machen.

Ich habe echt lange überlegt, ob Du es in meine Top Ten schaffst. Aber letztlich fand ich vor allem die Vorgaben sehr gut umgesetzt und den Schluss durchaus stark. Der Ton hat etwas Authentisches. Als würde ich im Tagebuch eines Teenagers blättern und dort auf diesen Rückblick stoßen. Im Vergleich zu anderen Texten, die sprachlich ein/zwei Schippen mehr drauf haben, bei denen ich mir aber die Vorgaben hinbiegen müsste, um noch ein paar Pünktchen in den Hut werfen zu können, hast Du mich eher überzeugt.

Viele Grüße
Silke
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Nachtvogel
Geschlecht:weiblichLeseratte

Alter: 32
Beiträge: 117
Wohnort: Münster


Beitrag03.09.2022 03:08

von Nachtvogel
Antworten mit Zitat

Für den größten Teil ist diese Geschichte eine nette, aber auch recht belanglose Erzählung über einen Familienurlaub. Tiefe kommt erst im letzten Absatz hinein, wenn die Erkenntnis der eigenen Unfreiheit in der DDR für den Erzähler zum Ende der "Kindheit mit ihrer Naivität und Sorglosigkeit" führt - was dann vor dem Hintergrund der vorher recht banalen Urlaubserzählung auf mich etwas hochgegriffen wirkt.

Für Punkte hat es leider nicht gereicht.
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Minerva
Geschlecht:weiblichNachtfalter


Beiträge: 1150
Wohnort: Sterndal
DSFo-Sponsor


Beitrag03.09.2022 20:33

von Minerva
Antworten mit Zitat

Scorpions hat Folgendes geschrieben:
Where the children of tomorrow dream away
In the wind of change


Inhalt:

Die Familie fährt mit dem Trabi zum Ostseeurlaub. Die kleine Schwester nervt, im Auto ist es eng und unbequem und zu guter Letzt befindet sich die Ferienunterkunft nicht mal am Meer und wird von fiesen Fliegen heimgesucht. Ein Glück, dass Papa eine Bekannte trifft, die die Familie bei sich auf dem Zeltplatz wohnen lässt, zumindest für ein paar Tage. Der Sommer wird genossen, bis Papa die Welt zum Wanken bringt mit dem simplen Satz, dass sie an den vom Strand aus sichtbaren Ort in der Ferne niemals hinkommen werden. Und das im Sommer 1989.

Wertung

Der Übersichtlichkeit halber habe ich die Details zu den Kategorien in den Fußnoten ausführlich aufgeführt. Die Wertung dient dazu, die Geschichte für den Wettbewerb ranken zu können, deswegen wird alles im Detail betrachtet, bitte nimm es nicht als zerpflückende Kritik wahr, sondern als eine intensive Auseinandersetzung.

1 Die Geschichte an sich 4/5
Go, Trabi, go. Feine Ostalgie, aber ohne Verklärung. War unterhaltsam, hat mir wirklich gefallen, halt für einen U-Text, selbst mit den Kritikpunkten unten. Ja, ich denke, hier gibt es einiges, was sehr stimmig ist, z.B. die feste Überzeugung im Sommer 1989, dass die Mauer noch in hundert Jahren dass das ewig so weitergeht mit der DDR. Leerer Konsum, Fliegenburgen, eine gewisse Leichtigkeit, den Alltag zu nehmen …
Obwohl ich finde, dass das hier kein E ist und zu viel erklärt wird, statt erlebt, wirkt das Ende trotzdem wirklich überzeugend auf mich. Allerdings gibt es auch bei einigen Details ein wenig Skepsis, dazu unten mehr in der Wertung.
Positiv finde ich das Spürbarmachen der Autobahnen. Die gab es ja später auch noch ne Weile und ich erinnere mich, wie sich das angefühlt hat (egal mit welchem Auto). Badum.
Bei der Reaktion auf den aufgefressenen Guglhupf war ich erst mal skeptisch, aber ich denke, das kann für etliche Personen durchaus stimmig sein. Denn man war es doch gewohnt, dass es Dinge nicht gab, dass nicht alles lief. Früher (an sich) war man lockerer, nicht alles gleich ein Drama, während heute manche schon ausflippen, wenn der DHL-Bote nur 5 Minuten nach dem angekündigten Zeitfenster kommt.

2 Umsetzung der Themen 5/7
Sie selbst sind die Sommergäste, eine andere Jahreszeit wäre zwar theoretisch möglich, aber faktisch wäre dann die Nähe, aber gleichzeitige Ferne von wenigen Monaten zum Mauerfall nicht mehr gegeben. Begegnung und Abschied nicht ganz so spürbar, wären ja nur die Zelteinlader, was mir deswegen auch konstruiert vorkommt. Den Abschied könnte man noch symbolisch als Abschied von der DDR sehen. Die Veränderung ist da, spürbar, aber nur und erst am Ende und nur, weil ich es weiß. Eine Veränderung, die sich innerhalb der Geschichte tatsächlich anbahnt, spüre ich da nicht. Der gleiche olle DDR-Alltag halt. Keine Vorahnung, keine Andeutung im Verhalten wie eine wahrnehmbare Resignation bei den Erwachsenen etc.

3 E-Faktor 1/5
Das symptomatische Badum und dessen Wiederholung am Ende, die Relevanz und Ernsthaftigkeit des Themas – dafür kann ich noch einen Punkt geben, aber mehr E sehe ich nicht. Da ist nichts mehrschichtig oder ungefügig.

Sprachlich auch eine Neigung zu Allgemeinplätzen:
Zitat:
um die Ohren fliegt
Zitat:
faul in der Sonne liegen
Zitat:
Zum Glück spielt auch das Wetter einigermaßen mit.
Zitat:
das Unvermeidliche

Für U kann man das durchgehen lassen (aber auch nicht so gern), man kann mehr daraus machen, eigene Formulierungen finden.

4 Lesbarkeit und Handwerk 3/5
Lässt sich an sich gut weglesen, auch die Formatierung der Absätze etc. stimmen, da gibt es nichts zu meckern, allerdings identifiziere ich ein paar Mängel im Handwerk: Selbst für U sind mir da krampfhaft viele Ausrufezeichen und zu viel Erklärbär drin, sogar eindeutige Dinge werden noch zusätzlich erklärt, wie die angekündigte Reaktion. Zudem unnötige stützende Adverbien in den Inquits und Ankündigungen. Symptomatisch:
Zitat:
„Bleib gefälligst auf deiner Seite!“ Das kleine Schwesterherz meldet sich schreiend zu Wort, um die Motoren- und Fahrgeräusche zu übertönen.
Darauf gibt es nur eine mögliche Reaktion: „Bleib doch selbst auf deiner Seite!“ schreie ich zurück.
Zitat:
Die mit nörgelnder Stimme lauthals gestellte Frage
Zitat:
und entnervten

5 Logik 1/3
Die Annegret zeltet und lädt sie ein, dann ist es aber einer dieser Wohnwagen mit Vorzelt. Beim Lesen stolper ich da aber, weil sich der Gedanke aufdrängt, dass eine zeltende oder auch campende Familie sicher nicht so vorbereitet ist, dass sie locker noch 4 Personen aufnehmen können. Das ist mir zu konstruiert, mutmaßlich, um die Vorgabe „Begegnung“ abzuhaken. Das wäre anders lösbar gewesen. Es gibt noch eine Menge weiterer Details, die mich unschlüssig lassen, aber teils erklärbar sein könnten (ich bin da zu jung, um es so genau zu wissen, aber gefühlt hm ...), trotzdem gibt es einen Punkt, nämlich den Guglhupf, der in Plastik verpackt im Dorfkonsum verkauft wird. Das soll ein Produkt im Konsum gewesen sein? Einfach gefühlt, meine ich, dass es das so nicht gab ... Beim Bäcker vielleicht … Hm ... Sorry, falls ich unrecht habe, es wird dein Ranking aber nicht negativ beeinflussen.

6 Sorgfalt 2/2
Hab zwar was gefunden, aber lag im Rahmen des Menschlichen.

7 Sommerfrischequotient 4/5

Gesamtpunkte: 20/32

PUNKTESPOILER * trommelwirbel *
Hat leider nicht gereicht :,(
Meine liebsten Textstellen:
Zitat:
...hinter dem Haus verbreitet ein riesiger Misthaufen die viel gepriesene Landluft
Zitat:
Mäh, mäh. Was soll das?
Zitat:
Ich habe sie verloren in Boltenhagen im August 1989 mit einem leisen Badum.

-----------------------
Bewertung – ein Versuch. Ein bisschen Neutralität einbringen, jenseits von: mag ich - nicht mein Ding. Hab ich eigentlich „Ahnung“ von E-Lit? Nee, deswegen brauch ich diese Krücke zum Bewerten. Bei Offenheit der Interpretation einzelner Aspekte, lege ich immer alles zu euren Gunsten aus. Tut mir leid, dass das so ausführlich geworden ist. Jegliche Kritik ist meine persönliche Sichtweise, wenn ihr davon etwas gebrauchen könnt, greift zu, ansonsten lasst euch nicht den Tag vermiesen.

1 Ich will einfach eine gute Geschichte lesen und etwas herauslesen. 5 Punkte

2 a) Sind Sommergäste tatsächlich oder symbolisch vorhanden?
b) Dreht sich die Geschichte um eine oder mehrere Begegnungen und/oder Abschiede?
c) und d) Ist eine Veränderung thematisiert, und ist diese anbahnend, d.h. nicht schon im gesamten Text vollzogen und zudem „spürbar“ über den Textverlauf?
e) Wie relevant ist das zentrale Thema für die Geschichte?
f) Können es nur „Sommergäste“ sein oder könnte die Geschichte auch anderswie spielen?
g) Wie sehr durchdringen diese Themen insgesamt den Text als Ganzes? 7 Punkte

3 a) Künstlerischer Anspruch und Kreativität allgemein, also alles, was sich sinnhaft von einem Genretext abhebt. Hier „reicht“ es nicht, einfach die 2. Person Futur Präsens zu wählen oder möglichst lange und komplizierte Sätze oder Wörter zu verwenden – im Gegenteil, das gibt Abzüge bei Stil und Lesbarkeit, Handwerk muss beherrscht werden. Auch ist eine komplizierte Wortwahl nicht ausschlaggebend, kann auch vollkommen simpel sein. Es kommt immer darauf an … auch auf das, was vielleicht nicht gesagt wird, aber durch den Textaufbau durchwirkt. Die Form, das Gesagte und das Ungesagte müssen Hand-in-Hand gehen, eine Wirkung bewusst erzielt werden (oder zufällig-intuitiv … wer weiß das schon?). [Form und Inhalt oder form follows function] 2 Teilpunkte hier.
b) Ernsthaftigkeit der Themen, wobei Humor dazuzählt, wenn er mir bspw. „die Absurdität“ (des Lebens oder wovon auch immer vermittelt) darstellt; und/oder Sozialkritik und/oder regt mich das zum Nachdenken an? Hat das eine Relevanz? Ein gewisses Maß an Realismus, aber kein absoluter. Bizarr und surreal sind erlaubt. Auch das kann ich nur subjektiv abwägen: ist das Phantastik oder  E-tastik?
c) Mehrschichtigkeit und Ungefügigkeit. Auch hier ist Augenmaß gefordert, ich möchte mir den Inhalt oder die Bedeutung/Interpretation ein wenig erarbeiten müssen (nicht alles erklärt bekommen), aber nicht wie die Sau ins Uhrwerk glotzen. Ob ein Text mich bewusst verwirren will oder ob Thema, Sprache, Aufbau etc. mich nicht richtig erreichen, muss ich subjektiv abwägen.
d) Verwendung einer besonderen Sprache oder Spielerei damit, Verwendung besonderer Bilder oder einer Wirkung durch die gewählte, durchaus auch einfache, Sprache (Intensität).
5 Punkte

4 Kann ich den Text, rein vom Formalen her, gut weglesen, ungeachtet von Pausen zum Nachdenken oder des Anspruchs der Sprache? Wie sieht es mit dem Handwerklichen des Schreibens aus? Wird es beherrscht, wird es gar bewusst gebrochen? 5 Punkte

5 Soweit nachvollziehbar:
a) Logik inhaltlicher Art (in sich logische Geschichte, Reihenfolge),
b) Logik der Details (das namensbestickte Taschentuch von Onkel Günther lag aber vorhin nicht auf dem Liegestuhl sondern auf der Tiefkühltruhe im Keller) – auch: recherchierte Details
c) Logik des menschlichen Handelns (also wie plausibel ist das Verhalten, ungeachtet künstlerischer oder storytechnischer Abweichungen) 3 Punkte

6 Sorgfalt muss sein, bitte nicht mit den Augen rollen, es sind ja nur 2 Punkte. Es gibt immer eine Möglichkeit, die man vorm Absenden wahrnehmen kann: einen Testleser, ausdrucken, sehr langsam lesen, laut vorlesen, mit (kostenloser) Software vorlesen lassen, in ein E-Book umwandeln, um es auf einem anderen Medium zu lesen, Rechtschreibkorrektur der Schreibsoftware, zur Not Gerold (obwohl der nicht der Hellste ist, sorry Gerold). Bei zu vielen Rechtschreib- oder Grammatikfehlern wird etwas abgezogen. Wie gesagt, es sind nur wenige Punkte, aber auch Sorgfalt spielt eine Rolle. Das ist eine Frage der Fairness gegenüber anderen. Ich weiß, du hast viel zu tun und die Muße kam recht spät oder du hast Legasthenie oder ... Nicht bös gemeint. 2 Punkte

7 Onkel Günther würfelt mit seinem 5-seitigen Würfel und dividiert das Ergebnis durch 1… (Nach meinem ersten Bewertungssystem tummelten sich auf einmal mehrere Texte auf den gleichen Rängen, auch mehr Punkte in den Kategorien schafften keine Abhilfe … Leute, das geht nicht, ich muss irgendwie ein Ranking hineinbringen. Onkel Günthers Würfel ist quantenverschränkt mit dem Text und weiß, was richtig ist.) 5 Punkte


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... will alles ganz genau wissen ...
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holg
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Beitrag04.09.2022 11:59

von holg
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So nüchtern wie Märchenhaft erzählt ist diese Sommerreise in den letzten Tagen der DDR.

Das hätte überall und zu jeder Zeit sein können. Bei mir war es in den 70ern ein Peugeot 504 auf dem Weg zur Nordsee mit drei Kindern im Fond. Das alles ist sofort nachvollziehbar, warm und stimmig erzählt.
Der Schluss für eine Kindererzählung (zumal im Präsens) zu aufgeklärt und hätte mMn einen Zeitbruch ins Präteritum nicht nur gerechtfertigt.

Als Film betrachtet bin ich wieder einmal bei Rob Reiner, diesmal im Stil von Stand by me, nur ohne die Rückblickenden Kommentare.

Ein schönes Leseerlebnis.


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MoL
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Das bronzene Stundenglas


Beitrag04.09.2022 16:39

von MoL
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Lieber Inko!

Dieses mal waren außergewöhnlich viele starke Texte dabei, so dass es Deiner leider nicht mehr in meine Punkte geschafft hat.
Der Text liest sich sehr authentisch - ist er biografisch?
Falls ja tut es mir erst recht leid, aber er ist mir einfach zu langweilig. Für den Prota mag es sich um eine eindringliche und einschneidene Begebenheit handeln; für mich als Leserin passiert aber einfach zu wenig.


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"Menschen und andere seltsame Wesen"
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Hexenherz-Trilogie: "Eisiger Zorn", "Glühender Hass" & "Goldener Tod", Acabus Verlag 2017, 2019, 2020.
"Die Tote in der Tränenburg", Alea Libris 2019.
"Der Zorn des Schattenkönigs", Legionarion Verlag 2021.
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Reimeschreiberin
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Beitrag07.09.2022 21:01

von Reimeschreiberin
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Hallo Schlomo,

dankeschön fürs Lesen, Deinen Kommentar und die Punkte.
Schlomo hat Folgendes geschrieben:

Habe während des Lesens die sich anbahnende Veränderung vermisst, obwohl ich schon vermutet habe, worauf es hinaus läuft, aber mit dem Datum war dann alles klar.

Stimmt, darauf bin ich vorher im Text nicht eingegangen. Ich bin mir nicht sicher, ob das der Geschichte gut getan hätte oder ob es das Ende entschärft hätte.
Schlomo hat Folgendes geschrieben:

Hat mich von allen Geschichten am meisten angesprochen.

Das freut mich sehr. Smile

Und was soll ich sagen, Gugelhupfe scheinen auch in der Tierwelt wohl sehr beliebt zu sein.

Viele Grüße
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Reimeschreiberin
Geschlecht:weiblichEselsohr


Beiträge: 220



Beitrag07.09.2022 21:11

von Reimeschreiberin
pdf-Datei Antworten mit Zitat

d.frank hat Folgendes geschrieben:

Edit: Die Gewichtung stimmt leider nicht, das Ende kommt wie ein Fallbeil, ohne die geringste Vorbereitung, deshalb 6 Punkte, obwohl es hätten mehr sein können.

Hallo d.frank,
danke für Deine Bewertung und die Punkte. Very Happy Dass mein Text nicht so schlecht abschneidet, wie von mir befürchtet, freut mich riesig.
Mit der Gewichtung gebe ich Dir recht. Zwar ist es durchaus gewollt, dass die Erkenntnis am Ende den Prota wie ein Schlag in die Magengrube trifft. Aber es wirkt wirklich unausgewogen. Irgendwie fehlt da etwas. Leider hatte ich keine Zeit mehr, um am Text zu feilen. Vielleicht hole ich das ja noch nach. Da ist auf alle Fälle mehr rauszuholen.
Liebe Grüße
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Reimeschreiberin
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Beiträge: 220



Beitrag07.09.2022 21:30

von Reimeschreiberin
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo V.K.B.,

sperrig ist die Geschichte nicht, nein. Ob es E-Literatur ist, da bin ich mir auch nicht so sicher. U. a. deshalb habe ich auch mit mir gerungen, ob ich sie einschicken soll oder nicht. Am Ende habe ich mir dann gedacht, nun habe ich sie extra geschrieben. Wäre doch schade darum, wenn ich es nicht einmal versuche. Und erste Überraschung: sie wurde nicht abgelehnt (danke hierfür ans Orga-Team). Und zweite Überraschung: sie hat sogar einigen ganz gut gefallen.

Aber der Hauptgrund, weshalb ich mich dafür entschieden habe, sie einzuschicken, sind die Kommentare und kritischen Bewertungen.
Deshalb freue ich mich sehr über Deine Auseinandersetzung mit dem Text und Deinen Kommentar.

Dankeschön und
viele Grüße
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