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Dieses Werk wurde für den kleinen Literaten nominiert Zur Zeit der Ernte


 
 
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Autor Nachricht
Haruki Okada
Geschlecht:männlichWortedrechsler

Alter: 62
Beiträge: 66
Wohnort: Holstein


Beitrag26.10.2013 12:05
Zur Zeit der Ernte
von Haruki Okada
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Ein Freund erzählte eine seltsame Geschichte. Es war im Spätsommer zur Zeit der Weizenernte. Mein Freund saß, wie es seiner Gewohnheit entsprach, nach dem Schwimmen auf einer von alten Eichen beschirmten Bank am Waldrand. Er aß ein Eis, wobei er das bunte Treiben am Strand beobachtete. Dabei fiel ihm ein Mann auf, der in der brüllenden Hitze, die an diesem Tag herrschte, mit gesenktem Kopf über den Sandweg trabte. Er trug ein Baseballcape, um sich vor der stechenden Sonne zu schützen.
„Er fiel mir auf, weil er eins von diesen modernen, neon-grünen, in die Augen stechenden Laufshirts anhatte und zudem ziemlich groß und korpulent war.  Außerdem war er ungewöhnlich stark behaart. Es war drückend heiß an diesem Nachmittag und ich fragte mich, warum jemand, der offensichtlich recht untrainiert war, sich in der größten Hitze derart quälen muss. Daran, dass er sich quälte, bestand kein Zweifel. Er humpelte wie ein alter Hund und genauso schnaufte er.

Dann war da eine alte Frau auf dem Holzsteg am Strand. Eine auffällige Gestalt.  Vielleicht stand sie dort bereits die ganze Zeit und ich hatte sie vorher nur nicht registriert. Ich schätze, sie war Anfang Achtzig. Sie hatte schlohweiße Haare und ein Gesicht voller Falten, die sich in die Haut eingegraben hatten, wie ausgetrocknete Flussläufe in die rissige Erde. Ihre Augen waren hinter einer großen weißen Sonnenbrille verborgen. Ich glaube so ein Ding hat Elton John einmal während eines Konzertes getragen. Schneeweiß mit großen dunklen Gläsern. Sie sah aus wie ein sonderbares Insekt. Das leichte Sommerkleid, dass ihre schlanke Gestalt einhüllte wie buntes Papier einen verwelkenden Strauß Blumen, stand in einem grotesken Widerspruch zu ihrem Alter und verstärkte den surrealen Gesamteindruck. Das Kleid war derart bunt, dass sie darin aussah wie ein Wellensittich. Weißt du, sie war einfach zu alt für so was. Ihre Beine waren zwar wohl geformt, aber dafür von dicken Krampfadern verunstaltet.“ Mein Freund schüttelte sich und sah mich an. „ Als ich sie unauffällig betrachtete, wurde mir klar, dass jegliche Form  irgendwann verschwindet. Alles Stoffliche ist dem Verfall preisgegeben. Nur das Gestaltlose wird überdauern.“
Ich dachte über seine Bemerkung nach. „Das wird uns genauso gehen, wie der alten Frau“, sagte ich. „Falls wir überhaupt so alt werden. Dann werden sich die Leute vermutlich auch über uns wundern. Wenn nicht über unsere Kleidung, dann über etwas anderes. Vielleicht haben wir dann aufgedunsene, von bläulichen Adern durchzogene Nasen, mit den wir aussehen wir Seegurken. Mein Freund sah mich entsetzt an. „Jedenfalls werden wir nicht mehr sie schier sein wie heute. Aber ich glaube, ein alter Mensch sieht in sich noch etwas anderes, als lediglich ein gebrechlich werdendes Individuum, wahrscheinlich erblicken Alte im Spiegel ihrer Seele den Abglanz eines jüngeren, vitaleren Selbst.“ Vielleicht war es Unsinn, was ich redete, aber anders konnte ich es nicht ausdrücken.

Wir saßen bei meinem Freund im Wohnzimmer. Er hatte sich vor einigen Jahren eine moderne, sehr funktionale Loftwohnung am Binnenwasser gekauft. Im Kamin loderten Buchenscheite. Wir saßen wie so häufig auf der schwarzen Ledercouch, hatten unsere Pfeifen gestopft, pafften gemütlich vor uns hin und tranken dazu guten schottischen Maltwhisky. Der CD-Player spielte eine alte Aufnahme von Lester Young, einer der Schlüsselfiguren des Jazz in den  1940er und 50er Jahren. Wir lauschten den schlanken hellen Tönen des Tenorsaxophonisten und den perlenden Klavierläufen des ihn begleitenden Oscar Petersen. Dabei drehten wir versonnen unsere mit  bernsteinfarbenem Malt gefüllten Gläser in der Hand. Die Akkorde mäanderten durch den Raum in unsere Ohren und  Herzen hinein, wo sie aufhörten zu sein. Ich ordne Musikstile stets drei Sphären zu. Die irdische wird von der Rockmusik bevölkert, die kosmische vom Jazz und die göttliche von der Klassik. Ich weiß nicht, warum, aber nur der Jazz vermag  meine Seele zu lösen und zum Fliegen zu bringen. Die Nachmittagssonne tauchte das Zimmer in goldenes Licht. Die Fenster der Wohnung reichten vom Fußboden bis zur Decke, so dass wir förmlich in den sanften Strahlen  badeten. Die milde Herbstsonne streichelte uns wie eine alte Geliebte. Es lag keine brennende Glut mehr in ihrem Antlitz, ihre Berührung glich eher einer langen, zärtlichen Umarmung.

Mich erinnerte die Wohnung mit den hohen Glasscheiben ein wenig an ein Aquarium, von der Außenwelt getrennt durch die 4-fach Verglasung der Fenster. Die großen Scheiben erlaubten einen wunderbaren Blick über das Wasser des vor uns liegenden Binnensees auf das sich dahinter in die Höhe reckenden Wäldchens, welches von den Einwohnern unserer Stadt seit den Tagen des frühen Mittelalters unisono die Burg genannt wird. Alten Überlieferungen zufolge hat es einst dem berüchtigten Piraten Klaus Störtebecker als Zufluchtsort gedient. Es gibt Leute, die behaupten, dort des Nachts seinem ruhelosen Geist begegnet zu sein. Ich glaube, dass die Leute nach wie vor abergläubisch sind. Daran hat sich nicht viel geändert. Außerdem wurde Störtebecker als Strafe für seine Untaten im Jahre 1401 zusammen mit 73 seiner Gefolgsleute auf dem Grasbrook in Hamburg enthauptet. Hierfür gibt es unwiderlegbare Beweise. Kurz vor seiner Hinrichtung soll er dem Bürgermeister der Stadt das Versprechen abgerungen haben, dass diejenigen seiner Männer, an denen er, wohlgemerkt nach seiner Enthauptung, vorbei gehen würde, dem Tode für entgehen sollten. Der Bürgermeister willigte ein, wahrscheinlich, weil er sich vorstellen konnte, wie es einem geköpften Mann gelingen sollte, überhaupt noch einen Finger zu rühren, geschweige denn einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der Überlieferung nach soll es Störtebecker  jedoch gelungen sein, elf seiner Männer zu passieren, bevor ihm der Henker ein Bein stellte, worauf er  zu Boden stürzte.Was für eine schauderhafte Vorstellung. Ein toter Mann, der die Reihen seiner Mannschaft entlang schreitet. Der Bürgermeister brach allerdings sein Versprechen und ließ alle Piraten enthaupten und somit auch die elf ersten in der Reihe. Die Köpfe der Getöteten wurden zur Abschreckung längs des Flusses, der Elbe, aufgereiht.
Während ich bei einem guten Schluck Oban der Erzählung meines Freundes lauschte, musste ich bei einem Blick aus seinem Fenster gleichzeitig an das Schicksal des Freibeuters denken. Ich stellte mir vor, wie das Blut im Takt seines immer noch pulsierenden Herzens, aus den soeben von dem Scharfrichter mit dem Schwert durchtrennten Gefäßen spritzte, derweil der kopflose Pirat an seinen Männern vorbei torkelte, bis ihm ein Bein gestellt wurde. In meiner Phantasie ist Störtebecker groß und rothaarig. Er trägt einen ebenfalls roten Vollbart. Nun jedoch liegt das Haupt des Mannes abgetrennt auf der Erde und scheint dem davon wankenden Rest des Körpers mit glasigem Blick hinterher zu starren. Ich sehe die Männer, die mit angehaltenem Atem und stockenden Herzen jeden Schritt ihres Anführers verfolgen. Wie sie bangen und  hoffen, um schließlich doch enttäuscht und getötet zu werden. Was für ein grausamer Sturz aus lichter Höhe hinab in die tiefste Schlucht.

Ich bemerkte den fragenden Blick meines Freundes. „Entschuldige ich war nicht  bei der Sache. Was hast du gesagt?“ Er bedachte mich mit einem wissenden Lächeln, als hätte er meine Gedanken gelesen und hielt sein Glas in den über die hohen Scheiben flackernden Schein des Kaminfeuers.
„Die Frau. Die alte Frau in dem bunten Kleid auf dem Steg am Strand. Wie ein Wellensittich sah sie aus. Sie hielt den Kopf in meine Richtung gewandt. Ob sie mich wahrnahm, kann ich nicht sagen. Ihre Augen waren ja hinter den dunklen Gläsern der überdimensionalen Sonnenbrille verborgen.“
Meinem Freund fiel auf, dass sie sich für eine Frau ihres Alters sehr aufrecht hielt, wobei kerzengerade wohl das passendere Wort war. Als hätte sie einen Stock verschluckt. Dabei wirkte sie keinesfalls hölzern. Ihre Gestalt zeugte vielmehr von einer natürlichen Anmut. Die Umrisse ihres Körpers hoben sich klar gegen den blauen Himmel und das Meer ab. Es wirkte, als wäre sie ein Foto, das jemand in ein bereits vorhandenes Bild eingefügt hatte. Das Gesamtbild, der Streifen Sand, der Holzsteg mit der Frau darauf, der blaue Himmel und das glitzernde Meer dahinter, erschienen meinem Freund  wie eine Fotomontage. Technisch versiert, aber unecht. Irgendwie leblos. Etwas war falsch. Aber was? Die Ahnung eines Déjà-Vu streifte ihn.
Eine sachte Brise erfasste einem tiefen Atemzug gleich die Ostsee. Als würde die See beginnen zu frösteln, bildeten sich kleine, zittrige Blasen  auf ihrer eben noch glatten Haut. Zwei Jungen kamen jauchzend aus dem Wasser gelaufen. Der größere von ihnen sprang über den Holzsteg, vorbei an der alten Frau mit der Sonnenbrille, die weiterhin aufrecht auf ihrer Position verharrte. Der kleinere der Jungen hatte strubbeliges blondes Haar. Er lief so schnell es seine kurzen Beine vermochten hinter dem Größeren her, so wie jüngere Kinder gerne die Älteren verfolgen. Mein Freund sah, wie es von ihren Badehosen auf den Sandweg tropfte, als sie in Richtung des Waldes liefen, vor dem mein Freund mit dem Eis in seiner Hand auf der Bank saß und sie beobachtete.
Sonnenstrahlen blitzten zwischen den Blättern der Eiche auf, die sich leicht auf und ab bewegten, als wäre der Baum in Wirklichkeit ein großer Vogel, der Anstalten traf, sich in nächster Zeit in die Luft zu schwingen, über die Bucht zu gleiten und weiß Gott wohin zu verschwinden.

Mein Freund verstummte. Ich hatte ihm mit wachsender Aufmerksamkeit zugehört, obwohl ein Teil meines Bewusstseins bei dem kopflosen Klaus Störtebecker verharrte, der blutüberströmt über den Grasbrook wankt, die endlos erscheinende Kette seiner Gefolgsleute entlang. Der Scharfrichter realisiert mit wachsender Verärgerung, dass der von ihm Enthauptete, der präzise und routiniert durchgeführten Hinrichtung zum Trotz, immer noch auf den Beinen ist und Mann um Mann dieser schäbigen Bande von Strauchdieben und Meuchelmördern passiert. Er hat den Mann doch enthauptet, wie hunderte zuvor. Warum stürzte dieser nicht in den Staub.  Welche Widersetzlichkeit! Diese Erkenntnis versetzt dem Scharfrichter einen tiefen Stich. Eine unsichtbare schartige Klinge wird in sein Inneres gestoßen und dort gedreht. Er erbleicht vor Wut über die Ungeheuerlichkeit, die sich seinen Augen darbietet. Ein Toter, der sich auf den Beinen hält und weigert, dass zu tun, was ein Hingerichteter zu tun hat. Zu Boden zu stürzen und zu sterben. Hinabzufahren in die tiefste Hölle. Dort, wo sein Platz ist. Sollte sich  herum sprechen, das die von ihm Getöteten neuerdings auch ohne Kopf durch die Gegend liefen, wäre sein Ruf ruiniert.  Der Scharfrichter, ein erfahrener und seinem Wesen nach ebenso umsichtiger wie entschlossener Mann, begreift, das hier passiert, was nicht passieren darf. So entschließt er sich zu handeln. Der Enthauptete befindet sich noch in der Vorwärtsbewegung. Er torkelt die Reihen entlang und sein Blut netzt das Schuhwerk seiner Mannen, als wollte er ihnen zurufen: Mein Blut für euer Leben. Mir genommen , euch gegeben. Lang soll es andauern! Ein stummer Schwur, grausig wie das scharfe Schwert seines Henkers.

Diese Bilder vor Augen, entfaltete die Schilderung meines Freundes, an Farbe und Detailtreue gewinnend, eine ungeahnte Wirkung auf mich. Die Szenerie auf dem Grasbrook vermischte sich zunehmend mit den Eindrücken aus der andauernden Erzählung meines Freundes über die Geschehnisse am Nyenkremper Strand.

Plötzlich war in meinem Kopf ein Strand. Ein Bild schob sich vor das andere. Als hätte jemand das Licht eingeschaltet, sah ich klar und deutlich unseren Strand vor mir. Es bestand kein Zweifel. Wohl an die tausend Mal bin ich im Laufe meines Lebens dort gewesen. Ich konnte die See riechen. Und ich sah die alte Dame auf dem Steg Sie hatte mir ihren Kopf zugewandt.  Ihren Augen waren hinter einer dunklen Brille verborgen aber irgend etwas sagte mir, dass sie wusste, was soeben passiert war. Es war ihr nicht entgangen, dass nicht mehr mein Freund, sondern ich auf der Bank unter den Bäumen saß. Über mir rauschten die alten Eichen im Wind. Aus meiner Perspektive von links näherte sich der Läufer mit dem neon-grünen Shirt. Auf dem Kopf trug er ein Baseballcape. Er war bereits nahe genug, dass ich die Aufschrift lesen konnte. San Francisco 49er. Ein Traditionsverein aus den USA. Der Atem des Mannes ging schwer. Schweiß floss über seine dicken behaarten Oberarme. Er schnaufte wie ein alter Hund.
Die beiden Jungen überquerten den vor ihnen liegenden Sandweg und rannten mit gesenkten Köpfen Richtung Wald. Von ihren nassen Badehosen tropfte es auf den Boden. Ein Rinnsal bildete sich und floss den Weg hinunter.

Ein Windstoß fuhr über den Strand und wirbelte den Sand auf. Der Rock der alten Frau blähte sich wie ein Segel und gab den Blick frei auf ihre graue Scham. Sie trug keine Unterwäsche. Ihre Beine sahen grau und verwelkt aus. Der Wind prallte gegen mein Gesicht. Es roch nach Schlick und frisch aufgebrochener Erde. Außerdem schmeckte die Luft nach Erdbeeren. Ein Hauch von frischen, roten Erdbeeren umschmeichelte meine Geschmackspapillen.

Der Wind erstarb mit einem Seufzen. Es wurde still. Mir war, als befände ich mich im  Zentrum eines tobenden Sturmes. Um mich herum veränderten sich die Dinge pausenlos. Nur hier, innerhalb eines klar begrenzten, zentrierten Bereichs blieb alles unverändert und  gestaltlos. Ein scheinbar leerer Raum, tatsächlich bevölkert von Ahnungen und Erinnerungen, gefüllt mit Gefühlen und einer Art Gewissheit, umgeben von einer Art Glaskuppel, in die weder etwas eindringen noch entweichen konnte. Ich sah, wie die Sonne auf dem hauchdünnen Material der Kuppel reflektierte. Jedes Mal, wenn ich glaubte, den Sinn des Ganzen zu verstehen, entzog sich die gestaltlose Wolke meinem Zugriff wie ein Déjà-Vu, welches um den hiervon Betroffenen kreist, ohne jedoch innezuhalten und sich in seinem Kern zu offenbaren, so dass nicht in Erfahrung zu bringen ist, woher das verwirrend-beunruhigende Gefühl der Vertrautheit rührt.
Ich saß auf der Bank und betrachtete die welke Scham der alten Frau. Aus irgend einem Grund konnte ich nicht die Augen von ihr abwenden. Hatte ich diese Situation nicht schon einmal erlebt? Aber wo und wann? Es gelang mir nicht mehr als den Rocksaum einer Erinnerung zu erhaschen. Ich wusste es nicht.

Die Füße der alten Frau steckten in roten Sandalen und ich bemerkte, dass die Nägel schwarz lackiert waren. In diesem Moment war ich ganz sicher, dass die Frau mich die ganze Zeit über beobachtet hatte. Nicht meinen Freund, dessen Geschichte dies eigentlich war, nein, sie hatte ihren Blick nur auf mich gerichtet. Ich meinte, mich zu entsinnen dass sie mich bereits im Wohnzimmer meines Freundes angesehen hatte. Meine Gedanken kreisten um den enthaupteten Piraten, als sich etwas in meine Wahrnehmung schob, bis es sehr schnell an Kontrast gewann und ich mich plötzlich auf dieser Bank wiederfand. Ein Schauer lief mir über den Rücken und ich hatte das Gefühl, meine Haut würde ebensolche Blasen schlagen wie durch vom Wind aufgerührte See.
Der Mund der Greisin verzog sich zu einem Lächeln und sie nickte mir leicht zu. Dabei nahm sie die Brille ab. Ich hörte ein Stöhnen, mein eigenes Stöhnen. Himmel, was geschah hier? Die Augenhöhlen der Frau waren leer. Sie war blind und ihr Kopf dennoch eindeutig in meine Richtung gewandt. Mein Gott, dachte ich. Sie weiß alles über mich. Das kann nicht sein. Ich muss mich irren.
Der Mann mit dem neon-grünen Lauf-Shirt trabte in mein Blickfeld, derweil sich meine Wahrnehmung weiter auf die Alte fokussierte. Unwillig nahm ich die Präsenz des wie einen Hund keuchenden, schweißtriefenden Läufer zur Kenntnis. Dieser zog das Baseballcape der 49er vom Kopf und winkte mir grüßend zu. Dabei brummte er irgend etwas mit tiefer Stimme, was ich nicht verstand. Doch es war unübersehbar, dass auch er keine Augen besaß. Die leeren schwarzen Höhlen reichten tief in seinen Schädel. Ich beobachtete, wie er sich den Hügel hinauf quälte. Ein Zittern befiel mich und so sehr ich mich bemühte, ich vermochte es nicht zu unterdrücken. Der Mann hatte den Hügel erklommen und blieb  auf dessen schmaler Kuppe unvermittelt stehen. Sein gewaltiger Brustkorb hob und senkte sich von der Anstrengung. Ich meinte sein malträtiertes Herz vor mir zu sehen, wie es flatternd Blut durch den Körper pumpte und schwitzend und pumpend zeigte mir seinen behaarten Rücken. Ich fürchtete die ganze Zeit, er könne sich umdrehen und mir sein verunstaltetes Gesicht zuwenden, doch er blieb stehen wie angewurzelt  und rang weiter nach Atem. Der gewaltige Brustkorb und der nicht minder beeindruckende Bauch blähten sich unaufhörlich  auf und fielen wieder zusammen.  Nach einer Weile empfand ich die Präsenz seines Rückens weit bedrohlicher als die  tiefen Löcher in seinem Antlitz und ich wünschte, er würde entweder weitergehen oder sich endlich umdrehen. Die Ungewissheit dessen, was als Nächstes geschehen würde, war unerträglich.

Mittlerweile hatten die Jungen die Bank erreicht. Ich sah mit Entsetzen, dass auch sie keine Augen besaßen. Ihr fröhliches Lachen gellte in meinen Ohren und die leeren Augenhöhlen verhöhnten mich. Unentwegt tropfte das Wasser aus den nassen Hosen der Jungen auf den von der Hitze ausgedörrten, staubigen Boden. Über allem lag der Geruch feuchter Erde. So rochen die frischen, klebrigen Ackerschollen,  wenn sie durch den Traktor umgepflügt wurden. Ich bildete mir ein, der Traktor wäre durch die tiefen Furchen auf dem Gesicht der alten Frau gefahren, um ihre Haut und das was darunter lag, wieder und wieder umzupflügen, solange, bis die unterste Schicht aufgerissen und in die Furche geschleudert wurde. Und über allem lag der Duft roter saftig-frischer Erdbeeren.

Die Welt stand still. Ich befand mich unter einer Kuppel aus hauchdünnem Glas, hermetisch abgeriegelt von der Außenwelt. Mein altes Leben war abgetrennt, schmerzhaft entzogen, so wie das scharfe Schwert des Scharfrichters mit einem einzigen präzisen Hieb den Kopf Störtebeckers von seinem Rumpf gelöst hatte. Ein kleines Stück vom Strand, der Bucht und dem Wald befand sich unter der Kuppel. Ebenso die alte Frau in dem bunten Kleid, das in den Regenbogenfarben schillerte, wie ich erkannte. Warum war mir das nicht vorher aufgefallen?  Der Mann mit dem Baseballcape und die beiden Jungen vollführten ihre an dunkle Rituale erinnernden Bewegungen gleichfalls im Inneren des gläsernen Doms. Der unheimliche Läufer mit seinem mir zugewandten Rücken und dem sich zitternd aufblähenden Brustkorb, die beiden Jungen mit zerzausten Haaren und lachend aufgerissenen Mündern. Aus ihren leeren Augenhöhlen weinten sie blutige Tränen, die sich mit dem aus ihren Hosen herabtropfendem Wasser zu einer rosa Flüssigkeit vermengten.

Derweil ging draußen in der Bucht, jenseits des amputierten Universums das Leben wie gewohnt weiter. Segelboote schaukelten auf dem Wasser. Sie waren über die Toppen geflaggt, vielleicht handelte es sich um die Teilnehmer einer Regatta. Lustige bunte Wimpel tanzten im Wind. Ich sah, dass es windig war. Frische Böen trieben Wellen in den fjordähnlichen Hafen von Nyenkrempe. Die Achterbahn des Hansaparks auf der  gegenüberliegenden Landseite näherte sich gerade dem Looping. Ich stellte mir vor, wie sich ein Schrei aus hunderten Kehlen löste, um vereint in den Himmel emporzusteigen, über die Bucht zu treiben, wie durch einen Steinwurf ausgelöste Wellen, sich kreisförmig ausbreitend, um schließlich nach wenigen Sekunden  gegen die Glaskuppel des Doms zu prallen, dessen Gefangener ich war. Möglicherweise ist Dom nicht die passende Bezeichnung für das unsichtbare Konstrukt um mich herum, welches das Gestaltlose  von der Form trennte, aber ich erinnere mich, dass ich genau das dachte. Der Dom erschien mir wie eine eigene Galaxie, nur wenige Frequenzen neben meinem Universum liegend und doch unendlich weit entfernt. Alles hier drin kam mir grotesk verdreht und falsch vor. Ein Zerrspiegel auf dem Jahrmarkt mag ähnliche Effekte hervorrufen. Das ist nicht meine Welt, dachte ich. Diese Welt hier gleicht einem Traum ohne feste Konturen. Ich war verwirrt und verängstigt und ich wusste nicht mehr, wo ich aufhörte und meine Umgebung anfing mitsamt dieser alptraumhaften Kreaturen. Ich hatte tatsächlich das unangenehme Gefühl, ich wäre nicht länger ich. Höchstens ein künstliches Ich mit künstlichen Knochen und künstlichen Gedanken. Ein Modell aus Gips und Pappe. Doch war dann mein wahres, mein alltägliches Ich, an das ich mich im Laufe meines Lebens gewöhnt hatte. Mit dem ich eins war. Die Haut, die sie zu mir gehörte. Ich begann erneut unkontrolliert zu zittern, da ich fürchtete, ich wäre verschwunden, in irgend einer Spalte von, was weiß ich, einem parallelen Universum. Ein Riss in der Zeit hatte mich verschlungen, um mich in eine Gegenwelt zu schleudern, aus der es vielleicht keinen Weg mehr zurück gab. Ich befand mich im Inneren einer Glaskugel, eingepflanzt in eine Miniaturlandschaft. Wenn die Kugel geschüttelt wurde, begann es zu schneien. Nein, flüsterte ich mit bebenden Lippen. In dieser Kugel fängt es nicht an zu schneien, wenn sie geschüttelt wird. Hier kommen augenlose Wesen aus den Tiefen der Glaskuppelwelt an die Oberfläche gekrochen. In den entferntesten, der Ratio entzogenen, Schichten meines Gehirns spürte ich , das ich Teil einer amorphen Verwandlung der Welt geworden war. Ich bin noch heute überzeugt davon, dass irgend etwas in dem Gefüge von Raum und Zeit geschehen sein muss und zwar genau in dem Augenblick, als ich mit dem Glas Oban in der Hand bei meinem Freund auf dem Sofa saß und seiner Geschichte lauschte, während ich durch die hohen Fenster in die bewaldete Burg blickte und an den letzten Tag im Leben des Piraten  Klaus Störtebecker  dachte. In diesem Minuten muss sich irgend etwas gelöst haben,  ein Bruchstück aus dem Gefüge von Vergangenheit und Zukunft. Ein Steinschlag im Moränenfeld des Universums. Es ist unmöglich, mit dem uns gegebenen drei-dimensionalen Verstand Ursache und Wirkung eines derartigen Geschehens zu erfassen. Doch es war geschehen.

Ich saß zitternd auf der Bank unter den alten Eichen, deren Früchte von Zeit zu Zeit hinab fielen und den Boden bedeckten und befahl mir, mit den morbiden Gedanken aufzuhören. Leichter gedacht als getan. Wie ein Fiebernder an die vertraute Gestalt vor seinem Bett, klammerte ich mich an das Bild des Wohnzimmers meines Freundes mit der herrlichen Aussicht auf das Binnenwasser und die Burg. Doch meine neue Realität verlangte unerbittlich nach Beachtung. Mit einem leisen Plop trafen die Eicheln auf dem Boden auf. Ein sicheres Zeichen für den herannahenden Herbst. Die alte Frau stand unverändert auf dem Holzsteg, mit durchgedrücktem Rücken gegen einen Pfeiler gelehnt und fixierte mich auch ohne Augen. Die beiden Jungen, verharrten in Laufhaltung etwas versetzt  neben der  Bank und der Mann mit dem Baseballcape mit pumpendem Brustkorb auf der Hügelkuppe. Ich starrte angewidert auf seinen behaarten Rücken. Von hinten sah er aus wie ein Gorilla. Die fleischigen Schultern hoben und senkten sich unentwegt. Der Rücken dieses Ungetüms machte mir mehr Angst, als alles andere. Der Gorilla, die Frau und die beiden Jungen standen wie festgeklebt auf ihren Positionen. Die Zahnräder dieser seltsamen Welt waren zum Stillstand gekommen. Die Eicheln ploppten auf den Boden. Wir warteten. Jeder auf die ihm bestimmte Art.  Die augenlosen Kreaturen - und ich.

Worauf warteten wir eigentlich? Die Anderen starrten mich augenlos an. Die schwarzen Löcher starrten mich die ganze Zeit über an. Selbst der Rücken des Gorillas schien mich auf eine unheimliche Weise zu beäugen. Jede seiner unermüdlich arbeitenden Muskeln hatte sich auf mich konzentriert wie ein Radarstrahl auf das von ihm erfasste Ziel. Womöglich war ich der einzige Fixpunkt für die Gestalten in dieser aus dem Rahmen gefallenen Welt.
Waren es Geister oder doch nur Produkte einer überreizten Phantasie. Ich entsinne mich, dass ich zu dieser Zeit ausgelaugt und mental erschöpft war. Existierte der gläserne Dom nur in meinem Verstand? Hatten die täglichen Anforderungen der Welt da draußen meinen Verstand zerrieben, so wie die Zeit es vermag, einen Felsen zu Sandkörnern zu zermahlen? Fiebernd dachte ich darüber nach, ob ich in der Welt oder aber die Welt in mir war.
In Zarathustras Vorrede heißt es: Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde1.
Was bin ich?, dachte ich verzweifelt, kurz davor, den letzten Halt zu verlieren. Bin ich noch eins oder bereits in tausend Stücke zerschlagen? Wenn das geschehen würde, das fühlte ich mit jeder meiner zum Zerreißen gespannten Nervenfasern, würde ich eintauchen in die dunkle, tiefe See dieser Welt und nie wieder an die Oberfläche gelangen. Ich musste mich zusammenreißen. So versetzte ich mir selbst eine kräftige Ohrfeige. Es schmerzte. Mein Ohr brannte. Ich war also noch in der Lage, Schmerz zu empfinden.

Mir fiel auf, dass die Positionen der alten Frau, der beiden Jungen und des Gorillas ein gleichschenkeliges Dreieck ergaben, würde man eine Linie von einem zum anderen ziehen, wobei ich selbst mich auf der Symmetrieachse exakt zwischen den Punkten A (dem Gorilla) und B (den beiden Jungen) befand.  Die alte Dame stand folglich auf Position C.  Die geometrische Form des gleichschenkeligen Dreiecks stand mir ganz deutlich vor Augen. Es bestand kein Zweifel. Es war ein perfekt choreografiertes Dreieck. Mein Herz schlug dröhnend in meiner Brust, das einzig wahrnehmbare Geräusch in dieser lautlosen Welt. Ein Poltern und Schleifen wie von einer unregelmäßig arbeitenden Maschine dröhnte in meinen Ohren. Ich tippte auf meinen Blutdruck und startete einen Versuch, dieser kafkaesken Situation zu entrinnen. Ich schloss die Augen und öffnete sie , schloss und öffnete sie. Kniff die Lider zusammen, bis es schmerzte, kniff mich fest in die Wange. Die Szenerie unterhalb der Kuppel des gläsernen Doms veränderte sich in keinster Weise. Das von den Badehosen der augenlosen Jungen tropfende Wasser lief zwischen der Bank und meinen Beinen hindurch und vermengte sich mit dem Blut aus ihren leeren Augenhöhlen. Ich fürchtete mich, die Flüssigkeit zu berühren und stellte die Füße weit auseinander. Es polterte und dröhnte ohne Unterlass in meinem Brustkorb und meinen Ohren. Erst als der Boden erzitterte, wurde mir klar, dass dieses Geräusch, das einzig wahrnehmbare Geräusch überhaupt, nicht von meinem Herzschlag herrührte, gar nicht herrühren konnte. Es kam von etwas anderem, weit größeren als dem in einer Menschenbrust schlagenden, faustgroßen Herzen. Die Eichen erzitterten bei jedem  Schlag und ein Eichelschauer prasselte zu Boden. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass sich etwas aus dem Wald näherte. Ich vernahm ein leises, dann rasch lauter werdendes melodisches Klirren und fürchtete, ohnmächtig zu werden. So groß war mein Entsetzen. Eichenblätter segelten durch die Luft und verfingen sich in den Haaren der Jungen. Ein großes, an den Rändern bereits gelb verfärbtes, perfekt geformtes Blatt bedeckte die klaffende linke Augenhöhle des kleinen Jungen.

Die Greisin löste sich aus ihrer erstarrten Haltung. Sie trat in die Mitte des breiten Stegs und deutete mit ausgestrecktem Arm in den Wald. Dabei lachte sie mit weit zurückgelegtem Kopf. Hahaha hahaha. Ein raues und auf eine schaurige Weise herzliches Lachen. Nun begann sie sich mit ausgebreiteten Armen im Kreis zu drehen wie ein Kind auf dem Spielplatz. Schneller und schneller wirbelte ihr buntes Kleid durch den amorphen Raum.
Die Haare auf meinen Armen und dem Kopf richteten sich auf, als hätte jemand mit einem Luftballon drüber gerieben.  Bumm bumm bumm. Es stampfte, klopfte und scharrte den Weg hinab.  Ein schwarzes Wind trieb zwischen den wehrlosen Zweigen hindurch. Kurz und kräftig erhob er seine Stimme, um sogleich wieder zu verstummen. Mein Herz setzte ein paar Schläge aus aus, dann fiel es in einen flatternden, unruhigen Galopp.

Ein enthaupteter Mann torkelte mit blutüberströmtem Rumpf aus dem Wald. Er zog eine lange, eiserne Kette hinter sich her, die über den Weg schleuderte und sich immer wieder im Unterholz verfing, so dass er Äste und Laubwerk über den staubtrockenen Boden schleifte. Seine starken Hände fuhren orientierungslos durch die Luft. Ich sah den schwarzen Dreck unter den Fingernägeln. Welche Kraft mochte es sein, die ihn, den seines Hirns Beraubten, vorantrieb. Einmal sah ich seinen Sturz voraus, doch die  bereits leicht einknickenden Kniegelenke strafften sich und er trieb wie ein in Schwung gebrachter Kreisel, die gesamte Wegbreite beanspruchend, weiter und weiter den Pfad hinab. Er zog  mit der rostigen  Kette das Blattwerk hinter sich her wie ein im Strom treidelndes Schiff. Es schüttelte mich wie Espenlaub und ich spürte, dass ich diese Welt nicht mehr lange würde ertragen können. Entweder ich fiel dem Wahnsinn anheim oder es gelang mir, den Ereignissen eine Wendung zu geben. Wie dies geschehen sollte, war mir allerdings nicht klar, zumal mein Verstand derzeit nicht einwandfrei funktionierte.  Ich konnte jedenfalls nicht  hier sitzen bleiben und nichts tun. Ein Ende mit Schrecken war mir in diesen Minuten tatsächlich lieber als ein endloser Schrecken. Die Feder, die jeder Mensch in sich trägt und die nur bis zu einem gewissen Grad gespannt werden kann, war nun einmal kurz davor, zu zerbrechen. Und so ergab sich alles weitere fast von selbst.
Die alte Frau auf dem Steg drehte sich wie ein in Schwung gekommener bunter Kreisel wahnsinnig schnell um die eigene Achse. Anfangs konnte ich ihre leeren Augenhöhlen ausmachen, doch irgendwann rotierte sie so schnell, dass die Grenzen zwischen Stoff und Körper zunehmend verschwammen und zuletzt für das Auge nicht mehr auszumachen waren. Dabei gab die alte Frau mit  rauer Stimme ein tiefes , allmählich ansteigendes Summen von sich. Es hörte sich an wie ein Schwarm Hornissen. Ein Ton, der mit zunehmender Rotation weiter anschwoll. Mich überkam die Vision einer kurz vor dem Platzen befindlichen gärende Frucht.
Die Schultern des gorillahaften Mannes auf dem Hügel hoben und senkten sich gleichfalls immer schneller, wobei er mir unverändert seinen fleischigen Rücken zu wandte, während seine Extremitäten begannen im Stakkato zu zucken. Einzig die beiden Jungen verharrten ungerührt auf ihren Positionen wenige Meter von der Bank entfernt,auf der ich unruhig hin und her rutschte. Mit Entsetzen stellte ich fest, dass dass aus den nassen Badehosen tropfende Wasser sich in einen Sturzbach verwandelte, der den Weg hinunter rauschte. Die wie rasend kreiselnde Frau schien die ganze schreckliche  Choreografie irgendwie zu lenken. Sie hatten das Ganze ausgelöst. Der kopflose Freibeuter wankte an mir vorbei.  Dunkles Blut quoll aus seinem Hals. Ehe ich begriff, was ich tat, schoss mein rechtes Bein hervor und brachte den blutüberströmten Mann ins Straucheln. Erst fürchtete ich, er würde auf mich fallen, doch dann knickte er kurz vor der Bank ein und schlug der Länge nach hin. Ich sprang auf und schrie wie verrückt:“ Uuaahh“ und „Haaarrhhh“.

Der Bann war gebrochen. Die alte Frau hielt inne. Der Gorilla trabte schwerfällig den Hügel empor und die beiden Jungen sprinteten in den Wald.
Der Bann war gebrochen. Ich hockte bebend auf der Bank und versuchte zu begreifen, was soeben geschehen war. Eine Windböe lief über den Strand und verlor sich in den Wipfeln der Bäume.
Ich lauschte den Schreien der Möwen. Noch nie waren sie mir so schön erschienen wie heute. Ihr energisches kiah zerriß die Luft und mir ihr den dunklen Schleier, der sich um mich gelegt hatte. Ich heulte ich wie ein Schlosshund. Eine leichte Brise ging durch den Wald, ein kurzes Erschauern durchzog die Blätter. Dann war es vorbei.

Ich öffnete die Augen. Mein Freund betrachtete mich schweigend. Draußen hinter den großen Fenstern seines Wohnzimmers tauchte die Sonne gerade in das Binnenwasser hinein. Ich rieb erstaunt meine Augen. Wir schauten auf das Wasser und den dahinter liegenden Wald.
„Wie geht es weiter“?, fragte ich mit belegter Stimme.  Er sah mich ernst an. „Hör gut zu. Du wirst nicht glauben, was mir widerfahren ist. Die beiden Jungen rannten in meine Richtung...“

Die Worte tröpfelten durch mich hindurch, ohne dass ich ihren Sinn erfasste. Ich sah aus dem großen Fenster. Auf dem Feld am anderen Ufer war ein großer Mähdrescher damit beschäftigt, die Weizenernte einzubringen. Eines von diesen moderner, klimatisierten mit Elektronik vollgestopften Ungetümen, ausgestattet mit GPS und Klimaanlage. Sehr präzise und effektiv. Ihm würde kein Halm entgehen.
Nicht ein einziger.



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Beitrag27.10.2013 09:34

von BlueNote
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Guten Morgen Haruki!

Und wieder: Dein Text an sich ist gut geschrieben, aber deine Yuppie-Einleitung hat für mich auch etwas sehr Abstoßendes. Auf der einen Seite der natürlich korpulente Mann, der natürlich wieder extrem hässlich (stark behaart) und untrainiert ist, die Frau, die einfach nur alt ist und sich dadurch lächerlich macht, dass sie unpassend gekleidet ist, im Gegensatz zu der Gruppe Heiliger, die alles richtig macht, die in der modernen, funktionalen Loftwohnung am Binnenwasser auf der chicen Ledercouch sitzt, Pfeife raucht (wie spießig!), den richtigen Whiskey trinkt und natürlich die richtige Musik hört: Jazz mit einem schlanktönenden Tenorsaxophonisten. Perlende Klavierläufe und Akkorde mäandern durch den Raum (mein Gott!) und die Heiligen ordnen Musikstile sets den Sphären zu. Aber sie ordnen, was nicht so schlimm wäre, nicht nur Musikstile zu, sondern auch Menschen. Wenn behaart oder alt, dann sind das die Figuren, die man als Leser zu verurteilen hat: Wie kann man nur in der brüllenden Mittagshitze so untrainiert entlang traben und dazu noch humpeln wie ein Hund (wie sieht das denn aus!)? Das Mitgefühl des Protagonisten (ich fragte mich, warum jemand, der offensichtlich recht untrainiert war, sich in der größten Hitze derart quälen muss) sehe ich noch als zynisch an.

Was vermittelt dieser Text für eine Haltung, frage ich mich? Die eines  blasierten Jungliberalen oder eines verwöhnten Industriellensöhnchens. Durch und durch spießig jedenfalls. Aber interessiert mich eine so arrogante und überhebliche Weltsicht eigentlich?

Da das schon der zweite Text ist, der sich über alles Menschliche zu erheben scheint, frage ich mich, ob das generell dein Stil ist oder ein Teil deiner eigenen Lebenseinstellung. Ich hoffe ja nicht!

EDIT: Mein Kommentar bezieht sich auf die ersten drei Absätze. Beim Rest weiß ich noch nicht ...

BN
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Gast







Beitrag27.10.2013 11:09

von Gast
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Und wieder: ein extrem starker Text. Ich hoffe, das bleibt genau so.

Über weite Strecken hat das ein Wah!; dass es mir ergeht wie dem Erzähler, ich höre die Geschichte nicht mehr, ich bin da.

Der letzte Satz ist: !!!

Leider hält der Text das nicht ganz (wobei die Frage ist, ob dies ein Text je vermag), die Störtebeckereinschübe fallen deutlich ab, ohne dass ich dir sagen kann, wieso genau, der surreale Teil um die augenlosen Gesichter gegen Ende ist zu lang? oder? - jedenfalls greift er bei mir nicht im gleichen Maße, wie das Kleid der alten Frau.
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BlueNote
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Beitrag27.10.2013 11:11

von BlueNote
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Wollte meinen Kommentar gerade löschen. Kam aber eine Minute zu spät. Vielleicht muss ich mir das Ganze doch noch mal überlegen ...
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KeTam
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Beitrag27.10.2013 11:35

von KeTam
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Hallo Haruki,

ich finde deinen Text streckenweise sehr gut. Ich finds unglaublich, wie du es schaffts so deutliche Bilder in meinem Kopf entstehen zu lassen.
Wieder fällt mir das Morbide auf, das Hinter der Fassade lauert. Ich denke an Vergänglichkeit, Tod, Verwesung.

Was mich hingegenstört und mich immer wieder aus diesen Bildern herausreißt sind die inneren Monologe. M.M.n. braucht es die nicht. Vielleicht hier und da mal eine kurze Bemerkung, aber nicht in dieser Fülle. Deine Bilder sprechen für sich, für mich bedarf es da keiner Erklärung.

Lg, KeTam.
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Haruki Okada
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Beitrag27.10.2013 12:01

von Haruki Okada
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Danke für die Kommentare, die Kritik und die hiermit verbundenen Anregungen, wobei die Art der geäußerten Kritik stets mehr über den Kritiker als über den Kritisierten aussagt.
Blue Note, Du wärst, glaube ich, sehr überrascht, wenn Du wüsstest, wer ich bin und wie weit Du daneben liegst.
Wie gesagt. Ich werde nicht meine eigene Arbeit interpretieren, doch die eigentliche Geschichte steht wiederum zwischen den Zeilen. KeTam ist auf der richtigen Spur.

Gruß an Euch alle

Haruki


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BlueNote
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Beitrag27.10.2013 12:07

von BlueNote
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Zitat:

Blue Note, Du wärst, glaube ich, sehr überrascht, wenn Du wüsstest, wer ich bin und wie weit Du daneben liegst.

Nicht überrascht, erleichtert! Zumal ich das Gefühl habe, dass hier ein neuer Stern aufgeht (oder ein alter?)
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gold
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Beitrag27.10.2013 18:39

von gold
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hallo Haruki,

ich war guten Willens, deinen Text ganz zu lesen; aber ich musste abbrechen!!!

Ich finde, du hast zu viel auf einmal eingestellt. Es wäre nett, wenn du dem Leser eine Verschnaufpause gönnen würdest!!!
Danke!
Lg gold


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Hardy-Kern
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Beitrag27.10.2013 20:50

von Hardy-Kern
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BlueNote hat Folgendes geschrieben:
Zitat:

Blue Note, Du wärst, glaube ich, sehr überrascht, wenn Du wüsstest, wer ich bin und wie weit Du daneben liegst.

Nicht überrascht, erleichtert! Zumal ich das Gefühl habe, dass hier ein neuer Stern aufgeht (oder ein alter?)

 Smile Aber Sir, wir wären doch nicht schon solange hier, um nicht zu wissen, wer seine Piratenflagge neu gehisst hat.
Das ist nicht böse gemeint und mir nötigt es sogar Bewunderung ab, da Du immer für Überraschungen gut bist.

Es ist nicht schlecht, wie Du angebliche, objektiv-realistische Beobachtungen in eine Surrealismusbrühe wirfst und es schaffst, dass man Dir die am Lektoratenstand noch abkauft. Da kommen manche leider nicht mit.

Falls Du es bist, stelle ich mir allerdings die Frage, warum du so einen
langen Riemen hier reinstellst? Ich kann keinen Nutzen für dich erkennen.
Hättest bequem zwei Teile machen können.

Note hatte schon Recht. Mich kotzt auch diese sozialliberale Ausdrucksweise, geboren aus dem Hauch des Wiskeys und "exquisiter" Musikstücke an. Ein überheblicher, anglizistischer Adel, schreitet mit der Tarnfarbe des Volkstümlichen unerbittlich an mir vorbei.

Nur Note hat keinen Arsch in der Hose, seine Meinung nach kerniger Art durchzusetzen. Leider! Der schwebt immer noch über seinem Abgrund in Tirol und wird nicht fertig, dem Echo des Forums zu lauschen.

Provokativ, aber das braucht dieses Forum.Smile

Hardy
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BlueNote
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Beitrag27.10.2013 21:03

von BlueNote
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Bobbi? Neee ...
Vielleicht der Typ mit den Fischgeschichten ... der Name fällt mir schon gar nicht mehr ein. Ein exzellenter Schreiber mit einem nicht ganz forentauglichen Charakter.
Zitat:

Nur Note hat keinen Arsch in der Hose, seine Meinung nach kerniger Art durchzusetzen. Leider! Der schwebt immer noch über seinem Abgrund in Tirol und wird nicht fertig, dem Echo des Forums zu lauschen.

 smile extra
Hardy, wenn du wüsstest ...! Tirol ... Was ich dort für eine Erscheinung hatte! Die reinste Offenbarung! Da kann man ja nur vom Saulus zum Paulus werden.

EDIT: Oder ist das Alogius?? Shocked  Ich würde ja den Boden küssen, wo er entlang geschritten ist. Aber das wär ja ein Doppelaccount, den die Foren-NSA bestimmt aufdecken würde.
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Hardy-Kern
Kopfloser

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Beitrag27.10.2013 21:17

von Hardy-Kern
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BlueNote hat Folgendes geschrieben:

Hardy, wenn du wüsstest ...! Tirol ... Was ich dort für eine Erscheinung hatte! Die reinste Offenbarung! Da kann man ja nur vom Saulus zum Paulus werden.

Hör bloß auf. Hast wohl noch die Jungfrau Maria auf dem Seil tanzen sehen?
Musst Du immer Andere fragen? Ich weiß alles. Buch lol

Bob wird schon wissen, wer er ist.  

Hardy
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Hardy-Kern
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Beitrag27.10.2013 21:22

von Hardy-Kern
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BlueNote hat Folgendes geschrieben:


EDIT: Oder ist das Alogius?? Shocked  Ich würde ja den Boden küssen, wo er entlang geschritten ist. Aber das wär ja ein Doppelaccount, den die Foren-NSA bestimmt aufdecken würde.


Den schafft nicht mal der Forengeheimdienst aufzudecken und will es auch nicht. Der ist einfach nicht mehr da.

Hardy
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BlueNote
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Beitrag27.10.2013 21:23

von BlueNote
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Zitat:

Hast wohl noch die Jungfrau Maria auf dem Seil tanzen sehen?

Fast! Ich hab die Jungfrau Maria bei ihrer unbefleckten Empfängnis gesehen. Eine geistige Befruchtung (für mich).

Bobbi?! Der wurde doch gerade erst wieder aufgedeckt. Wieso willst du das wissen?
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raffis
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Beitrag27.10.2013 21:50

von raffis
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Haruki, kann es sein, dass du dich von Zen-Texten inspirieren lässt? Meine ich jetzt weniger in Bezug auf deinen Namen, sondern aufgrund deiner offensichtlichen Liebe zum Einfachen und Unspektakulären. In Kombination mit deinem Namen (nun also doch) würde das irgendwie passen.

Gruss raffis


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Haruki Okada
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Beitrag28.10.2013 19:44

von Haruki Okada
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Hallo Hardy-Kern, BlueNote,

ich bin gespannt, was Ihr ausser den o.a. Dialogen (Bobbi, "der Typ mit den Fischgeschichten", Alogius oder wer?) noch so drauf habt. Ein interessantes Zwiegespräch, welches direkt dazu inspiriert, es als Einleitung für eine Satire zu verwenden.
Gebt Euch keine Mühe. Ihr kennt mich nicht. Jedenfalls aus keinem Forum.
Der Typ mit den Fischgeschichten ist wirklich gut, aber leider nicht zutreffend.
Da ich von der Küste komme, wäre die Formulierung "der Typ mit den Fischgerichten" treffender.
Tja, ich bin's wirklich. Höchstpersönlich. Nur eben leider nicht Bobbi, Alogius oder der Fischtyp Shocked oder sonstwer aus diesem oder einem anderen Forum.
Dafür aber Haruki. Tut mir leid.

Gruß
von der See

Haruki


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wonderland
Eselsohr

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Beitrag28.10.2013 21:24

von wonderland
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nachdem der Spannungsbogen unerträgliche Höhen erreichte und dann lahm in die Ratlosigkeit abknickte, möchte ich auch noch meinen Senf zum Text abgeben.

Das ist sehr professionell geschrieben. Aber zu beiden Texten sympathiere ich mit BlueNotes erstem Kommentar.

Es geht für mich einerseits um das Aufeinanderprallen der glatten, gefälligen Jazz- und Malt-Society mit der hässlichen, vergänglichen Körperlichkeit. Im Strandtext als "harmlose" Anekdote, hier in Form einer Minipsychose.

Aber egal wie raffiniert was hier wie verwoben wurde, mich stört einfach, dass der sezierende Blick sich nur auf das in unserer Gesellschaft ohnehin Verlachte, Ausgestoßene, als minderwertig Betrachtete zu richten scheint.

Auch wenn man es vielleicht so verstehen kann, dass jeweils der Ich-Erzähler damit entlarvt würde. Aber diese entmenschlichenden Ekelgefühle, die da für mich rüberkommen, brrr, eiskalt finde ich das.

Subjektiv. Ohne Ansehen des schriftstellerischen Könnens, welches ich in keiner Weise in Frage stellen möchte. Edit: oder könnte.

LG


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Gast







Beitrag29.10.2013 09:19

von Gast
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Der sezierende Blick - warum nur solche Schwierigkeiten damit? Er trifft ja die Jazzhörer ebenso wie die Verlachten. Er zeichnet, ich sehe noch immer keine Wertung.

Das ist auch kein realistischer Blick, sondern ein hyperralistischer, den es braucht bzw. der bewirkt, dass die gesamte Szenerie ins Phantastische kippt.

Literarisch kenne ich das aus dem Japanischen (sei es Manga, sei es Banana Yoshimoto, sei es der inzwischen zu oft genannte Murakami.)
In der bildenden Kunst ist vielleicht Bosch (Phantastik) oder Otto Dix (Realismus, hyper)
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KeTam
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Beitrag29.10.2013 10:07

von KeTam
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wonderland hat Folgendes geschrieben:


Aber egal wie raffiniert was hier wie verwoben wurde, mich stört einfach, dass der sezierende Blick sich nur auf das in unserer Gesellschaft ohnehin Verlachte, Ausgestoßene, als minderwertig Betrachtete zu richten scheint.

Auch wenn man es vielleicht so verstehen kann, dass jeweils der Ich-Erzähler damit entlarvt würde. Aber diese entmenschlichenden Ekelgefühle, die da für mich rüberkommen, brrr, eiskalt finde ich das.



Ich denke nicht, dass hier der Ich Erzähler entlarvt werden soll. Für mich geht es hier um ganz grundsätzliche Dinge, wie die Angst vor dem Alter, Krankheit, Tod.
Meine Interpretation ist eher die, von einem Bewusstwerden (seitens des Ich Erzählers) der Vergänglichkeit, die hinter oder unter allem lauert, immer da ist. Von etwas Unausweichlichem.

Die Charaktere, die du als verlacht, ausgestoßen bezeichnest haben dabei eine so starke Präsenz, dass sie alles andere als lächerlich wirken.
Das Ganze ist so überzeichnet, dass es deutlicher nicht sein könnte, dass hier keinesfalls ein sich Erheben oder sich Lustigmachen dargestellt werden soll.

Wo mir beim ersten Text diese Deutlichkeit, dieses Überzeichnete noch etwas gefehlt hat, ist es hier unübersehbar.

Ich freu mich, dass der Text nominiert wurde.

edit: Der Titel "Zur Zeit der Ernte" und am Ende das Bild mit dem Mähdrescher. Gehts eigentlich noch deutlicher? Laughing
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crim
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Beitrag29.10.2013 11:47
Re: Zur Zeit der Ernte
von crim
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Hi Haruki,
gefällt mir gut, deine Sprache klingt ausgereift. Ich picke jetzt trotzdem mal ein paar kleinere Sachen raus, woran ich mich gestoßen habe:

Zitat:
Dann war da eine alte Frau auf dem Holzsteg am Strand. Eine auffällige Gestalt. Vielleicht stand sie dort bereits die ganze Zeit und ich hatte sie vorher nur nicht registriert.


Eine auffällige Gestalt. - Natürlich ist das innerhalb der Erzählung des Freundes machbar, aber für mich verzichtbar, denn dieses Bild wird ja noch von allein entstehen. Für meinen Geschmack beißt es sich auch ein wenig damit, dass er sie vorher "nur nicht registriert" hat. Wäre sie dann nicht, im ersten Moment zumindest, unauffällig gewesen?




Zitat:
Ich schätze, sie war Anfang Achtzig. Sie hatte schlohweiße Haare und ein Gesicht voller Falten, die sich in die Haut eingegraben hatten, wie ausgetrocknete Flussläufe in die rissige Erde. Ihre Augen waren hinter einer großen weißen Sonnenbrille verborgen. Ich glaube so ein Ding hat Elton John einmal während eines Konzertes getragen. Schneeweiß mit großen dunklen Gläsern. Sie sah aus wie ein sonderbares Insekt. Das leichte Sommerkleid, dass ihre schlanke Gestalt einhüllte wie buntes Papier einen verwelkenden Strauß Blumen, stand in einem grotesken Widerspruch zu ihrem Alter und verstärkte den surrealen Gesamteindruck. Das Kleid war derart bunt, dass sie darin aussah wie ein Wellensittich.


Hier habe ich mich an dem Metaphernbombardement gestoßen. Wie ausgetrocknete Flussläufe, wie ein sonderbares Insekt, wie buntes Papier, das einen verwelkenden Blumenstrauss einhüllt, wie ein Wellensittich und Elton John tanzt auch noch mit herum. Mir ist das zu geballt, verstehe aber, dass das zum "surrealen Gesamteindruck" beiträgt, aber das dann auch noch explizit als einen solchen zu benennen, finde ich eher unglücklich.


Zitat:
Jedenfalls werden wir nicht mehr sie schier sein wie heute.


Verständnisproblem: Schreibfehler oder Mundart?


Zitat:
Die Akkorde mäanderten durch den Raum in unsere Ohren und  Herzen hinein, wo sie aufhörten zu sein.


Aha, denk ich, kenn ich doch: Rilke. Nur statt Pantherpupillen und Bildern, die da reingehen, hört die Musik im Herzen auf zu sein. Es klingt mir hier aber ein wenig zu aufgesetzt, zu kitschig, gerade mit dem Part der folgt. Seele fliegen lassen und die ganze Sache mit dem Sonnenlicht. An und für sich gut beschrieben, ja wirklich, nur mir persönlich in der Ballung too much.


Hier mache ich erst mal Schluss, weil ich nicht recht weiß, ob du mit diesen Rückmeldungen was anfangen kannst und auch weil in der Häufung kleinerer Kritikpunkte vielleicht mein Gesamtempfinden zum Text zu sehr in den Hintergrund rückt. Nämlich, dass der insgesamt schon sehr stark geschrieben ist. Würde mich jedenfalls freuen, mehr von dir zu lesen.

LG Crim
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wonderland
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Beitrag29.10.2013 11:48

von wonderland
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ich gebe ja zu: Vielleicht ist es dieses Tod-Thema, das mich so frieren ließ. Und meine Kritik gehörte eigentlich nur zum Strandtext, muss ich nochmal überprüfen.

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Hardy-Kern
Kopfloser

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Wohnort: Deutschland


Beitrag29.10.2013 18:05

von Hardy-Kern
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Haruki Okada hat Folgendes geschrieben:
Hallo Hardy-Kern, BlueNote,

ich bin gespannt, was Ihr ausser den o.a. Dialogen (Bobbi, "der Typ mit den Fischgeschichten", Alogius oder wer?) noch so drauf habt. Ein interessantes Zwiegespräch, welches direkt dazu inspiriert, es als Einleitung für eine Satire zu verwenden.


Ich bin ein Fan derartiger Art von Satire. Nur zu, dazu sind wir da.
Abgelästert wird genug, da kommt es doch nicht weiter darauf an...
Wäre sehr interessant, zu beobachten, ob Du das Niveau unseres geliebten Dr. Ratte erreichst? Diese kleine Gegenprovokation ist doch sicherlich genehm?  

Wäre für mich kein Problem, wenn Du "SIR Schwarzwald" wärst, der in dieser Art seine Texte verfasste, aber sich später aus dem Forum verabschiedete. (Mit deucht' immer noch, dass auch seine Frau gut schreibt)

Wenn ich daneben lag, mögest du mir das verzeihen.
Gute Welle, nach Holstein. Smile

Hardy
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Haruki Okada
Geschlecht:männlichWortedrechsler

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Beiträge: 66
Wohnort: Holstein


Beitrag29.10.2013 20:58

von Haruki Okada
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Hallo Crim,

danke für Deine Anregungen.

Gruß

Haruki


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