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Christof Lais Sperl
Klammeraffe
 Alter: 62 Beiträge: 878 Wohnort: Hangover
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 25.04.2019 13:28 Zwei Gesichter - Kurzgeschichte von Christof Lais Sperl
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Zwei Gesichter
Nicht so wie der Vater sein. Klebt mir zeit meines Lebens an der Stirn. Nicht so sein und sitzen und tagein tagaus mit den Händen nichts anzufangen wissen. Linkes Bein übers rechte, rechtes übers linke, Ellbogen auf den Sessellehnen, Kniescheibe kneten, Fingerspitzen auf Fingerspitzen, dann wie zum Beten die Handflächen aufeinander, später die Hände verschränkt, geräuschvolles Einatmen durch die Nase, Kratzen an der Stirn, Räuspern. Brummen: Bruder Jakob. Eine Abfolge alberner Bewegungen, Töne und Posen. Kreislauf der Zuckungen. Körperkäse.
„Sitz still“, schnalzt die Mutter. Und: „Der will sich nur wichtig machen mit der Räusperei.“
Der Vater sitzt ein. Im Knast akustischer Gitterstäbe. Mutters genickte Zurechtweisungen peitschen als schneidende Fegefäden mal lotrecht zu ihm hin, nähen ihn und seinen Sessel von oben nach unten an die Wand. Mal wendet sie sich ans Publikum. Dann feuern die Salven waagerecht durchs Zimmer. Fesseln ihn von links nach rechts. Wie in den Polizeivideos über moderne Festnahmemethoden: Schusswaffen, die Netze und Schaumfäden ausspucken, in die sich Flüchtende verstricken.
Vater hat den Raum zum Atmen nicht, muss sich auf seinem Kubikmeter so bewegen, die es gerade eben passt, die Gymnastik macht ihn zum Zerrbild seiner selbst. Bis ins Gesicht hinein. Mal Mundwinkel nach unten ins Kinn gedrückt wie respektvolles Erstaunen. Mal die Lippen gespreizt und die Augenbraunen überrascht hochgezogen. Der Wechsel zweier Gesichter.
Was bleibt ist Essen und Glotze. Da ist dann Ruhe. Bis auf ein Lustlachen der Mutter, wenn Köpcke erscheint. Aber nur abends. TV am Tag ist gleich asozial. Muttergesetz. Was sonst noch bleibt: Klo. Kann Vater aber auch nicht zwanzigmal am Tag machen. Wäre ja noch blöder als so schon. Oder Kur. Geht aber auch nur alle paar Jahre, und wenn die Kasse zahlt.
„Der hockt schon wieder auf dem Pott“, sagt Mutter. Sie nennt ihn immer nur „Der“.
„Gleich kommt der wieder und brummt im Sessel rum. Der macht mich noch reif für die Klapse.“
Nicht so sein wie der. Versager. Sondern was Richtiges lernen. Studieren. Kein Nasepopeln, Kratzen und Schnaufen, kein Handwerker, Arbeiter oder sonstiger Ungebildeter werden. Sondern einer, der die fette Mersertür zuknallt und dann den Blick schweifen lässt, ob’s auch alle gesehen und gehört haben. Einer wie Köpcke. Ein Frauenknaller. Muss ich mit der Drei in Mathe gar nicht erst ankommen. Gibt’s sofort Kochlöffel oder Zimmer.
„Ich und der haben uns nicht krumm gemacht, dass aus dir mal ein doofer Prolet wird. Drei in Mathe heißt Hilfsschule. Und Prolet, abends in der Kneipe sitzen, Bier saufen, Geld in Daddelautomaten stecken, sein ordinäres Weib schlagen und höchstens mal die BILD lesen.“
Wenn Mutter um zwanzig Uhr dem Köpcke spitz entgegenkreischt, muss das für den Vater sein, als würde sie fremdgehen. Denn seine Leibeslagen wechseln danach noch schneller.
Ich glaube, die eine oder andere von den Kolleginnen fände er ziemlich toll. Aber so was würde er wohl auch nicht mehr hinkriegen.
Um zwölf ist Mutter ist schon oben. Sendeschluss. Vater hört sich das Piepen an und guckt noch eine Stunde Testbild. Weißer Kreis auf weißen Kacheln. Von links nach rechts dunkler werdende Graubalken.
Darunter ein Barcode mit einem schwarzen Pfeil.
12Wie es weitergeht »
Weitere Werke von Christof Lais Sperl:
_________________ Lais |
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Filmfan
Gänsefüßchen
F
Beiträge: 18 Wohnort: Berlin
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F 27.04.2019 18:52
von Filmfan
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Ich liebe Kurzgeschichten. Und bei Deiner Kurzgeschichte frage ich mich, was die Botschaft ist? Welche Motivation, welches Bedürfnis hat der Protagonist? Und wo ist das "auf und ab" einer Geschichte?
Ich konnte sie nicht sehen. Aber vielleicht ist mir auch was entgangen?
Hier ein paar kleine Tipps:
1. Fange mit dem gewohnten Leben Deines Prota an. Erzähl von seinen oder ihren Träumen und Zielen, den Konflikten.
2. Lass etwas eintreten, was das Leben Deines Prota verändert (positiv oder negativ).
3. In der Mitte lass wieder etwas eintreten, was das Leben des Prota in die entgegengesetzte Richtung führt.
4. Schließe am Ende mit einer überraschenden Wendung ab.
Hier ein Beispiel von dem, was ich meine:
Ein Arbeitsloser träumt von einem eigenem Geschäft (Leben des Prota). Ein reicher Verwandter stirbt, vermacht ihm viel Geld (positiver Anstoß für den Prota) Seine Exfrau (Antagonist) will ihm das Geld wegnehmen (negative Wendung in der Mitte), was ihr auch gelingt. Mit Hilfe eines Freundes kann er das Geld zurückbekommen (positiver Schluss am Ende).
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rieka
Sucher und Seiteneinsteiger

Beiträge: 818
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 28.04.2019 10:09
von rieka
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Ob dieser Text nur ein Ausschnitt einer größeren Geschichte sein soll oder ein Einzelstück als intraspezifische Momentaufnahme eines Innenlebens, egal. Für mich ist es spannend. Ein Text, den ich mag und in der Art nicht oft finde.
Die verdichtete giftige Atmosphäre eines Familienlebens, einer Kindheit, einer internalisierten Wertigkeit und Abhängigkeit. Vater und Mutter, vom Prota zwar kritisch betrachtet, trotzdem in ihm wirksam. Vermutlich, weil er es zwar wahrnimmt, aber nicht reflektiert.
Ein Text zum häufiger lesen, weil sich die Atmosphäre erst nach und nach erschließt und aufquillt. Für mich.
Ich sehe es förmlich vor mir, das Wohnzimmer, in dem die Mutter leise penetrant giftet, der Vater sich taub stellend subtil agiert und Gegenschläge verteilt und der Prota gequält orientierungslos seine Basis zu finden versucht. Selbst jetzt als Erwachsener noch, wo er doch schon längst frei sein könnte, sollte.
Kurz reingeschaut.
Korrekturen? Verbesserungen? Vermutlich. Zu mehr als einem kurzen Leseeindruck bin ich auf Dauer erst mal nicht im Stande.
Gern gelesen.
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Christof Lais Sperl
Klammeraffe
 Alter: 62 Beiträge: 878 Wohnort: Hangover
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Filmfan
Gänsefüßchen
F
Beiträge: 18 Wohnort: Berlin
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F 04.05.2019 05:39
von Filmfan
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Als Momentaufnahme ist es okay, wenn Du es in eine Kurzgeschichte einbetten würdest. Diese sollte allerdings ein auf und ab der Figur haben, wo sich die Richtung der Handlung ändert.
Hab mal vor Jahren eine Kurzgeschichte geschrieben, wo meine Figur auf 1,5 Seiten vier auf und ab's hatte. Andererseits ging die Figur nicht in die Tiefe, wollte nur locker flockig eine Geschichte erzählen.
Andere Kurzgeschichten, so 18 bis 20 Seiten lang, hatten hingegen bei mir eine Figurentiefe und die auf und ab's der Figur.
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DLurie
Klammeraffe

Beiträge: 880 Wohnort: Zwischen den Stühlen
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 16.07.2019 11:11
von DLurie
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Ich möchte mich rieka anschließen: eine sprachlich originelle Momentaufnahme von intensiver Bitterkeit, die mich berührt hat! Über die Qualifikation als 'Kurzgeschichte' lässt sich trefflich streiten..
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Anoa
Leseratte
A Alter: 66 Beiträge: 146 Wohnort: Berlin
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A 17.07.2019 09:38
von Anoa
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Guten Morgen alle,
auch mir gefällt die Geschichte sehr. Den Mann kann ich mir gut vorstellen.
Was ist mit den Problemen dahinter? Die sexuelle Frustration der Mutter? Hat da nicht auch der Vater schuld? Leute sind nicht ohne Grund beschissen. Vielleicht mehr über die Bitterkeit dieser Frau?
Weiter so!
Anoa
_________________ Mona Ullrich, Berlin |
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Carola
Gänsefüßchen
C Alter: 54 Beiträge: 20 Wohnort: Hamburg
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Miss Purple
Klammeraffe

Beiträge: 708 Wohnort: In den öden Weiten des Rübenanbaus
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 21.03.2022 16:00
von Miss Purple
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Nur ein kurzes Statement: Bedrückend nachvollziehbar geschildert, diese der-Junge-soll-es-mal-besser-machen-als-wir-Atmosphäre eines Versorger-Haushaltes, in dem es keine Notausgänge gibt, außer dem Klo ...
Da der Text bereits "gealtert" ist, nehme ich an, dass keine Vorschläge zur Textarbeit mehr nötig oder gewünscht sind.
Sehr gerne gelesen!
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Christof Lais Sperl
Klammeraffe
 Alter: 62 Beiträge: 878 Wohnort: Hangover
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 21.03.2022 16:11 Oki von Christof Lais Sperl
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Danke Dir!
_________________ Lais |
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Abari
Alla breve
 Alter: 42 Beiträge: 1883 Wohnort: ich-jetzt-hier
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 21.03.2022 16:41
von Abari
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Ich finde, die Geschichte hat WOW!-Effekt. Kompakt geschriebenes, deutsches (Anti?-)Sittenbild mit fast lyrischer Dichtheit. Die Beobachtungen am Anfang mit den Händen fesseln mich, ziehen mich hinein, die Metaphern sitzen und bedrohen mich; ich fühle mich in die Enge getrieben und wünsche mir sowohl für die/den Prota als auch den Vater eine Befreiung - stattdessen bekomme ich Lethargie präsentiert. Die (Über-)Mutter, drangsalierend, gefährlich wie eine schwarze Witwe, beherrscht alles und bleibt doch im Hintergrund, wo sie alles auf "den" schieben kann ... Aus ihr grinst das Böse, ohne das sie es bemerkt.
Danke auch für's Wiederausgraben.
_________________ Das zeigt Dir lediglich meine persönliche, höchst subjektive Meinung.
Ich mache (mir) bewusst, damit ich bewusst machen kann.
LG
Abari |
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Christof Lais Sperl
Klammeraffe
 Alter: 62 Beiträge: 878 Wohnort: Hangover
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 22.03.2022 06:42 Enge von Christof Lais Sperl
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Genau das waren meine Gefühle. Vielen Dank! Viele liebe Grüße von Christof Sp
_________________ Lais |
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John McCrea
Leseratte
 Alter: 49 Beiträge: 160 Wohnort: OWL
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 22.03.2022 11:32
von John McCrea
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Hallo Christof,
ein sehr feines Sittengemälde einer leidenden Nachkriegsfamilie zeichnest Du hier, aus einer selektiven Perspektive.
Für mich ist die Handlung dem einer Kurzgeschichte angemessen und auch abgeschlossen.
Gerne gelesen.
_________________ Italian Leather Sofa |
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Christof Lais Sperl
Klammeraffe
 Alter: 62 Beiträge: 878 Wohnort: Hangover
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 22.03.2022 16:57 Danke von Christof Lais Sperl
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Herzlichen Dank für eure Rückmeldungen!
Als Sechziger kann man da wohl die Zeitgenossen gut ansprechen.
_________________ Lais |
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