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Eine ganze Weile


 
 
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Pencake
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Beitrag02.11.2010 14:18
Eine ganze Weile
von Pencake
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Nach der großen Kreuzung, etwa in Höhe der Notrufsäule kurz vor der Brücke passiert es. Der linke Vorderreifen des Volvo holpert kurz. Allerdings nicht stark genug, dass es ein Stein oder Ast sein könnte. Ich blicke in den Rückspiegel, nichts zu sehen. Jetzt bin ich auf der Brücke. Vielleicht ist da noch ein anderer Gedanke. Entschlossen konzentriere ich mich auf den Straßenverkehr.      

Vor unserem Haus steige ich aus. Hübsch liegt das kleine Gebäude am Ende der schmalen Auffahrt, die Dachziegel leuchten anthrazit und wie gelackt. Der Schlangenhaut-Ahorn hinten am Schuppen entfacht in der Abendsonne ein gelb-oranges Feuer, Sanes Dreirad liegt umgekippt vor dem abgedeckten Regenfass. Es riecht nach Schornsteinrauch und Gras.

Etwas an der Veranda erinnert mich an eine Stelle aus einem King-Roman. Dort ging gerade die Sonne unter und ein Mann saß im Schaukelstuhl, neben sich eine Zinkwanne gefüllt mit Eiswürfeln und Bierflaschen. Gegenüber ein Maisfeld, mir will nicht mehr einfallen, was es damit auf sich hatte. Ich nehme mir vor, demnächst im Baumarkt nach einer Zinkwanne zu sehen.  

Ich ziehe das quietschende Fliegengitter auf, öffne die Tür und werde kalt erwischt. Es gibt so Momente, da brauchst du innen eine ganze Weile, bis du dein Herz wieder eingeholt hast.
Alle stehen sie da, singend, schnatternd und Prosecco-Gläser schwenkend: meine Frau Tami, meine Schwägerin Tessa, ihr Mann Tobias, mein Freund Sel und seine Freundin Betty.

"Herzlichen Glückwunsch", höre ich immer wieder, dabei drückt mich einer nach dem anderen an sich und flüstert mir Nettes ins Ohr. Kleine Päckchen werden mir in die Hände geschoben, konspirativ,  wie bei einer Drogenübergabe. Tobias zieht den Couchtisch näher, damit ich die Sachen ablegen kann. Sel kann seine Hand gar nicht mehr von meiner Schulter nehmen und drückt mir mit der anderen einen Whisky in die Hand. Ich trinke. Und achte darauf, dass ich Tami nicht zu sehr ins Gesicht atme, als wir uns umarmen.

Was ist der Grund für all das?  

"Daddy, Daddy!" Sane springt die Treppe herunter und schwenkt ein bemaltes Blatt. Sie läuft in meine Arme, ich kann ihr Haar riechen, als sie sich an mich drückt.
"Das hab ich nur für dich gemalt", stolz strahlend streckt sie mir das zerknickte Papier hin. Ich nehme es, bemerke erst jetzt, dass einer ihrer Nägel anthrazit lackiert ist, falte es auf und streiche es glatt.   

Schön, mein Geburtstag also.  

Ich blicke auf Sanes Bild, resolut schiebt sie sich eine Strähne aus der Stirn und deutet mit ihrem Finger auf die Striche und Linien der Filzstifte.
"Das hier ist Onkel Paul und das", ihr Finger berührt jetzt das Papier, "ist ein Vogel, der zu ihm unterwegs ist."  

Ich halte sie einen Moment lang fest. Nein, ich habe heute keinen Geburtstag.

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Tiefgang
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Und ständig fließt Musik aus meiner Stromgitarre
Beitrag02.11.2010 14:33

von Tiefgang
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Ich finde die Geschichte schön, mag den Schluss, lediglich der erste Absatz hat es nicht bis zu mir geschafft. Ich bleibe fragend zurück, was denn nun unter dem Vorderreifen war oder was der Autor damit andeuten wollte. Einzig, so denke ich gerade, könnte ich mir vorstellen, dass dies darauf hindeuten könnte, dass der Prota unkonzentriert war, aus seiner Trance gerissen wurde - er hatte an den Verstorbenen (so deute ich das Ende: ein Todestag) denken müssen. Na - und jetzt lese ich gerade nochmal, dass dem Prota herzlich Glück gewünscht wird, was zu meiner soeben geäußerten Todestag-Theorie wiederum nicht passt.

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lady-in-black
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Beitrag02.11.2010 14:40

von lady-in-black
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Ich finde die Geschichte zwar auch wirklich gut geschrieben, tue mich aber ebenfalls mit der Deutung schwer.
Geht es hier vielleicht um Zwillingsbrüder, von denen einer bereits gestorben ist?


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Susanne2
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Beitrag02.11.2010 15:24

von Susanne2
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Ein tiefgründiger Text.

Die Deutung ist nicht einfach, ich kann auch nur raten.

Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Onkel Paul ihm in irgendeiner Art und Weise das Leben gerettet hat.
Ihm ein zweites Leben geschenkt hat - also auch einen neuen "Geburtstag" - und dabei selbst gestorben ist.

Sehr mysteriös. Ich mag es.


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Maria
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Beitrag02.11.2010 15:45

von Maria
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Hey Niko,

habe mir meinen eigenen Reim darauf gemacht. Den behalt ich, ist ja meiner.
Mich fängt die die sonderbar schwülwarme Smog-Stimmung ein: den Mann über die Zinkwanne sinnieren zu sehen, wie das Fliegengitter quiescht, er seine Päckchen erhält mit dieser vielen Erwachsenen ureigenen "ist-nur-ne-Kleinigkeit nicht der Rede wert" Anmutung usw. All das zusammen, komprimiert und unaufgeregt.

Allzu kryptisch darfs mir immer nicht werden, sonst verlier ich die Lust am Lesen.
Hierauf hätte ich schon noch ein bissl Lust, auch wenn mir vielleicht ein paar Verbindungen fehlen (Schlüssel ist doch sicherlich der Holperer an der Notrufsäule zu Beginn? Ach egal). Es sind die Bilder, herrgott, die Bilder wink

Feine Sache


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Gast3
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Beitrag02.11.2010 15:48

von Gast3
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Hallo Pencake,

für mich strahlt der Text sehr viel Gefühl und Wärme aus. Der Gedanke mit dem Baumarkt und der Zinkwanne gefällt mir z. B. sehr gut.
Der erste Absatz ist ja wohl der Schlüssel zu der ganzen Geschichte, aber ich sehe auch noch nicht, welche Tür er genau öffnen soll.
Ist Paul der Bruder des Ichs, oder ein guter (bester), verstorbener Freund des Ichs, den Sane Onkel genannt hat?
Ich bin gespannt, wofür die Glückwünsche ausgesprochen worden sind.

Für mich der schönste Satz:
Es gibt so Momente, da brauchst du innen eine ganze Weile, bis du dein Herz wieder eingeholt hast.


edit:
Ich komme noch nicht so ganz von der Geschichte weg.
Der Titel hat ja sicher auch seine Bedeutung und wenn ich die überschwängliche Freude der Anwesenden richtig deute, könnte es sein, dass das Ich eine ganze Weile weg von zu Hause war? Vielleicht im Krankenhaus, Reha? Doch ein gemeinsamer Unfall, bei dem Paul gestorben ist und das Ich überlebt hat?

Lieben Gruß
schneestern


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The Brain
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Beitrag02.11.2010 16:13

von The Brain
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Hallo pencake,

und wieder schlägt der kryptische Lyriker durch ...

Sehr feines Stück Schreiberei. Mysteriös, aber doch genug Andeutungen, dass die Gedankenzellen angeschubst werden. Subtile Hinweise -  "Vielleicht ist da noch ein anderer Gedanke.", Stephen King, der lackierte Fingernagel und mit dem letzten Satz schließt sich der Kreis. Letztendlich lechzt man danach zu erfahren, ob die eigene Interpretation deiner Absicht begegnet.

Gefällt mir ausgesprochen gut, was da so aus dir sprudelt!

Und Schneestern kann ich nur zustimmen! Ein absoluter Ausnahmesatz, der sich irgendwie tief festsetzt, so schlicht und so schön.

Liebe  Grüße

Brain


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Pencake
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Beitrag02.11.2010 16:21

von Pencake
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Moin zusammen,

danke euch für die Antworten.

Wieder mal die alte Geschichte, wieviel erzähl ich und was was lass ich, um den Text spannend zu halten. Für mich ist das beim Erzählen weiter ein wichtiger Knackpunkt.
Deshalb will ich gerne den hintergrund erläutern und bin für jeden Hinweis dankbar, ob das denn nun so reicht oder welche Dinge dazu müssen, um die Story gelungener zu machen.

Hier, worum es geht:
Der Tod des Bruders ist schon eine Weile her. Er versucht damit klarzukommen, muss immer wieder verdrängen (so auch auf der Brücke im Auto). Die Frau/Freunde wollen den Hinterbliebenen weiter aufrichten, ihm was Gutes tun. Sie organisieren eine Überraschungsparty (wie gesagt, es ist schon eine Weile her, deshalb denken alle, das könnte passen).
Er kommt an seinem Geburtstag nach Hause. Wollte entweder nicht an seinen Geb denken oder hat ihn sogar tatsächlich vergessen, weil seine Gefühlswelt weiter in großer Unordnung ist. und will das dann nach dem Nachhausekommen immer noch nicht, geschweige denn feiern. das gefühl kommt in ihm auf den Punkt, als er das Bild seiner Tochter sieht.

Soweit zur äußeren Handlung. Darin wollte ich über die Dauer von Trauer sprechen. Über den Zustand, durch den Verlust im Leben abzutreiben und durch Verdrängen klarkommen zu wollen. Über den Versuch von nahen Menschen, etwas für den Betroffenen zu tun. Und die (zeitweilige) Unmöglichkeit dieser Hilfe von außen.
Der von Schneestern zitierte Satz, dessen Teil sich auch im Titel findet, ist der zentrale Satz des Stücks.

Ja, so siehts aus. Ich möchte von all dem gern soviel wie für ein Grundverständnis nötig erzählen, dabei jedoch wenig genug, dass es spannend bleibt, sich den Text selbst zu erschließen.
Wie gesagt, lasst mich mir gern wissen, was euer Meinung nach besser sein sollte.

HG, Niko
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Maria
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Beitrag02.11.2010 16:34

von Maria
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ok, ich war dicht dran, würde mir genügen, denn es ist ja wohl keine Kurzgeschichte, der Rest würde sich vielleicht weisen?



Was ich zwar schön erzählt finde, sagte ich ja bereits, aber was dieser Party und dem Nachhausekommen (und dem Grundton des Ganzen) für mich einen deutlicheren Dreh geben könnte, ohne dass Du zuviel verrätst:

das Wort "Bemühen". Sie bemühten sich enorm um ihn.
Die Andeutungen der konspirativen Geschenkeübergabe habe ich Schrotti natürlich völlig anders gesehen, obwohl mir durchaus klar war, dass Du in einem solchen Text nicht rumalberst. Das Bild bleibt mir trotzdem kleben.

soviel von mir, nur ein Penny


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The Brain
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Beitrag02.11.2010 16:36

von The Brain
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Hallo pencake,

ich weiß jetzt nicht, ob ich richtig liege, aber die "Irritation", die du beabsichtigst manifestiert sich im Wesentlichen an drei Sätzen?

Zitat:
Was ist der Grund für all das?
Zitat:
Schön, mein Geburtstag also.
Zitat:
Nein, ich habe heute keinen Geburtstag.


Ich kann den Text nun nicht mehr unbefangen lesen, um meine Vermutung zu bestätigen.
Hier im Forum finde ich die Fragezeichen, die du setzt akzeptabel. Würde ich es in einem Buch lesen, würde mich die Geschichte wahrscheinlich unzufrieden zurücklassen, da die Unsicherheit bleibt, ob ich ihn denn wirklich verstanden habe ...

Liebe Grüße

Brain


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Pencake
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Beitrag02.11.2010 16:39

von Pencake
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Hi Maria,

danke für deine Anmerkungen. Freut mich, echt.

Doch, soll eigentlich bislang lediglich eine Kurzgeschichte sein   Embarassed

Gibts noch so viel, was sich deiner Meinung im Text zeigen/weisen muss? Das finde ich wirklich spannend, weil wenn das dein Gefühl ist, kann der Text so für dich ja gar nicht funktionieren.

HG, Niko
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Pencake
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Beitrag02.11.2010 16:47

von Pencake
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Hi Brain,

danke.

Jau, diese drei Sätze und seine Schilderung des Vorgangs und seine fehlende Reaktion auf Glückwünsche - damit will ich diese Irritation darstellen.

Unbefriedigt zurückbleiben klingt nicht so gut. Meine Mutter sagte immer nach Filmen, deren Ausgang sie nicht mochte: das war aber ein unbefriedigendes Ende!
"Nachdenklich und nicht ganz sicher" - warum nicht, dann hat der Text vielleicht trotzdem funktioniert. "Unbefriedigt" - dann wäre das Ziel verfehlt - dann muss ich den Text dringend überarbeiten.

ich sehe gerade, du hast ja "unzufrieden" geschrieben. Ich setze das mal mit "unbefriedigt" gleich, wenn das ok ist.
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The Brain
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Beitrag02.11.2010 16:49

von The Brain
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Hallo pencake,

vielleicht geht es ja nur mir so - aber wenn, würde ich nur die Bestimmtheit aus dem letzten Satz nehmen - ich denke, es würde genügen.


Liebe Grüße

Brain


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Beitrag02.11.2010 16:56

von Pencake
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"Nein, ich glaube, ich habe heute keinen Geburtstag"
wäre eine mögliche Variante.
Würde mir einleuchten.
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Maria
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Beitrag02.11.2010 17:04

von Maria
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Zitat:
Nach der großen Kreuzung, etwa in Höhe der Notrufsäule kur vor der Brücke passiert es. Der linke Vorderreifen des Volvo holpert kurz. Allerdings nicht stark genug, dass es ein Stein oder Ast sein könnte. Ich blicke in den Rückspiegel, nichts zu sehen. Jetzt bin ich auf der Brücke. Vielleicht ist da noch ein anderer Gedanke. Entschlossen konzentriere ich mich auf den Straßenverkehr.

Vor unserem Haus steige ich aus. Hübsch liegt das kleine Gebäude am Ende der schmalen Auffahrt, die Dachziegel leuchten anthrazit und wie gelackt. Der Schlangenhaut-Ahorn hinten am Schuppen entfacht in der Abendsonne ein gelb-oranges Feuer, Sanes Dreirad liegt umgekippt vor dem abgedeckten Regenfass. Es riecht nach Schornsteinrauch und Gras.

Etwas an der Veranda erinnert mich an eine Stelle aus einem King-Roman. Dort ging gerade die Sonne unter und ein Mann saß im Schaukelstuhl, neben sich eine Zinkwanne gefüllt mit Eiswürfeln und Bierflaschen. Gegenüber ein Maisfeld, mir will nicht mehr einfallen, was es damit auf sich hatte. Ich nehme mir vor, demnächst im Baumarkt nach einer Zinkwanne zu sehen.

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"Herzlichen Glückwunsch", höre ich immer wieder, dabei drückt mich einer nach dem anderen an sich und flüstert mir Nettes ins Ohr. Kleine Päckchen werden mir in die Hände geschoben, konspirativ, wie bei einer Drogenübergabe. Tobias zieht den Couchtisch näher, damit ich die Sachen ablegen kann. Sel kann seine Hand gar nicht mehr von meiner Schulter nehmen und drückt mir mit der anderen einen Whisky in die Hand. Ich trinke. Und achte darauf, dass ich Tami nicht zu sehr ins Gesicht atme, als wir uns umarmen.

Was ist der Grund für all das?

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Schön, mein Geburtstag also.

Ich blicke auf Sanes Bild, resolut schiebt sie sich eine Strähne aus der Stirn und deutet mit ihrem Finger auf die Striche und Linien der Filzstifte.
"Das hier ist Onkel Paul und das", ihr Finger berührt jetzt das Papier, "ist ein Vogel, der zu ihm unterwegs ist."

Ich halte sie einen Moment lang fest. Nein, ich habe heute keinen Geburtstag.



Ob sie für mich funktioniert, gute Frage. Ehrlich ich ging davon aus, das noch was folgt wink

Ich sagte ja, ich mach mir meinen eigenen Reim, und der ging so:


Sein Bruder verunglückt tödlich, eine Notrufsäule spielte für deine Hauptfigur eine Rolle (Autounfall). Ich denke, er ist selbst gefahren, angetrunken („und achte darauf, dass ich Tami nicht zu sehr ins Gesicht atme“). Alkohol spielte eine Rolle, der Gedanke drängte sich mir auf. An seinem Geburtstag „muss“ er wohl nach Hause, Familie, Freunde, der Unfall hatte ihn fortgetrieben. (Wobei die Kur/Klinik/Reha wirklich schlüssiger wäre. Jetzt im Nachhinein, das macht mein Gefühl zum Text weniger ... zynisch?)

Die Trauer: ein Unfall war es, denn so aus der Bahn geworfen zu werden ist doch meist damit verbunden, dass man etwas nicht genug abschließen konnte. Letzte Dinge sagen können, tun können, erwähnen. An ein zeitlebens schlechtes Verhältnis, das einer solch starken heftigen Trauer vorausgehen kann, dachte ich nun garnicht, dazu ist er mir zu jung.

Die Ohnmacht bzw. der Aktionismus der Helfenden kam mir aber zu kurz, die Party hatte für mich tatsächlich keinen Einfluß auf meine (sag ich ganz deutlich) Interpretation. Abgesehen von dem Glas Whisky, das für mich noch das Thema Alkohol hinzufügte. Als Detail.  Vielleicht hatte ich aber ein anderes Augenmerk, hielt mich zulange am Fliegengitter auf (symbolisch jetzt) um deine Andeutungen zu sehen.

Muss sie funktionieren? Ich hatte auch so meine Freude daran, ich Märchentante.


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Beitrag02.11.2010 17:08

von Gast3
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Hallo Pencake,

stimmt, eine Änderung des letzten Satzes würde reichen.
Wobei mir jetzt "Nein, ich glaube, ich habe heute keinen Geburtstag" auch auch nicht so wirklich gefallen will.

Wie wäre es mit so etwas?
Nein, ich habe heute keinen Geburtstag. Vielleicht nächstes (oder: im nächsten) Jahr (wieder).
Nur eine Idee.

Lieben Gruß
schneestern


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Pencake
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Beitrag02.11.2010 17:36

von Pencake
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Schneestern, danke für deinen Vorschlag.
klingt mir etwas sehr relativierend.
Da würde mir die Wucht des Gefühls fehlen.

Aber egal, ist notiert.
Ich probiere demnächst ein paar Alternativen aus.
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Gast3
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Beitrag02.11.2010 19:03

von Gast3
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Ja, das habe ich mir fast gedacht, aber einen Versuch war es wert  smile

LG
schneestern


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Paterson
Beitrag02.11.2010 22:58

von pna
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Mir stellte sich beim Lesen dieses kurzen Textes ein Gefühl von freundlicher Belanglosigkeit ein. Jemand erzählt von sich nebensächliches, kommt nach Hause, erzählt von Gratulationen, obwohl er, wie er sagt, an diesem Tag nicht Geburtstag hat.
Und dann war die Geschichte schon wieder aus.

Ich verstehe die Beweggründe, Inhalte zu verschlüsseln, Hinweise auszustreuen und damit ein Rätselraten zu entfachen.
Das Problem für mich dabei ist, dass es im Text für mich keinen Initialzünder gibt, mich für die verschlüsselten Inhalte zu interessieren. Es gibt keinen "Hook", der mich darauf aufmerksam macht, dass es hinter dem vordergründigen Text, dem oberflächlich betrachteten Leben eine tiefere Ebene gibt, die der Geschichte Sinn und Bedeutung beimisst.

Und da für mich und meiner Meinung nach der Initialzünder fehlt, der mich Blut lecken lässt, bleibt der Text für mich eine nette Fingerübung, eine Beliebigkeit, die mich nicht verärgert, allerdings auch nicht im geringsten berührt.

Liebe Grüße,
Peter


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Pencake
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Beitrag03.11.2010 08:51

von Pencake
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Moin pna,

Dank für deinen Eindruck.
Schade, dass bei dir da nichts einhakt.

HG, Niko
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MrPink
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Der Bronzene Wegweiser


Beitrag03.11.2010 14:28

von MrPink
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Hi Pencake,

Zitat:
Ich halte sie einen Moment lang fest. Nein, ich habe heute keinen Geburtstag.


Hier fehlt mir ein bestimmtes Gefühl. Du hast vorher die Kleine eindrucksvoll beschrieben, die Kleinigkeiten (Haarsträhne, ihr Duft..). Ich sach mal: ein Papa hält sie nicht einfach einen Moment lang fest...da ist noch mehr, zumal sich das Festhalten ja nicht nur auf den rein physischen Akt bezieht, so les ich es.

Scheiße, meine Pause ist zu Ende. Ich komm noch mal drauf zurück. Rein vom Erzählen her gefällt mir die Kurzgeschichte richtig gut und als solche funktioniert sie für mich auch.

schönen Tach noch
andi


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Pencake
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Beitrag03.11.2010 14:42

von Pencake
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Ey Andi,

super, dich hier zu lesen.

Ich versteh das.

Auch wenn das Teil des Hintergrunds ist (ich muss aufpassen, sonst sagt man bald, "was der so alles im Nachhinein in seinen Text reinorgelt...")

Naja, jedenfalls befindet sich der Mann seit dem Todesfall im Ausnahmezustand. Das führt dazu, dass er verdrängt, trinkt und das Familienleben vernachlässigt. Manche Dinge aus dem Alltag der Tochter fallen ihm gar nicht oder zu spät auf, exemplarisch der lackierte Fingernagel. Und auch das Gefühl seiner Tochter gegenüber bleibt ein Stück auf der Strecke, wie schon gesagt, der Mann fühlt sich in gewissem Sinne "abgetrieben", von der Welt getrennt.

Aber was nützt die ausgeklügeltste Erklärung, wenn das oder zumindest die Gefühlsschwingung im Text nicht lesbar sind oder gar nicht erst "getriggert" werden? Der Text braucht Arbeit.

Schönen Dank, Andi.

HG, Niko
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