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Guy Incognito Wortedrechsler
Alter: 70 Beiträge: 76
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18.06.2009 22:29 Anna, 10 Jahre, fliegt von Guy Incognito
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Am liebsten spielte Anna im Wald. Sie kletterte auf Bäume und ließ sich vom Wind wiegen. Sie berührte seltsam geformte Steine, und stellte sich vor, es seien verzauberte Menschen. Sie legte sich mitten auf eine Lichtung in das Gras, das hier feiner und grüner wuchs, als auf einer Wiese. „Waldgras –“, dachte sie. „Was für ein schönes Wort.“ Und wenn zwischen dem Waldgras Buschwindröschen leuchteten wie kleine weiße Sterne, hoffte Anna: „Wenn es doch wahr wäre, wenn es doch Feen gäbe. Wenn... dann müssten sie an einem solchen Ort auftauchen. Oh, ich wüsste, was ich mir wünschen würde.“ Nur hatte sie bisher vergeblich gewartet.
Sie hatte schon oft geträumt, dass sie fliegen konnte. So oft, dass sie nicht verstand, warum es nicht klappte, wenn sie am nächsten Tag erwachte. Im Traum war alles so klar gewesen, so einfach. Zufällig hatte sie entdeckt, dass es nicht half die Vögel nachzuahmen. Arme waren keine Flügel. In ihren Träumen musste sie einen Hüpfer machen, die Unterschenkel anlegen und mit ihnen rudern – fast wie im Sportunterricht, wenn sie beim Laufen mit den Fersen an den Po tippen sollten. Nur berührten ihre Füße anders als beim Sport nicht den Boden. Sie flog!
Aber nach dem Aufwachen wollte es nicht klappen. Sie hatte sich schon mit den Armen zwischen zwei Kommoden aufgestützt und versucht mit den Beinen Schwung zu holen. Aber sie hob nicht ab. Stattdessen wurden ihre Arme lahm. Der einzige Weg in die Lüfte führte über Träume – tags oder nachts.
Sie wollte nicht nur fliegen, damit sie morgens in die Schule käme, ohne den schrecklichen Bus zu nehmen – obwohl das schön wäre. Der Ranzen würde ihr nicht so schwer, niemand würde sie vom Platz hinter ihr dauernd am Zopf ziehen und sie müsste nicht bei jedem Geschrei und Gejohle denken, dass die anderen über sie herzogen.
Fliegen hieß doch nicht nur, dass sie schnell irgendwohin käme. Anna hatte das Gefühl, wenn sie die Welt unter sich lassen könnte, wäre sie frei. Nichts würde sie aufhalten. Sie würde den zweiten und dritten Wunsch der Fee gar nicht mehr brauchen. Sie wäre etwas Besonderes. Und wenn ihre Mama mal wieder stöhnte: „Anna, musst du dauernd kopfüber auf dem Sofa rumliegen, Löckchen drehen und lesen! Außerdem geht die Lehne kaputt, wenn du dauernd drüber hängst. Kannst nicht irgendetwas tun.“ – dann würde sie einfach davon fliegen. Sie würde die Welt unter sich lassen. Ihre Eltern würden nicht sorgenvoll die Stirn runzeln, weil sie alleine durch den Wald streifte, sich Geschichten ausdachte und träumte. Sie würden nicht kummervoll schweigen, während ihre Augen sagten: „Warum spielt unsere Tochter fast immer alleine? Warum ist sie nicht im Sportverein, ganz unten in einem Knäuel Mädchen, die sich nach dem entscheidenden Tor auf sie gestürzt haben? Warum träumt sie sich den ganzen Tag in eine Welt mit Feen, Elfen, Waldgeistern, Einhörnern und Zwergen?“ Ein Mädchen, das fliegen könnte, wäre nicht sonderbar, sondern wunderbar.
„Anna Anders“ so hatten die anderen Kinder sie oft gerufen. Jetzt trauten sie sich nicht mehr sie so zu nennen. Sie war nicht wunderbar anders, sondern furchtbar anders. Niemand sagte mehr, sie solle mal was tun. Ihre Eltern brachten ihr ganze Stapel von Büchern und waren froh, dass sie in ihre Welt entfloh. Nur in den Wald durfte sie schon lange nicht mehr. Sie sollte ruhen und sich erholen. Als ob man sich erholen könnte, wenn man sich immer wieder übergeben musste, bis der Bauch schmerzte, wenn der Mund so entzündet war, als hätte man eine Kastanie samt Schale zum Frühstück gehabt, wenn man sich vor jedem Blick in den Spiegel fürchtete. Bösartige Wesen, die sie von innen her auffraßen, hatten ihre guten Waldgeister vertrieben. Und an diesen langweiligen Ort würde sicher keine Fee kommen, um sie fliegen zu lehren.
Anna schloss die Augen. Nicht mal die Träume waren ihr geblieben. Sie fühlte sich nur müde und schwer wie ein Stein. Sie fiel, statt aufzusteigen. Aber plötzlich schien sie jemand aufzufangen. Das war keine Fee wie aus dem Märchenbuch mit rosa Kleid und Zauberstab, den ein Glitzerstern zierte. Sie konnte sie nicht sehen. Sie wusste nur, dass sie da war. Sie spürte plötzlich den Hauch ihres geliebten Waldes, viel stärker als der süßliche Geruch von Desinfektionsmitteln. „Ich wünsche mir zu fliegen“, rief sie. Und plötzlich merkte sie, dass es doch nicht mit Strampeln ging. Sie musste nur die Arme ausbreiten. Ihre Brust weitete sich und sie flog. Nichts konnte sie aufhalten. Anna, 10 Jahre, würde fliegen. Aber niemand würde sie dafür bewundern. Denn sie wurde so leicht, dass sie niemals mehr zurückkehren konnte.
Weitere Werke von Guy Incognito:
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halcyonzocalo Einsamer Trancer
Alter: 34 Beiträge: 1202 Wohnort: Irgendwo im Nirgendwo
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19.06.2009 15:49
von halcyonzocalo
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Dies ist eine objektive Nachricht, die die anderen User nicht bei der Bewertung beeinflussen soll. Sie dient lediglich dem Zweck, mich der Fähigkeit der Federvergabe zu ermächtigen.
_________________ Die minimaldeterministische Metaphernstruktur mit ihrer mytophoben Phrasierung spiegelt den ideeimmanent abwesenden Bedeutungsraum. |
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femme-fatale233 Füßchen
Alter: 31 Beiträge: 1913 Wohnort: München
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19.06.2009 17:01
von femme-fatale233
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Wahnsinn. Anfangs habe ich gedacht das ist nur die Beschreibung einer Märchenfantasie, aber die letzten beiden Absätze sind richtig emotional und tief bewegend. Dieser Gegensatz zwischen der Traumwelt und der harten Realität gefällt mir sehr gut.
Außerdem mag ich den Stil des Textes, weil er das Ende nur andeutet und dem Leser somit zum Denken anregt anstatt ihm platt die Fakten zu liefern.
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Nihil { }
Moderator Alter: 34 Beiträge: 6039
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19.06.2009 17:05
von Nihil
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Ich glaube, ich verhalte mich ab jetzt auch mal neutral.
(Obwohl, nur ein bisschen: Der letzte Satz ist sehr viel besser als der Rest.)
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Maria Evolutionsbremse
Alter: 52 Beiträge: 5998
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19.06.2009 17:37
von Maria
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...
_________________ Give me sweet lies, and keep your bitter truths.
Tyrion Lannister |
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Zitkalasa Reißwolf
Z
Beiträge: 1088
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SylviaB Schnupperhasi
Alter: 58 Beiträge: 6332 Wohnort: Köln
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19.06.2009 20:35
von SylviaB
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Ich grüße alle die das lesen
Nach der Federvergabe mehr zu diesem Text.
_________________ Scheint dat Sönnsche dir aufs Hirn,
hassu wohl ne offne Stirn. |
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Gast
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19.06.2009 20:39
von Gast
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eine schöne und anrührende Geschichte, die rund formuliert wurde. Aber irgendwie nicht am Thema.
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wallenstein Eselsohr
W Alter: 61 Beiträge: 331 Wohnort: Duisburg
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Pütchen Weltenbummler
Moderatorin
Beiträge: 10312 NaNoWriMo: 40788 Wohnort: Im Ländle
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19.06.2009 22:49
von Pütchen
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Ich halte mich mal neutral, um niemanden zu beeinflussen mit meiner Meinung
Die Begründung folgt
_________________ ****************************************************************
"Die Menschen bauen zu viele Mauern und zu wenig Brücken."
(Isaac Newton, 1642-1726)
**************************************************************** |
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Valeska Waldohreule
Alter: 33 Beiträge: 1580 Wohnort: Wolke 7
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20.06.2009 16:00
von Valeska
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Lieben Gruß von Vale
_________________ so bin ich |
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Leia Gänsefüßchen
Alter: 43 Beiträge: 35 Wohnort: München
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20.06.2009 19:22
von Leia
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Lieber Gruß von Leia - und Kompliment, richtig gut für nur zwei Stunden!
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mondblume Reißwolf
Alter: 45 Beiträge: 1138 Wohnort: Costa Brava
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20.06.2009 20:41
von mondblume
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gruss!
_________________ Die Frau des Spatzen
Die Spanien-Saga:
Wir sind für die Ewigkeit - Hoffnung
Wir sind für die Ewigkeit - Erinnerung
Wir sind für die Ewigkeit - Berührung
Dort, wo die Feuer brennen (Tolino Media Newcomerpreis 2022) |
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versgerber Eselsohr
V Alter: 32 Beiträge: 425 Wohnort: Berlin
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i-Punkt Klammeraffe
Alter: 46 Beiträge: 512 Wohnort: Baden-Württemberg
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21.06.2009 16:07
von i-Punkt
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Angeklagter ist geständig.
Nachdem ich Marias Text nicht erkannt habe und sie meinen auch nicht, müssen wir wohl noch an unserem individuellen Stil feilen
Femme_fatale ist schon kurz vor einer persönlichen Widmung in meinem ersten veröffentlichten Buch (wenn es denn ja dazu kommt), da sie mir jetzt schon das zweite überschwengliche Lob geschenkt hat.
Sehr gefreut hat mich auch die Bemerkung
Zitat: | ich merke schon, dass sich jemand gut in der Kinderwelt auskennt |
Das macht Mut, da ich viel für Kinder und Jugendliche schreibe.
@zit: Soll ich dir mal was witziges sagen: Ich wurschtele bei einem Roman, an dem ich gerade arbeite, bei der zentralen Szene an einem längeren Rückblick. Denn ich komme nicht sinnvoll aus dem bescheuerten Plusquamperfekt-hatte, hatte, hatte raus... Bevor mir der Leser da auch aussteigt, grüble ich also doch lieber noch eine Weile weiter an einer Lösung, statt zu sagen: wird schon gehen, Plusquamperfekt ist auch nur eine Zeit - obwohl ich kurz davor war.
Langatmigkeit ist mein großer Feind, weil ich immer denke, alle sind doof und verstehen mich. Aber hey, ihr seid's ja gar nicht. Der nächste Wettbewerb kann auf eine Stunde gekürzt werden. Mal sehen, ob ich meine Schwafeligkeit nicht los werden kann
Danke für die Federn, die schmücken mich sehr - auch wenn sie von euch sind.
I.
_________________ Schreiben ist einfach, man setzt sich nur hin, starrt auf ein weißes Blatt Papier, bis sich Blutstropfen auf der Stirn bilden. |
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Valeska Waldohreule
Alter: 33 Beiträge: 1580 Wohnort: Wolke 7
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21.06.2009 17:30
von Valeska
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Hey I.!
Dieser Text gehörte zu meinen beiden Favoriten. Viel Kritik habe ich eigentlich nicht, hab mir während des Lesens nur zwei Sachen notiert:
"Vielleicht könnte man einen Weg finden, um den ständigen Konjunktiv/ das PQP zu umgehen."
und
"Ich kann mitfühlen."
Insgesamt gab's gute 8 Federn von mir (9 hab ich gar nicht gegeben, war aber hier nahe dran)!
Lieben Gruß
Vale
_________________ so bin ich |
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Maria Evolutionsbremse
Alter: 52 Beiträge: 5998
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21.06.2009 18:32
von Maria
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i.,
tjaaaa, knapp daneben, wa
Ganz knapp... ich hatte hierbei
Zitat: | Sie würde den zweiten und dritten Wunsch der Fee gar nicht mehr brauchen. Sie wäre etwas Besonderes. Und wenn ihre Mama mal wieder stöhnte: „Anna, musst du dauernd kopfüber auf dem Sofa rumliegen, Löckchen drehen und lesen! Außerdem geht die Lehne kaputt, wenn du dauernd drüber hängst. Kannst nicht irgendetwas tun.“ – dann würde sie einfach davon fliegen. Sie würde die Welt unter sich lassen. |
an Dich gedacht und habs wieder verworfen...
Zwischen den Zeilen lesen und nicht immer mit dem Kopf durch die Wand und alles auf dem Silbertablett präsentieren. Das nehm ich mir von Dir (und der Fischin) mit, für mich. Dein Text ist toll - nicht nur wegen der Umstände... (also nicht: "sie sieht gut aus - für ihr Alter")
_________________ Give me sweet lies, and keep your bitter truths.
Tyrion Lannister |
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i-Punkt Klammeraffe
Alter: 46 Beiträge: 512 Wohnort: Baden-Württemberg
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21.06.2009 18:41
von i-Punkt
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Habe ich dir je verraten, wie ich als Kind auf dem Sofa hing zum Lesen oder ahnt man es, dass nur so eine verdrehte Person so verdreht lesen kann.
Aber wenn du noch einmal mit einer Dialog-Frage zu mir kommst . Das ist ja genauso, als würde Tiger Woods beim nächsten Kaffeekränzchen bei mir anfragen, ob ich ihm helfen kann, seine Abschläge zu verbessern.
Danke Valeska: noch eine Bestätigung an welcher Ecke ich grundsätzlich meine Hausaufgaben machen muss.
I.
_________________ Schreiben ist einfach, man setzt sich nur hin, starrt auf ein weißes Blatt Papier, bis sich Blutstropfen auf der Stirn bilden. |
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bloody_mary Klammeraffe
Beiträge: 998
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21.06.2009 20:16
von bloody_mary
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Hallo i-Punkt!
Toll. Sehr, sehr schöner Text. Ein Märchen, ein Kinderbuchtext - und dann am Ende doch wieder nicht. Anrührend, mitziehend, und ich fand es gar nicht langatmig, es fließt dahin. Ich glaube, ich hätte noch ewig weiterlesen können. Ich ziehe meinen Hut. (Hätte ich mitbewertet, wären es 8-9 Federn geworden.)
Liebe Grüße, Bloody Mary
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Mercedes de Bonaventura Metonymia
Alter: 40 Beiträge: 1254 Wohnort: Graz
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22.06.2009 12:08
von Mercedes de Bonaventura
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Berührend.
Wirklich Gut.
Erstaunlich, dass so viele über den Tod geschrieben haben...
7 Federn
Mercedes
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Pütchen Weltenbummler
Moderatorin
Beiträge: 10312 NaNoWriMo: 40788 Wohnort: Im Ländle
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22.06.2009 15:32
von Pütchen
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Liebe I.,
für mich war dein Text auch unter denen, die mir wirklich gut gefallen haben
Toll gemacht
Liebe Grüße, Pütchen
_________________ ****************************************************************
"Die Menschen bauen zu viele Mauern und zu wenig Brücken."
(Isaac Newton, 1642-1726)
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