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[KGe] Blindflug

 
 
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Goldfischli
Schneckenpost
G


Beiträge: 8



G
Beitrag28.03.2007 18:54
[KGe] Blindflug
von Goldfischli
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„Wie steige ich am besten ein?“
Stirnrunzelnd steht Marah Lindbergh vor der kleinen Maschine auf dem Vorfeld des Augsburger Flughafens. Ihre Hände gleiten über die seitliche Naht eines schmalen Rocks. Der gibt glänzende lange Beine frei in hohen eleganten Schuhen. Ein blonder Mann mit dunkler Brille besteigt den rechten Flügel, schliesst die Kabine auf und setzt sich hinter das Steuerhorn.
„Treten Sie bitte nur auf die markierten Stellen, sonst beschädigen Sie die Tragflächen“, sagt Franz. Dann beschäftigt er sich mit Fliegerutensilien. Auf dem Schoss breitet er eine Karte aus.
„Phu, geschafft“ lacht sie „so sportlich habe ich mir das nicht vorgestellt.“
„Sport-Fliegerei“ sagt er zur Karte.  
Das Funkgerät knackt, eine Stimme aus dem Äther spricht Unverständliches. Dann herrscht längere Zeit Ruhe.
„Eng wie eine Sardinenbüchse“ sagt sie schliesslich in das Schweigen.  
Die Luft in dem kleinen Cockpit der einmotorigen Piper Archer wird schnell stickig.
Er reicht ihr eine Papiertüte.
„Für Notfälle.“
„Mir wird bestimmt nicht schlecht“ gibt sie deutlich zu verstehen.
„Das haben schon manche gesagt“ brummt Franz.
Entschlossen streicht Marah eine freche Strähne nach hinten und fixiert ihre langen Haare mit dem grüngrauen Headset Marke Daved und Clark. Anschliessend neigt sie leicht ihren Kopf zur Seite und lächelt den Piloten an.
„Steht mir der Haarreif?“
„Augsburg Tower, hotel bravo papa lima romeo“ sagt er.
„Auf von den Fuggern zu den Bären“ spricht die Dame mit deutlichen Worten in das Minimikrophon vor ihrem gemalten Mund.
„Das Ding reizt zum Reinbeissen“ stellt sie nach kurzer Pause fest.
„Lieber nicht“  meint der Blonde.

Er wirft den Motor an. Der Propeller kommt in Fahrt. Langsam rollt die Maschine zur Startbahn. Gnadenlose Sonnenstrahlen rösten das Flugzeug. Die zwei Menschen im Inneren schmoren. Marahs Wangen glühen zwischen den schlecht sitzenden Kopfhörern. Auf ihrer Stirn brechen kleine Schweissperlen aus dem Make-up.  
Der Pilot murmelt englische Worte.
„Sind das Beschwörungsformeln“ fragt sie nach.
Keine Antwort.
Dann geht es los. Er gibt Vollgas. Die Piper löst sich vom Asphalt, steigt auf, steigt und steigt und steigt hinauf ins strahlende Blau. Schnell verwandeln sich die zurückgelassenen Menschen in Ameisen, ihre Autos  werden kleine Spielzeuge. Meterhohe Häuser schrumpfen zu Streichholzschachteln. Äcker und Wälder zeigen ihr buntes Patchworkmuster. Bald wechselt die Maschine in die  Horizontale. Der Höhenmesser zeigt sechstausend und fünfhundert Fuss. Es geht gen Westen.
„So, jetzt übernimmt der Autopilot“ sagt der Blonde.
Seit dem Start atmet Marah tief. Sie löst die Finger von der Papiertüte und blickt mit grossen Augen hinunter auf die Welt zu ihren Füssen.
„Das ist schön hier. Wie ein Champagnerrausch.“  
„Bleibt das so spannend, wenn man öfter fliegt“  will sie von ihm wissen.
 Franz schiebt die Sonnenbrille hoch. Vorsichtig tasten graugrüne Augen Marah Lindbergh ab. Eine Dame mittleren Alters. Der kräftige Rahmen aus Mahagoni betont ihre zarte Blässe. Darin funkeln goldbraune Katzenaugen a la Kleopatra, begrenzt von sorgfältig gemalten Brauen. Der Mund trägt Blutrot. Ein Gesicht wie Schneewittchen im Hochglanzdruck. Nur die aufgeregte Farbe der Backen verrät pulsierendes Leben. Marahs schmale Finger falten sich um ein weisses Täschchen. Auffallend sind die Nägel mittlerer Länge; sie erscheinen als ein exaktes Zitat der Lippenfarbe.  
Mit verschränkten Armen blickt der Pilot aus dem Seitenfenster hinunter auf die Erde.
„Es wird immer spannend bleiben“ sagt er zu sich.
 „Von oben gesehen wird die Welt ein Modell ihrer selbst, klein und überschaubar. Flugzeuge faszinieren mich seitdem ich denken kann. Die technische Zuverlässigkeit ist nahezu grenzenlos.“
Seine Passagierin lacht aus vollem Hals.
„Ich dachte immer, ihr Piloten stürzt euch in Flugabenteuer um Aufregendes zu erleben“ meint sie dann.
„Aufregung ist genau das, was ein Pilot am wenigsten braucht.“
Wieder widmet er sich seiner Karte.
„Wir folgen diesem Flüsschen bis zum Bodensee.“
Sie kramt ein kleines rotes Büchlein aus ihrem Täschchen. Mit einem versonnenen Lächeln, als berge sie eine unscheinbare Kostbarkeit, streicht die Dame ein ausgerissenes Papierstück glatt.
Längere Zeit schweigen beide. Nur der Motor dröhnt gleichmässig. Mit 100 Knoten frisst die Maschine Meile um Meile. Sonst ist es ruhig dort oben. Zarte Wolken ziehen vorbei. Dann und wann wird in der Ferne ein Flugzeug sichtbar.
Aus der Vogelperspektive hat das schwäbische Meer seine unmittelbare Weite eingebüsst. Im Südosten halten mächtige schneebedeckte Bergriesen das Urwasser im Zaum. Die kleinen Pünktchen auf der Oberfläche des Binnensees sind Seegelboote, die grösseren Verkehrsschiffe. Das Flugzeug dreht bei Friedrichshafen nach Süden und nimmt Kurs über das Wasser zu den Bergen.
Im Cockpit ist es kühl geworden. Ein Rauschen mischt sich in den Motorenlärm.

„Mein Nacken wird steif, zieht es hier“ will Marah wissen.
Dann wendet sie den Kopf und ächzt leise. Ihre Finger krallen in das weisse Leder auf dem Schoss.
„Hilfe!“
Ein zehn Zentimeter breiter Spalt klafft seitlich. Die Tür ist auf. Nur ein streichholzdünnes zitterndes Riegelchen bewahrt die Frau vor dem jähen Sturz in sechstausend Fuss Tiefe. Marahs Gesicht erstarrt zur Schreckensmaske. Was bleibt ist künstliche Farbe. Das Leben weicht zurück ins Herz.
„Gott hilf“ stammelt sie und lehnt sich zurück so weit als möglich.
„Das macht nichts“ sagt der Blonde und fügt hinzu:
„Es kann schon mal vorkommen, dass die Tür aufgeht.“
Marah keift wie eine angeschossene Hündin.
„Mach sie sofort zu.“
„Ich komme da nicht hin. Sie brauchen nur an dem Griff zu ziehen“ sagt er gedehnt.
„Mach sie sofort zu,“ flüstert sie mit geschlossenen Augen, klammernd an seinem Oberschenkel. „Bitte, bitte mach sie zu!“
Ein Papierschnipsel fliegt durch die Kabine und bleibt hinterm Kreiselkompass hängen.
Der blonde Mann beugt sich über seine Passagierin, der Ellenbogen drückt in ihren Bauch, seine feinen Haare kitzeln im Gesicht. Dann liegt er endgültig auf ihr um mehrmals kräftig am Türriff zu ziehen. Doch der Spalt geht nicht zu. Marah atmet kurz und heftig. In ihrer Verzweiflung hält sie sich am Männerhemd fest. Er stöhnt entnervt und kämpft sich frei.
„Gib mir die schwarze Liste “ befiehlt er in harschem Ton.
Marah rührt sich nicht.
„So ein Theater nur wegen einer offenen Tür!“
Der Pilot zieht ein dunkles Ringbüchlein aus dem Handschuhfach und pfeffert die Klappe wieder zu.
„Verhalten in Notfällen, offene Türe während des Fluges“ liest er ungestüm.
„Da haben wirs.“
Franz öffnet das Sturmfensterchen auf seiner Seite und beugt sich nochmals nach rechts. Endlich schnappt das Sorgenkind mühelos ein und kann an zwei Stellen verriegelt werden.
„Kein Problem, Sie können die Augen wieder aufmachen, es ist vorbei“ sagt er zu dem schlaffen Etwas an seiner Seite.
Keine Antwort.
„Hm“ fragt er brummend.
 Langsam kehrt das Blut zurück in die leblose Hülle Marah Lindbergh. Sie richtet sich auf und massiert ausatmend mit gefalteten Händen über ihr Gesicht.
„Mein Gott, ich sollte das Fliegen den Vögeln überlassen.“
„Ja.“ sagt er und studiert die Karte.
Nach einiger Zeit bricht er das erschöpfte Schweigen an seiner Seite
„Wir sind ziemlich vom Kurs abgekommen.“
Die Frau starrt vor sich hin. „Wie lange dauert das noch“  ist ihre einzige Frage.
Mittlerweile hat die Piper den Bodensee hinter sich gelassen. Auf den Zürichsee folgt das kleinere Blau des Zuger Sees. Und überall die majestätische Schönheit der Alpen. Die Maschine fliegt Richtung Luzern und dreht nach rechts.
„Bald haben wirs geschafft“ sagt der Pilot.
Plötzlich stört ihn etwas am Instrumentenboard.
„Was ist das?“
Mit spitzen Fingern fasst er das geheimnisvolle Papierchen, es ist ein Zeitungsausschnitt. Wieder sitzt Schneewittchen neben ihm; Marah ist bis in die Haarpracht errötet.
Flieger sucht Flugbegleitung für gemeinsame Höhenflüge in der Schweiz. Chiffre 1920.
Ein sanftes Lächeln. Sein neugieriger Blick verschwindet schnell hinter der schützenden Brille. Das Cockpit erscheint im sanften Licht. Sie fliegen westwärts direkt auf die untergehende Abendsonne zu. Die Alpenkulisse sieht aus wie eine Postkarte.
„Wer kann sich gegen soviel Schönheit wehren“ sagt der Pilot zur Frau an seiner Seite. Drei Riesen, Eiger, Mönch und Jungfrau, sind stumme Zeugen in beleuchteter Versteinerung.
„Nicht schlecht“ sagt Marah und betrachtet ihr Gesicht im Spiegel einer Puderdose.
„Nicht schlecht, die Schweiz von oben.“ Sie zieht ihre Lippen nach.
„Fast eine Stunde Verspätung, na ja - so ist das nun“ fügt sie noch leise hinzu.

Das Flugzeug setzt zum Sinkflug an. Langsam aber stetig verliert es an Höhe. Da ist schon das Ziel zu sehen: Bern. Bald kann Marah blossen Auges die lange Piste von Bern-Belp erkennen. „Hotel lima romeo, Queranflug“ funkt der Pilot zum Tower. Sie erhalten Landeerlaubnis. Auswendig geht Franz mit halblauter Stimme auf englisch seine Checklisten durch. Die Luft drückt sich zusammen. Der Pilot steuert seine kleine Maschine durch die Turbulenzen verschiedener Luftschichten, nimmt Gas zurück und stimmt sich mit dem Lotsen ab. Dann überfliegt er in sicherer Höhe Stadt und Aarelauf.
Krachendes Ruckeln.
Ein leiser Aufschrei der Passagierin. Die Klappen an den Hinterkanten der Tragflächen bremsen das Flugzeug. Sekundenlang schwebt die dünnhäutige Libelle über dem Asphalt. Dann setzen die Räder auf. Die Bremse greift und es ist vorbei.
Sie rollen aufs Vorfeld; der Motor verhungert klackernd.
Franz wuchtet das Gepäck aus dem hinteren Teil der Piper.
„Wir sind da. Wie gesagt 90 Euro und meine Kosten sind gedeckt.“
„Bitte nehmen Sie, ich hab es eilig, wie gesagt,  dringender Termin. Auf Wiedersehen.“
Ohne ihren Flugpartner eines weiteren Blickes zu würdigen, startet Marah mit Koffer, Richtung Restaurant.
Kopfschüttelnd steckt Franz den 100 Euroschein in seine Hemdtasche. Dann wendet er sich seinem Flugzeug zu. Sanft steichelt er über das heissgeflogene Wahrzeichen seiner Piper Archer.
„Du gefällst mir immer noch am besten, Goldnäschen.“
Gutgelaunt strahlt die Propellerspitze unter ihren zahlreichen Fliegenpünktchen.
Goldnäschens Pilot pfeift leise und geht ans Werk. Es gibt noch viel zu tun.

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reißwolf
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Beiträge: 138



Beitrag29.03.2007 12:36

von reißwolf
Antworten mit Zitat

Puh, dein Text ist gar kein Text sondern ein Rundflug. Ich muß jetzt erst mal prüfen, ob ich wieder festen Boden unter den Füßen habe.

Ich habe alles erlebt, ich war dabei. Beweise? Nun, ich weiß sogar mehr als du beschrieben hast. Zum Beispiel weiß ich, wie es in dem Cockpit riecht: Es ist ein stickiger Mief aus Plastik und erwärmtem Kunstleder mit einem Hauch von Tankstelle, stimmts? Und die Akkustik in dem engen Teil ist merkwürdig verknappt, hallarm und tot wie Plexiglas. Keine Ahnung, wie du das hingekriegt hast. Aber ich werde dir schon auf die Schliche kommen.

Gruß, Reißwolf
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reißwolf
Leseratte


Beiträge: 138



Beitrag29.03.2007 15:10

von reißwolf
Antworten mit Zitat

So, nun habe ich deine Geschichte ein paar Mal gelesen und ein bisschen darüber nachgedacht. Was also ist das Geheimnis ihrer Plastizität? Kann man einen Grund erkennen für ihre Lebendigkeit? Nein. Nicht einen. Vielmehr bin ich auf mindestens drei Gründe gestoßen:

Zunächst hat der Text den großen Vorteil, dass sein Thema an sich schon eine stetige Bewegung ist. Statik ist von vornherein ausgeschlossen. Das macht Fluss-Romane (Huckleberry Finn, Apocalypse Now) spannend, ebenso leben Roadmovies von der Dynamik des zurückgelegten Weges. Aber es funktioniert, wie man hier sieht, auch in kurzen Texten. Selbst auf ein paar Seiten wird es bei ?Bewegungsthemen? möglich, Handlungsparallelität zu erzeugen. Du ergreifst diese Chance und setzt sie meisterhaft um. So wird der Leser stets bei der Stange gehalten im Wechsel zwischen dem ?Vordergrundthema? (Entwicklung von Marahs Emotionen) und dem ?Hintergrundthema? (Weg des Flugzeuges). Dein Instinkt für Dramaturgie riet dir dann noch, diese beiden Stränge als kontrastierende Gegenpole auszugestalten: Hier das hektische, etwas Flatterhafte, dort die ruhige, erhabene Schönheit der Landschaft. Wann immer das Eine ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird, streust du ein bisschen vom Anderen dazwischen, um die jeweiligen Pole noch kräftiger zur Geltung kommen zu lassen. Äußerst kurzweilig, diese Technik, sehr gekonnt!

Damit sind wir bei der zweiten, wichtigen Stärke deines Textes: Kontraste. Überall knallen Welten aufeinander. Nicht nur das Innere des Flugzeugs kontrastiert nämlich mit dem Äußeren, nicht nur prallt die Naturschönheit der Alpen mit der Welt Marahs (?was bleibt, ist künstliche Farbe?) zusammen, die gewaltige ?Urnatur? bildet auch einen Gegenpol zur Welt des ?Blonden? und seiner Fliegerei, deren Technikverliebtheit dadurch fast einen Einschlag ins Lächerliche erhält. Und im Innern des Flugzeugs selbst kollidieren natürlich erst recht die Welten:

Der Pilot steht (nicht frei von Klischeevorstellungen) für Nüchternheit, Marah für ?Champagnerrausch?. Er steht auf der wortkargen, technisch-coolen Ebene: ?Aufregung ist genau das, was ein Pilot am wenigsten braucht.?, sie dagegen steht für zügellose Emotionen und für das unsachlich-Kreative: Das Headset wird bei ihr zum ?Haarreif? das englische Fliegerkauderwelsch zu ?Beschwörungsformeln? und das Mikrofon ?reizt zum Reinbeißen?. Selbst der Zeitpunkt ihrer größten körperlichen Nähe - sie greift nach seinem Oberschenkel, seine Haare kitzeln, sie hält sich an seinem Männerhemd fest (Wunderbare Feinheit übrigens, daß das Hemd gerade hier ein Männerhemd ist) - dieser körperliche Augenblick jedenfalls ist nichts als ein Zusammenprall. Ein groteskes Ereignis unter dem Vorzeichen eines Notfalls. Erotik: Fehlanzeige. Ihre Gegensätzlichkeit wird dadurch nicht aufgehoben, sondern noch zementiert. Sie sucht einen Partner, seine Libido dagegen hat das Flugzeug zum Gegenstand, der gravierendste Kontrast wird offenbar: Schneewittchen versus Goldnäschen. So bleiben beide getrennt in ihrer Gegensätzlichkeit: Er cool, sie ängstlich, er technisch, sie um ihre Lippenbemalung bedacht.

Natürlich greifst du hier tief in die Kiste der männlich-weiblich-Stereotypen. Zu tief für meinen Geschmack. Und genau das ist die Gefahr, beim Kontrastieren: Geht man in die Extreme, werden die Charaktere auch flacher, unrunder und verblassen irgendwann zum Klischee. Solche  Stereotypen sind - es sei denn in Satire und Parodie - ein sicheres Mittel, seine Figuren zu töten. Dass deine beiden Figuren merkwürdigerweise dennoch wie lebendige Menschen vor meinem inneren Auge stehen, mag z.T. daran liegen, dass die Geschichte in der Tat einen Hauch von Satire hat. Aber befriedigend ist diese Erklärung nicht. Warum sind diese Ausgeburten von Klischees nur so plastisch? Ich musste eine Weile nachdenken. Die Lösung liegt in der dritten deiner erzählerischen Stärken: Glaubwürdige Details.

Nun ist es eine narrative Selbstverständlichkeit, Einzelheiten einfließen zu lassen, zumindest wenn man in klassischer Weise ?erzählt?. Man hat oft den Eindruck, dass es Autoren in diesem Punkt an Einfallsreichtum gebricht. Bei dir dagegen kann von ?einfließen lassen? gar nicht mehr die Rede sein. Du wirfst mit Details um dich! Es hagelt Einzelheiten. Neben der erschlagenden Quantität liegt der Trick aber vor allem auch in der Art deiner Details:

Wo das Diktat der Mittelmäßigkeit verlangt hätte: ?Schweißperlen standen ihr auf der Stirn? (ein Satz, der genau so vermutlich in Abertausenden von Geschichten steht), ?brechen? die Schweißperlen bei deiner Figur ?aus dem Make-up?. Und schon bist du sicher an der Abgedroschenheit vorbeigeschippert und hast obendrein noch ein Zusatzdetail über Marahs Wesen eingebaut. An der Stelle, wo Marah in Panik gerät, greifst du, statt wie die meisten Autoren etwas von ?weichender Gesichtsfarbe? zu faseln, zu folgenden originellen Worten:
Zitat:
Marahs Gesicht erstarrt zur Schreckensmaske. Was bleibt ist künstliche Farbe.

Das ist nicht nur komisch, es ist auch realistisch. Denn natürlich kann die Gesichtsfarbe einer maskenhaft überschminkten Figur nur bei gedankenlosen Autoren einfach ?weichen?.
Auch Sätze wie:
Zitat:
Ein Gesicht wie Schneewittchen im Hochglanzdruck.

sind einfallsreich und amüsant. Und weil es der Pilot denkt, ist das Sprücheklopferische, leicht Mackerhafte dieses Satzes nicht nur verzeihlich, sondern sogar folgerichtig. Besonders gefällt mir übrigens auch, daß die Nase des Flugzeugs "gut gelaunt strahlt". Ich mag es, wenn ein Autor sich traut, tote Gegenstände zum Leben zu erwecken.

Die unvermittelten Einwürfe technischer Details (Fabrikat des Headsets, angezeigter Wert des Höhenmessers, etc.) ist eine Persiflage auf den Jargon der Jerry-Cotton-Romane und anderer B-Krimis vergangener Jahre (?Er steckte seine Waffe ein, eine Smith & Wesson, Kaliber 45, und machte sich auf den Weg.?). Geradezu grotesk wird diese Technisierung der Ereignisse, wenn du im Moment von Marahs Todesangst ihre potenzielle Absturztiefe in ?Fuß? angibst.

Davon mal abgesehen, sind die fliegerischen Details derartig nah am ?real thing?, dass ich fast sicher bin, dass du selbst fliegst. Diese gewisse Stickigkeit in einem Cockpit, das typische, klackernde Geräusch, mit dem ein Flugzeugmotor ?verhungert?, die toten Fliegen auf der Propellernase, und schließlich die Sache mit dem Öffnen des Sturmfensters, um dadurch per Druckausgleich die Tür schließen zu können ? solche Details erfindet man nicht einfach, sie sind echt. Der Leser spürt das - und glaubt dir.

Zusammengefasst sieht deine Formel also in etwa so aus: Bewegung, Kontraste, glaubwürdige Details. Und fachliche Beherrschung des Stoffes.

Mir bleibt da nur, bei der Suche nach den "Fehlern" deiner Story ins Mikroskopische auszuweichen, hier ein fehlendes Satzzeichen zu bemäkeln, dort ein falsches Komma, hier zwei aufeinanderfolgende wörtliche Reden derselben Figur, dort eine Tür die "auf" ist statt "offen", hier ein "soweit als möglich" (hochdeutsch: wie), dort ein - nun ja, das ist allerdings etwas gravierender - ein allzu gedankenlos breitgebügeltes Frau/Mann-Klischee.

Gruß, Reißwolf
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Goldfischli
Schneckenpost
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Beiträge: 8



G
Beitrag02.04.2007 18:00

von Goldfischli
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Lieber böser Reisswolf,

dass mein Text in einem Internet-Forum eine derart ausführliche und professionelle Kritik erhält, hätte ich mir wirklich nicht erträumt. Ich besitze noch ziemlich wenig Schreiberfahrung und die Flug-Geschichte ist einer meiner ersten Versuche. Bei deinen Ausführungen hingegen erkenne ich die Hand des geübten Schreibers, dessen Formulierungen nicht nur treffen, sondern auch unterhalten. Daher habe ich mich besonders über die lobenden Worte gefreut, sie ausgedruckt und mehrfach gelesen. Sie beweisen mir, dass es sich lohnt, intensiv mit Sprache zu arbeiten.
Die weiblich-männlichen Stereotype sind übrigens von meiner Seite durchaus erwünscht, ich liebe Spielereien mit gesellschaftlichen Zuschreibungen in allen möglichen Rollen und Facetten. Der ?Hauch von Satire?, der dir dabei auffällt, soll die Figuren nicht töten, sondern allenfalls solange kitzeln bis ihre Maske verrutscht und die Phantasie des Lesers Gelegenheit bekommt zu arbeiten.
Ähnlich geht es mir mit deinem Pseudonym ?Reisswolf?. Es spielt ja auch mit einer im Literaturbetrieb beliebten Klischeevorstellung. Diese Rolle im Forum regt meine Vorstellungskraft an und könnte wieder das Thema einer Geschichte sein. Doch woher dann die Details nehmen? Mangels realistischer Erfahrung kann ich hier nur mit Phantastik aufwarten.
Zum Thema Fliegen habe ich jedenfalls ? du hast es ja bereits erahnt ? eine persönliche Beziehung.
Mein Wunsch für die Zukunft:
Auf dass der ?Blindflug? keine Eintagsfliege bleibe.

Mit herzlichem Gruss

Rotkäppchen



PS.: Die Schweizer kennen nur das Doppel-S.
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reißwolf
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Beiträge: 138



Beitrag03.04.2007 09:26

von reißwolf
Antworten mit Zitat

Danke für die Komplimente, Goldfischli!
Wenn du wirklich noch "ziemlich wenig" Schreiberfahrung hast, bist du wohl ein Urtalent. Komm ja nicht auf den Gedanken, das ungenutzt versiegen zu lassen, hörst du!

Gruß, Reißwolf
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doro
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D


Beiträge: 12



D
Beitrag03.04.2007 22:42

von doro
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Hallöchen,

darf ich nach so viel Lob ein bisschen meckern? Smile

Ich stimme Reißwolf in vielen Punkten zu. Auch ich habe gleich gedacht: Hier ist ein Flieger am Werk. Ist ja auch scheinbar der Fall Smile !

Deine Metaphern sind treffend, der Satz "Gutgelaunt strahlt die Propellerspitze unter ihren zahlreichen Fliegenpünktchen" hat mir auch supergut gefallen.

Für mich hat der Text übrigens trotz alledem eine verhaltene Erotik, die nicht ganz zum Durchbruck kommt  - Bsp Männerhemd, Haarkitzeln, glänzene Beine, gipfelnd in dem "Mikro zum Reinbeißen", naja, ein Schelm der mehr dabei denkt Smile

Ich würde mir ein bisschen mehr Sorgfalt bzgl der Form wünschen. Beispiel:
Zitat:

Das ist schön hier. Wie ein Champangerrausch.?
?Bleibt das so spannend, wenn man öfter fliegt? will sie von ihm wissen.
Franz schiebt die Sonnenbrille hoch. Vorsichtig tasten graugrüne Augen Marah Lindbergh ab. Eine Dame mittleren Alters. Der kräftige Rahmen aus Mahagoni betont ihre zarte Blässe. Darin funkeln goldbraune Katzenaugen a la Kleopatra, begrenzt von sorgfältig gemalten Brauen. Der Mund trägt Blutrot.


Nach "fliegt" müsste ein Fragezeichen folgen, nach dem " ein Komma, oder nicht? "Champagner" schreibt sich "Champagner" und nicht "Champanger". Bin ich kleinlich? Vielleicht, aber ich finde, der Text verschenkt dadurch unnötig Pluspunkte.

Der Rahmen aus Mahagoni bezieht sich auf eine Brille? Eine Haarspange? Oder den "Haarreif"? Wink

Und dass der Mund rot ist, hattest du weiter oben schon erwähnt.

Zitat:
Sie ... birgt das Antlitz in den Händen.

passt, finde ich, nicht ganz in den Stil, den du sonst verwendest, ist etwas zu poetisch...


Ich denke auch, dass das eigentliche Thema  ein bisschen untergeht. Leider, denn ich finde, das ist erst der Clou! Denn Marah hat offenbar auf eine Kontaktanzeige geantwortet! Leider ist der Blonde längst vergeben, nämlich an Goldnäschen...sehr schöne Idee. Aber warum will er nachher die Fahrt bezahlt haben? Und warum hat sie einen dringenden Termin, wenn sie ihn zum Date trifft? Also ich hab mir die Stelle mit dem Papier zweimal durchgelesen, um sicher zu sein, dass ich es richtig verstanden habe und es wirklich eine Kontaktanzeige ist...

Trotzdem: schöner Text! Und wenn du Schreib-Neuling bist: Hut ab!
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Goldfischli
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G


Beiträge: 8



G
Beitrag13.04.2007 11:24

von Goldfischli
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Hallo Doro,

schön, dass dir meine Geschichte gefällt. Danke auch für die Verbesserungsvorschläge. Rechtschreibfehler haben in einem präzisen Text natürlich nichts zu suchen. Das Gleiche gilt für Wiederholungen, die keinen Sinn tragen. Ich habe also den rotgemalten Mund getilgt.  Später geben Lippen, Nägel und Adressbuch dreimal rotes Signal. Zudem rahmt noch mahagonigefärbtes Haar Mahras Gesicht. Das reicht.

Die Satzzeichen in Gänsefüsschen habe ich bewusst weggelassen. Auch wenn unser lieber Duden hier andere Ansprüche stellt, möchte ich meinen Blindflug erst einmal so stehen lassen. Sollte ich zu eigensinnig sein und das Verständnis meiner Geschichte damit leichtfertig in Gefahr bringen, bitte ich um entsprechende Warnung.

Prima, du spürst zwischen den Zeilen eine ?verhaltene Erotik?, Reisswolf kommt zu dem Schluss:
?Erotik: Fehlanzeige?. Ich freue mich über beide Lesarten und neige persönlich ? je nach Stimmung ? mal der einen und wieder der anderen zu. Vielleicht möchte das noch jemand weiter ausspinnen.

Das Thema der Geschichte ?Blindflug? ist meiner Meinung nach klar: Sie handelt von einem Flug zu einem Blind Date, über das der Leser nichts weiter erfährt und erfahren soll. Ich bin natürlich offen für andere Deutungsversuche.

Toll, dass ich jetzt schon zwei positive Rückmeldungen erhalten habe! Mittlerweile verstehe ich immer besser, was ich geschrieben habe. Das prickelnde Feedback zum ?Blindflug? versetzt mich in einen Höhenrausch. Dabei bin ich doch nur eine kleine Arbeitsbiene im Weinberg der Schrift.

Herzliche Grüsse

Goldfischli
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Ralphie
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Beitrag21.05.2007 20:11

von Ralphie
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Sehr schön geschrieben. Der Leser weiss sofort, wer mitspielt und wo die Geschichte handelt. Und du schreibst über Sachen, von denen du Ahnung hast. Profimäßig. Daumen hoch  Daumen hoch
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Goldfischli
Schneckenpost
G


Beiträge: 8



G
Beitrag28.05.2007 14:59

von Goldfischli
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Hallo Ralphie,

habe mich als verborgener Blaustrumpf-Fan über deine ermutigenden Zeilen besonders gefreut. Mein Dank kommt mit Verspätung, weil ich gerade zwischen Umzugskisten sitze und im Chaos versinke. Gut, dass jetzt der Draht nach draussen wieder funktioniert, das macht Hoffnung auf mehr.
Freu mich schon darauf, bald eine Umzugsgeschichte zu schreiben.

Herzlichen Gruss

Goldfischli
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Ralphie
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DSFo-Sponsor


Beitrag28.05.2007 15:18

von Ralphie
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Darauf freue ich mich auch. Dein Text ist makellos.  Very Happy
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