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Heidi
Geschlecht:weiblichReißwolf


Beiträge: 1425
Wohnort: Hamburg
Der goldene Durchblick


Beitrag20.03.2017 22:53
Liebe
von Heidi
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Summend sitzt er am Tisch, wippt vor und zurück. Sie nimmt neben ihm Platz.
›Was möchtest du essen?‹
›…‹
›Schau mich an.‹
›…‹

›Was … schau mich an, Jonah. Möchtest du ein Marmeladenbrot?‹

Blick nach unten gerichtet.
›Ein Honigbrot?‹
›…‹
›Jonah, ein Honigbrot?‹
›…‹

Das Wippen nimmt ein Ende. Augen glasig, nach Innen blickend. ›Honigboot.‹
Sie denkt an seine ersten Lebenstage. Damals hat er geschrien, weil er an ihren Busen wollte, was er nicht konnte, was sie nicht akzeptierte. Sie zwang ihn dazu, Kontakt mit ihr aufzunehmen.
Seitdem zwingt er sie jeden Tag, nicht zu scheitern.
 
Er steht ganz vorne im Bus - sie neben ihm -, und schaut auf die vorbeifahrenden Autos.
›Eins. Bei. Dei. Vier. Fünf. … Beiundbambig. Deiundbambig. Vierundbambig. … Neunundfünfbig. Sechbig. Einundsechbig. … Siebbig. Einundsiebbig–‹ Er unterbricht sich, ehe er weiterspricht.  ›Mama, P und I, der kommt aus Pinneberg.‹ Er deutet auf ein Nummernschild.
Sie nickt. ›Du hast recht, der kommt aus Pinneberg.‹
Später zieht er an ihrer Jacke.
›Achthundertbambig Pädse frei.‹
Ihr Blick folgt dem seinen, sie erkennt das Parkhaus, an dem das Fahrzeug gerade vorbeifährt. Auf der Anzeigetafel steht 820.
Gleich darauf rüttelt er wieder an ihrem Arm, seine Augen leuchten. ›Mama, dort … sechs Busse halten hier. 116, 34, 251, 214, 75, 279.‹
Sie schaut auf das Schild an der Bushaltestelle, lächelt in sich hinein und nickt. Weil sie seine Worte nicht mit Worten bestätigt, wiederholt er die Busnummern, drängt um Anerkennung.
›Du hast recht, Jonah, hier halten sechs Busse‹, sagt sie und fordert ihn zum Weitergehen auf.

Auf dem Weg zum Bahnsteig, erzählt er ihr von seinem neuen Lehrer. Formt den Namen, müht sich ab, aber sie versteht ihn nicht. Manche Laute kommen anders heraus, als von ihm gewollt.
Sie wiederholt das Gesagte, formt es um, versucht verzweifelt den Namen herauszufinden, doch er schüttelt den Kopf. Tränen glitzern in seinen Augen. Hilflos schaut sie ihn an, will in seine Welt vordringen, aber es gelingt ihr nicht.
Er wischt die Tränen weg, wird zornig, beginnt zu toben.
Fäuste fliegen, Steine fliegen. Kratzen, kneifen, boxen. Zerstörung.
Sie umhüllt ihn, versucht in aufzufangen, hört im Hintergrund verärgertes Gemurmel.
›Schlecht erzogen.‹
Antwort, mit gedämpfter Stimme: ›Nein Frank, mit dem stimmt was nicht.‹
Ein kleines Mädchen fragt: ›Papa, warum hat der Junge so komisch geredet? Und warum haut er seine Mama?‹
Schritte entfernen sich. Der Vater bleibt seiner Tochter die Antwort schuldig.
Er beruhigt sich in ihren Armen, die Kratzer in ihrem Gesicht schmerzen weniger, als die Worte und Blicke der Passanten.

Die Rolltreppe rollt
nach unten;
er rollt mit, sie rollen zusammen.
Sie beobachtet ihn, er ist wieder ganz bei sich; sie will wissen, wie es in ihm aussieht, will mit ihm miterleben und findet doch keinen Zugang.

Er schaut auf das Bahngleis; konzentrierter Blick. Alle Dinge werden in Augenschein genommen, kein Detail entgeht ihm.
Sie lächelt und denkt: Du weißt, worauf es ankommt. Nicht immer, aber manchmal.
›Jonah?‹
›…‹
›Jonah?‹
›...‹
›Ich hab dich lieb.‹
›…‹
›Ich ... schau mich mal an, Jonah.‹

Die Bahn fährt ein, seine Augen tasten jeden Zentimeter ab. Faszination.
›Schau mich an. Ich habe etwas gesagt. Zu dir.‹
›…‹
Weit weg.
›Schau mich an.‹
Hand unters Kinn geschoben. Blicke treffen sich. Seiner ist nach Innen gerichtet, ihrer folgt dem seinen; sie findet ihn aber nicht.
Hinter ihr summen die Bremsen.
›Ich hab dich lieb.‹ Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.
Anstatt einzusteigen, zieht er an ihrer Hand und läuft ganz nach vorne, dort wo er jeden Morgen auf die einfahrende Bahn wartet, und die Lichter betrachtet, sowie die Bahnnummer und Endhaltestelle. ›S31 fährt nach Altona.‹  
›Du hast recht, sie fährt nach Altona. Aber jetzt müssen wir einsteigen, sie fährt gleich los.‹  


Sie bleiben stehen, damit er an jeder Station die Tür öffnen kann. Das beruhigt ihn, es muss so sein. Bei jeder Bahnfahrt. Sanft drückt sie seine Hand, ein wenig stolz, weil er so viel weiß, weil ihm nichts entgeht; gleichzeitig empfindet sie eine unaussprechliche Traurigkeit. Sie schließt kurz die Augen und wünscht sich, dass er auf anderem Wege wahrnimmt, was sie ihm mit Worten zu sagen versuchte.
›Geisbauarbeiten am Wochenende.‹ Seine Hand liegt locker in ihrer, als er die Lautsprecherdurchsage wiederholt.

Mich interessiert besonders, ob dieser Text etwas in euch auslöst, und wenn ja, was. Ich habe versucht, so distanziert wie möglich zu erzählen, bin aber unsicher, ob auch an jeder Stelle Distanz vorhanden ist, oder ob das Verhältnis Nähe/Distanz an manchen Stellen (zu sehr) schwankt und, ob eine distanzierte Erzählweise auch Gefühle beim Leser auslösen kann.
Und natürlich freue ich mich auch über Verbesserungsvorschläge.

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Mogmeier
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Beitrag21.03.2017 22:57

von Mogmeier
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Hallo Heidi,

das nenne ich mal einen feinen und stimmigen Text, der noch dazu recht anspruchsvoll wirkt (anspruchsvoll natürlich im positiven Sinne). Daumen hoch
Natürlich hätte man hier noch tiefer in die unterschiedlichen Welten (Kind, Mama, Außenstehende) eindringen können, aber das hat so ein Text gar nicht nötig, weil er so, wie er ist, im Gesamten, = so als Abriss einer scharfsinnigen Beobachtung, funktioniert … und das auch noch richtig gut.

Für manche Zeilen, auch bzgl. der direkten Rede, hätte ich jetzt nicht unbedingt einen neuen Absatz angefangen, aber das soll jetzt hier nicht weiter stören.

Beste Grüße,
Mog


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Heidi
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Der goldene Durchblick


Beitrag22.03.2017 23:20

von Heidi
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Hallo Mog,

ich freue mich sehr darüber, dass du meinen Text als stimmig empfindest, und - bis auf die Absätze -, nichts weiter zu bemängeln hast. Mit so tollem Lob habe ich nicht gerechnet, zumal ich doch unsicher war (und noch immer etwas bin), ob der Text zu viel voraussetzt, zu viel Distanz vorhanden ist, und der einzelne Leser sich zu stark außen vor fühlt, um sich auf die Situation einzulassen.

Diese Geschichte ist mir sehr wichtig. Ich wollte sie schon vor mehr als einem Jahr schreiben, begann vergangenen Sommer damit, aber leider kam nur eine schwammige, lyrisch angehauchte Version dabei heraus, die ungefähr aus hundert Wörtern bestand. Nun habe ich gerade diese Biographie gelesen und das Thema drängte sich mir wieder auf, ließ mir keine Ruhe.
Ich habe lange mit mir gehadert, ob es richtig ist, den Text hier reinzustellen - weil das Thema, das ich hier behandle, leider oftmals auch heute noch ein Tabuthema ist -, umso mehr bedeutet mir die positive Resonanz.

Auch bin ich dankbar, dass ich durch dich dieses  »...« Stilmittel kennengelernt habe, weil ein: Er schwieg, bei dem vielen Schweigen wohl etwas anstrengend geworden wäre. Erst wollte ich ganz reduziert mit nur ... schreiben, das sah aber nicht gut aus, darum entschied ich mich für  ›…‹.

Mogmeier hat Folgendes geschrieben:
das nenne ich mal einen feinen und stimmigen Text, der noch dazu recht anspruchsvoll wirkt (anspruchsvoll natürlich im positiven Sinne). Daumen hoch


Ich habe noch zwei Fragen an dich:
Inwiefern findest du, dass der Text anspruchsvoll wirkt?
Im Grunde habe ich "nur" äußerlich erzählt. Da ich bei meinen Geschichten immer so tief drinstecke, und sie nicht mehr objektiv lesen kann, fällt es mir schwer, genau zu greifen, was ich da eigentlich geschrieben habe. Embarassed Der Anspruch an mich und an meine Texte ist immer hoch, aber ob und wie ich das schaffe, ist für mich immer wieder eine große Rätselfrage.

Gibt es auch "anspruchsvoll" im negativen Sinne?

Und: Vielen Dank dafür, dass du dir die Zeit genommen hast, den Text zu lesen und zu kommentieren.

Liebe Grüße
Heidi
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Mogmeier
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Beitrag23.03.2017 01:30

von Mogmeier
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Zitat:
[...] zumal ich doch unsicher war (und noch immer etwas bin), ob der Text zu viel voraussetzt, zu viel Distanz vorhanden ist, und der einzelne Leser sich zu stark außen vor fühlt, um sich auf die Situation einzulassen.


Es ist eben diese Distanz, die dem Text zugutekommt. Du vermittelst dem Leser dadurch nicht die Meinung des Autors (ja gut, in deinem Falle halt eben nicht die Meinung der Autorin) so vorgesetzt wie ein Fertiggericht, sondern du lässt den Leser sich wie einen stillen Beobachter fühlen. Im Sinne von: Entweder man springt drauf an oder nicht. – Und das meinte ich auch mit anspruchsvoll. Wobei der Begriff ›anspruchsvoll‹ eben auch so einen negativen Beigeschmack hat, zumindest bei Lesern leichterer, um nicht zu sagen vorgesetzter Literatur. Wobei ich natürlich nicht behaupten möchte, dass leichte [vorgesetzte] Literatur nicht anspruchsvoll sei.

Klasse fand ich, dass du hierbei ohne großartiges Geschnörkel geschrieben hast und die beteiligten Personen größtenteils nur durch deren jeweilige direkte Rede darstelltest. – Der Mittelpunkt der Geschichte kam dadurch deutlich rüber.

Ich könnte fast wetten, bei dem Kind handelt es sich um einen Autisten.


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Socki
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Beitrag23.03.2017 17:58

von Socki
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Moin Heidi!

Ich hatte in meinem Leben so oft mit geistig behinderten Kindern zu tun, dass ich mich direkt an diese erinnert fühlte. Die Abwesenheit, die Aggressionen und die Blicke Außenstehender.

Ein jeder, der sich damit schon mal konfrontiert sah, kann sich in den Text sicher nur allzu gut hinein versetzen. Ich finde, du hast es gut auf den Punkt gebracht.

Die viele Absätze fand ich, haben den Lesefluss nicht beeinträchtigt.

Was die Distanz angeht, so finde ich, hast du das gut hinbekommen. Und so auch gut beschrieben, was die einzelnen Personen fühlen, ohne es direkt ausgeschrieben zu haben. Vor allem die ganz besonders intensive Liebe zwischen Mutter und Kind, die auch ohne großer Worte hervor sticht.
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gold
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Beitrag24.03.2017 19:06

von gold
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So, ein neuer Versuch, nachdem mein bereits vorhin Getipptes auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist Rolling Eyes , probier´ich es noch einmal...

Kleine Anmerkungen:
Zitat:
Summend sitzt er am Tisch, wippt vor und zurück. Sie nimmt neben ihm Platz.


wie bei deiner "Honigrevolution" liest sich das für mich wie eine Regieanweisung.
Nun denn, hab deshalb versucht, es ins Präteritum zu setzen: Das geht gar nicht.
Also lass es dabei.

Den Sprachfehler des Prota müsste es doch bei der Aufzählung der Busnummern auch geben?

Den Schluss "Geisbauarbeiten am Wochenende" im Zusammenhang mit der Hand, die locker in ihrer liegt, finde ich allerliebst.

Liebe Heidi,

m.E. ist dir diese - äußerst einfühlsame -  Geschichte sehr gut gelungen. Ich sehe den Prota direkt vor mir. Der Umgang seiner Mutter mit ihm ist so liebe- und verständnisvoll. Solche Angehörigen kann man nur jedem Kind wünschen, das mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat.

Gerne gelesen.

Liebe Grüße
gold


edit 1: Ich denke, die Distanziertheit des Autors ist dir gut gelungen und sie ist hier angesagt. Wärest du als Autor näher dran und das entsprechend ausdrücken, wäre der Leser nicht so dicht an den Protas.
edit 2: Ich kränkle etwas, daher meine knappe Ausführung...Sorry.


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Heidi
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Der goldene Durchblick


Beitrag24.03.2017 21:24

von Heidi
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Mogmeier hat Folgendes geschrieben:
Es ist eben diese Distanz, die dem Text zugutekommt. Du vermittelst dem Leser dadurch nicht die Meinung des Autors (ja gut, in deinem Falle halt eben nicht die Meinung der Autorin) so vorgesetzt wie ein Fertiggericht, sondern du lässt den Leser sich wie einen stillen Beobachter fühlen.


Genau darum ging es mir. Die Meinungsbildung sollte beim Leser stattfinden, auch Gefühle wollte ich nicht vorgeben, damit sie (im Idealfall) durch die Situation entstehen. Es ist schön zu hören, dass ich es geschafft habe, so objektiv zu schreiben (was mir, wie gesagt, bei eigenen Texten oft nach dem hundertsten Lesen, schwerfällt zu greifen): Also, dass es bei dir als Leser auch so ankommt, wie von mir gedacht.

Mogmeier hat Folgendes geschrieben:
Im Sinne von: Entweder man springt drauf an oder nicht. – Und das meinte ich auch mit anspruchsvoll. Wobei der Begriff ›anspruchsvoll‹ eben auch so einen negativen Beigeschmack hat, zumindest bei Lesern leichterer, um nicht zu sagen vorgesetzter Literatur. Wobei ich natürlich nicht behaupten möchte, dass leichte [vorgesetzte] Literatur nicht anspruchsvoll sei.


Sicherlich ist das kein Text (Erzählart ebenso wie Inhalt), der eine breite Leserschaft anspricht. Ich denke, gerade Menschen, die mit der Thematik vertraut sind, werden es leichter damit haben.
Deine Denkweise über den Begriff „anspruchsvoll“ finde ich sehr interessant, weil im Grunde ist es so wie mit allem. Die Wertung entsteht im Menschen; "anspruchsvoll" an sich ist ja neutral. Ich habe aber gewertet "anspruchsvoll" sei positiv (viele andere Menschen empfinden den Begriff aber evt. als negativ). Dabei weiß ich doch (hier mal umgekehrt), dass selbst penetrant positiv sein kann - wenn man sich den Ursprung des Wortes vor Augen führt. Latein: penetrare „durchdringen“, „eindringen“ -, nur ist der Begriff für viele Menschen von vornherein negativ besetzt (laut meinen bisherigen Erfahrungen).

Mogmeier hat Folgendes geschrieben:
Klasse fand ich, dass du hierbei ohne großartiges Geschnörkel geschrieben hast und die beteiligten Personen größtenteils nur durch deren jeweilige direkte Rede darstelltest. – Der Mittelpunkt der Geschichte kam dadurch deutlich rüber.


Dankeschön. Embarassed

Mogmeier hat Folgendes geschrieben:
Ich könnte fast wetten, bei dem Kind handelt es sich um einen Autisten.


Der Junge ist Autist, das hast du richtig erkannt.
Leider werden die Fähigkeiten von Menschen mit ASS oftmals als Mängel angesehen, weil es sich um extreme Einseitigkeiten handelt. Da sie sehr häufig nicht richtig kommunizieren können, was in ihnen vorgeht, bleibt uns verborgen, was sie wissen. Vielleicht versteht ein Autist das ganze Universum, schneidet aber bei einem Intelligenztest schlecht ab, weil derjenige, der ihn „testet“ nicht in der Lage ist, sich Zugang zu verschaffen. Wir können es nicht wissen, oder nur ansatzweise.
Die Autistin Tempel Grandin ist ein Beispiel dafür, wie viel Wunderkind in einem Autisten stecken kann. Hier der Trailer zu ihrer Filmbiographie, die ich sehr empfehlenswert finde.
Auch die Filmbiographie In meinem Kopf ein Universum finde ich berührend. Zwar handelt es sich bei dem Betroffenen um keinen Autisten, aber er kann aufgrund einer zerebralen Bewegungsstörung nicht sprechen und wird von Außenstehenden als „Gemüse“ bezeichnet. Irgendwann findet eine Pflegerin heraus, dass er jedes Wort versteht, dass er sogar über enormes Wissen verfügt. Was ihm bis dahin angetan wurde ist furchtbar.

Liebe Grüße
Heidi
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Heidi
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Beitrag24.03.2017 22:11

von Heidi
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Moin Socki,

vielen Dank fürs Lesen und dafür, dass du deine Gedanken zu meinem Text mit mir teilst.

Socki hat Folgendes geschrieben:
Ich hatte in meinem Leben so oft mit geistig behinderten Kindern zu tun, dass ich mich direkt an diese erinnert fühlte. Die Abwesenheit, die Aggressionen und die Blicke Außenstehender.

Ein jeder, der sich damit schon mal konfrontiert sah, kann sich in den Text sicher nur allzu gut hinein versetzen. Ich finde, du hast es gut auf den Punkt gebracht.


Es freut mich, dass du dich gut in die Situation hineinversetzen konntest. Und das: auf den Punkt gebracht nehme ich als Kompliment. Darum ging es mir. Nicht zu viel und nicht zu wenig.
Was die Blicke von Außenstehenden betrifft, finde ich gerade den Umgang mit "gesunden" Kindern fatal, wenn sie Fragen stellen. Das mit einzubringen war mir wichtig. Wenn ein Kind Fragen stellt und das tun Kinder in der Regel gerne - weil sie ja lernen wollen, die Welt verstehen wollen -, und Mama oder Papa dann schweigen, weil es sich ja nicht gehört, jetzt vor dem Behinderten zu sagen, was Sache ist, vermutlich auch, weil verdrängt wird, was Sache ist und aufgrund dessen auch nicht formuliert werden kann, was Sache ist, dann bleibt nur das ungute Gefühl, hervorgerufen durch das Schweigen, Mimik, Gestik usw. von Mama oder Papa, zurück und das Kind nimmt dann dieses ungute Gefühl mit und kombiniert es mit dem behinderten Menschen. Wie es mit solchen Verhaltensweisen jemals zu einer gesunden Integration kommen soll, ist fraglich.

Socki hat Folgendes geschrieben:
Was die Distanz angeht, so finde ich, hast du das gut hinbekommen. Und so auch gut beschrieben, was die einzelnen Personen fühlen, ohne es direkt ausgeschrieben zu haben. Vor allem die ganz besonders intensive Liebe zwischen Mutter und Kind, die auch ohne großer Worte hervor sticht.


Die Liebe soll im Zentrum stehen, auch das Zweifeln, ob die Liebe der Mutter beim Kind ankommt. Dass sie, egal ob er wütend auf sie ist, sie haut und kratzt, ihn dennoch liebt, und, dass sie ihn schützen will vor den Blicken von Außenstehenden, was sie aber letztendlich nicht leisten kann.

Liebe Grüße
Heidi

@gold  Ich kränkle auch. sad Deshalb werde ich die Antwort auf deinen Kommentar vertagen. Gute Besserung dir!
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Tjana
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Beitrag25.03.2017 02:44

von Tjana
Antworten mit Zitat

Ich bin froh, angeklickt zu haben. Beim Titel dachte ich zuerst an eine Romance.
Dein Text hat schon mit den ersten Zeilen etwas ausgelöst. Zunächst Interesse, es hätte ja auch eine Beziehungsgeschichte sein können. Guter Einstieg also.
Spätestens nach der Erinnerung an die ersten Lebenstage bekommt das Wippen eine ganz andere Bedeutung. Wunderbar gelungen, so ganz ohne Erklärungen. Hier beginnt die Berührung, die der Text ohnehin schon geschafft hat, sich zu intensivieren. Aha, ein autistisches Kind und das Bemühen der Mutter, es zu erreichen und in der Welt „da draußen“ zu beschützen. Dass das nötig und ihr wichtig ist, wieder großartig in einer (distanzierten) Einstreuung  der Meinung anderer Menschen in der U-Bahn transportiert. Dabei hatte für mich diese Stelle die größte Wirkung:
 
Zitat:
Der Vater bleibt seiner Tochter die Antwort schuldig.

Ja, auch auf die spezielle Situation bezogen, hat dein Text etwas in mir ausgelöst – obwohl ich (zum Glück) mit der Thematik überhaupt nicht vertraut bin. Er hat mich berührt und Fragen laut werden lassen, die dennoch einen Platz in meinem Kopf haben.
Ein Text, den ich sehr gerne gelesen habe, einzig die Wiederholungen, dass es der Mutter nicht gelingt, den Jungen zu erreichen, haben mich etwas gestört, aber das ist geringfügig.
LGT

Pinneberg? Altona? Leben wir in derselben Stadt?


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gold
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Beitrag25.03.2017 05:54

von gold
Antworten mit Zitat

]der lieben kränkelnden Heidi auch gute Besserung. Ich fühle mich schon wieder etwas fitter.

Jetzt ist mir auch klar, dass die Busnummern nicht laut gelesen werden, sondern dass die Protas diese sehen...Also vergiss meine Anmerkung.

Liebe Grüße
gold


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Heidi
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Der goldene Durchblick


Beitrag25.03.2017 22:47

von Heidi
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Guten Abend, liebe gold!

Dankeschön fürs Lesen und Kommentieren, trotz Krankheit und dem Beitrag, der dir abhanden gekommen ist, und den du dann noch mal neu schreiben musstest.

gold hat Folgendes geschrieben:
[...] wie bei deiner "Honigrevolution" liest sich das für mich wie eine Regieanweisung.


Irgendwie machen mir Texte im "Drehbuchstil" Spaß, weil ich die Situation dann gut von außen sehe, ohne mich weiter auf das Innenleben der Figuren konzentrieren zu müssen, was natürlich auch Spaß macht, aber eine völlig andere Sache ist. Es wird bestimmt wieder Texte von mir geben, die auch die Gedanken und Gefühle von den Figuren transportieren. In diesem Fall, wollte ich aber beim Leser anregen, sich eine eigene Meinung zu bilden, eigene Gefühle zu entwickeln.

gold hat Folgendes geschrieben:
Nun denn, hab deshalb versucht, es ins Präteritum zu setzen: Das geht gar nicht.
Also lass es dabei.


Das geht gar nicht im Sinne von: Das liest sich dann scheußlich?
Ich finde schon, dass es auch möglich wäre, Präteritum zu verwenden, aber ich möchte das nicht.
Einen Roman würde ich nicht im Präsens schreiben, aber bei Kurzgeschichten mag ich die Gegenwart ganz gerne.

gold hat Folgendes geschrieben:
Den Sprachfehler des Prota müsste es doch bei der Aufzählung der Busnummern auch geben?


Eigentlich ja; ich hatte sogar kurz überlegt, sie auszuschreiben, aber die Busnummern waren teils sehr lange und das wäre dann mMn etwas anstrengend geworden.

gold hat Folgendes geschrieben:
Den Schluss "Geisbauarbeiten am Wochenende" im Zusammenhang mit der Hand, die locker in ihrer liegt, finde ich allerliebst.


Darüber freue ich mich. smile

gold hat Folgendes geschrieben:
Liebe Heidi,

m.E. ist dir diese - äußerst einfühlsame -  Geschichte sehr gut gelungen. Ich sehe den Prota direkt vor mir. Der Umgang seiner Mutter mit ihm ist so liebe- und verständnisvoll. Solche Angehörigen kann man nur jedem Kind wünschen, das mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat.

Gerne gelesen.


Vielen Dank für dieses Kompliment. Ich war sehr unsicher, wie meine Figuren ankommen, weil ich ja nichts vorgebe und sicherlich ist es unterschiedlich, wie Leser auf den Text reagieren. Die Mutter könnte, gerade am Anfang, auch genervt wirken, weil sie ihre Fragen ständig wiederholen muss - ich gebe ja nichts vor, außer die Sache mit dem Schmerz und das eine oder andere am Ende.

gold hat Folgendes geschrieben:
Ich denke, die Distanziertheit des Autors ist dir gut gelungen und sie ist hier angesagt. Wärest du als Autor näher dran und das entsprechend ausdrücken, wäre der Leser nicht so dicht an den Protas.


Das freut mich besonders, auch, dass du dich mit so viel Nähe auf meine Figuren und den Text eingelassen hast.

gold hat Folgendes geschrieben:
Jetzt ist mir auch klar, dass die Busnummern nicht laut gelesen werden, sondern dass die Protas diese sehen...Also vergiss meine Anmerkung.


Doch, die Busnummern sagt der Junge schon laut (weil im Dialog), aber deine Anmerkung bringt mich gerade auf die Idee, sie außerhalb vom Dialog anzuführen, also als das Bild, das die Mutter sieht. Ich guck mal, ob mir das auch in der Praxis gefällt.

Liebe Grüße
Heidi
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Heidi
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Der goldene Durchblick


Beitrag25.03.2017 23:26

von Heidi
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Liebe Tjana,

Tjana hat Folgendes geschrieben:
Ich bin froh, angeklickt zu haben. Beim Titel dachte ich zuerst an eine Romance.


ich bin auch froh, dass du angeklickt hast. smile extra
Nee, Romance liegt mir so gar nicht. Es war mir klar, dass der Titel anders aufgefasst werden könnte, also in Richtung partnerschaftlicher Liebe oder Kitsch (was ich nicht abwertend meine), aber ein anderer passte nicht. Deshalb bin ich das Risiko einfach eingegangen, dass ich den einen oder anderen Leser schon mit der Titelwahl verliere.  

Tjana hat Folgendes geschrieben:
Dein Text hat schon mit den ersten Zeilen etwas ausgelöst. Zunächst Interesse, es hätte ja auch eine Beziehungsgeschichte sein können. Guter Einstieg also.
Spätestens nach der Erinnerung an die ersten Lebenstage bekommt das Wippen eine ganz andere Bedeutung. Wunderbar gelungen, so ganz ohne Erklärungen. Hier beginnt die Berührung, die der Text ohnehin schon geschafft hat, sich zu intensivieren. Aha, ein autistisches Kind und das Bemühen der Mutter, es zu erreichen und in der Welt „da draußen“ zu beschützen. Dass das nötig und ihr wichtig ist, wieder großartig in einer (distanzierten) Einstreuung  der Meinung anderer Menschen in der U-Bahn transportiert.


Ich finde es immer wieder spannend, zu erfahren, wie Texte von der ersten Zeile an ankommen. Jetzt wird mir klar: Natürlich könnte es sich auch um ein altes Ehepaar handeln, er sitzt am Tisch, leidet vielleicht an Demenz oder ist resigniert vom Leben. Da ich beim Schreiben ja nur mein Bild sehe (ich kann nicht konstruieren, es fällt mir schwer von der ersten Zeile an zu planen, es geschieht einfach im Schreibfluss), ist es umso wertvoller, zu erfahren, wie der Text auf dich wirkt. Dass er bei dir schon in den ersten Zeile etwas auslöst, freut mich besonders.

Tjana hat Folgendes geschrieben:
Dabei hatte für mich diese Stelle die größte Wirkung:
 
Zitat:
Der Vater bleibt seiner Tochter die Antwort schuldig.

Ja, auch auf die spezielle Situation bezogen, hat dein Text etwas in mir ausgelöst – obwohl ich (zum Glück) mit der Thematik überhaupt nicht vertraut bin. Er hat mich berührt und Fragen laut werden lassen, die dennoch einen Platz in meinem Kopf haben.


Dieser Satz ist mir sehr wichtig und es freut mich, dass du ihn heraus gepickt hast. Dass mein Text Fragen aufwirft und berührt, bedeutet mir viel, vor allem auch, weil du mit der Thematik nicht vertraut bist und dennoch so viel in dir ausgelöst wurde.

Tjana hat Folgendes geschrieben:
Pinneberg? Altona? Leben wir in derselben Stadt?


Du wohnst auch inne Peerle? Cool
Ich gebe ja zu, dass Geschichten, die in Hamburg spielen, Spaß machen. Nicht nur, solche zu schreiben, sondern auch, solche zu lesen. Kennst du Buntschatten und Fledermäuse von Axel Brauns? Die Autobiographie eines Autisten, der in Hamburg-Osdorf aufgewachsen ist. Ich habe es geliebt, mit ihm vertraute Ecken zu erkunden, und etwa die Oma in Barmbek zu besuchen, weil ich, als ich das Buch las, noch in Barmbek wohnte. Aber selbstverständlich mag ich auch "Hamburg-Romane", die nichts mit dem Thema Autismus zu tun haben. Ich denke, so geht es vielen Menschen mit Geschichten aus der "eigenen" Stadt.  

Danke, liebe Tjana, fürs Lesen und dafür, dass du deine Gedanken mit mir geteilt hast.

Liebe Grüße
Heidi
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Tjana
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Beitrag25.03.2017 23:33

von Tjana
Antworten mit Zitat

Heidi hat Folgendes geschrieben:
Liebe Tjana,
Du wohnst auch inne Peerle? Cool

Mal auf den Wohnort in meinem Avatar geschaut? wink


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Heidi
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Der goldene Durchblick


Beitrag31.03.2017 21:24

von Heidi
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Tjana hat Folgendes geschrieben:
Heidi hat Folgendes geschrieben:
Liebe Tjana,
Du wohnst auch inne Peerle? Cool

Mal auf den Wohnort in meinem Avatar geschaut? wink


Ich weiß doch, wo du wohnst, liebe Tjana. Meine Frage war nicht ganz ernst gemeint. Wink So hatte ich deine Frage (die davor) auch verstanden - wegen dem Wohnort unterm Avatar, den es bei mir ja auch gibt, nur anders formuliert.
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Tjana
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Beitrag31.03.2017 22:09

von Tjana
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rotwerd Kopf an die Wand
Das kommt davon, wenn man "schnell noch mal" antworten will  

Grüße aus der schönsten in die schönste Laughing


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scura
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Wohnort: Österreich


Beitrag23.04.2017 00:29
Re: Liebe
von scura
Antworten mit Zitat

Mich hat der Text sehr berührt. Er ist ein leiser Text. Bei dem für mich vor allem, dass nicht aufgeschriebene, das nicht erwähnte, das zwischen den Zeilen lauert wirkt.  Es gefällt mir auch wie du den/die LeserIn langsam hinführst. Hier:

Heidi hat Folgendes geschrieben:
Summend sitzt er am Tisch, wippt vor und zurück. Sie nimmt neben ihm Platz.
›Was möchtest du essen?‹
›…‹
›Schau mich an.‹
›…‹

›Was … schau mich an, Jonah. Möchtest du ein Marmeladenbrot?‹

Blick nach unten gerichtet.
›Ein Honigbrot?‹
›…‹
›Jonah, ein Honigbrot?‹
›…‹

Das Wippen nimmt ein Ende. Augen glasig, nach Innen blickend. ›Honigboot.‹


Ja hier glaubt man noch es ist ein Kleinkind. Diese Szene ist herrlich authentisch beschrieben. Könnte direkt von mir daheim sein - mit der zweijährigen... also solche Szenen kommen auch bei uns vor wenn die Kinder in ein Spiel vertieft sind. (Bis mir einfällt, dass ich das jeweilige Kind antatsche)

 
Heidi hat Folgendes geschrieben:

Er steht ganz vorne im Bus - sie neben ihm -, und schaut auf die vorbeifahrenden Autos.
›Eins. Bei. Dei. Vier. Fünf. … Beiundbambig. Deiundbambig. Vierundbambig. … Neunundfünfbig. Sechbig. Einundsechbig. … Siebbig. Einundsiebbig–‹ Er unterbricht sich, ehe er weiterspricht.  ›Mama, P und I, der kommt aus Pinneberg.‹ Er deutet auf ein Nummernschild.
Sie nickt. ›Du hast recht, der kommt aus Pinneberg.‹
Später zieht er an ihrer Jacke.
›Achthundertbambig Pädse frei.‹
Ihr Blick folgt dem seinen, sie erkennt das Parkhaus, an dem das Fahrzeug gerade vorbeifährt. Auf der Anzeigetafel steht 820.
Gleich darauf rüttelt er wieder an ihrem Arm, seine Augen leuchten. ›Mama, dort … sechs Busse halten hier. 116, 34, 251, 214, 75, 279.‹
Sie schaut auf das Schild an der Bushaltestelle, lächelt in sich hinein und nickt. Weil sie seine Worte nicht mit Worten bestätigt, wiederholt er die Busnummern, drängt um Anerkennung.
›Du hast recht, Jonah, hier halten sechs Busse‹, sagt sie und fordert ihn zum Weitergehen auf.



Hier habe ich mich gewundert, was für ein kluges Kind es ist. In dem Alter (also  ich dachte so an zwei... schon so gut zählen können). Ich habe mich gewundert wieso du da solange herumeierst mit den Zahlen. Das wird mir aber dann im nächsten Abschnitt klar.


 
Heidi hat Folgendes geschrieben:
Auf dem Weg zum Bahnsteig, erzählt er ihr von seinem neuen Lehrer. Formt den Namen, müht sich ab, aber sie versteht ihn nicht. Manche Laute kommen anders heraus, als von ihm gewollt.


Ab hier checke ich, dass es sich nicht um ein zweijähriges Kind handelt. Ich bin neugierig. Was ist mit ihm los. Wie alt ist er?

 
Heidi hat Folgendes geschrieben:
Sie wiederholt das Gesagte, formt es um, versucht verzweifelt den Namen herauszufinden, doch er schüttelt den Kopf. Tränen glitzern in seinen Augen. Hilflos schaut sie ihn an, will in seine Welt vordringen, aber es gelingt ihr nicht.
Er wischt die Tränen weg, wird zornig, beginnt zu toben.
Fäuste fliegen, Steine fliegen. Kratzen, kneifen, boxen. Zerstörung.
Sie umhüllt ihn, versucht in aufzufangen, hört im Hintergrund verärgertes Gemurmel.
›Schlecht erzogen.‹
Antwort, mit gedämpfter Stimme: ›Nein Frank, mit dem stimmt was nicht.‹
Ein kleines Mädchen fragt: ›Papa, warum hat der Junge so komisch geredet? Und warum haut er seine Mama?‹
Schritte entfernen sich. Der Vater bleibt seiner Tochter die Antwort schuldig.
Er beruhigt sich in ihren Armen, die Kratzer in ihrem Gesicht schmerzen weniger, als die Worte und Blicke der Passanten.


Dass finde ich gut beschrieben. Die Situation. Die Blicke. Die Frage des Mädels.  Das Unbehagen der Mutter.

 
Zitat:

Die Rolltreppe rollt
nach unten;
er rollt mit, sie rollen zusammen.


Das ist meine Lieblingsstelle.

 
Zitat:

Sie beobachtet ihn, er ist wieder ganz bei sich; sie will wissen, wie es in ihm aussieht, will mit ihm miterleben und findet doch keinen Zugang.

Er schaut auf das Bahngleis; konzentrierter Blick. Alle Dinge werden in Augenschein genommen, kein Detail entgeht ihm.
Sie lächelt und denkt: Du weißt, worauf es ankommt. Nicht immer, aber manchmal.
›Jonah?‹
›…‹
›Jonah?‹
›...‹
›Ich hab dich lieb.‹
›…‹
›Ich ... schau mich mal an, Jonah.‹

Die Bahn fährt ein, seine Augen tasten jeden Zentimeter ab. Faszination.
›Schau mich an. Ich habe etwas gesagt. Zu dir.‹
›…‹
Weit weg.
›Schau mich an.‹
Hand unters Kinn geschoben. Blicke treffen sich. Seiner ist nach Innen gerichtet, ihrer folgt dem seinen; sie findet ihn aber nicht.
Hinter ihr summen die Bremsen.
›Ich hab dich lieb.‹ Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.
Anstatt einzusteigen, zieht er an ihrer Hand und läuft ganz nach vorne, dort wo er jeden Morgen auf die einfahrende Bahn wartet, und die Lichter betrachtet, sowie die Bahnnummer und Endhaltestelle. ›S31 fährt nach Altona.‹  
›Du hast recht, sie fährt nach Altona. Aber jetzt müssen wir einsteigen, sie fährt gleich los.‹  


Wieso läuft er noch vorne? Wenn er jeden morgen dort wartet wieso heute nicht? Ansonsten - das mit dem ich habe dich lieb der Mutter - und das Kind was stattdessen auf die Bahn schaut... Ich kann ihren Schmerz und ihre Liebe spüren.

Zitat:
Sie bleiben stehen, damit er an jeder Station die Tür öffnen kann.
Da dachte ich erst sie bleiben draußen stehen...

_________________
Im blinzeln eines Augenblickes,
dein verhülltes Lächeln,
in dem mein ganzes Hoffen in die Zukunft liegt.
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Sparkle
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Beitrag24.04.2017 16:59

von Sparkle
Antworten mit Zitat

Tut mir leid, dass ich kein großes Feedback geben kann, aber für den Text hab ich nur ein paar <3<3<3 übrig.

Wunderbar berührend.
Regt zum Nachdenken an und hinterfragt so schön unterschwellig unsere Gesellschaft im Umgang mit behinderten Menschen.

Der schönste Text, den ich bisher im Forum gelesen habe Embarassed
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Heidi
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Der goldene Durchblick


Beitrag26.04.2017 21:07
Re: Liebe
von Heidi
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Liebe scura,

schön, dich hier in meinen Thread zu treffen und vielen Dank für die intensive Auseinandersetzung mit meiner Geschichte.

scura hat Folgendes geschrieben:
Mich hat der Text sehr berührt. Er ist ein leiser Text. Bei dem für mich vor allem, dass nicht aufgeschriebene, das nicht erwähnte, das zwischen den Zeilen lauert wirkt.


Das ist für mich ein riesiges Kompliment, weil es doch mein Wunsch ist, etwas zwischen den Zeilen erlebbar zu machen. Ob es bei Lesern tatsächlich so ankommt, kann ich nur durch Reflexion erfahren. Umso mehr freut es mich, dass ich, gerade für diesen Text - der mir sehr wichtig ist - schon so viel Feedback bekommen habe. Und dann auch noch so viel positives. Embarassed

scura hat Folgendes geschrieben:
Zitat:

Die Rolltreppe rollt
nach unten;
er rollt mit, sie rollen zusammen.


Das ist meine Lieblingsstelle.


Das freut mich, ich mag die Stelle auch. Und ich mag es, zu erfahren, welche Stellen besonders gefallen haben. Dankeschön.

Zitat:
Wieso läuft er noch vorne? Wenn er jeden morgen dort wartet wieso heute nicht?


Du hast recht, das ist nicht glücklich ausgedrückt. Er betrachtet die Bahn jeden Tag von diesem Standort aus, gewartet hat er an diesem Morgen ja an einem anderen Ort. Das schau ich mir noch mal an.

Zitat:
Da dachte ich erst sie bleiben draußen stehen...


Hier gibt es einen kleinen Sprung, das stimmt, aber vorher ist auch vom Einsteigen die Rede. Ich denke, das werde ich so lassen. Gewisse Sprünge darf der Leser füllen.

Liebe Grüße
Heidi
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Heidi
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Beitrag26.04.2017 21:17

von Heidi
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo Sparkle,

danke fürs Lesen und deinen Kommentar.

Sparkle hat Folgendes geschrieben:
Tut mir leid, dass ich kein großes Feedback geben kann, aber für den Text hab ich nur ein paar <3<3<3 übrig.

Wunderbar berührend.
Regt zum Nachdenken an und hinterfragt so schön unterschwellig unsere Gesellschaft im Umgang mit behinderten Menschen.


Ein kleines Feedback ist auch schön - dir muss also nichts leidtun.
Mittlerweile habe ich die besonderen Zeichen, mit denen du meine Geschichte würdigst, gegoogelt - und mich sehr darüber gefreut. smile

Sparkle hat Folgendes geschrieben:
Der schönste Text, den ich bisher im Forum gelesen habe Embarassed


Dankeschön. Embarassed

Liebe Grüße
Heidi
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Sparkle
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Alter: 33
Beiträge: 20
Wohnort: Zossen


Beitrag27.04.2017 22:47

von Sparkle
Antworten mit Zitat

Heidi hat Folgendes geschrieben:
Hallo Sparkle,

danke fürs Lesen und deinen Kommentar.

Ein kleines Feedback ist auch schön - dir muss also nichts leidtun.
Mittlerweile habe ich die besonderen Zeichen, mit denen du meine Geschichte würdigst, gegoogelt - und mich sehr darüber gefreut. smile


 Laughing Nächstes Mal schreib ich einfach Herzen statt <3<3<3... versprochen Embarassed
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