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Nachtblüher


 
 
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menetekel
Geschlecht:weiblichExposéadler

Alter: 104
Beiträge: 2452
Wohnort: Planet der Frühvergreisten


Beitrag12.10.2016 17:32
Nachtblüher
von menetekel
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Nachtblüher

Wenn ich
der Turmuhr die Zeiger biege
beginnen Levkojen zu sprießen
erwachsen Paläste aus Rosenquarz
und Häuser liegen verlassen

fühl ich
dein schlagendes Herz in der Hand
und trag es durch Schattenreiche -
doch macht sich der Morgen vom Dunkel frei
entfliehst du mein Lilienschöner

tönt mir
aus Fächern von Blättern und Licht
der Zyklus der Winterreise

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Erman
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 486
Wohnort: Erde


Beitrag12.10.2016 20:20

von Erman
Antworten mit Zitat

Lieber menetekel,

ich kann hier alles nachfühlen.

Das LI beschreibt hier den Verlust eines ihm sehr naheliegenden Menschen, den er mit Nachtblüher, hier als Metapher, vergleichend beschreibt.
Und wünscht sich gedanklich Herr über die Zeit zu sein, obwohl wissend, dass sie nicht existiert.
Dabei dient ihm eine Turmuhr als Symbol für die Zeit, die er durch das biegen der Zeiger, für einen Augenblick zum Stillstehen bringt.
Danach offenbart das LI seine Innigsten Gefühle; Levkojen sprießen ... Gedanken eines verlassenen LI, die in Zeitraffer vor seinen Augen ...

Den Rest will ich nicht mehr kommentieren, weil … zu traurig.

LG Erman


_________________
Ein Lächeln zeigt die einzig ungerade Linie,
die viele Dinge gerade biegen kann. - Erman
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firstoffertio
Geschlecht:weiblichShow-don't-Tellefant


Beiträge: 5854
Wohnort: Irland
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Beitrag12.10.2016 23:05

von firstoffertio
Antworten mit Zitat

Die ersten beiden Zeilen sind echt gut. Ich überlegte, warum ich sie so mag, und ich glaube, es ist, weil sie  mich an Christine Lavant erinnern, wie überhaupt die ganze erste Hälfte. Sie hätte aber ein bisschen anders geschrieben:

Wenn ich
der Turmuhr die Zeiger biege
beginnen Levkojen zu sprießen
erwachsen Paläste aus Rosenquarz
und Häuser liegen verlassen

fühl ich
d mein schlagendes Herz in der Hand
und trag es durch Schattenreiche -


Der zweite Teil bringt dann eindeutig ein LdU ins Spiel. Ich weiß nicht, ob ich auf Tod, Verlust gekommen wäre, hättest du das nicht oben drüber geschrieben.
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menetekel
Geschlecht:weiblichExposéadler

Alter: 104
Beiträge: 2452
Wohnort: Planet der Frühvergreisten


Beitrag13.10.2016 18:23

von menetekel
pdf-Datei Antworten mit Zitat

firstoffertio hat Folgendes geschrieben:
Die ersten beiden Zeilen sind echt gut. Ich überlegte, warum ich sie so mag, und ich glaube, es ist, weil sie  mich an Christine Lavant erinnern, wie überhaupt die ganze erste Hälfte. Sie hätte aber ein bisschen anders geschrieben:

Wenn ich
der Turmuhr die Zeiger biege
beginnen Levkojen zu sprießen
erwachsen Paläste aus Rosenquarz
und Häuser liegen verlassen

fühl ich
d mein schlagendes Herz in der Hand
und trag es durch Schattenreiche -


Der zweite Teil bringt dann eindeutig ein LdU ins Spiel. Ich weiß nicht, ob ich auf Tod, Verlust gekommen wäre, hättest du das nicht oben drüber geschrieben.


Hallo firstoffertio,

kann gut sein, dass Christine Lavant das Gedicht anders geschrieben hätte. Vermutlich hätte sie auch etwas ganz anderes gemeint. Wink  Trotzdem vielen Dank.

Dass du Tod und Verlust nicht miteinbezogen siehst, wundert mich aber dennoch. Wer einmal Schuberts Winterreise gehört hat, weiß, dass es im Gedicht nicht ums Frohlocken gehen kann. Zudem wimmelt es hierin von passenden Symbolen und Spuren.

Liebe Grüße
m.
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menetekel
Geschlecht:weiblichExposéadler

Alter: 104
Beiträge: 2452
Wohnort: Planet der Frühvergreisten


Beitrag13.10.2016 18:30

von menetekel
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Erman hat Folgendes geschrieben:
Lieber menetekel,

ich kann hier alles nachfühlen.

Das LI beschreibt hier den Verlust eines ihm sehr naheliegenden Menschen, den er mit Nachtblüher, hier als Metapher, vergleichend beschreibt.
Und wünscht sich gedanklich Herr über die Zeit zu sein, obwohl wissend, dass sie nicht existiert.
Dabei dient ihm eine Turmuhr als Symbol für die Zeit, die er durch das biegen der Zeiger, für einen Augenblick zum Stillstehen bringt.
Danach offenbart das LI seine Innigsten Gefühle; Levkojen sprießen ... Gedanken eines verlassenen LI, die in Zeitraffer vor seinen Augen ...

Den Rest will ich nicht mehr kommentieren, weil … zu traurig.

LG Erman


Lieber Ermann,

hab aufrichtigen Dank für deinen einfühlsamen Kommentar, der die vordergründige / hauptsächliche Lesart ganz wunderbar nachempfindet.

Sehr erfreute Grüße
m.
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James Blond
Geschlecht:männlichEselsohr

Alter: 71
Beiträge: 448
Wohnort: HAMBURG


Beitrag13.10.2016 21:53

von James Blond
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Ja klar, lieber Erman,
 das Gedicht dreht sich um Verlust und Trauer, doch ist das noch kein Grund, in der eigenen Empathielache zu ertrinken. Der Tod eines geliebten Menschen ist etwas Normales, fast schon Alltägliches und wird uns mit zunehmenden Alter ein vertrauter Begleiter und der "Phantomschmerz" zum dominierenden Lebensgefühl.

Insofern stimmt mich die milde Melancholie nicht  sonderlich trauriger, als es das Leben ohnehin schon vermag. Auch in Schuberts Liederzyklus steckt eine eher heitere Melancholie und die Bereitschaft, dieses Gefühl auszukosten verbindet den Autor mit dem romantischen Komponisten.

An anderer Stelle hatte ich empfohlen, erklärende, deutende Aussagen zugunsten darstellender Bilder zu vermeiden, hier nun sehe ich genau dieses Prinzip angewandt: Kein Wort der Trauer, des Schmerzen, der Tränen, der Verzweiflung, des Leides, stattdessen wundervolle Bilder über die Nachtblüten des Lebens, aus denen eine ruhige Kraft strömt und uns gefangen nimmt. Trauer? Schon - aber auch Zuversicht und Gefasstheit: Liebe, die über den Tod hinaus reicht, weil sie eben alles umschließt und Glück und Schmerz zu einem großen Gefühl vereint.

Schönes Gedicht.

JB
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firstoffertio
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Beitrag13.10.2016 22:34

von firstoffertio
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Ich bin schlecht im Anspielungen auf andere Werke erkennen. Hatte "der Zyklus der Winterreise" ohne eine solche gelesen, und diese Wortwahl als deine eigene in Bezug auf den wiederkehrenden Winter gelesen.
Und so gefaellt mir das weiterhin besser, und ich will die Bezugnahme auf Schubert nun wieder vergessen.
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BlueNote
Geschlecht:männlichStimme der Vernunft


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Wohnort: NBY



Beitrag14.10.2016 00:06

von BlueNote
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Mir ist das Gedicht ein bissl zu exaltiert, besonders das hier
Zitat:

entfliehst du mein Lilienschöner

Etwas zu gewollt! Lyrik verkrampft. Mir zu blumig, insgesamt!
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menetekel
Geschlecht:weiblichExposéadler

Alter: 104
Beiträge: 2452
Wohnort: Planet der Frühvergreisten


Beitrag14.10.2016 07:51

von menetekel
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Hallo Bluenote,
hab Dank für deine Einschätzung. Bitte, belass es diesmal dabei.

Hallo Firstoffertio,
für mich gehört Schuberts "Winterreise" zu den denkbar schönsten Hörerlebnissen. - Daneben gibt es noch den Gedichtstitel, die Lilien u.v.a. Richtungsweisende.
Ich freue mich aber sehr, dass du nun einen Zugang gefunden und eine Haltung zum Gedicht entwickeln konntest.

Euch 2en liebe Grüße
m.
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BlueNote
Geschlecht:männlichStimme der Vernunft


Beiträge: 7304
Wohnort: NBY



Beitrag14.10.2016 08:10

von BlueNote
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menetekel hat Folgendes geschrieben:
Hallo Bluenote,
hab Dank für deine Einschätzung. Bitte, belass es diesmal dabei.

Meine Meinung dazu: Es kann nicht sein, dass die Hälfte des Lyrikforums, was ihre eigenen threads betrifft, einen ständig vor die Tür weist. Wir sind ein offenes Forum und kein elitärer Club oder eine verschworene Gemeinschaft, die sich ständig selber (bzw. gegenseitig) auf die Schultern klopft. Kritik, die sich rein auf den Text bezieht, muss in diesem Forum unabhängig vom Autor und dessen Vorlieben, was Forenmitglieder betrifft, möglich sein bzw. geduldet werden. Wenn Kritik die Regeln an Respekt und Freundlichkeit einhält, kann/soll sie nicht einfach unterbunden werden. Das ist eine Frage von Höflichkeit und gutem (sozialen) Benehmen.

Alles andere wäre Mobbing.

So weit meine Meinung.
Dies ist ein Appell für ein freundliches Miteinander und gegen Mobbingtendenzen der Marke "wir alle gegen X". Ausklammern, ignorieren, übergehen - das ist kein Forum, wie ich es mir wünsche.

So weit OK, Frau m.? An dem freundlichen Miteinander können wir ja noch arbeiten und ich habe für alle diesbezüglichen Wünsche ein offenes Ohr. Aber im Vordergrund steht der Text. Und zwar nur der Text!
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menetekel
Geschlecht:weiblichExposéadler

Alter: 104
Beiträge: 2452
Wohnort: Planet der Frühvergreisten


Beitrag14.10.2016 08:14

von menetekel
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Hallo Jeamus,
du wendest dich in deinem Kommentar zwar nicht direkt an mich, doch möchte ich trotzdem ein wenig darauf eingehen. Weil du nämlich Details ansprichst, die von Allgemeininteresse sind und natürlich auch mich selber umtreiben.

James Blond hat Folgendes geschrieben:
Ja klar, lieber Erman,
 das Gedicht dreht sich um Verlust und Trauer, doch ist das noch kein Grund, in der eigenen Empathielache zu ertrinken. Der Tod eines geliebten Menschen ist etwas Normales, fast schon Alltägliches und wird uns mit zunehmenden Alter ein vertrauter Begleiter und der "Phantomschmerz" zum dominierenden Lebensgefühl.


Das ist leider richtig. Doch sind diese Einsichten - oder der produktive Umgang mit dem Phänomen selbst - eben auch an das eigene Alter bzw. durchlebte Erfahrungen gebunden. Mit diesen wandeln sich naturgemäß der literarische Geschmack und die eigenen Texte.

Zitat:
Insofern stimmt mich die milde Melancholie nicht  sonderlich trauriger, als es das Leben ohnehin schon vermag. Auch in Schuberts Liederzyklus steckt eine eher heitere Melancholie und die Bereitschaft, dieses Gefühl auszukosten verbindet den Autor mit dem romantischen Komponisten.


Fein erkannt. Der Tod selber kann ja als Bedrohung oder eben als lilienschön empfunden werden. Letztere Empfindung schließt den Schmerz nicht aus, jedoch das eigene Ableben ein.

Zitat:
An anderer Stelle hatte ich empfohlen, erklärende, deutende Aussagen zugunsten darstellender Bilder zu vermeiden, hier nun sehe ich genau dieses Prinzip angewandt: Kein Wort der Trauer, des Schmerzen, der Tränen, der Verzweiflung, des Leides, stattdessen wundervolle Bilder über die Nachtblüten des Lebens, aus denen eine ruhige Kraft strömt und uns gefangen nimmt. Trauer? Schon - aber auch Zuversicht und Gefasstheit: Liebe, die über den Tod hinaus reicht, weil sie eben alles umschließt und Glück und Schmerz zu einem großen Gefühl vereint.

Schönes Gedicht.


Danke. Embarassed
m.
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Erman
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 486
Wohnort: Erde


Beitrag14.10.2016 13:42

von Erman
Antworten mit Zitat

Ich denke wir alle reagieren auf den Tod und Verlust sehr individuell, eben jeder auf seiner weise – anders, wenn es auch auf den ersten Anblick vielleicht nicht so aussieht, was auch sehr natürlich ist, ohne Frage.

Das Gedicht hier, empfand ich als sehr echt und ehrlich, darum konnte ich mitfühlen.
Es ist nicht nur was, sondern w i e menetekel es geschrieben hat; über die sozialen Konventionen hinweg, ohne sich dabei zu verstellen, was auch allzu menschlich ist. Das Gedicht zeigt eine mögliche und nachvollziehbare Haltung des LI, gegenüber dem Ereignis (Tod) und dessen psychologische Folgen, die er lyrisch in einem mit tiefsinnigen Metaphern und Symbolen zusammengesetzten Gedicht verarbeitet, ohne sich dabei dem Leser mitleidsüchtig aufzubürden. Das Gedicht überlässt es dem Leser, welches Gefühl er dabei empfinden wird oder nicht – es steht ihm frei, wie er sich dem Gedicht nähert.


LG Erman


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die viele Dinge gerade biegen kann. - Erman
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menetekel
Geschlecht:weiblichExposéadler

Alter: 104
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Wohnort: Planet der Frühvergreisten


Beitrag14.10.2016 16:25

von menetekel
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Erman hat Folgendes geschrieben:
Ich denke wir alle reagieren auf den Tod und Verlust sehr individuell, eben jeder auf seiner weise – anders, wenn es auch auf den ersten Anblick vielleicht nicht so aussieht, was auch sehr natürlich ist, ohne Frage.

Das Gedicht hier, empfand ich als sehr echt und ehrlich, darum konnte ich mitfühlen.
Es ist nicht nur was, sondern w i e menetekel es geschrieben hat; über die sozialen Konventionen hinweg, ohne sich dabei zu verstellen, was auch allzu menschlich ist. Das Gedicht zeigt eine mögliche und nachvollziehbare Haltung des LI, gegenüber dem Ereignis (Tod) und dessen psychologische Folgen, die er lyrisch in einem mit tiefsinnigen Metaphern und Symbolen zusammengesetzten Gedicht verarbeitet, ohne sich dabei dem Leser mitleidsüchtig aufzubürden. Das Gedicht überlässt es dem Leser, welches Gefühl er dabei empfinden wird oder nicht – es steht ihm frei, wie er sich dem Gedicht nähert.


LG Erman


Danke, Ermann,
dass du dich nochmals zu Wort gemeldet hast. Die von mir kursiv gesetzten Sätze möchte ich am liebsten mit dem Füllfederhalter unterschreiben: Bin nämlich auch der Meinung, dass Dichter über (fast) alles schreiben können und auch sollen, aber eben mithilfe passender Bilder lebendiger Verben und einem Rest an Geheimnis. - Die Aufgabe des Lesers ist, sich einen Zugang zum Text zu schaffen, wenn es denn möglich und erwünscht ist. Auf seine eigene (schlüssige) Weise. - Dir ist das m. E. gut gelungen.

Liebe Grüße
m.
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Rainer Zufall
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

Alter: 70
Beiträge: 801

Pokapro und Lezepo 2014


Beitrag15.10.2016 12:22

von Rainer Zufall
Antworten mit Zitat

Liebe Menetekel, das ist wunderwunderwunderschön.
Das Lyrikbändchen, würde ich mir kaufen, in dem dies Gedicht drin steht. Und es käm ziemlich weit nach vorne, damit auch andere danach greifen.  
Überhaupt - es gibt paar wunderschöne Gedichte in letzter Zeit, auch James Blonds Gedicht über die konzertierende Katze.
Aber Schluss mit dem Geofftopice und hin zum Gedicht.

Ich fand schon den Titel toll, weil dadurch ein bestimmtes Bild entsteht. Etwas Ungreifbares, das man nur anschauen, vielleicht für eine kurze Zeit genießen, aber eben nicht halten kann.

Zitat:
Wenn ich
der Turmuhr die Zeiger biege
beginnen Levkojen zu sprießen
erwachsen Paläste aus Rosenquarz
und Häuser liegen verlassen

Beim allerersten Lesen hatte ich ein winziges Problem mit "verlassen". das schien mir aus dem Rhythmus zu springen, ich hätte ein Wort mit einem langen i gewollt.
So - und jetzt habe ich das Gedicht schon mehrfach gelesen, die Irritation ist einfach nicht mehr aufgetaucht, ich weiß nicht, entweder hat mich da was geritten und ist einfach wieder abgesprungen, oder ich hab mich vielleicht auch einfach nur an den andersartigen Klang gewöhnt.
Jedenfalls mag ich es sehr, wie du den Wunsch und die Fantasie  des LI durch die gebogenen Zeiger ausdrückst und dann eine Traumwelt entstehen lässt. Das ist sehr malerisch gemacht.  

Zitat:
fühl ich
dein schlagendes Herz in der Hand
und trag es durch Schattenreiche -
doch macht sich der Morgen vom Dunkel frei
entfliehst du mein Lilienschöner

tönt mir
aus Fächern von Blättern und Licht
der Zyklus der Winterreise


Was mir an den Bildern so gut gefällt, sie sind voller Kraft und Gefühl, schrammen aber nie am Gefühsduseligen lang, oder gar am Pathos oder Kitsch, sondern lassen Bilder von Sehnsucht entstehen, von Wehmut und kommendem Verlust und ja, so eine merkwürdige weise Melancholie. Und bevor ich mich jetzt endgültig vergaloppiere, noch ein Wort zu der Machart.
ich finde das sehr gekonnt, wie du die Strophen jeweils einleitest mit - wenn ich - fühl ich - tönt mir. Du betonst durch diese knappen zwei Silben und den Kontrast zu den sonstigen reichen Bildern eine eigenartige Geschichte in sich selbst. Wenn ich nur will, dann kann ich, aber immer tönt mir dann. Eine innere Logik eines Gefühls, das jeweils angekündigt wird und sich dann zu den Bildern auffächert.
Und - das habe ich noch vergessen - dieser Aufbau gibt dem Gedicht durch den Wechsel von Strenge und Vielfalt, Knappheit und Fülle eine Korsage, die den Gedichtleib in Form bringt und ihm einfach nur gut steht.  
Oh Mann, echt, jemand hat mir heut morgen wohl was in den Kaffee geschüttet.
Besser ich hör mal auf.
Viele liebe Grüße an dich.
Zufall
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gold
Geschlecht:weiblichPapiertiger


Beiträge: 4943
Wohnort: unter Wasser
DSFo-Sponsor


Beitrag15.10.2016 13:05

von gold
Antworten mit Zitat

...entfliehst du mein Lilienschöner

 
was für ein wunderbarer Ausdruck!!!

Liebe mentekel,

ich brauchte ein bisschen Zeit um mir deine Zeilen immer und immer wieder zu Gemüte zu führen...
und jetzt hat es bumm gemacht und du hast mich verführt.

Wow. Fantastisch.


_________________
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Aranka
Geschlecht:weiblichBücherwurm
A


Beiträge: 3106
Wohnort: Umkreis Mönchengladbach
Lezepo 2017 Pokapro und Lezepo 2014



A
Beitrag15.10.2016 22:50

von Aranka
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Hallo Menetekel,

Wunderschöne und tragende Bilder. Ein Gedicht, das als Ganzes leuchtet.

Zitat:
„Wenn ich der Turmuhr die Zeiger biege“


Welch eine Eingangszeile/idee!

Mit dieser Zeile eröffnet der Text sich einen unendlich weiten Raum und ich als Leser bin gespannt, was sich in diesem Augenblick der angehaltenen Zeit auftut.

Weiter gefällt mir die „sichere“ Gangart des Textes, der feste Ton: und so werden auch Worte wie „mein Lilienschöner“ gut getragen.

Das Gedicht erzählt mir von Tod und Liebe, auch von Schmerz und Hoffnung und Leben in wunderschönen Bildern.

Der Verweis zur Winterreise öffnet das Gedicht nach hinten.

Ein erfreulicher und lohnender Blick ins Forum. Danke. Aranka


_________________
"Wie dahingelangen, Alltägliches zu schreiben, so unauffällig, dass es gereiht aussieht und doch als Ganzes leuchtet?" (Peter Handke)

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menetekel
Geschlecht:weiblichExposéadler

Alter: 104
Beiträge: 2452
Wohnort: Planet der Frühvergreisten


Beitrag16.10.2016 15:52

von menetekel
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Du Raine im Zufall, rainer als rein,
lass dich virtuell knuddeln (hier fehlt noch der passende Smiley!) und mich näher auf deinen freundlichen Kommentar eingehen.

Rainer Zufall hat Folgendes geschrieben:
Liebe Menetekel, das ist wunderwunderwunderschön.
Das Lyrikbändchen, würde ich mir kaufen, in dem dies Gedicht drin steht. Und es käm ziemlich weit nach vorne, damit auch andere danach greifen.  
Überhaupt - es gibt paar wunderschöne Gedichte in letzter Zeit, auch James Blonds Gedicht über die konzertierende Katze.
Aber Schluss mit dem Geofftopice und hin zum Gedicht.


Wer läse das nicht gern und wäre Bestandteil dieser lyrischen Kette? Mir fehlte es dazu an Stärke.

Zitat:
Ich fand schon den Titel toll, weil dadurch ein bestimmtes Bild entsteht. Etwas Ungreifbares, das man nur anschauen, vielleicht für eine kurze Zeit genießen, aber eben nicht halten kann.


Wenn du wüsstest, wie oft ich dieses Gedicht schon in der Mangel hatte und eigentlich nur den Titel niemals infrage stellen mochte ... anfangs war das Mittelfeld unbefriedigend, später stimmte der Schluss nicht - jetzt scheint das Ding aber endlich fertig zu sein.


Zitat:
Wenn ich
der Turmuhr die Zeiger biege
beginnen Levkojen zu sprießen
erwachsen Paläste aus Rosenquarz
und Häuser liegen verlassen

Beim allerersten Lesen hatte ich ein winziges Problem mit "verlassen". das schien mir aus dem Rhythmus zu springen, ich hätte ein Wort mit einem langen i gewollt.
So - und jetzt habe ich das Gedicht schon mehrfach gelesen, die Irritation ist einfach nicht mehr aufgetaucht, ich weiß nicht, entweder hat mich da was geritten und ist einfach wieder abgesprungen, oder ich hab mich vielleicht auch einfach nur an den andersartigen Klang gewöhnt.
Jedenfalls mag ich es sehr, wie du den Wunsch und die Fantasie  des LI durch die gebogenen Zeiger ausdrückst und dann eine Traumwelt entstehen lässt. Das ist sehr malerisch gemacht.  


Mit der Rhythmisierung ist es so eine Sache. Natürlich gibt es dafür bevorzugte Abfolgen, kleine Tricks und Spezifika, doch letzlich haben die Leser, tief im Süden ihrer Ohren, ein ganz eigenes, persönliches Rhythmusgefühl, das es ihnen schwer macht, sich auf das andere, das Fremde einzulassen. Insbesondere gilt dies natürlich für ungereimte Lyrik. - Bei der Lautung versuche meist in der (heiligen) Dreier-Kombination zu bleiben, was natürlich nicht immer klappt, denn da gibt es ja noch den Inhalt ....

Zitat:
fühl ich
dein schlagendes Herz in der Hand
und trag es durch Schattenreiche -
doch macht sich der Morgen vom Dunkel frei
entfliehst du mein Lilienschöner

tönt mir
aus Fächern von Blättern und Licht
der Zyklus der Winterreise

Was mir an den Bildern so gut gefällt, sie sind voller Kraft und Gefühl, schrammen aber nie am Gefühsduseligen lang, oder gar am Pathos oder Kitsch, sondern lassen Bilder von Sehnsucht entstehen, von Wehmut und kommendem Verlust und ja, so eine merkwürdige weise Melancholie. Und bevor ich mich jetzt endgültig vergaloppiere, noch ein Wort zu der Machart.


Ich sehe mich als (winziges! ) Kind von Stefan George und Georg Heym, als Nachkömmling einer überaus schwierigen "Ehe." Der Heym hasste ja George, parodierte und verehrte ihn doch, war seinerzeit ein wilder "Knabe" von unglaublicher Sprachgewalt, indes George sich im Feinen übte und einen totgesagten Park besang. - Wahrscheinlich stampfen jetzt beide wegen meiner Blasphemie im Dichterhimmel mit den Füßen auf - und das mit Fug und Recht - ich möchte dir aber gern erläutern, welche Pole mich stets interessierten und wohl immer umtreiben werden.

Zitat:
ich finde das sehr gekonnt, wie du die Strophen jeweils einleitest mit - wenn ich - fühl ich - tönt mir. Du betonst durch diese knappen zwei Silben und den Kontrast zu den sonstigen reichen Bildern eine eigenartige Geschichte in sich selbst. Wenn ich nur will, dann kann ich, aber immer tönt mir dann. Eine innere Logik eines Gefühls, das jeweils angekündigt wird und sich dann zu den Bildern auffächert.


Ach, bis das mal so dastand! Dies "tönt"  und die beiden Schlussverse sind mir erst kurz vor dem Einstellen ins Hirn geschossen, vorher gab es noch was Zusätzliches zum Sehen.
Die Userin Gold ist "mitschuldig", die mich vor einigen Wochen ausdrücklich für das Ansprechen mehrerer Lesersinne lobte. Danke, Gold. love

Zitat:
Und - das habe ich noch vergessen - dieser Aufbau gibt dem Gedicht durch den Wechsel von Strenge und Vielfalt, Knappheit und Fülle eine Korsage, die den Gedichtleib in Form bringt und ihm einfach nur gut steht.  
Oh Mann, echt, jemand hat mir heut morgen wohl was in den Kaffee geschüttet.


Aufbau ist m. E. etwas, das sich sehr gut von Reimern abschauen lässt, insbesondere von Sonettschreibern. Ziel eines guten Sonetts ist es ja gerade, die strenge Form gleichsam hinter ihrem Inhalt verschwinden zu lassen, die Form lediglich als tragendes Gerüst zu nutzen. Das gelingt nicht vielen. ---

Falls dir deine WG tatsächlich etwas den Kaffee gestreckt haben sollte, sag auch beim nächsten Mal nicht "nein!"

Herzlichst
m.
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menetekel
Geschlecht:weiblichExposéadler

Alter: 104
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Wohnort: Planet der Frühvergreisten


Beitrag16.10.2016 16:36

von menetekel
pdf-Datei Antworten mit Zitat

gold hat Folgendes geschrieben:
...entfliehst du mein Lilienschöner

 
was für ein wunderbarer Ausdruck!!!

Liebe mentekel,

ich brauchte ein bisschen Zeit um mir deine Zeilen immer und immer wieder zu Gemüte zu führen...
und jetzt hat es bumm gemacht und du hast mich verführt.

Wow. Fantastisch.


Danke schön, Gold.
Indirekt hast du selbst ein wenig zum Gedicht beigetragen (siehe oben).

In einem inspirierenden Umfeld, wie es ein Forum manchmal ist und öfter sein könnte, lernen die Werdenden voneinander und bereichern sich gegenseitig.

[Anfangs befürchtete ich übrigens, dass dieses Gedicht nur Mädels gefallen würde - ist aber gottlob nicht der Fall.]

Liebe Grüße
m.
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menetekel
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Beitrag18.10.2016 06:46

von menetekel
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Liebe Aranka,

wenn ich etwas von dir lese -
in letzter Zeit sind es leider nur Kommentare - wird mir deutlich, wie bedauerlich deine seltene Präsenz für das Forum ist. Kaum jemand schreibt so fundierte, sachliche Kommentare, bezieht sich professionell auf das, was er im Gedicht und zwischen den Zeilen liest und ist zudem in der Lage, ein Gefallen oder Nichtgefallen am Gedicht von seiner Qualität zu trennen. Dafür möchte ich dir an dieser Stelle einmal ausdrücklich danken.

Zitat:
Hallo Menetekel,

Wunderschöne und tragende Bilder. Ein Gedicht, das als Ganzes leuchtet.

Zitat:
„Wenn ich der Turmuhr die Zeiger biege“


Welch eine Eingangszeile/idee!

Mit dieser Zeile eröffnet der Text sich einen unendlich weiten Raum und ich als Leser bin gespannt, was sich in diesem Augenblick der angehaltenen Zeit auftut.


Ja, die Sache mit dem einleitenden "wenn" ist schon praktisch. Sie öffnet das Tor in eine Möglichkeit - aber eben nur einen Spalt, der jederzeit verschließbar wäre. Mit dieser Methode habe ich mich schon öfter beschäftigt und werde es sicherlich noch einige Male tun. - Denn in einem weiteren Sinn ist es ja das, was Poesie wohl ereichen möchte: den Blick in eine andere, fremde Welt, der die Realität nicht eliminiert, aber doch infrage stellt.  

Zitat:
Weiter gefällt mir die „sichere“ Gangart des Textes, der feste Ton: und so werden auch Worte wie „mein Lilienschöner“ gut getragen.


Ja, der "Lilienschöne" ist schon starker Tobak. Er steht für den Geliebten und ist mir gleichzeitig eine Visualisierung des Todes schlechthin. Sonst hätte ich andere Blumen gewählt.

Zitat:
Das Gedicht erzählt mir von Tod und Liebe, auch von Schmerz und Hoffnung und Leben in wunderschönen Bildern.

Der Verweis zur Winterreise öffnet das Gedicht nach hinten.

Ein erfreulicher und lohnender Blick ins Forum. Danke. Aranka


Ich habe zu danken.

Herzliche Grüße und:
Komm bloß bald ("richtig") wieder cry
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