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Intermezzo 1


 
 
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jon
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J
Beitrag06.06.2016 16:40
Intermezzo 1
von jon
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Zum Einstand ein brandneuer Text, genau genommen der Anfang von einer Geschichte. Ich bastle seit Jahren (bzw. Jahrzehnten) an einer Welt herum, zu der ich inzwischen ab und an mal eine Story aufschreibe mit dem Hintergedanken, sie doch irgendwann mal zu bündeln und als Buch zu veröffentlichen.



Tonha war am Ziel. In drei Tagen würde er die Heimreise antreten. Nach achtundzwanzig Jahren auf der Erde des zwanzigsten Jahrhunderts würde er den chaotischen Verhältnissen entfliehen und in seine Heimatzeit zurückkehren. Falls seine Gleichungen zum Zeitsprung exakt waren und der Computer das Shuttle präzise genug steuern konnte. Immerhin bestand ein Restrisiko von acht Komma sechs neun Prozent; das einzugehen war Tonha allerdings mehr als bereit.
Nur eines musste er noch tun. Etwas, wovon er nie gedacht hätte, dass es einmal wichtig für ihn sein könnte. Er musste diese Frau treffen, für die er vor einigen Jahren in Los Angeles ein telefonisches Notrufsystem eingerichtet hatte. Er hatte damals bereits für einige mehr oder weniger zwielichtige Gestalten Abhöranlagen und sichere Telefonleitungen installiert und damit genug Geld für sich und seine Forschung verdient.
Auch die Queen, wie sie sich nannte, zahlte gut. Ihr Anliegen war allerdings ungewöhnlich gewesen: Sie wollte bestimmten Leuten eine personalisierte Telefonnummer an die Hand geben, mit der sie sie in einem Notfall immer und überall erreichten, wobei diese Verbindung jedoch in keinem Protokoll auftauchen durfte und die auch über jegliche Entwicklungsstufen im Kommunikationsnetz hinweg Bestand haben sollte.
Vor allem letztere Forderung hatte Tonha aufmerksam werden lassen. Ein paarmal hatte er versucht, die Frau zu treffen, doch sie blieb ein Phantom. Erst vor drei Jahren änderte sich das. Eine der Nummern, die bis dahin nie benutzt worden war, war plötzlich extrem oft, nahezu hektisch, immer wieder gewählt worden. Die Queen hatte den Anruf nie angenommen, aber Tonha hatte das Zielgerät und über dieses die Frau identifizieren können.
Jetzt musste er sie sehen. Denn wenn er recht hatte, war sie wie er. Ein Zeitreisender. Oder ein Springer, jemand, der wie er durch eine der offenbar spontan entstehenden Löcher im Raum-Zeit-Kontinuum gefallen war. Nur: Sie war inzwischen wieder zu Hause, hatte ihren Tag X überstanden und ihr altes Leben wieder aufgenommen. Sie konnte ihm sagen, ob es dabei Probleme gegeben hatte und worauf er würde achten müssen.

Sie wusste, dass er anders war, noch bevor sie ihn genau sehen konnte. Er kam durch den unruhigen Halbschatten der Bäume auf sie zu, als hätte er schon immer gewusst, dass sie auf dieser kleinen Waldlichtung sitzen und warten würde. Auf irgendwas, was ihr bewies, dass die vergangenen Jahrtausende kein Traum gewesen waren. Eigentlich war es schon längst zu kalt dafür, im Wald zu sitzen und zu warten, aber hier draußen konnte sie schreien, wenn sie der Schmerz der Erinnerung übermannte.
Und das tat er oft. Sie hatte mit allem gerechnet, was bei ihrer Rückkehr in die eigene Zeit passieren könnte – mit ihrem Tod, mit einer bis zu Unkenntlichkeit veränderten Welt und sogar mit der extrem unwahrscheinlichen Variante, dass alles aussehen würde, als sei nichts geschehen. Eigentlich hatte sie Letzteres nur der Vollständigkeit halber in Betracht gezogen, denn sie wusste aus eigenem Erleben, wie schwer schon kleine Eingriffe in die Geschichte wiegen konnten, und in all der Zeit, die sie unterwegs gewesen war, hatte sie millionen- ja milliardenfach eingegriffen. Und trotzdem war das passiert. Nicht genau das, einige historischen Daten waren jetzt ein wenig anders als sie einst gelernt hatte, aber darüber hinaus war ihre Welt so, wie sie sie verlassen hatte. Nur sie war es nicht, auch wenn es sich meistens so anfühlte. Aber wenn sie hierher kam, um sich an die Dinge zu erinnern, die sich meistens wie ein Traum anfühlten, dann konnte sie es spüren: Die erlittenen Schmerzen, die verlorenen Lieben, die begangenen Morde.
Und dann kam er. Kam auf sie zu, als seien sie verabredet gewesen, und reichte ihr die Hand zum Aufstehen. Ließ ihre Hand auch nicht los, als sie sich dicht gegenüberstanden und sie hoch blickte in seine tiefschwarzen Augen, in die sie fiel wie in den freien Raum zwischen den Sternen.
„Ich bin anders“, flüsterte sie.
„Ich weiß“, sagte er und seine Stimme durchfloss ihren Körper. „Ich kann es sehen.“ Sein Blick tauchte aus ihrem auf und musterte nun ihr Gesicht. Es lag wohliges Wundern darin. „Du bist ein Mensch“, sagte er und auch darin lag dieses angenehme Staunen. Und noch während er das sagte, wusste sie, was er meinte und dass er der Beweis war.
Er war kein Mensch. Und er stammte nicht aus dieser Zeit.
Dann schliefen sie miteinander.

Langsam setzte Tonhas Verstand wieder ein. Er schaute zu der Frau neben sich. Sie schlief. Er konnte spüren, dass ihr Körper fror, und zugleich, dass ihr Geist einen so tiefen Frieden spürte wie seit Jahrtausenden nicht mehr.
Jahrtausende. Als Tonha bewusst geworden war, dass Carola nicht nur einen Zeitsprung sondern hunderte davon erlebt hatte, hatte ihn ein Schaudern erfasst. Die ungeheurere Spanne an Erlebtem und Erlittenem schien sein bisheriges Leben, ja die Tiefe des Alls, die er hatte so oft spüren müssen, auf eine Nichtigkeit schrumpfen zu lassen. Und doch: Das war nicht das Erschreckende gewesen. Was ihn völlig unvorbereitet getroffen hatte, war die Tatsache, dass ihm diese Dinge überhaupt bewusst geworden waren. Normalerweise war für so eine mentale Verbindung ein präzises, auf die Partner abgestimmtes Ritual nötig. Auch legendären Liebespaaren seines Volkes sagte man diese Art des Verschmelzens nach. Carola allerdings gehörte nicht zu seinem Volk, ihre Spezies galt gar als besonders unsensibel, was mentale Kontaktaufnahme betraf.
Die Frau lächelte im Schlaf. Es fühlte sich an, als amüsiere sie sich über Tonhas Erstaunen. Ein Kälteschauer, der ihren Körper durchlief, verzerrte das Lächeln. Tonha richtete sich auf, richtete seine Kleidung und versuchte dann, Carola anzuziehen. Obwohl sie ihm – noch immer schlafend – dabei entgegenkam, sah das Endergebnis irgendwie nicht richtig aus. Tonha beließ es trotzdem dabei.

Carola kam durch die Kälte zu sich, die vom Boden her in ihren Körper drang. Sie richtete sich auf. Tonhas Mantel, mit der er sie zugedeckt hatte, rutschte von ihr herunter. Ihre Kleidung war zerruschelt – offenbar hatte Tonha sie nach dem Sex nur notdürftig wieder angezogen.
„Entschuldige“, sagte er und kniete sich neben sie. „Ich habe nicht viel Übung darin, jemanden zu bekleiden.“
Sie reichte ihm den Mantel und stand auf. „Dafür sieht es doch gut aus.“ Sie poste wie ein Model.
Er lächelte unsichtbar.
Caro ordnete ihre Sachen. „So sehr weg war ich danach noch nie.“
„Du hast auch noch nie mit einem Alien geschlafen.“
„Alien? Das klingt …“, sie suchte nach dem passenden Wort.
„Eklig?“, bot er an.
„Ja. Ein bisschen. Auf Deutsch jedenfalls. In Amerika würde es nicht eklig klingen.“ Sie spielte es in Gedanken durch.
„Es ist kalt“, sagte er. „Wir sollten gehen.“
„Und du bist verabredet“, ergänzte sie und schloss sich ihm an. „Wieso kann ich eigentlich deine Gedanken lesen?“
„Diese Art Verbindung ist bei meiner Spezies nicht ungewöhnlich.“
„Bei meiner schon.“
Er blieb stehen und sah sie an.
„Du reist ab?“ Dann begriff sie. „Du reist zurück in die Zukunft!“ Ihr wurde bewusst, dass sie nicht wusste, wie er das machen wollte, und dass sie sich sogar an die Gleichungen, die sich ihr vor Jahrtausenden eingebrannt hatten, nur noch vage erinnerte.
Tonha sagte: „Als ich es in dir sah, blockierte ich dieses Wissen. Du hast recht, es ist zu gefährlich.“
„Man kann es blockieren?“
„Ich kann es blockieren.“
„Du könntest mich ausbilden“, sagte sie, selbst überrascht über diese Idee.
„Das ist nicht überraschend. Wahrscheinlich könnte ich es tatsächlich. Du bist anders als die anderen Menschen. Das könnte mit den Zeitsprüngen zusammenhängen, zumindest aber mit der sehr langen Zeit, die du gelebt hast und in der dein Gehirn weiter reifen konnte. Andererseits bedeutet eine lange Lebenszeit nicht …“
„Du schwafelst“, stellt sie fest.
„Ja.“
„Du willst mich nicht ausbilden.“
„Nein.“
Sie suchte in ihm nach dem Grund.
Er verschloss sich.
„Tonha! – Tonha? Wird es so gesprochen?“
„Ja.“
„Das klingt falsch. Sehr …“
„Gewöhnlich?“
„Sehr deutsch wollte ich sagen, aber ja: Gewöhnlich. Nicht nach einem Außerirdischen.“
„Es klingt ein wenig nach Inka, oder?“
„Tonha?“ Sie lauschte. „Ja. Ein wenig nach … Moment mal! Du lenkst ab!“
„Ja.“ Sein unsichtbares Lächeln fühlte sich traurig an.
„Dann geh nicht! Bleib hier, bilde mich aus! Wenn man eine Zeitmaschine hat, ist es doch egal, wann man abreist.“
Er musterte sie.
„Du weißt, dass ich recht habe.“
„Ja“, sagte er. „Das hast du.“



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lebefroh
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Beitrag07.06.2016 11:22

von lebefroh
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Ich bin auch recht neu hier, aber ich versuche mich mal an deinem Text:

Den ersten Abschnitt fand ich spannend, im zweiten ging es mir dann viel zu schnell. Die ganze Szene zwischen den beiden Figuren fand ich schwer nachzuvollziehen, weil es vorher so wenig Entwicklung gab. Eigentlich hatte ich den Eindruck, dass es sich um eine etwas melancholische Stimmung handelt, was ich gut finde, aber das wird dann gebrochen mit solchen Ausdrücken wie "Du schwafelst" und dieser Bemerkung über Deutsch und Amerikanisch. Er könnte doch einfach "Außerirdischer" statt "Alien" sagen, oder?

Verwirrt hat mich die Stelle mit dem Anziehen. Wieso zieht er sie an? Wird das noch irgendwie erklärt?

Willkommen im Forum und viel Erfolg mit Deinen Texten!
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jon
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Beitrag07.06.2016 13:03

von jon
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Danke für die Amerkungen, lebefroh!

Ja es stimmt wohl, dass es alles in allem ein wenig schnell geht, das hat damit zu tun, dass es wirklich so schnell geht. Und dass es innerhalb der Sammlung als Intermezzo gedacht ist, das einigermaßen kompakt ein paar Infos liefert. Ohne Einbettung und Fortsetzung ist wohl doch zu fragmentarisch.

Warum er sie anzieht? Weil sie Sex hatten und sie eingepennt ist, bevor sie es selbst tun konnte wink


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lebefroh
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Beitrag07.06.2016 13:50

von lebefroh
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Ich weiß nicht, das mit dem Anziehen fand ich so merkwürdig, dass ich nach dem Lesen hauptsächlich darüber nachgedacht habe und nicht über den Rest des Textes. Das war vermutlich nicht deine Intention?
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jon
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Beitrag07.06.2016 13:54

von jon
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Ne, war es wirklich nicht. Mist! Okay, ich versuch mal, es etwas weniger stolperischer zu machen. Das kann aber ein bisschen dauern, ich will auch noch ein paar weitere Abschnitte anfügen …

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jon
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Beitrag07.06.2016 15:31
(NEUE VERSION)
von jon
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Zum Einstand ein brandneuer Text, genau genommen der Anfang von einer Geschichte. Ich bastle seit Jahren (bzw. Jahrzehnten) an einer Welt herum, zu der ich inzwischen ab und an mal eine Story aufschreibe mit dem Hintergedanken, sie doch irgendwann mal zu bündeln und als Buch zu veröffentlichen.
Dieser Text ist ein Intermezzo (würde wohl auch so heißen). Am Anfang des Zyklus würde die Geschichte „Das Ende der Unschuld“ stehen, in dem eine Frau vorgestellt wird, die wieder und wieder durch Zeitlöcher zurück in die Vergangenheit fällt. Danach käme dann „Die Entscheidung“, wo klar wird, dass Carolas Leben vor und nach dem Tag X nicht scharf trennbar sind. Strategisch müsste dann „Das Bild“ kommen – auch hier geht es um Nachwirkungen. Die Story danach („Der Fluch“) findet rein zeitlich gesehen um „Das Bild“ herum statt, benutzt aber Figuren und Set-Elemente, die bis dahin unerklärt sind. Diese Lücke zu schließen – dafür soll dieses Intermezzo dienen. Außerdem möchte ich ein Element einbringen, das in der (noch ungeschriebenen) Geschichte nach „Der Fluch“ von Belang ist …


Tonha war am Ziel. In drei Tagen würde er die Heimreise antreten. Nach achtundzwanzig Jahren auf der Erde des zwanzigsten Jahrhunderts würde er den chaotischen Verhältnissen entfliehen und in seine Heimatzeit zurückkehren. Falls seine Gleichungen zum Zeitsprung exakt waren und der Computer das Shuttle präzise genug steuern konnte. Immerhin bestand ein Restrisiko von acht Komma sechs neun Prozent; das einzugehen war Tonha allerdings mehr als bereit.
Nur eines musste er noch tun. Etwas, wovon er nie gedacht hätte, dass es einmal wichtig für ihn sein könnte. Er musste diese Frau treffen, für die er vor einigen Jahren in Los Angeles ein telefonisches Notrufsystem eingerichtet hatte. Er hatte damals bereits für einige mehr oder weniger zwielichtige Gestalten Abhöranlagen und sichere Telefonleitungen installiert und damit genug Geld für sich und seine Forschung verdient.
Auch die Queen, wie sie sich nannte, zahlte gut. Ihr Anliegen war allerdings ungewöhnlich gewesen: Sie wollte bestimmten Leuten eine personalisierte Telefonnummer an die Hand geben, mit der sie sie in einem Notfall immer und überall erreichten, wobei diese Verbindung jedoch in keinem Protokoll auftauchen durfte und die auch über jegliche Entwicklungsstufen im Kommunikationsnetz hinweg Bestand haben sollte.
Vor allem letztere Forderung hatte Tonha aufmerksam werden lassen. Ein paarmal hatte er versucht, die Frau zu treffen, doch sie blieb ein Phantom. Erst vor drei Jahren änderte sich das. Eine der Nummern, die bis dahin nie benutzt worden war, war plötzlich extrem oft, nahezu hektisch, immer wieder gewählt worden. Die Queen hatte den Anruf nie angenommen, aber Tonha hatte das Zielgerät und über dieses die Frau identifizieren können.
Jetzt musste er sie sehen. Denn wenn er recht hatte, war sie wie er. Ein Zeitreisender. Oder einer ein Springer, jemand, der wie er durch eine der offenbar spontan entstehenden Löcher im Raum-Zeit-Kontinuum gefallen war. Nur: Sie war inzwischen wieder zu Hause, hatte ihren Tag X überstanden und ihr altes Leben wieder aufgenommen. Sie konnte ihm sagen, ob es dabei Probleme gegeben hatte und worauf er würde achten müssen.

Sie wusste, dass er anders war, noch bevor sie ihn genau sehen konnte. Er kam durch den unruhigen Halbschatten der Bäume auf sie zu, als hätte er schon immer gewusst, dass sie auf dieser kleinen Waldlichtung sitzen und warten würde. Auf irgendwas, was ihr bewies, dass die vergangenen Jahrtausende kein Traum gewesen waren. Eigentlich war es schon längst zu kalt dafür, im Wald zu sitzen und zu warten, aber hier draußen konnte sie schreien, wenn sie der Schmerz der Erinnerung übermannte.
Und das tat er oft. Sie hatte mit allem gerechnet, was bei ihrer Rückkehr in die eigene Zeit passieren könnte – mit ihrem Tod, mit einer bis zu Unkenntlichkeit veränderten Welt und sogar mit der extrem unwahrscheinlichen Variante, dass alles aussehen würde, als sei nichts geschehen. Eigentlich hatte sie Letzteres nur der Vollständigkeit halber in Betracht gezogen, denn sie wusste aus eigenem Erleben, wie schwer schon kleine Eingriffe in die Geschichte wiegen konnten, und in all der Zeit, die sie unterwegs gewesen war, hatte sie millionen- ja milliardenfach eingegriffen. Und trotzdem war das passiert. Nicht genau das, einige historischen Daten waren jetzt ein wenig anders als sie einst gelernt hatte, aber darüber hinaus war ihre Welt so, wie sie sie verlassen hatte. Nur sie war es nicht, auch wenn es sich meistens so anfühlte. Aber wenn sie hierher kam, um sich an die Dinge zu erinnern, die sich meistens wie ein Traum anfühlten, dann konnte sie es spüren: Die erlittenen Schmerzen, die verlorenen Lieben, die begangenen Morde.
Und dann kam er. Kam auf sie zu, als seien sie verabredet gewesen, und reichte ihr die Hand zum Aufstehen. Ließ ihre Hand auch nicht los, als sie sich dicht gegenüberstanden und sie hochblickte in seine tiefschwarzen Augen, in die sie fiel wie in den freien Raum zwischen den Sternen.
„Ich bin anders“, flüsterte sie.
„Ich weiß“, sagte er und seine Stimme durchfloss ihren Körper. „Ich kann es sehen.“ Sein Blick tauchte aus ihrem auf und musterte nun ihr Gesicht. Es lag wohliges Wundern darin. „Du bist ein Mensch“, sagte er und auch darin lag dieses angenehme Staunen. Und noch während er das sagte, wusste sie, was er meinte und dass er der Beweis war.
Er war kein Mensch. Und er stammte nicht aus dieser Zeit.
Dann schliefen sie miteinander.

Langsam setzte Tonhas Verstand wieder ein. Er schaute zu der Frau, die an ihn geschmiegt schlief. Sie war noch immer fast nackt. Er konnte spüren, dass ihr Körper fror, und zugleich, dass ihr Geist einen so tiefen Frieden spürte wie seit Jahrtausenden nicht mehr.
Jahrtausende. Als Tonha bewusst geworden war, dass Carola nicht nur einen Zeitsprung sondern hunderte davon erlebt hatte, hatte ihn ein Schaudern erfasst. Die ungeheurere Spanne an Erlebtem und Erlittenem schien sein bisheriges Leben, ja die Tiefe des Alls, die er hatte so oft spüren müssen, auf eine Nichtigkeit schrumpfen zu lassen. Und doch: Das war nicht das Erschreckende gewesen. Was ihn völlig unvorbereitet getroffen hatte, war die Tatsache, dass ihm diese Dinge überhaupt bewusst geworden waren. Normalerweise war für so eine mentale Verbindung ein präzises, auf die Partner abgestimmtes Ritual nötig. Auch legendären Liebespaaren seines Volkes sagte man diese Art des Verschmelzens nach. Carola allerdings gehörte nicht zu seinem Volk, ihre Spezies galt sogar als besonders unsensibel, was mentale Kontaktaufnahme betraf.
Die Frau lächelte im Schlaf. Es fühlte sich an, als amüsiere sie sich über Tonhas Erstaunen. Ein Kälteschauer, der ihren Körper durchlief, verzerrte das Lächeln. Tonha richtete sich auf, richtete seine Kleidung und versuchte dann, Carola anzuziehen. Obwohl sie ihm – noch immer schlafend – dabei entgegenkam, sah das Endergebnis irgendwie nicht richtig aus. Tonha beließ es trotzdem dabei.

Carola kam durch die Kälte zu sich, die vom Boden her in ihren Körper drang. Sie richtete sich auf. Tonhas Mantel, mit der er sie zugedeckt hatte, rutschte von ihr herunter. Ihre Kleidung war zerruschelt – offenbar hatte Tonha sie nach dem Sex nur notdürftig wieder angezogen.
„Entschuldige“, sagte er und kniete sich neben sie. „Ich habe nicht viel Übung darin, jemanden zu bekleiden.“
Sie reichte ihm den Mantel und stand auf. „Dafür sieht es doch gut aus.“ Sie poste wie ein Model.
Er lächelte unsichtbar.
Caro ordnete ihre Sachen. „So sehr weg war ich danach noch nie.“
„Du hast auch noch nie mit einem Alien geschlafen.“
„Alien? Das klingt …“, sie suchte nach dem passenden Wort.
„Eklig?“, bot er an.
„Ja. Ein bisschen. Auf Deutsch jedenfalls. In Amerika würde es nicht eklig klingen.“ Sie spielte es in Gedanken durch.
„Es ist kalt“, sagte er. „Wir sollten gehen.“
„Und du bist verabredet“, ergänzte sie und schloss sich ihm an. „Wieso kann ich eigentlich deine Gedanken lesen?“
„Diese Art Verbindung ist bei meiner Spezies nicht ungewöhnlich.“
„Bei meiner schon.“
Er blieb stehen und sah sie an.
„Du reist ab?“ Dann begriff sie. „Du reist zurück in die Zukunft!“ Ihr wurde bewusst, dass sie nicht wusste, wie er das machen wollte, und dass sie sich sogar an die Gleichungen, die sich ihr vor Jahrtausenden eingebrannt hatten, nur noch vage erinnerte.
Tonha sagte: „Als ich es in dir sah, blockierte ich dieses Wissen. Du hast recht, es ist zu gefährlich.“
„Man kann es blockieren?“
„Ich kann es blockieren.“
„Du könntest mich ausbilden“, sagte sie, selbst überrascht über dieses Idee.
„Das ist nicht überraschend. Wahrscheinlich könnte ich es tatsächlich. Du bist anders als die anderen Menschen. Das könnte mit den Zeitsprüngen zusammenhängen, zumindest aber mit der sehr langen Zeit, die du gelebt hast und in der dein Gehirn weiter reifen konnte. Andererseits bedeutet eine lange Lebenszeit nicht …“
„Du schwafelst“, stellt sie fest.
„Ja.“
„Du willst mich nicht ausbilden.“
„Nein.“
Sie suchte in ihm nach dem Grund.
Er verschloss sich.
„Tonha! – Tonha? Wird es so gesprochen?“
„Ja.“
„Das klingt falsch. Sehr …“
„Gewöhnlich?“
„Sehr deutsch wollte ich sagen, aber ja: Gewöhnlich. Nicht nach einem Außerirdischen.“
„Es klingt ein wenig nach Inka, oder?“
„Tonha?“ Sie lauschte. „Ja. Ein wenig nach … Moment mal! Du lenkst ab!“
„Ja.“ Sein unsichtbares Lächeln fühlte sich traurig an.
„Dann geh nicht! Bleib hier, bilde mich aus! Wenn man eine Zeitmaschine hat, ist es doch egal, wann man abreist.“
Er musterte sie.
„Du weißt, dass ich recht habe.“
„Ja“, sagte er. „Das hast du.“

Fünf Tage später wusste sie, dass sie schwanger war. Sie rief Tonha an, der wegen eines Auftrages nach Los Angeles zurückgeflogen war. Er schien nur mäßig überrascht zu sein. Allerdings auch nur mäßig erfreut. „Mischlingskinder haben es nicht leicht“, erklärte er.
Caro war versucht zu lachen. „Tonha, niemand wird es dem Kind ansehen! Und wenn ich es richtig in dir gelesen habe, würde man es auch bei genauer Untersuchung nicht merken. Ich meine, biologisch sind unsere Spezies derart eng verwandet, dass …“ Sie unterbrach sich. „Das ist es nicht, was dir Sorgen macht, oder?“
„Nein.“
„Sondern?“
„Die meisten Kinder mit dieser genetischen Ausstattung sind geistig behindert.“
Caro hörte sich fragen „Nach unseren oder euren Maßstäben?“ und realisierte erst dann, was Tonha gesagt hatte. Für einen Moment spürte nun auch sie die Sorge, doch das klang schnell ab. Sie würde nicht ihr erstes behindertes Kind sein. Sie hatte Schlimmeres erlebt. Viel Schlimmeres …
„Kommst du her?“, fragte sie.
„Sobald ich den Auftrag erledigt habe. Übrigens müsste ich in Kürze ein Update deines Notfallnummernsystems vornehmen. Seit dem mehr oder weniger offiziellen Tod der Queen wurde es – verständlicherweise – nicht mehr benutzt.“
Carola zögerte.
„Es sind nur ein paar Handgriffe, ich kann das schnell erledigen.“
„Nein.“ Sie atmete tief durch. „Nein. Das ist vorbei. Du kannst es abschalten.“
„Wirklich alle Nummern?“
Sie schluckte. „Du hast recht: Lass Eric aufgeschaltet.“
„Ich kann ihm auch etwas ausrichten …“
„Eine Nachricht aus der Geisterwelt?“ Sie versuchte zu lachen. „Übertreiben wir es nicht, okay?“
Er sagte: „Das tue ich nie.“ und legte auf.

In der zwölften Woche war ihr klar, dass etwas nicht stimmte. Auch wenn sich jede Schwangerschaft auf ganz eigene Weise anfühlte und der Umstand, dass das Baby halb außerirdischen Ursprungs war, sicher auch eine Rolle spielte, war der Eindruck, mit etwas Fremden konfrontiert zu sein, zu groß, um ihn weiterhin zu ignorieren. Vielleicht wurde es Zeit, sich endlich in ärztliche Obhut zu begeben, ein Schritt, den Caro schon immer so weit wie möglich hinausgezögert hatte. Diesmal war sie darin vom Kindsvater unterstützt worden, denn Tonha fürchtete, dass die Untersuchungen die besondere Natur des werdenden Kindes aufdecken könnten.
„Was meinst du mit fremd?“, fragte Tonha beim Eintreten, als führte er einfach das gestrige Telefongespräch weiter. Erst dann stellte er die Reisetasche ab.
Caro hängte das Bitte-nicht-stören!-Schild an die Hotelzimmertür. „Ich weiß nicht. Es ist … als sei immer jemand bei mir. In der Nähe, manchmal auch in mir drin. Eine Art Präsenz.“
Tonha runzelte die Stirn. Diese zutiefst menschliche Geste verriet seine Verwirrung. „Es wächst ein Kind in dir …“, sagte er wie tastend.
„Ein Fötus, Tonha, ein Fötus. Aber es fühlt sich an wie … Ich weiß nicht, wie ich es erklären sollen, es ist … Ich kenne sowas überhaupt nicht. Auch nicht aus Erzählungen.“
„Menschliche Frauen empfinden mitunter das Ungeborene wie einen Fremdkörper.“
„Ja, das hab ich auch gelesen! Das hab ich sogar schon erlebt, Tonha, aber das hier ist anders! Das ist kein Fremdkörper, das ist … ein Fremdgeist gewissermaßen. Verstehst du?“
Er versuchte, in ihrem Gefühl zu lesen. Dann nickte er. „Ähnlich wie du mein Ich in dir fühlst.“
„Nein gar nicht so!“, widersprach Carola. „Naja, zumindest nicht ganz. Das mit dir ist … wie ein Dialog mit mir selbst. Das hier …“, sie legt die Hand auf ihren Leib, „… ist wie eine Beschattung. Jemand ist da, forscht mich aus, vermeidet aber jeden Kontakt.“ Sie sah ihn an. „Bitte sag mir, dass das für deine Spezies normal ist!“
Sein Blick verneinte. „Zumindest nicht in diesem Stadium“, schränkte Tonha ein. „Es gibt das Gerücht, dass sehr hochbegabte Kinder schon kurz vor der Geburt mentalen Kontakt zu ihrer Mutter aufnehmen.“
„Ein Gerücht? Ich dachte, eure Spezies kennt sowas gar nicht.“
Er lächelte unsichtbar. „So verschieden sind wir nicht, auch bei uns neigen Eltern mitunter dazu, ihre Kinder für besonderer zu halten, als sie sind. Meist dauert diese Phase aber nicht allzu lange, spätestens im direkten Vergleich …“ Er wurde ernst. „Meine Kenntnisse in Neurobiologie sind beschränkt, aber theoretisch ist es durchaus möglich, dass ein kindliches Gehirn schon in einer frühen Entwicklungsphase telepathische Talente offenbart. Aber so früh? Das wäre in der Tat sehr ungewöhnlich. Zu Hause würde man in so einem Fall einen Priester aufsuchen …“
„Eine Priester?“
„Es gibt kein adäquates Wort dafür“, sagte er und sandte Carola eine Vorstellung davon, was er meinte.
„Kulturhütender Seelenlehrer“, übersetzte sie. „Klingt wirklich komisch. – Und was macht so ein Priester dann?“
„Kontakt aufnehmen. Falls da jemand ist, zu dem man Kontakt aufnehmen kann.“
„Verstehe.“ Sie musterte Tonha.
Er verstand die Frage sofort, zögerte aber. „Es ist riskant. Ich bin nicht gut genug dafür ausgebildet.“
„Niemand auf dieser ganzen verdammten …“ Sie atmete tief durch. „Tonha, hier und jetzt ist niemand in diesen Dingen besser ausgebildet ist als du.“
„Du verstehst nicht. Einem so unreifen Geist zu begegnen, kann meinen Verstand gefährden.“
Sie konnte die Panik in seinen Augen sehen, die dieser Gedanke auslöste. Und sie konnte die Antwort in seinem Verstand sehen. Er hatte recht: Es war Zeit, einen Priester aufzusuchen. Zeit, in die Zukunft zu reisen.


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bamba
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Beitrag07.06.2016 17:45

von bamba
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Hi Jon,
ich mag SiFi.
Und versuche mich selber dabei.
Also erkenne ich gewisse Probleme wider.
Deine Geschichte spielt in einer anderen Zeit.
Ja, da gibt es viel zu erklären.
M.M.n erzählst du schon zu viel in wenigen Sätzen.
Das ist sehr kompliziert.
Gleichzeitig erfährt man aber fast nichts von der "Umgebung".

Mein bescheidener Tip, versuche es langsamer anzugehen, damit man Zeit hat, einzutauchen in diese andere Welt. Sonst fällt man schnell raus.
Als Lesetip fallen mir spontan ein:
Stanislaw Lem/ Isaac Asimov/ Strugazkis
Bei denen entsteht die Welt von innen nach aussen.
Ich kämpfe mit ähnlichen Schwierigkeiten rum. Toi toi
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jon
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J
Beitrag07.06.2016 17:54

von jon
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Danke fürs Lesen.
Diese Geschichte spielt (bis zu diesem Punkt hier zumindest) nicht in einer anderen Zeit.
Die Umgebung ist relativ irrelevant - irgendwo in Deutschland halt.
Du hast recht, dass durch die Komprimierung eine gewisse "Unsüffigkeit" entsteht - aber das lässt sich in dem Kontext leider nicht ändern. Es wird ja nicht die "gesamte Geschichte" erzählt, sondern es werden "Geschichten" aus diesem Gesamtgeschehen erzählt. Und das hier ist nur ein kleiner, noch dazu in erster Linie informativer Teil.


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bamba
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Beitrag08.06.2016 09:45

von bamba
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jon hat Folgendes geschrieben:
aber das lässt sich in dem Kontext leider nicht ändern.

Hi Jon, mir ist dieser Satz hängengeblieben.
Das erinnert mich an Hausbau. Wenn die Pläne falsch übertragen wurden von einem Zeichner, der Chef es übersah, weil er an diesem Morgen, an dem er sie betrachtete, einen Kater hatte, dann kann es passieren, dass die in Beton gegossenen Luftschächte sich leider nicht mehr ändern lassen, fortan das Gebäude mit diesem Geburtsfehler dastehen wird.

Kürzlich habe ich ein Interview gelesen mit dem Schriftsteller Updike. Der erzählte darin: Jeden Text schreibt er mindestens drei Mal ganz neu.
Das tröstete mich, da ich dachte, ok, also ist es nicht so schlimm wenn meine Texte nicht gleich funktionieren.

Du bist der Chef über deinen Text. Es liegt mir fern dir zu sagen, dies oder das solltest du tun. Ich finde es spannend was du dir vorgenommen hast und du kannst gut schreiben.
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jon
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J
Beitrag08.06.2016 12:26

von jon
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(Hab mich beim Posten vertan, sorry. )

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kioto
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Beitrag09.07.2016 20:59

von kioto
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jon hat Folgendes geschrieben:
Danke fürs Lesen.
.......
Die Umgebung ist relativ irrelevant - irgendwo in Deutschland halt.
......


Hallo Jon,
Ich bin auch ein Anfänger und versuche mich an SciFi, möchte dir aber heftig widersprechen.
Die jeweilige Umgebung ist der halbe Roman, mindestens. Das war schon bei Thomas Mann so und auch bei Lem. Es gibt nur wenige Stories, eigentlich sind es immer die selben, aber gigantisch viele Umgebungen. Ohne Umgebung sind Stories nur Strichmännchen, die über die weiße Leinwand huschen.

Vorschläge: Wer ist die Queen, wie erinnert er sich an sie, alt, jung, verschlagen, angsteinflössend.
Wie kommt er zur Waldlichtung, wo liegt sie, Ort,Tageszeit, Spaziergänger in der Umgebung oder total abgelegen, was hat die Frau an, wie sieht sie aus, legt sie sich ins Laub oder Farn, oder pieksige Nadeln usw. usw. Werden sie ev. gestört und müssen einen andere Ort aufsuchen. Sie zieht sich aus. Auch in SciFi sollte ein bischen Erotik nicht tabu sein. Embarassed

Wäre die Geschichte dann nicht etwas farbiger?

Gruß Werner


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jon
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Beitrag15.07.2016 12:00

von jon
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Hallo Werner,

danke für die Meinungsäußerung. Ich sehe inzwischen ein, dass dieses Beispiel kein glücklicher Einstieg war, weil das Rundrum fehlt.

Zitat:
Ich bin auch ein Anfänger

Auch?

Zitat:
und versuche mich an SciFi, möchte dir aber heftig widersprechen.
Die jeweilige Umgebung ist der halbe Roman, mindestens.

Jain.
Erstens: Das kommt auf den Roman an. Kulissen-Romane (wie man sie oft im Bereich Historischer Roman oder Fantasy-Welten und immer im Bereich Reise-Roman findet) brauchen natürlich viel Kulisse. Handlungsromane z. B. brauchen hingegen nur die Kulisse, die man zum Verstehen der Handlung oder zum Erzeugen von Stimmungen braucht – alles andere ist Deko. Ein gewisses Maß an Deko ist okay und kann – insbesondere bei heutigen Schmöker-Gewohnheiten – hilfreich sein, wenn man den Leser nicht über die Geschichte selbst im Text halten kann. Mich selbst z. B. nervt sowas eher, weil mich Geschichten interessieren, nicht Kulissen oder Kostüme.
Zweitens: Das hier ist kein Roman.

Zitat:
Es gibt nur wenige Stories, eigentlich sind es immer die selben, aber gigantisch viele Umgebungen.

Da muss ich nun heftig widersprechen: Es mag nur einen relativ begrenzten Vorrat an Themen und Grundmustern geben, aber Geschichten gibt es so viele wie handelnde Personen. Denn Geschichten sind immer Geschichten von Personen. Geschichten sind immer eine ganz individuelle Kombination aus verschiedenen Themen und verschiedenen, von der Umgebung mitbestimmten Handlungsoptionen und Entscheidungen. Das macht ja den Reiz aus: Menschen dabei zusehen, wie ihre ganz persönliche Lösung für typische Probleme ausfallen. (http://www.texte-jon.de/joomla/index.php/sprache-und-sprachpflege/warum-wir-geschichten-erzaehlen)

Zitat:
Vorschläge: Wer ist die Queen, wie erinnert er sich an sie, alt, jung, verschlagen, angsteinflössend.

Das ist irrelvant - zum einen, weil er sie damals gar nicht kennengelernt hatte, und zum anderen, weil nichts davon für seine Absicht, sie kennenzulernen, eine Rolle spielt.

Zitat:
Wie kommt er zur Waldlichtung, wo liegt sie, Ort,Tageszeit,

Das alles ist irrelevant für die Aussage dieses Teils. Relevant ist: Sie treffen sich in Deutschland, zeugen ein Kind und gehen eine „Psi-Verbindung" ein. Schon "im Wald" ist (fast) nur Deko - ich wählte es, weil es besser zum Gesamttext passt und weil es das "Überraschtwerden-Risiko" minimiert, denn Überraschtwerden hätte nur vom eigentlich Mitzuteilenden abgelenkt.

Zitat:
Spaziergänger in der Umgebung oder total abgelegen,

Siehe eben. Übrigens: Wenn etwas in einem Text nicht ewähnt wird, dann darf man als Leser getrost davon ausgehen, dass es das nicht gibt bzw. dass das nicht stattfindet. Heißt: Wenn keine Spaziergänger erwähnt werden, dann gibt es in der Szene keine. (Dazu muss eine Waldlichtung nicht total abgelegen sein.)

Zitat:
was hat die Frau an, wie sieht sie aus, legt sie sich ins Laub oder Farn, oder pieksige Nadeln usw. usw.

Das ist hier alles irrelevant.
Übrigens: Ich weiß, dass immer wieder propagiert wird, man muss die Protagonisten beschreiben - wie sie aussehen, was sie anhaben und was ihre Lieblingsfarbe ist. Das stimmt so nicht. Man muss relevante Infos vermitteln (bei Liebesromanen gehört das Äußere der Angebeteten dazu, bei einem Krimi ist es egal, wie die tippgebende Nachbar aussieht). Um dem Leser zu helfen, die Figur etwa zu sehen, wie man sie selbst sieht, ist es auch sinnvoll, einzelne(!) optische Details zu vermitteln. Für die Glaubhaftigkeit einer Figur ist es zudem hilfreich, Typisches zu vermitteln (Gesten, Wortwahl, Kleidung o. Ä.). – Ich hatte neulich einen Anfänger-Text in der Hand, da ließ sich der Autor eine Seite lang über die Frisuren (Haarfarbe & Co.) einiger Figuren aus, an einer Stelle, wo das unwichtig war (und auch noch dem Point of View widersprach) - und natürlich spielte das auch nie wieder eine Rolle.

Zitat:
Werden sie ev. gestört und müssen einen andere Ort aufsuchen.

siehe oben: (Das war nicht Thema des Textes. Es steht nicht da, also passiert es auch nicht.)

Zitat:
Sie zieht sich aus. Auch in SciFi sollte ein bischen Erotik nicht tabu sein.

Stimmt, wenn Erotik für die Szene wichtig ist. Hier ist sie das nicht.


Gruß von
jon


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kioto
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Beiträge: 442
Wohnort: Rendsburg


Beitrag15.07.2016 12:52

von kioto
Antworten mit Zitat

Hallo Jon,
Deine Antwort ist für mich sehr hilfreich. Ich bin, wie gesagt, Anfänger und habe bis jetzt nur eine Kurzgeschichte fertig bekommen. Ich habe vor 2 Jahren angefangen, Geschichten, die mir einfielen, auf zu schreiben und bin jetzt dabei, sie nach uns nach auszuarbeiten. Ich habe hauptsächlich SF gelesen, ganz früher Pulp fiction, später deutsche Autoren, Lem und russische Autoren. Die amerikanischen sind mir zu technisch, bombastisch, gerne aber die humorvolleren wie Terry Pratchett usw.
Ich sehe selber, dass mein eigener Stil sehr weitschweifig ist, obwohl ich früher Autoren wie Thomas Mann deswegen eigentlich nicht gemocht habe. Ich liebe Dialoge und Bilder. Man wird wohl älter. Deine Antworten helfen mir sehr, dies zu reflektieren.
Es würde mich freuen, wenn Du Dir meine beiden Beiträge im Prosa Einstand mal ansiehst und kommentierst.

Gruß Werner

PS. "Ich bin auch ein Anfänger" bezog sich auf die Anzahl unserer Posts im Forum.


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jon
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Beitrag15.07.2016 13:36

von jon
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Hallo Werner,

sieht so aus, als wären wir auf ähnliche Weise SFiriziert worden smile Ich hab mit 10 Pilot Pirx gelesen, ab da wusste ich sowohl, dass ich SF-Fan bin, als auch, dass ich schreiben will.
Es ist zwar nicht mein Stil, aber weitschweifend zu schreiben ist völlig okay, solange es den Leser nicht langweilt. Auch in der SF gibt es ja sowas, was ich vorhin "Kulissen-Romane" nannte. "Picknick am  Wegesrand" z. B. könnte man fast so nennen …
Ich reagiere nur immer ein bisschen allergisch, auf "Beschreibe deine Figuren möglichst anschaulich" und andere (oft auch nur falsch verstandene oder umgesetzte) Tipps aus Schreibratgebern. Viele der Anfänger beginnen ja auch gleich mit einem Roman und sind nicht durch die Schule der Kurzgeschichte gegangen, bei der man lernt, nur das Notwendige, das aber gut, zu erzählen.
… ich schau mal bei deinem Einstand rein …

Gruß von
jon


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Johann B
Schneckenpost

Alter: 35
Beiträge: 9



Beitrag15.07.2016 13:54

von Johann B
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Zitat:
Er war kein Mensch. Und er stammte nicht aus dieser Zeit.
Dann schliefen sie miteinander.


Wenn es doch nur immer so einfach wäre lol2

Dein Schreibstil gefällt mir ganz gut. Ich bin auch kein Fan von besonders weitläufigen Beschreibungen. Lieber gleich auf den Punkt kommen. Es ist ein bisschen schwierig, diesen Teil der Geschichte einzuordnen, wenn man die anderen nicht kennt. Das stimmt natürlich bei fast jedem Ausschnitt, bei diesem aber insbesondere.
Das Thema Zeitreisen kann kompliziert werden. Aber darum geht es ja auch...
Zitat:
Sein unsichtbares Lächeln fühlte sich traurig an.

Dieser Satz klingt schon ein bisschen kitschig, wenn man ihn mit dem Rest vergleicht. Ansonsten ist die Sprache einheitlich, was schon mal ein Pluspunkt ist.
Was vielleicht noch der Überarbeitung bedarf, ist dass du viele Gefühle und Hintergrundinformationen über die Figuren/Welt in Gedanken verpackst, statt in Handlungen. Dadurch wirkt alles etwas steril und kopflastig.
z.B.:
Zitat:
dann konnte sie es spüren: Die erlittenen Schmerzen, die verlorenen Lieben, die begangenen Morde.
Du schreibst, sie konnte diese schlimmen Dinge spüren. Dadurch wird es mir als Leser aber nicht gerade leicht gemacht, mit der Figur mitzuspüren. Denn ich habe diese Dinge nicht erlebt (mit der Figur) und somit bleiben es dann doch nur Worte. oder:
Zitat:
ihre Spezies galt sogar als besonders unsensibel, was mentale Kontaktaufnahme betraf.

Das ist eine interessante Eigenschaft, aber auch eine, die man eigentlich nicht gesagt bekommen muss, sondern aus den nachfolgenden geistigen Dialogen mitbekommen kann/sollte. Es fehlt mir ein bisschen die Empathie zu den Figuren, das Miterleben-Wollen ihrer Geschichte. Die Identifikationspunkte, in denen ich mich selbst erkennen könnte. Hoffe, du verstehst, was ich meine, ist schwierig zu beschreiben. Ist wohl ein typisches Problem bei "nicht-menschlichen" Helden.

Liebe Grüße
Johann
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jon
Geschlecht:weiblichEselsohr
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Alter: 57
Beiträge: 269
Wohnort: Leipzig


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Beitrag15.07.2016 17:32

von jon
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Hallo Johann,

es ist dem Fall vermutlich weniger das Problem mit nichtmenschlichen Figuren, sondern das (der speziellen Verbindung) genau dieser Figuren.

Als Tonha das mit der unsensiblen Spezies denkt, ist das ja Teil seiner Verwunderung: Was da passiert ist, hätte nicht so passieren dürfen, weil Menschen das nicht können. Ich hätte auch (in dieser Konstellation hier) nicht zeigen können, dass Menschen das normalerweise nicht können, weil: Caro kann es ja.

Zitat:
Es fehlt mir ein bisschen die Empathie zu den Figuren, das Miterleben-Wollen ihrer Geschichte.


Was die Empathie angeht: Da magst du recht haben. Hier in diesem auf Information hin optimierten Teil geht es weniger darum, den Leser in Kontakt mit den Figuren zu bringen - das ist (im Fall von Caro) vorher schon passiert und orientiert sich (bei Tonha) an Caros Mentalität. Sie ist ein Kopf-Bauch-Mensch (Intellekt-Instinkt-Mensch), das „gefühlsduselige“ Herz-Element ist nicht wirklich stark ausgeprägt. Wenn jemand, der so drauf ist, sich dann dochmal in diesen Regionen bewegt (denn herzlos ist sie ja nun auch wieder nicht), dann kann das schonmal (wegen fehlender Routine) kitschig klingen.

Interessant war für mich, dass die Geschichte Caro / Tonha zwar irgendwann in das Gewebe hineinwuchs, aber nie eine wirkliche Geschichte wurde. Also keine, die sinnvoll zu erzählen wäre. Weil sie als solche konfliktlos ist - von der ersten Begegnung an bis hin zu Tonhas völlig unspektakulärem aber "voll tragischem" Tod. Man könnte höchstens die von außen induzierten Probleme erzählen - das ist aber dann nicht die Story Caro / Tonha, sondern eine Story (sagen wir mal) Weltrettung vs. Selbstrettung oder Böse Aliens vs. „Förderationscrew“.


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