Geburtstags-Fantasie II

[MosesBob]

Geburtstags-Fantasie II

Als du auf die Welt kamst,
konnte ich endlich in den Armen halten,
was ich schon Monate zuvor
in mein Herz geschlossen hatte.
Als ich dich wenig später
an der Brust deiner Mutter liegen sah,
habe ich das erste Mal in meinem Leben
vor Glück geweint.
Wenn uns der Mensch,
der uns am wichtigsten ist,
das Wertvollste schenkt, was es gibt,
ist das Glück, das wir empfinden,
überwältigend und ewig.

Ich war da, als du nächtelang geweint hast,
weil in der neuen Dunkelheit
die mütterlichen Klänge fehlten,
die dich über Monate hinweg
begleitet haben.
Ich habe dir Geschichten vorgelesen
und Lieder vorgesungen,
und wenn du dich gefreut hast,
war dein ganzer Körper
in Bewegung.
Du strahltest von Kopf bis Fuß,
und ich stand daneben,
fühlte mich wie ein Kind
und konnte es kaum fassen.

Als du mich eines Tages ansahst
mit deinen dunklen, kullerrunden Augen,
mit der Hand auf mich zeigtest
und sagtest: „Baba!“
konnte ich nur stumm nicken
und deine babyweiche Wange küssen.
Ich hielt mein Gesicht an deinen Hals
und atmete dich ein.
Du riechst nach Kopfkissen
und nach deiner Mutter,
das habe ich dir jedes Mal gesagt,
und es stimmt.

Die Jahre vergingen so schnell.
Je älter du wurdest,
desto jünger fühlte ich mich.
Mit dir erlebte ich meine zweite Kindheit.
Ich brachte dich in den Kindergarten
und holte dich ab, wenn ich frei hatte,
verabschiedete dich in die Schule
und hörte mir Abend für Abend an,
was du zu erzählten hattest.
Du hattest viel zu erzählen.
Von deinen Freunden,
vom Sportunterricht,
von Worten, die du nun schreiben konntest,
vom Fahrradfahren
und von dem Nachmittag,
den du auf dem Spielplatz verbracht hast.

Als du deine erste schlechte Note nach Hause brachtest,
hattest du Angst, sie mir zu zeigen,
und als ich dich fragte, warum du Angst hattest,
sagtest du,
dass du mich nicht enttäuschen wolltest.
Wir fuhren in die Eisdiele,
bestellten uns jeder fünf Kugeln in der Waffel
(mit Sahne)
und vereinbarten,
dass wir jederzeit
über alles
sprechen würden
und dass es keinen Grund gibt,
Angst vor einem Menschen zu haben,
der uns liebt.

Ich war für dich da,
als du dir das Knie aufgeschürft
und mit deinem Fußball
die Fensterscheibe vom Nachbarn eingeschossen hast.
Wenn du erkältet warst,
habe ich dir eine heiße Schokolade gemacht
und dir eine Wärmflasche ins Bett gelegt,
und als du das erste Mal Liebeskummer hattest,
haben wir darüber gesprochen,
dass alles
irgend wann
enden kann
(aber nicht muss).
Ich war immer für dich da.

Morgen werde ich nicht mehr dasein.
Ob du noch etwas für mich tun kannst, fragst du,
während du an meinem Bett sitzt
wie ich vor Jahren
an deinem saß.
Denk an mich, sage ich. Und: Vergiss nicht,
dass ich da war und gerne noch
geblieben wäre.

Alles, was du für mich warst,
nehme ich mit auf meine Reise,
während ich hoffe,
dass etwas von dem,
was ich für dich war,
immer in dir fortleben wird.

[Jocelyn]

Das geht mir durch und durch.
Das ist so traurig.
Aber schön.

Hat mich berührt.

[MosesBob]

Hallo Jocelyn!

Vielen Dank für deine Antwort. Ich freue mich sehr, dass der Text zu berühren in der Lage ist. Ich selbst kann das immer schlecht einschätzen. Man hofft das beste, aber was der Leser empfindet, steht auf einem anderen Blatt.

Schönen ... jetzt hätte ich beinahe Sonntag geschrieben, aber ich sehe gerade, dass heut erst Samstag ist. Dann habe ich ja noch einen Tag frei!

Viele Grüße,

Martin

[Nordlicht]

Kann mich Jocelyn nur anschließen - ganz toll und eindringlich...traurig, aber schön  

[MosesBob]

Hallo Nordlicht und willkommen in der Prosa mit Zeilenumbrüchen.

Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Hat mich sehr gefreut.

Schönen Sonntag und beste Grüße,

Martin