Platz

[FaithinClouds]

Platz

Im Haus ist das Wasser ausgefallen. Simone schaut aus dem Fenster, wo der Winter die Bäume entblättert hat. Es könnte schlimmer sein, denkt sie, aber eigentlich glaubt sie nicht daran.

Der Spanier aus dem zweiten Stock (der mit dem schönen Hals) geht über die Straße zum Spätkauf. Vor der Tür brüllt ein haariger Mann in T-Shirt unverständlich gegen den Lärm heranfahrender Autos an.

Es wird schlimmer, bevor es besser wird - Aber wie lange noch?
Es ist lange her, dass Simone das letzte Mal draußen war. Ihre Wohnung ist mit der Zeit geschrumpft, wie Obst in einer Schale, das man zu lange aus den Augen gelassen hat.
Es wird besser, aber gerade ist Winter und der Spanier mit dem schönen Hals trägt einen Schal und vielleicht würde sein Hals auch nicht mehr so schön sein, wenn er ihn ablegte. Vielleicht hat er über die Zeit seine Schönheit verloren.

Gestern hat eine alte Studienfreundin angerufen. „Ich bin über Wochenende in Berlin. Und da dachte ich-“
„Ich kann leider nicht. Ich hab viel um die Ohren.“ Eine halbe Lüge.
„Oh.“
„Ja.“
Schweigen.
Irgendwann die Freundin: „Wie geht es dir eigentlich?“
„Gut.“ Sie wartete. „Gut, wirklich. Ganz gut. Und dir?“
„Auch.“
„Was machst du überhaupt in der Stadt?“
„Ich bin auf einer Vortragsreihe zum Balkan.“
„Worum geht es?“
„Literatur.“
„Ich hab lang nichts mehr gelesen.“
„Ich wünsche mir manchmal, ich müsste nicht so viel lesen.“
„Und was würdest du sonst machen?“
„Malen vielleicht.“

Der Spanier kommt zurück. Er hält eine weiße Plastiktüte in seiner Hand.  

Wenn das Wasser bis heute Abend noch nicht geht, wird Simone zu Aldi gehen. Sie betet, dass sie das nicht muss. Simone schaut aus dem Fenster, wo der Winter nicht mehr so beißt wie noch vor einer Woche. Die Tage werden wieder länger und vielleicht ist dann auch Platz für… ja, für was eigentlich?

[John McCrea]

Hallo FaithinClouds,

ganz nette Skizze eines Einstieges in eine Erzählung. Das scheint Deine bevorzugte Form zu sein, welche Du hier im Forum zeigen magst.
Ich mag die nüchterne Sprache, welche auch eine gewisse Melancholie mit sich bringt.
Für mich war immer Judith Herrmann der Prototyp dieses Erzählens hier in Deutschland.

Ich bin beim Lesen des Dialogs ins Schleudern gekommen, obwohl die beiden Gesprächspartner wirklich im Wechsel sprechen.
Bei der Frage "Was machst Du in der Stadt?", springe ich schnell zur Person der Erzählerin, welche schon Beobachtungen von der Stadt geliefert hat. Keine Ahnung, ob es nur mir so geht.

[HansGlogger]

Gefallt mir. Speziell "der Winter nicht mehr so beißt"

 Nur eine Anmerkung:

[FaithinClouds]

Hey John McCrea,

danke fürs Lesen! Judith Herrmann ist zwar nur meine Zweitlieblings-Judith (nach Judith Holofernes unangefochten auf Platz eins), aber ich nehme das mal als Kompliment.

[FaithinClouds]

Hey Hans,

auch dir danke fürs Lesen und Kommentieren.