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KMonet Gänsefüßchen
K
Beiträge: 23 Wohnort: Göttingen
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K 21.08.2023 18:56 Haltestelle Zülpicher Platz von KMonet
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Seit Tagen leidet die Stadt unter einer Hitzewelle. Die Kühlregale sind nahezu leer. Jeder greift nach einem kühlen Getränk, sobald sich eine Möglichkeit ergibt. Die Stadt ist unerträglich geworden. Vielleicht war sie es auch vorher schon und die Hitze demaskierte einfach die Wahrheit, die jeder versucht zu verdrängen. Die Straßenbahn hat heute Verspätung. Der Ärmel des Hemdes wird hochgezogen. Eine Uhr kommt zum Vorschein. Das Glas reflektiert die Sonnenstrahlen. Eine kleine Winkelveränderung und die Zeiger und Zahlen sind zu erkennen. Es ist früher Nachmittag. Der Arm wird kurz geschüttelt, die Uhr verschwindet wieder. Die Hitze dringt durch die Kleidung, durch die Haut und sammelt sich im Inneren. Ein Hitzeturm entsteht in der Brust und zeiht runter bis zum Steiß. Der Turm nährt sich fortan, die Gelenke erweichen, die Sicht wird langsam trüb. Die trockene Zunge klebt am Gaumen, die spröden Lippen reiben aneinander. Eine Gruppe Jugendlicher bleibt an der Haltestelle stehen. Die Röcke sind knapp geschnitten, die Ärmel kurz. Die Haut gebräunt und Haare gebleicht von der kräftigen Sonne. Sie sind laut, aufgedreht. Ihre Stimmen dringen ins Ohr, ihr kreischen stört. Doch die Kraft fehlt zu ihnen aufzublicken. Einen bösen Blick zu schenken, um zu zeigen, dass sie stören. Der Oberkörper lehnt sich nach hinten, die warme Glaswand hinter dem Rücken ist zu spüren.
Die Lieder bleiben geschlossen. Die heiße Luft wird über die Nase in die Lungenflügel gezogen.
Highlights schaffen, sagte eine Kollegin immer auf der Arbeit. Wir müssen Highlights schaffen. Das motiviert. Das lässt vieles leichter ertragen. Eine unsichtbare Hand sucht in den Schüben des Gedankenarchivs nach einem Highlight. Einem Grund, dass dazu rechtfertigt alles zu ignorieren, zu erdulden, zu ertragen. Und da ist sie, aus der hintersten Schublade wird ein Bild hervorgezogen. Ein Ventilator in der Ecke summt, eine gemütliche Couch neben der Balkontür. Die Vorhänge sind zugezogen. Die warmen Farben des Vorhangs erfüllen den Raum. Heimelig. Auf den Holztisch neben dem Sofa steht eine Karaffe. Wasser, Zitronenscheiben und frische Minzblätter. Ein feiner Duft von Zitrone und Minze. Die innere Anspannung löst sich langsam. Seine Wohnung ist nur fünf Haltestellen entfernt. Eigentlich könnte man auch den Weg zu Fuß gehen. An den Schaufenstern vorbeilaufen. Ein indischer Laden liegt auf dem Weg. Im Schaufenster Lebensmittel und ein Mannequin in einem Sari. Alles auf engstem Raum präsentiert, die Lebensmittel übereinander gestapelt. Ein ganzer Subkontinent auf engstem Raum zur Schau gestellt. Wie es sich wohl anfühlt. Einen Sari zu tragen. Nach Varanasi reisen. Das war ein großes Ziel. Auf den Treppen stehen, die in den Ganges münden. Die kühlen Wellen schwappen über die Füße. Es fühlt sich gut an.
Zwei Geschäfte weiter, ein asiatischer Laden. Chinesische Schriftzeichen hier und da. Eine goldene Katze thront auf einem Schemel. In Köln ist die ganze Welt angekommen. Eine Frauenstimme aus der Vergangenheit schallt durch seinen Kopf. Luise. Blond. Das sagte sie immer. Kam vom Land, aus einem Dorf in Niederbayern. Dann ein Studium in Köln. Eine neue Welt eröffnet sich mit all seinen Farben und Möglichkeiten. Doch dann kommt die Realität. Studium vorbei, Arbeit beginnt. Es fehlt an Zeit. Jetzt versteht er, wieso in diesen exotischen Läden nur Landsleute und neugierige Studenten einkaufen.
Es kehrt Ruhe ein. Die Jugendlichen sind anscheinend weitergezogen. Die Augen lassen sich trotzdem nicht mehr öffnen. Nur noch ein bisschen ausruhen. Eine Hand legt sich auf die rechte Schulter. Die rechte Schulter wird geschüttelt. Wieder Stimmen, aufgeregte Stimmen. Jemand verlangt nach einem Notarzt. Die Stimmen entfernen sich bis sie verstummen. Die Füße sind nun angenehm kühl. Eine Leere. Die Uhr läuft weiter.
Weitere Werke von KMonet:
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Mercedes de Bonaventura Metonymia
Alter: 40 Beiträge: 1254 Wohnort: Graz
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22.08.2023 09:13
von Mercedes de Bonaventura
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Guten Morgen, KMonet, und willkommen.
Es sind Passagen wie diese,
KM hat Folgendes geschrieben: | Der Ärmel des Hemdes wird hochgezogen. Eine Uhr kommt zum Vorschein. Das Glas reflektiert die Sonnenstrahlen. Eine kleine Winkelveränderung und die Zeiger und Zahlen sind zu erkennen. Es ist früher Nachmittag. Der Arm wird kurz geschüttelt, die Uhr verschwindet wieder... |
die mein Interesse geweckt haben.
Ein Kurzprosa-Text, radikal in diesem Stil durchkomponiert; jeder Punkt, jedes Komma sitzt, kein Wort zu viel, keines zu wenig, wenn schiefe Töne, dann bewusst als Bruch gesetzt: so könnte es durchaus ein spannendes Projekt werden.
Weiterhin frohes Schaffen und beste Grüße.
_________________ "Every secret of a writer's soul, every experience of his life, every quality of his mind is written large in his works."
(Virginia Woolf) |
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Arminius Reißwolf
Alter: 65 Beiträge: 1239 Wohnort: An der Elbe
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22.08.2023 09:40
von Arminius
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Hallo KMonet,
gelungener Einstand, das muss man wirklich sagen. Sogar passend zur aktuellen Wetterlage! Die Atmosphäre wird auf den Punkt gebracht.
Kritikpunkte? Wenn überhaupt, dann diesen: statt kühles Getränk hätte ich Kaltgetränk geschrieben, um die Dopplung mit Kühlregal zu vermeiden.
Vielleicht noch eine Anmerkung: Kurze Sätze bringen ja eher Beschleunigung und Dynamik in einen Text. Das will nicht so ganz zu der trägen, von der Hitze gedämpften Atmosphäre passen. Andererseits nimmt Deine Wortwahl und der Schaufensterbummel das Erzähltempo schön zurück. Von daher:
_________________ A mind is like a parachute. It doesn´t work if it is not open (Frank Zappa)
There is more stupidity than hydrogen in the universe, and it has a longer shelf life (Frank Zappa)
Information is not knowledge. Knowledge is not wisdom. Wisdom is not truth. Truth is not beauty. Beauty is not love. Love is not music. Music is the best (Frank Zappa) |
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Haro Eselsohr
Beiträge: 388 Wohnort: Pfalz
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22.08.2023 10:49 Re: Haltestelle Zülpicher Platz von Haro
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Eine Geschichte passend zum Wetter. Nachfühlbar.
Neben ein paar kleinen Rechtschreibsachen hat mich dieser Satz etwas rausgeworfen:
KMonet hat Folgendes geschrieben: |
Ein Hitzeturm entsteht in der Brust und zeiht runter bis zum Steiß. Der Turm nährt sich fortan, die Gelenke erweichen, die Sicht wird langsam trüb.
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Was ist damit gemeint?
Ansonsten sehr gerne gelesen. Gut gemacht.
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KMonet Gänsefüßchen
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Beiträge: 23 Wohnort: Göttingen
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K 22.08.2023 17:56 Hallo von KMonet
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Liebe Community-Mitglieder,
ich möchte mich herzlich für eure Zeit und eure Rückmeldungen bedanken. Tatsächlich habe ich meinen Schreibstil bewusst minimalistisch gewählt, allerdings gelegentlich durchbrochen, um eine gewisse Unruhe zu erzeugen.
Eure scharfsinnigen Beobachtungen und Ratschläge schätze ich sehr. Kritik ist eine Gelegenheit zum Wachsen, und ich freue mich über jede Form von Bewertung, selbst wenn sie vernichtend ist.
Bezüglich der Frage nach "beschleunigt" und "entschleunigt": Ich habe die Sätze und Szenen bewusst gewählt, um den Kontrast zwischen der entschleunigenden Hitze und der beschleunigten, lebendigen Stadt wiederzuspiegeln. Dies sollte sich in meinen Sätzen wiederspiegeln.
Zur Frage nach dem "heißen Turm im Inneren": Diese Metapher dient dazu, einen Einblick in die innere Welt des Protagonisten zu gewähren. Neben der Hitze von außen hat sich auch in ihm viel aufgestaut. Darüber hinaus habe ich diese Beschreibung gewählt, da auch Indien eine Rolle in der Geschichte spielt. Varanasi, als eine der heiligsten Städte Indiens, in der Tote verbrannt werden, und die fünf Chakren im Körper, die vom Kopf bis zum Steiß reichen.
Ich hoffe, das klingt nicht zu abstrakt.
Ich schreibe alle meine Kurzgeschichten in einem sehr ähnlichen Stil. Mein Ziel ist es, alles unter dem Schirm "Fokussierte Literatur" zusammenzubringen.
Mit freundlichen Grüßen,
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carola Seeler Wortedrechsler
C Alter: 69 Beiträge: 66 Wohnort: Lübeck
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C 26.08.2023 15:49
von carola Seeler
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Danke, dass Du Deine Kurzgeschichten hier vorgestellt hast. wie schon bei Deiner anderen Geschichte, kann ich nur sagen: hat Potential!! Dass du Deinen ganz eigenen stil entwickelst/entwickeln möchtest, finde ich gut,
Lieben Gruß
Carola
_________________ Herzliche Grüße
Carola (Seeler) |
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KMonet Gänsefüßchen
K
Beiträge: 23 Wohnort: Göttingen
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realo Leseratte
Beiträge: 185
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27.08.2023 13:33
von realo
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Eine Geschichte passend zum Wetter, das finde ich sehr amüsant. Es gibt Bücher zum Film oder Essen zur Jahreszeit, warum nicht auch Geschichten zum Wetter. Gerade weil es so aktuell erscheint, habe ich bei, es ist heiß in der Stadt, aufgehört zu lesen, denn das ist keine Geschichte, sondern praktisch erlebter Realismus. Eine Geschichte, die mit, es war so eisig, dass selbst das Tränenwasser im Auge gefriert, beginnt, könnte Spannung verheißen im heißen Sommer.
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KMonet Gänsefüßchen
K
Beiträge: 23 Wohnort: Göttingen
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RaiBruHerte Eselsohr
Beiträge: 306 Wohnort: Rheinf
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02.09.2023 09:28
von RaiBruHerte
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Hallo KMonet, habe nun alles von dir gelesen, gefällt mir gut. mach weiter so..
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KMonet Gänsefüßchen
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Beiträge: 23 Wohnort: Göttingen
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