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Der trochäische Vierheber

 
 
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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1002



Beitrag20.10.2023 10:32
Der trochäische Vierheber
von Soleatus
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Der trochäische Vierheber sieht im Silbenbild so aus:

— ◡, — ◡, — ◡, — ◡

Wobei "—" wie immer eine mit starkem Nachdruck gesprochene Silbe meint, "◡" eine mit wenig Nachdruck gesprochene Silbe.

Dieser Vers ist schon wirklich lange in der deutschen Dichtung vertreten, vor allem in gereimter Form als Bestandteil strophischer Gedichte. Hier, in diesem Faden, soll er aber in seiner ungereimten und gereihten Form betrachtet werden! Verwendet worden ist er so in vielen Bereichen, ich möchte ihn hier vor allem als epischen Erzählvers vorstellen; aber auch die anderen Verwendungen werden erwähnt, unter anderem gleich zu Beginn des Fadens.

Diese Art des "Vierhebers" (ich erspare mir das "trochäisch" im weiteren Verlauf des Fadens) ist ein sehr einfach zu schreibender Vers, eigentlich ein für Einsteiger bestens geeignetes Maß: Man schwingt fast sofort in seinen Tonfall ein, und die Ergebnisse sind immer als "gestaltete" Sprache zu erkennen!

Wenn er aber nicht nur "brauchbar" klingen soll, sondern "wirklich gut": dann braucht ein Verfasser auch beim Vierheber eine klare Vorstellung davon, wie das Innenleben des Verses aussieht. Daher wird es in diesem Faden nach und nach um die Eigenheiten des Verses gehen.

- Der Vers ist mit acht Silben recht kurz. Welche Sätze, welche Satzteile fügen sich gut in diesen Rahmen, welche weniger gut?!

- Der Vers ist starr; er hat zum Beispiel viel weniger Möglichkeiten, die grundlegende Silbenanordnung abzuwandeln, als der Blankvers. Trotzdem muss er auf längere Strecken abwechslungsreich klingen, muss die Aufmerksamkeit des Hörers wachhalten.

Wie gelingt das? Wie muss dazu der Versbeginn, wie das Versinnere, und wie vor allem das Versende gestaltet werden? Was darf man dabei nicht machen??

- Der Vers ist ungereimt, sollte aber, wie jeder Vers, als grundlegende Einheit des Textes erfahrbar sein; sich nicht vollständig dem Satz unterordnen. Wie bestimmt sich im Vierheber dieses Spannungsverhältnis zwischen Vers und Satz?

- Welche der Lösungen, die in vergangenen Jahrhunderten für diese Fragen gefunden worden sind, sind auch heute noch anwendbar? Welche neuen Möglichkeiten sind denkbar?

Es gäbe noch ein paar andere Dinge, aber ich denke, das genannte reicht für einen ersten Eindruck aus.

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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1002



Beitrag20.10.2023 10:36

von Soleatus
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Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der Vierheber von den "Anakreontikern" benutzt als Nachbildung eines in der Antike von Anakreon verwendeten Verses, erst zur Nachbildung der Gedichte des Anakreon, danach in Gedichten ähnliches Inhalts - es ging also um leichte, tändelnde, scherzende Gedichte, die vor allem um die Liebe kreisten, den Wein, die Freundschaft.

Der Vierheber bildet die Sprache durchaus. Wenn der Verfasser sich vertraut und dem Vers auch, dann kann er diesem "Druck" bewusst nachgeben, und die meisten der im folgenden behandelten epischen Dichter haben das auch getan; das Ergebnis sind dann deutlich von der gewöhnlichen Sprache abweichende Verse.

Man kann aber auch ohne große Schwierigkeiten in unmittelbarer Nähe der Prosa bleiben. Diesen Weg sind die Anakreontiker gegangen, zum Beispiel der von mir sehr geschätzte Johann Nikolaus Götz:

Die herrschenden Gedanken

Wie die gelben Schmetterlinge,
Doris, um die Rosen fliegen,
Also fliegen die Gedanken,
Die aus meiner Seele kommen,
Hin und her um deine Schönheit.
Taumeln dann, von deiner Anmut
Und von deinen Blicken trunken,
Wie die jungen Bienenschwärme
Auf den süßen Kleegefilden
Von Gerüchen trunken taumeln.
Dann ermuntern sie sich alle,
Sich auf Zweige hinzusetzen,
Und einander deine Reize
Und Geschichten zu erzählen.
Wenn sie nun beim Abendstrahle
In ihr Nest zurücke kehren,
Und es hat ein kühner Fremdling
Ihre Wohnung eingenommen:
Beißen sie ihn fort, und üben
An ihm und an seinen Kindern
Nicht einmal das süße Gastrecht.


Eigentlich ist das nur heiße Luft, ein Versuch, "Etwas" aus "Nichts" zu machen. Eine Anrede, die aber keinem wirklichen Menschen gilt, ein Vergleich, dann noch einer, andersherum angeordnet; dann eher etwas in Richtung "Vögel" (sich auf Zweige setzen, Nest), ohne dass es ausgesprochen würde, und dann der etwas kräftigere Schluss mit seinem "Fortbeißen"; die Rechtfertigung und Erklärung des Titels.

Trotzdem liest sich der Text sehr angenehm, er "fließt", die Verse sind unterscheidbar, ohne dass sich die Sätze  verlieren; alles ist aufeinander abgestimmt und bezogen. Ein typisches Gedicht der Anakreontik eben!

Für die Betrachtung des Verses wichtig: Die Mehrzahl der Verse fängt mit einem Einsilber an, nur wenige mit einem Zweisilber der Form "— ◡". Das ist durchaus die Regel im Vierheber! Das einleitende einsilbige Wort ist dabei meist nur darum "hebungstauglich", weil die nachfolgende, die zweite Silbe, noch schwächer ist als die erste und dadurch die Rangordnung "schwere Silbe, leichte Silbe" gewahrt bleibt:

Von
Ge- / chen / trunken / taumeln.

Götz handhabt das sicher, nur einmal schwimmt ein Vers etwas, der vorletzte:

An ihm / und an / seinen / Kindern

Da ist "an" sicher nicht "an sich" stärker als "ihm", inhaltlich betrachtet eigentlich eher schwächer; und die Reihung von  vier eigentlich unbetonten Einsilbern lässt den Vers keine Sicherheit gewinnen. Aber diese gewisse Lässigkeit ist durchaus eine der Eigenschaften, die Götz' Verse so anziehend machen!

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Soleatus
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Beiträge: 1002



Beitrag20.10.2023 10:44

von Soleatus
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Ich schreibe noch einen zweiten Beitrag zu den Gedichten der Anakreontik, weil ich glaube, diese Art von Texten ist eine (! von vielen) Möglichkeiten, sich in den Vierheber einzuschreiben. Wenn man ihn als Erzählvers gebraucht, schreibt man schnell hunderte von Versen; für so ein kleines "anakreontisches Nichts" reicht ein Dutzend, und das Gefühl für den Vers stellt sich genauso gut ein; jedenfalls das für den "prosanahen Vierheber".

Ich vergleiche dabei ganz frech ein Gedicht von Ludwig Gleim mit einem kleinen eigenen Text. Zuerst der Gleim:

Die Wahl

Könnt ich malen wie Apelles,
Lauter Mädchens wollt ich malen;
Könnt ich nur wie Orpheus spielen,
Lauter Mädchens sollten tanzen;
Könnt ich Tote lebend machen,
Lauter Mädchens sollten leben;
Aber könnt ich, wie ich wollte,
Viele wieder sterben lassen,
Viele sollten wieder sterben,
Viele wollt ich überstreichen,
Dass sie ungemalet blieben,
Und vom ersten Tanz ermüdet
Sollten viele nicht mehr tanzen.


"Apelles" war ein berühmter Maler der Antike; "Mädchens" sagt man heute nicht mehr, bleibt aber der Lautwirkung wegen selbstredend stehen. Was bietet Gleim nun dem Leser? In der für die Anakreontik kennzeichnenden Mischung aus Wiederholung und Abwandlung stellt er dem Leser drei Möglichkeiten vor Augen, die er dann, etwas ungewöhnlich, in der zweiten Gedichthälfte einfach wieder zurücknimmt (Obwohl es eigentlich ja eine Ausweitung ist: "Aber könnt ich, wie ich wollte").

Meine Verslein setze ich nun einfach darunter, um zu zeigen, wie ein solches Gedicht vielleicht "ins Heute" geholt werden kann; selbstredend nur in meiner Sprache und nach meinem Geschmack!

Der von letzter Sommerwärme
In den Park gelockte Dichter
Sitzt auf einer Bank, und allen,
Die an ihm vorüberschlendern,
Schreibt er lächelnd kleine Verse -
Salbungsvolle Schmeicheleien
Allen Herren, allen Damen
Unbeschwerte Nettigkeiten,
Reime ohne Sinn den Kindern;
Sagt der Hunde Namen so, dass
Dieses eine Wort Gedicht ist ...


Eigentlich macht dieser Text nichts anders als der über zweihundert Jahre ältere: Er stellt dem Leser ein Bild vor Augen, dann fächert er das Bild in einem Dreischritt auf; schließlich geht er noch einen weiteren Schritt, hinaus über die eigentlich geschlossene Dreiheit "Mann - Frau - Kind", und findet dabei irgendwie die kleine Besonderheit, die geeignet ist, das Gedicht zu schließen.

Das ist nun keinesfalls ein besonders eindrucksvolles Gedicht; aber es ist, finde ich, ein Text, den man auch im 21. Jahrhundert ohne größeres Befremden lesen kann und damit vielleicht ein Hinweis darauf, dass die Art, in der die Anakreontiker den Vierheber verwendet haben, auch den heutigen Verfassern in angepasster Form zur Verfügung steht!

In Bezug auf die Form widersprechen beide Texte dem, was ich im letzten Beitrag geschrieben habe: Meine Verse haben nur in knapper Mehrheit einen Einsilber im Verseingang - sechs zu fünf; bei Gleim sind die Zweisilber selbst dann mit acht zu fünf in der Überzahl, wenn man die verkürzten Zweisilber "könnt" großzügig zu den Einsilbern zählt.  Gut tut das seinem Gedicht nicht immer, denn Zweisilber im Verseingang vergrößern die Gefahr solcher Verse:

Viele / wieder / sterben / lassen,
Viele / sollten / wieder / sterben,

Dabei fallen die "metrischen Grundeinheiten", die Trochäen "— ◡" mit den im Deutschen sehr häufigen Worteinheiten der Art "— ◡" zusammen, wodurch der Vers seine innere Spannung verliert und zu "klappern" beginnt, wie Heine und andere das so schön genannt haben: Die ständige Wiederholung ein und derselben Bewegung erinnert an ein Marschieren, eine Art leblosen Stechschritt.

Das ist eine Sache, auf die man im Vierheber ein wachsames Auge haben muss! Ein Vers dieser Art ist sicher unbedenklich, und es gibt auch Fälle, wo man derlei zur Unterstützung des Inhalts einsetzen kann; aber im allgemeinen sind zwei Verse dieser Art nacheinander, wie hier bei Gleim, die äußerste Grenze.

Besser bewegt sich zum Beispiel dieser Vers:

Und / vom / ersten / Tanz / er- / det

Da "scheiden" sich die Trochäen (rot) und die Wort-, bzw. Sinneinheiten (blau), wodurch der Vers lebendig wirkt. Wobei gerade dieser sich inhaltlich nicht gegen eine gewisse Einförmigkeit sträuben würde ...  

So, damit lasse ich den anakreontischen Vierheber erst einmal ruhen; im nächsten Beitrag geht es dann um einen längeren Erzähltext in Vierhebern!

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Soleatus
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Beitrag20.10.2023 10:51

von Soleatus
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Die bisher betrachteten "anakreontischen" Vierheber sind, wie gesagt: hell, leicht, tändelnd und spielend, oft in der Natur verortet (wenn überhaupt). Als Gegenstück stelle ich hier nun einen Text von Christian Morgenstern ein, nicht allzu lang, aber schon ein vollwertiges Erzählgedicht; Und auf See, im Nebel, dramatisch, technisch ... das "Gegenteiligste", was mir gerade einfiel!

Im Nebel

Schaurig heult das große Dampfhorn
seine Warnung in den Nebel ...
Irgendwo antwortet schaurig,
leis bald, lauter bald, ein andres ...
Angstvoll stehn die Passagiere,
jeden Nerv gespannt die Mannschaft ...
Schaurig heult das große Dampfhorn ...
Dumpf antwortet's aus dem Nebel ...
Alles späht, horcht, misst die Pausen,
die Maschine schafft mit Halbdampf,
langsam schiebt durch undurchdringlich
Dunkel der Koloss sich vorwärts ...
Schaurig heult das große Dampfhorn ...
Dumpf antwortet's aus dem Nebel ...
In den Schiffsraum steigen Wachen,
an den Luken, an den Booten
harrt Bemannung, von der Brücke
schallt des Kapitäns Befehlsruf ...
Schaurig heult das große Dampfhorn ...
Dumpf antwortet's näher und näher ...
Die Erregung wächst zum Fieber ...
Ahnt wer, dass des Todes Hand die
Kompassnadel abgelenkt hat,
dass der Mann am Steuer falsch fährt?
Schaurig heult das große Dampfhorn ...
Laut antwortet nächste Nähe ...
Böllerschlag -: Schwerfällig tasten
weiße Kugeln in die Dämmrung ...
"Schiff an Steuerbord!" - Zu spät! - Schon
schießt es rauschend, ungeheuer,
unaufhaltsam aus dem Nebel -
grässlich mischen sich die Hörner -
rasend rolln die Steuerketten -
"Rückdampf!" - Schreie - Donnerkrachen -
alles stürzt zu Boden - Flammen
speit der Kesselraum - der Spiegel
senkt sich - aller Kampf vergebens! -
"Boote ab!" - Umsonst! - In Wirbeln,
Strudeln, Kratern dreht sich alles
tollen Tanzes in die Tiefe ...
Wo verblieb der fremde Fahrer?
Sank er? Fuhr er feig des Weges?
Lautlos lastet dicker Nebel
über totenstillen Wassern.


Bei "Im Nebel" denkt man wohl eher an Hermann Hesses berühmtes Gedicht ("Seltsam, im Nebel zu wandern!"); aber davon ist Morgensterns Schilderung eines Schiffsunglücks sehr weit entfernt!

Gewöhnungsbedürftig ist zuerst einmal die Überfülle an Satzzeichen; aber der kann man ja ganz einfach dadurch entgehen, dass man den Text laut liest und ihm mit den Ohren statt mit den Augen nachspürt. Wie bei allen Erzählt-Gedichten und Erzähl-Versen ist das auch hier ein sehr guter Gedanke!

Den Vierheber selbst nutzt Morgenstern dabei, na: "unauffällig". Er erlaubt sich nur eine Abweichung vom Metrum: Dumpf antwortet's näher und näher ... hat eine überzählige unbetonte Silbe gegen Ende. Und die Einheit des Verses bewahrt er durchgängig, nur zweimal gibt es einen wirklich harten Zeilensprung:

Ahnt wer, dass des Todes Hand die
 Kompassnadel abgelenkt hat,

"Schiff an Steuerbord!" - Zu spät! - Schon
 schießt es rauschend, ungeheuer
,

Das ist beim Vierheber aber eigentlich immer so: zusätzliche oder fehlende Silben sind die seltene Ausnahme, und der Vers bleibt so gut wie immer als achtsilbige Einheit zu erkennen.

Trotzdem wirken die Verse keineswegs einförmig; Morgenstern nutzt viele Möglichkeiten, innerhalb dieses recht engen Rahmens für Abwechslung zu sorgen. Bezogen auf den letzten Beitrag, in dem ja der Hinweis stand, Verse der Art Viele sollten wieder sterben seien gefährlich, weil sie "klappern", meint, die Grundbewegung des Verses überbetonen, weise ich auf diesen Vers hin:

Alles späht, horcht, misst die Pausen,

Da steht das "horcht" in der Senkung, zählt also eigentlich als unbetont; so kann man aber unmöglich lesen, erst recht nicht, da es durch zwei Komma auch noch zeitlich vereinzelt ist. Das einfachste ist da bestimmt, "späht, horcht, misst" alles gleich schwer, lang, betont zu lesen; und durch diese Gleichförmigkeit verwischt die Grundbewegung des Verses, das Auf und ab, ziemlich stark.

Man kann das auch in die andere Richtung versuchen, wie bei diesem Vers aus dem zuerst vorgestellten Gedicht von Götz:

Und es hat ein kühner Fremdling

Hier sind die ersten vier Silben sich sehr ähnlich. Zwar besetzen zwei davon eine Hebungsstelle, aber im Vortrag wird jeder diese vier Silben gleich leicht, kurz, unbetont lesen?! Auch hier verwischt dann die Grundbewegung. Das passt zur Leichtigkeit des Götz-Textes durchaus, bei Morgenstern wäre es fehl am Platz und kommt auch nicht vor.

Darin liegt nun eine der Herausforderungen des Vierhebers: Wählt man zu viele "schwere" oder zu viele "leichte" Silben nacheinander, verliert der Vers seine einprägsame Gestalt; wählt man zu wenige, wird er hölzern und klappert. Da gilt es, ein Maß zu finden!

Was Morgenstern sonst noch alles so anstellt im Vers - schaut mal rein. Ich erwähne nur noch diese beiden Verse:

schießt es rauschend, ungeheuer,
unaufhaltsam aus dem Nebel –


Denn deren eindrücklicher "Dreischritt" hat mich an einen anderen erinnert, aus "Der alte Sänger" von Adalbert von Chamisso:

Unaufhaltsam, unablässig,
Allgewaltig drängt die Zeit.


Das hat sicher auch etwas mit dem "unaufhaltsam" zu tun, aber ich denke, es ist vor allem diese Nachdrücklichkeit in der Bewegung, die sich einprägt; denn trochäische Vierheber sind es hier wie da!

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Soleatus
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Beitrag20.10.2023 10:58

von Soleatus
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In diesem Beitrag möchte ich das erste Kapitel von Ludwig Strauß' Legende "Mechtildis unter der Buche" vorstellen.

Die von immergleicher Trauer
Langsam ging, von immergleichem
Traume lieblich aufgehoben
Sinnend schwebte, die Mechtildis,
Guntram väterlichen Grimmes
Zwang sie aus dem Einsamwandeln,
Einsamsitzen vor den Thron.


Ein Eingangssatz, der mich beeindruckt hat, als ich ihn zum ersten Mal las. Man merkt schon, die "normale" Satzstellung ist aufgegeben, auch der Vers macht sein Gewicht gelten. Die für im Vierheber geschriebene Texte kennzeichnenden Wiederholungen von Satzteilen sind gleich am Anfang vertreten. Beispielhaft für die Versbehandlung in diesem Text ist der letzte Vers: Hier endet der Satz, und Strauß schließt ihn unter Auslassung einer unbetonten Silbe auf einer betonten Silbe! Die lange Sprechpause nach dem Punkt vertritt dabei die unbetonte Silbe.

"Einzig Blut, das von mir dauert,
Soll ich zusehn, wie du absiechst,
Aufgesogen von der Sonne,
Hingenommen von dem Winde,
Wolke halb vergehst im Blauen,
Halb verrinnst im toten Sand?
Eher reiß ich aus der welken
Trauer um den ledigen Fahrer
Der aus Nichts in Nichts geschwunden,
An den Haaren dich herauf."


Wieder eine lose Satzstellung, Parallelismen, Satzschlüsse auf betonten Silben ("Sand", "herauf"). All das ist kennzeichnend für den Text und bleibt im weiteren so, auch wenn ich es nicht mehr erwähne! Bei "ledigen" gibt es durch die beiden unbetonten Silben eine kleine Abweichung vom Versmaß.

"Vater", sagte da Mechtildis,
Ihre Stimme schwer von Ferne,
Mühsam in die blauen, vollen
Blicke fassend Thron und Herrn,
"König, der du Macht hast über
Acker, Wald und Schiff und Menschen,
Hast du aber auch die Krone
Von den Geistern in dem Wasser,
Von den Wesen in den Bäumen,
Von den Seelen in den Leibern?
Kannst dem Winde auch gebieten,
stillzustehn, des Baumes Rauschen
Schweigen und der Welle Stimme
Und die Trauer in der Brust?
Samen streu in deine Äcker,
Bäume setz in deine Forste,
Halm wächst doch im eignen Wesen,
Baum im eigenen Gesetz."


Wie hält es Strauß mit dem Zeilensprung?! Einige Male trennt er zwar zusammengehöriges, aber im allgemeinen ist er da vorsichtig. Zu dem "über" etwa, das am Versende steht, tritt der gesamte folgende Vers, was die Trennung weniger hart klingen lässt? Diese Aufzählung ist auch in ihrer Bewegung bemerkenswert:

Acker, Wald und Schiff und Menschen

Ich hatte ja schon auf "klappernde" Aufzählungen der Art "Silben, Wörter, Sätze, Texte" hingewiesen mit genau gleichen Aufzählungsgliedern; Strauß' Aufzählung ist nun das "andere Äußerste", denn hier ist kein Glied der Aufzählung einem anderen gleich:

Acker, / Wald / und Schiff / und Menschen

X x / X / x X / x X x

- Ein sehr abwechslungsreich sich gliedernder Vers!

Guntram, vor der fremden Stete
Wirrnis zornig spürend, senkte
Hart zur Brust das bärtige Antlitz,
Nährte aus des Thrones Golde,
Stärkte aus dem Waffenschimmern
Seiner Scharen durch die Tore
Die gebieterischen Mächte
In dem angefochtnen Mute,
Riss das Haupt herauf und schrie:
"Da an Rede Widerrede
Du zu setzen nicht ermattest,
Lass nun schaun, ob auch dem Zwang du
Widerzwang hast aufzubieten,
Welche Kraft wohl länger währt!


"Bärtige", wieder zwei unbetonte Silben; und an derselben Stelle im Vers wie das "ledige". Die Satzstellung am Schluss, das scheinbar unverbundene "Welche ...", das aber doch zu "Lass nun schaun," gehört, erscheint mir sehr reizvoll!

Unverhoffte Gnade", sprach er,
Unverdiente soll dir werden,
Doch gewaltsam wie dem strotzigen
Kind ins aufgehaltne Mundwerk
Heilsam Tränklein wird geflößt.
Um dich wirbt und soll dich haben
Hatto, nachbarlicher König,
Der an Reichtum mit den Reichen
Funkelt, der an Manneswerte
Fürsten, Mannen überstrahlt.


Diesmal steht mit "strotzigen" eine "doppelt besetzte Senkung" am Versende! Das ist ziemlich ungewöhnlich ... Ich glaube, das werden im Vortrag viele auf "strotz'ge" verkürzen? Andererseits ist ein recht heftiger Zeilensprung da, das Versende tritt also ohnehin nicht so stark als Pause in Erscheinung; und gerade an dieser Stelle, mit diesem Wort das Metrum zu durchbrechen: passt gut zum Inhalt?!

Dem ein Kampfgott reiht die Heerschar,
Dem ein Blitz wohnt in der Schwerthand,
In den Rennerbeinen Hirschblut,
Dem ein Falkenblick den Spieß lenkt,
Held von Helden, Jäger über
Allen Jägern, wirbt um dich.


Die zusätzlichen unbetonten Silben, die ich angesprochen habe, setzt Strauß häufiger, als es üblich ist. Wenn aber diese Möglichkeit der Auflockerung selten ist, woraus gewinnt der Vierheber dann die nötige Abwechslung, seine Vielgestaltigkeit? Dieser Abschnitt zeigt zwei Möglichkeiten dafür!

Einmal die Wahl der Schluss-Silbe. Es macht für den Eindruck, den der Vers dem Ohr macht, einen gewaltigen Unterschied, ob die letzten beiden Silben durch ein Wort wie "Wesen" besetzt sind, in dem die letzte Silbe fast ganz stumm bleibt, oder durch ein Wort wie "Heerschar", in dem die zweite Silbe erstens eine "Sinnsilbe" ist und zweitens einen langen Vokal aufweist! Dadurch bekommt diese Silbe ein großes Gewicht, sie hat eine starke Nebenbetonung. Strauß setzt diese Möglichkeit nun gleich viermal nacheinander ein: "Heerschar", "Schwerthand", "Hirschblut" "Spieß lenkt", im letzten Fall durch zwei "schwere" einsilbige Wörter. Die damit erzielte Wirkung ist sehr stark!

Zweitens entsteht Vielfalt durch die Möglichkeit, sozusagen "am Metrum vorbei" andere Bewegungsmuster in den Text zu schmuggeln. Hier sieht man das deutlich an diesem Vers:

Dem ein Blitz wohnt in der Schwerthand.

Vom Metrum her ein tadelloser vierhebiger Trochäus:

Dem ein / Blitz wohnt / in der / Schwerthand.

— ◡, — ◡, — ◡, — ◡

Allerdings sind zwei der Silben, die in der "Senkung" stehen, für sich viel bedeutender, "schwerer", als zwei der Silben, die in der "Hebung" stehen: "wohnt" und "-hand" als Senkungssilben, "Dem" und "in" als Hebungssilben. Das führt dazu, dass im lebendigen Vortrag die Versbewegung eher so aussehen dürfte:

◡ ◡ — —, ◡ ◡ — —

Also ein tataTAMTAM, tataTAMTAM - ich weiß nicht, ob die Bewegung deutlich wird, aber in Bezug auf die antike Terminologie sind das "Ionicus a minore", so gut sie das Deutsche eben hinbekommt; eine sehr eindrückliche Bewegung, und stark vom üblichen "trochäischen Gang" unterschieden!

Der Vers vor diesem ("Dem ein Kampfgott ...") bereitet diese besondere Bewegung schon vor, der Vers danach ist anders gebaut, dann kommt noch eine Erinnerung an den Ionicus; und dann fällt die Versbewegung zurück in üblichere Muster.

Gib mir nun kein Wort und Zeichen,
Denn der Unverständigen muss ich
Fraglos ordnen, was ihr zukommt,
Und zum Neumond wird die Hochzeit
Dir gerüstet hier im Saal."


Wie weit trägt die angesprochene "besondere Bewegung" des Ionikers? Hat man sie hier noch im Ohr, liest man die Folge ...

was ihr zukommt, und zum Neumond wird die Hochzeit

... vielleicht auch als

 "◡ ◡ — —, ◡ ◡ — —, ◡ ◡ — —"

Vielleicht aber auch nicht, denn so klar wie im zuerst besprochenen Vers ist die Bewegung an dieser Stelle längst nicht. "Unverständigen", noch einmal zwei unbetonte Silben; wie gesagt, Strauß benutzt sie häufiger, als es üblich ist.

Das erste Kapitel endet hier, passenderweise; die Bühne, auf der sich die Legende im weiteren entfaltet, ist bereitet!

Mir gefällt Strauß' Text sehr gut. Vom Inhalt her ist es eine "handelsübliche Legende", aber die Art, wie Strauß sie mit Hilfe des Vierhebers in sprachliche Wirklichkeit formt, beeindruckt mich bei jedem Lesen, jedem Sprechen wieder ...

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Beitrag20.10.2023 11:12

von Soleatus
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Der Beginn von Gustav Falkes "Ko-ai" sieht so aus:
 
Von dem Glockenturm in Peking
Klingt das herrlichste Geläute,
Eine schön're Glockenstimme
Hört man nicht im ganzen Reiche;
Alle Leute stehn und horchen,
Wenn die große Glocke anhebt,
Bis der letzte Ton verklungen,
Und dann gehn sie sinnend weiter,
Ernster, als sie vordem waren,
Denn der letzte Ton der Glocke
Ist gleich einem wehen Wimmern,
Eines Weibes Todesschrei.

 
Das ist tatsächlich eine Strophe, wenn auch mit zwölf Versen eine sehr geräumige; auf elf vollständige trochäische Vierheber folgt ein zwölfter, der um die letzte, schwach betonte Silbe verkürzt ist. Das ist ein beliebtes Verfahren, gleich, ob es um eine Strophe beliebiger Länge oder um Erzählabschnitte in einem Text aus gereihten Vierhebern geht: Der mit einer kräftig betonten Silbe schließende letzte Vers gibt den Vorhergehenden einen nachdrücklichen Abschluss!
 
Der Text ist ein ganz guter Beleg für die Behauptung, der Vierheber sei "prosanah"; die Sätze folgen logisch aufeinander, Nebensätze ordnen sich wie gewohnt unter. Von "Wiederholungen" ist in dieser ersten Strophe noch nicht viel zu sehen; nur die viermalige Nennung der "Glocke" fällt auf, und vielleicht noch die "W"-Alliteration der letzten beiden Verse. Im Rahmen des gesamten Textes ist es aber doch eine Wiederholung, eine sehr umfangreiche sogar: Die gesamte Strophe tritt auch als Schlussstrophe in Erscheinung! Die zweite Strophe:
 
Ko-ai weint aus dieser Glocke,
Ko-ai, die geliebte Tochter
Kuan-yus, des Mandarinen,
Dem der edle Kaiser Yung-lo
Dieser Glocke Guss befohlen:
Groß und edel sei die Glocke,
Und ihr Mund sei lauter Wohllaut,
Rein und keusch wie Himmelsklänge
Und doch voll und weithin tönend,
Alle guten Herzen rührend,
Und die bösen und die harten
Mach sie auf ein Stündchen weich.

 
Auch diese Strophe wird am Ende des Textes als vorletzte Strophe wiederholt, wenn auch nicht vollständig – die ersten drei Verse sind dort andere. An "wirklichen" Wiederholungen gibt es wieder die "Glocke", interessanter aber das doppelte "Ko-ai" der Anfangsverse, was ein ziemlich übliches Wiederholungsmuster andeutet: Wiedernennung zwecks näherer Beschreibung! (Inhaltlich ist die Katze hier schon aus dem Sack, es geht nur noch um das "Wie", nicht um das "Was"?!) Die dritte Strophe:
 
Kuan-yu verneigte dreimal
Sich in Ehrfurcht vor dem Kaiser,
Wählte sich die besten Leute,
Wählte sich die höchst geschickten;
Doch der Guss misslang ihm zehnmal.
Zehnmal fragte Kaiser Yung-lo
Ihn vergeblich nach der Glocke,
Runzelte die Stirne finster
Und befahl beim elften Male,
Wenn es wiederum misslänge,
Würde Kuan-yu geköpft.

 
Hier gibt es dann in V3, V4 die erste "richtige" Wiederholung; der zweite Vers nimmt den Aufbau des ersten auf und sagt eigentlich gar nicht neues, sondern nur dasselbe noch einmal, nur mit anderen Worten! (Na gut, man könnte sagen: die "besten Leute" sind das, weil sie "höchst geschickt" sind ...) Dann dass doppelte, unmittelbar aufeinanderfolgende  "zehnmal". Diese Strophe wird am Ende nicht wiederholt, ist aber dafür der Ort, an dem die "innerstrophliche" Wiederholung so langsam Fahrt aufnimmt. Es ist allerdings noch gar nichts mit dem, was da noch folgt! Aber das verschiebe ich erst einmal, der Beitrag ist schon lang genug, und der Text hat fünfzehn dieser Strophen ...
 
(Inhaltlich fand ich etwas verwirrend, dass der Guss hier ... "und befahl beim elften Male" .... zum elften Mal missglückt ist; wird das so ohne weiteres verständlich?!)
 
In der vierten Strophe kommen die Wiederholungen immer dichter:
 
Kuan-yu ging tief in Ängsten,
Ging im Mandarinengarten
Schweren Herzens auf und nieder,
Ratlos tags und ratlos nächtens,
Betete zu allen Göttern,
Wagte nicht, zum zwölften Male
Mit dem Gusse zu beginnen,
Mit den allerbesten Leuten,
Mit den wirklich höchst geschickten;
Doch der edle Kaiser Yung-lo
Wollt' nicht warten, ungeduldig
Wollt' er Glocke oder Kopf.

 
"Ging" ... "Ging" als Einleitung zu der (auch eine Art Wiederholung darstellende) Aufzählung "ging", "betete", "wagte"; dann "ratlos" ... "ratlos"; dann die drei "mit" zu Versbeginn, die V8 und V9 allerdings nur eine leichte Veränderung bedeuten gegenüber V3 und V4 aus S3! Rein vom Informationsgehalt ist hier vieles überflüssig; aber ein Gedicht lebt auch immer von der Spannung zwischen Wiederholung und Abwandlung. Die fünfte Strophe:
 
Also sah in tiefsten Ängsten
Ko-ai ihren armen Vater,
Ko-ai, die geliebte Tochter
Kuan-yus. Die Kirschenblüte
Hatte sechzehnmal die Jungfrau
Ihre zarten, keuschen Kelche
Öffnen sehn im warmen Frühling
Bei dem Lied der kleinen Vögel;
Selber war sie wie die weiße,
Zarte keusche Kirschenblüte,
Sechzehnmal geküsst vom Frühling,
Lieblicher nach jedem Kuss.

 
Einige Verweise auf S2: V2-V4 ähnelt im Aufbau den dortigen V1-V3; V3 hier ist genau gleich dem V2 dort! Neben den Namen fällt in S2 auch schon der Begriff "keusch", der hier auch strophenintern wiederholt wird. V1 "gehört zu"  V1 aus der letzten Strophe; "sechszehnmal", auch wiederholt, nimmt das "zehnmal" "zwölfmal" des Glockengießens auf?! Die sechste Strophe:
 
Aber weißer wie die Blüte,
Weißer wie das Licht des Mondes,
Das auf diesen zarten, weichen
Blumenkissen nächtens schlummert,
Färbte jetzt der große Kummer
Um den Vater ihre Wangen;
Und im Mandarinengarten
Ging sie ratlos auf und nieder,
Ratlos tags und ratlos nächtens,
Betete zu allen Göttern
Bis zum kühlen Morgenhauche;
Doch die Götter blieben stumm.

 
"Weißer", "weißer"; sonst ist viel aus S4 übernommen, V9 und V10 wörtlich; V7 und V8 teilweise! Die siebte Strophe:
 
Ko-ai zürnte nicht den Göttern,
Aber war betrübt im Herzen,
Dass die Götter sie nicht liebten;
Und sie ging zu einem Zaub'rer,
Ging zu einem Sternendeuter.
Heimlich ging sie, spät am Abend,
Warf sich hin auf ihre Knie,
Klagte ihres Herzens Jammer,
Weinte um den guten Vater
Und begehrte Rat und Auskunft
Aus den Büchern, aus den Sternen,
Über Leben, über Tod.

 
"Ging", "ging", "ging"; "ging", "warf", "klagte", "begehrte"; "aus", "aus"; "Über", "über". Solche Wiederholungen und Aufzählungen sind dann sicher auch immer Hinweise auf (andere) rhetorische Stilmittel, aber die sollen jetzt einmal unerwähnt bleiben. Fast schon seltsam mutet das Fehlen von Wiederaufnahmen anderer Strophen(-teile) an!
 
Die achte Strophe:
 
Als sie aus des Weisen Pforte,
Aus den ernsten Zauberkreisen
Endlich wieder in den Garten,
In den fremden, stillen Garten
Trat mit schnellen, scheuen Schritten,
Da war weißer als der erste
Junge Schnee der Kirschenblüte,
Weißer als das Licht des Mondes,
Das auf diesem zarten, weichen,
Weißen Kissen nächtens schlummert,
Ko-ai, die geliebte Tochter,
Junge Tochter Kuan-yus.

 
Eine Strophe, in der die Wiederholung überwältigend stark die Gestaltung prägt! Das "aus" ... "aus" in V1, V2 und das "in den" ... "in den" aus V3, V4 zeigen schön, wie man aus der Dopplung ein mehr an Einzelheiten gestalten kann; das "Garten" ... "Garten" ist dann sowohl stropheninterne Wiederholung als auch Wiederaufnahme, und dann ist V6–V10 eine fast wörtliche Wiederholung von S6, V1–4, ehe V11 S2,V2 und S5,V3 wiederholt und ein nur abgewandelter V12 die Strophe schließt! Aber: Obwohl die Bausteine schon gehört wurden, teilweise mehr als einmal, wirkt es nicht langweilig?! Da ist das Prinzip von Wiederholung und Abwandlung auf sehr interessante Weise tätig!
 
Die neunte und die zehnte Strophe als Block:
 
Kuan-yu ging tief in Ängsten,
Ging im Mandarinengarten
Schweren Herzens auf und nieder,
Ratlos Tag und ratlos nächtens,
Betete zu allen Göttern;
Heute sollt zum zwölften Mal er
Mit dem Glockenguss beginnen,
Mit den allerbesten Leuten,
Mit den wirklich höchst geschickten,
Denn der edle Kaiser Yung-lo
Wollt nicht warten, ungeduldig
Wollt er Glocke oder Kopf.

Als die Stunde nun gekommen,
Stand an ihres Vaters Seite
Ko-ai, die geliebte Tochter
Kuan-yus. Die Kirschenblüte
Hatte sechzehnmal die Jungfrau
Ihre zarten, keuschen Kelche
Öffnen sehn im warmen Frühling,
Bei dem Lied der kleinen Vögel;
Selber war sie wie die weiße
Zarte, keusche Kirschenblüte,
Sechzehnmal geküsst vom Frühling,
Lieblicher nach jedem Kuss.

 
Ich sage zu den Wiederholungen diesmal nichts – vielleicht mag ja jemand selbst schauen, wo welche Bestandteile vorher schon aufgetaucht sind?! Es sind einige ... Stattdessen merke ich nur an, dass es gerade bei solchen Texten einen großen Unterschied macht, ob man sie liest oder ob man sie hört; die Wiederholungen haben in diesen Fällen eine ganz andere Wirkung!
 
Die elfte Strophe, die die Handlung an den Höhepunkt heranführt:
 
Und nun sollt der Guss beginnen,
Mit den allerbesten Leuten,
Mit den wirklich höchst geschickten:
Sorgsam war die edle Speise
Treu und meisterlich bereitet.
Kuan-yu erhob die Hände,
Betete zu allen Göttern:
"Schützt den edlen Kaiser Yung-lo",
Seufzte tief und gab das Zeichen,
Dass der Zapfen ausgestoßen
Und die Flut des roten Erzes
Flösse in die feste Form.

 
V2, V3 ist schon mehr als einmal dagewesen, V7 auch; der Rest treibt jetzt die Handlung, also ausnahmsweise nicht ganz so viel Wiederholung!
 
"Weiter im Text" mit der zwölften Strophe:
 
Und es hob zu allen Göttern
Ko-ai ihre weißen Hände,
Betete zu allen Göttern,
Seufzte tief und rief mit lauter
Stimme, als das Erz entzischte,
Rief: "Um meines Vaters willen!"
Hob die lieben, weißen Hände,
Sprang mit ihrem weißen Kleide
In die rote Glockenspeise;
Wie die kleine windverwehte
Kirschenblüte fiel sie nieder
In den roten Feuertod.

 
Hier sind bestimmt die Wiederholungen in Bezug auf die Vorstrophe interessant, weil sich Vater und Tochter ja ähnlich verhalten, aber zu verschiedenen Schlüssen kommen, siehe ihre Aussagen; Ko-ais Handlung ist, äh, überraschend?! Da stellt sich doch die Frage: Warum tut sie das?! Vielleicht gründet sich das ganze auf ihrem Besuch bei dem Sterndeuter; das gäbe diesem Einschub immerhin einen Sinn ... Die dreizehnte Strophe:

Kuan-yu konnt' sie nicht halten,
Kuan-yu konnt' sie nicht retten,
Konnte Ko-ai nimmer retten,
Fiel vornüber auf die Erde,
Mit dem alten, grauen Kopfe
Fiel er auf die harte Erde,
Dass sein Blut die Erde netzte,
Schrie laut auf, als er so hinfiel,
Schrie nicht wieder, lag da lautlos,
Mit dem alten, grauen Kopfe
Auf der harten Erde lag er,
Netzte sie mit seinem Blut.

 
Dramatische Handlung, das alles, die Wiederholungen sind auch alle "verbbasiert": "konnt", "konnt", "konnte"; "fiel", "fiel"; "schrie", schrie"; "lag", "lag". Die letzten beiden Strophen:

Also um die vielgeliebte
Tochter Ko-ai starb der Vater
Kuan-yu, der Mandarine,
Dem der edle Kaiser Yung-lo
Dieser Glocke Guss befohlen:
Groß und edel sei die Glocke,
Und ihr Mund sei lauter Wohllaut,
Rein und keusch wie Himmelsklänge,
Und doch voll und weithintönend,
Alle guten Herzen rührend,
Und die bösen und die harten
Mach sie auf ein Stündchen weich.

Von dem Glockenturm in Peking
Klingt das herrlichste Geläute,
Eine schön're Glockenstimme
Hört man nicht im ganzen Reiche;
Alle Leute stehn und horchen,
Wenn die große Glocke anhebt,
Bis der letzte Ton verklungen,
Und dann gehn sie sinnend weiter,
Ernster als sie vordem waren,
Denn der letzte Ton der Glocke
Ist gleich einem wehen Wimmern,
Eines Weibes Todesschrei.

 
Das ist wie schon gesagt, in umgekehrter Reihenfolge die fast vollständige Wiederholung der ersten und der zweiten Strophe. Aber es hat auf den Leser nicht dieselbe Wirkung: Am Anfang war noch unklar, was es mit der Frauenstimme auf sich hat, am Ende liest/hört man dieselben Worte im Wissen um das dahinterliegende Geschehen.

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Beitrag20.10.2023 11:20

von Soleatus
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Deutsche trochäische Vierheber, ungereimt und gereiht, gehen meist auf eine von drei Quellen zurück:
 
– Die finnische Kalevala und unter deren Eindruck entstandene Werke wie Longfellows "Hiawatha"; beide sind ja ins Deutsche übersetzt und viel gelesen worden, und ich denke, auch in der Art der Wiederholungen knüpft Falkes "Ko-ai" hier an; Zeitlich liegen die entsprechenden deutschen Werke nach 1850.
 
– die spanischen Vorbilder der Romanzendichtung, wie sie vor allem von den Romantikern gepflegt wurde; zeitlich also eher die Jahrzehnte nach 1800.
 
– die antiken Lieder von / um Anakreon, die in der deutschen Anakreontik auch in Bezug auf den Vers als Vorbild gedient haben. Die entsprechenden Gedichte entstanden zwischen 1750 und 1800 und haben oft auch Wiederholungsstrukturen, aber leicht andere als die hundert Jahre später entstandenen Texte.

Zur Anakreontik siehe den Beginn des Fadens; es wird nichts schaden, auch einen auf der spanischen Tradition beruhenden Text in trochäischen Vierhebern, mit den dazugehörigen Wiederholungsmustern, vorzustellen  – zumindest in Auszügen. Ich, denke, Heinrich Heines "Spanische Atriden" ist da ganz geeignet – der Ausschnitt setzt mit einem Gastmahl ein, bei dem von einem Gastmahl erzählt wird;  "Allan" ist, wie unschwer vermutet werden kann, Don Fredregos großer Lieblingshund.
 
Die Wiederholungen sind sparsamer bei Heine, aber immer hör- und spürbar, wirksam also; und die Figur der letzten Strophe ist ohnehin ein "Klassiker der Wiederholung", den ich zur Nachahmung empfehle!
 
An dem obern Tafelende,
Dort, wo heute Don Henrico
Fröhlich bechert mit der Blume
Kastilianscher Ritterschaft -

Jenes Tags saß dort Don Pedro
Finster stumm, und neben ihm,
Strahlend stolz wie eine Göttin,
Saß Maria de Padilla.

Hier am untern End der Tafel,
Wo wir heut die Dame sehen,
Deren große Linnenkrause
Wie ein weißer Teller aussieht -

Während ihr vergilbt Gesichtchen
Mit dem säuerlichen Lächeln
Der Zitrone gleichet, welche
Auf besagtem Teller ruht:

Hier am untern End der Tafel
War ein leerer Platz geblieben;
Eines Gasts von hohem Range
Schien der goldne Stuhl zu harren.

Don Fredrego war der Gast,
Dem der goldne Stuhl bestimmt war -
Doch er kam nicht  - ach, wir wissen
Jetzt den Grund der Zögerung.

Ach, zur selben Stunde wurde
Sie vollbracht, die dunkle Untat,
Und der arglos junge Held
Wurde von Don Pedros Schergen

Hinterlistig überfallen
Und gebunden fortgeschleppt
In ein ödes Schlossgewölbe,
Nur von Fackelschein beleuchtet.

Dorten standen Henkersknechte,
Dorten stand der rote Meister,
Der, gestützt auf seinem Richtbeil,
Mit schwermütger Miene sprach:

Jetzt, Großmeister von San Jago,
Müsst Ihr Euch zum Tod bereiten,
Eine Viertelstunde sei
Euch bewilligt zum Gebete.

Don Fredrego kniete nieder,
Betete mit frommer Ruhe,
Sprach sodann: ich hab vollendet,
Und empfing den Todesstreich.

In demselben Augenblicke,
Als der Kopf zu Boden rollte,
Sprang drauf zu der treue Allan,
Welcher unbemerkt gefolgt war.

Er erfasste, mit den Zähnen,
Bei dem Lockenhaar das Haupt,
Und mit dieser teuern Beute
Schoß er zauberschnell von dannen.

Jammer und Geschrei erscholl
Überall auf seinem Wege,
Durch die Gänge und Gemächer,
Treppen auf und Treppen ab.

Seit dem Gastmahl des Belsazar
Gab es keine Tischgesellschaft,
Welche so verstöret aussah
Wie die unsre in dem Saale,

Als das Ungetüm hereinsprang
Mit dem Haupte Don Fredregos,
Das er mit den Zähnen schleppte
An den träufend blutgen Haaren.

Auf den leer gebliebnen Stuhl,
Welcher seinem Herrn bestimmt war,
Sprang der Hund und, wie ein Kläger,
Hielt er uns das Haupt entgegen.

Ach, es war das wohlbekannte
Heldenantlitz, aber blässer,
Aber ernster, durch den Tod,
Und umringelt gar entsetzlich

Von der Fülle schwarzer Locken,
Die sich bäumten wie der wilde
Schlangenkopfputz der Meduse,
Auch wie dieser schreckversteinernd.

Ja, wir waren wie versteinert,
Sahn uns an mit starrer Miene,
Und gelähmt war jede Zunge
Von der Angst und Etikette.

Nur Maria de Padilla
Brach das allgemeine Schweigen;
Händeringend, laut aufschluchzend,
Jammerte sie ahndungsvoll:

"Heißen wird es jetzt, ich hätte
Angestiftet solche Mordtat,
Und der Groll trifft meine Kinder,
Meine schuldlos armen Kinder!"

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Beitrag20.10.2023 11:23

von Soleatus
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Von Heine zu Karl Immermanns "Tulifäntchen", den Heine übrigens mit Kommentaren und Änderungsvorschlägen begleitet hat in seiner Entstehung! Ein kurzer Ausschnitt außerhalb der eigentlichen Handlung, der aber eine Ahnung gibt, was diese eigentliche Handlung wohl so auszeichnen könnte ...
 
Die Wiederholungen haben hier eher die Wirkung eines Refrains, ehe sie am Schluss in dichter Folge auftreten, eben diesen Schluss herauszuheben.
 
Als die Götter aus dem Chaos
Buken diese Welt, die nicht'ge,
Sah sie aus wie ein Gebäck,
Das sich durfte sehen lassen,
Rund und glänzend, braun und schier,
Eingefasst von schmucker Rinde.
Doch im Innern blieb sie Chaos
Bis ins tiefste Eingeweide.
Und sobald die Rinde birst,
Streckt des Chaos Sohn, der Dämon,
Neckisch vor das irre Haupt,
Streckst du vor das Haupt, das hinten
Trägt die Augen, vorn das Haar,
Oberwärts die Nas' und unten
Einen quergefügten Mund,
Streckst du vor die Wunderglieder,
Widerspruch, o Herr der Welt!
Tränen, so die Freude weint,
Sind die Zeichen deiner Herrschaft,
Und wenn die Verzweiflung lacht,
Klinget deines Ruhms Trompete.
Wenn die Braut, im Herzen Glut,
Ficht im Zeichen spröden Schämens,
Wenn ein langersehntes Glück,
Kaum erlangt, uns angewidert,
Dann, wie oft noch sonst im Jahr,
Feierst du die hohen Feste,
Widerspruch, o Herr der Welt!
Und im Liede nur erschölle
Nicht dein mächt'ges Herrscherwort?
Sind doch unsre armen Reime
Auch ein Stückchen Welt; erkennen
Müssen sie ja wohl den Meister.
Rebellion und Hochverrat
Bleibe meiner Seele ferne!
Nein, ich beuge dir mein Knie!
Unter deinem milden Zepter
Lebt man herrlich und in Freuden.
Ordnung und Zusammenhang,
Diese Polizeiverwalter,
Hast du gnädigst abgesetzet;
Wir vergessen, was wir sangen
In den früheren Romanzen,
Und wir fall'n aus dem Charakter,
Ohn' uns just den Hals zu brechen.
Lebe hoch, du milder Fürst,
Lebe hoch, du güt'ger König,
Sohn des Chaos, mächt'ger Dämon,
Widerspruch, du Herr des Liedes!
Widerspruch, du Herr der Welt!

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Beitrag20.10.2023 11:26

von Soleatus
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Wilhelm Waiblinger hat insgesamt acht "Lieder des römischen Carneval" geschrieben; der folgende Text ist das letzte Lied in dieser Reihe (wie unschwer am Inhalt erkennbar wird). Waiblinger benutzt achtzeilige Strophen aus ungereimten trochäischen Verhebern, wobei aber diesmal nicht – wie sonst üblich – der abschließende letzte Vers um eine Silbe verkürzt wird, wodurch bekanntlich ein fester, entschiedener Strophenschluss erreicht wird, sondern der vorletzte Vers! Das gibt eine ganz eigene Bewegung – ich bin nicht sicher, wie man die sinnvoll beschreiben soll ...
 
Wiederholungen (worauf sich der Faden  ein wenig "eingeschossen" hat – sie sind eines der wichtigsten Gestaltungsmittel im trochäischen Vierheber) gibt es wieder reichlich, diesmal sind es oft Satzglieder, die in inhaltlichen Aufzählungen zwei, drei, vier Mal wiederholt werden.
 
Noch umflattern mich die frohen
Saturnalischen Gestalten,
Noch von jenem Rosenscheine
Fühl' ich selig mich umwittert,
Noch von kindisch muntrer Schalkheit
Bald geschmeichelt, bald gefährdet,
Noch vom Lebenssturm umrauscht,
Der zum wilden Tanz begeistert.
 
Doch die Täuschung nur der Sinne,
Die Erinn'rung des Genusses
Ist es nur! Von keinem Fenster
Und Balkone weht ein Teppich,
Keine Veilchensträuße fliegen
Mehr zu schöngeschmückten Frauen,
Und der kurzen Zier beraubt,
Trauert Rom in seiner Stille.
 
Trübte sich das Lied des Sängers,
Bei der eigenen Enttäuschung,
Bei den langen Trauertagen
Mit gerechtem Schmerz verweilend?
Klagt' es um der Liebe Freuden,
Um die Freunde, die Gespielen,
Um des Ruhmes goldnen Wahn,
Unersetzliche Verluste?
 
Könnt' es aller Lust entsagen,
Und das Haupt, für Myrtenkränze,
Bacchuslaub und sanfte Rosen,
Und vielleicht bestimmt für Lorbeer,
Sollte Totenasche decken?
Nein, auch dies ist schon vorüber,
Und ein neues Leben scheint
Sich dem Sänger zu entfalten.
 
Denn der Frühling naht in seiner
Lieblichkeit, in süßer Wärme
Wacht er auf, und frohe Vögel
Singen in des Mandels Blüte;
Schwindet ja im holden Süden
Nie der Lenz, der schöne Jüngling,
Ganz hinweg – er schlummert nur
Kurze Zeit im Lorbeerschatten.
 
Und es regte nicht dem Sänger
Frühlingslust den frischen Busen?
Wenn die Mandelbäume blühen,
Keimte nichts in seinem Herzen?
Wenn die milden Lüfte jubeln
Vom Gesang der Vögel, griffe
Nicht zur Leier seine Hand,
Um ein heitres Lied zu singen?
 
Nein! Wer könnte solcher Allmacht,
Solcher Lockung widerstehen!
Neues fühlt er in sich werden,
Manche Hoffnung sich erfüllen,
Eine Zukunft, leicht und selig,
Sieht er fern herüberschweben,
Sei's auch, dass er hier sie nicht,
Im Elysium doch erreiche!

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Beitrag20.10.2023 11:28

von Soleatus
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"Wiederholung" kann man auch lautlich auffassen. Hugo von Hofmannthals "Prolog zum Buch Anatol" ist, meiner Meinung nach, einer der im ungereimten trochäischen Vierheber verfassten Texte, an denen niemand vorbeikommt, der sich mit dem Maß beschäftigt; das liegt unter anderem auch daran, dass der Text zwar nicht gereimt ist, aber, wenn man ihn laut liest und keine "Augenkontrolle" hat, trotzdem wie ein Reimtext klingt; und das liegt eben an den lautlichen Wiederholungen. Die "üblichen" Wiederholungen auf Satzbau-Ebene sind aber natürlich auch da!
 
Hohe Gitter, Taxushecken,
Wappen nimmermehr vergoldet,
Sphinxe, durch das Dickicht schimmernd ...
... Knarrend öffnen sich die Tore.
Mit verschlafenen Kaskaden
Und verschlafenen Tritonen,
Rokoko, verstaubt und lieblich,
Seht ... das Wien des Canaletto,
Wien von siebzehnhundertsechzig ...
... Grüne, braune stille Teiche,
Glatt und marmorweiß umrandet,
In dem Spiegelbild der Niken
Spielen Gold- und Silberfische ...
Auf dem glattgeschor'nen Rasen
Liegen zierlich gleiche Schatten
Schlanker Oleanderstämme;
Zweige wölben sich zur Kuppel,
Zweige neigen sich zur Nische
Für die steifen Liebespaare,
Heroinen und Heroen ...
Drei Delphine gießen murmelnd
Fluten in ein Muschelbecken ...
Duftige Kastanienblüten
Gleiten, schwirren leuchtend nieder
Und ertrinken in den Becken ...
... Hinter einer Taxusmauer
Tönen Geigen, Klarinetten,
Und sie scheinen den graziösen
Amoretten zu entströmen,
Die rings auf der Rampe sitzen.
Fiedelnd oder Blumen windend,
Selbst von Blumen bunt umgeben,
Die aus Marmorvasen strömen:
Goldlack und Jasmin und Flieder ...
... Auf der Rampe, zwischen ihnen
Sitzen auch kokette Frauen,
Violette Monsignori ...
Und im Gras, zu ihren Füßen
Und auf Polstern, auf den Stufen
Kavaliere und Abbati ...
Andre heben andre Frauen
Aus den parfümierten Sänften ...
Durch die Zweige brechen Lichter,
Flimmern auf den blonden Köpfchen,
Scheinen auf den bunten Polstern,
Gleiten über Kies und Rasen,
Gleiten über das Gerüste,
Das wir flüchtig aufgeschlagen.
Wein und Winde klettert aufwärts
Und umhüllt die lichten Balken,
Und dazwischen farbenüppig
Flattert Teppich und Tapete,
Schäferszenen, keck gewoben,
Zierlich von Watteau entworfen ...

Eine Laube statt der Bühne,
Sommersonne statt der Lampen,
Also spielen wir Theater,
Spielen unsre eignen Stücke,
Frühgereift und zart und traurig.
Die Komödie unsrer Seele,
Unsres Fühlens Heut und Gestern,
Böser Dinge hübsche Formel.
Glatte Worte, bunte Bilder.
Halbes, heimliches Empfinden,
Agonien, Episoden ...
Manche hören zu, nicht alle ...
Manche träumen, manche lachen.
Manche essen Eis ... und manche
Sprechen sehr galante Dinge ...
... Nelken wiegen sich im Winde,
Hochgestielte weiße Nelken,
Wie ein Schwarm von weißen Faltern,
Und ein Bologneserhündchen
Bellt verwundert einen Pfau an.

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Beitrag20.10.2023 11:29

von Soleatus
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Die Wiederholungen wechseln für gewöhnlich mit anderen Darstellungsmitteln, die Texte sind ein ausgewogenes Ganzes. Was geschieht, wenn die Wiederholung von Strukturen absolut gesetzt wird, zeigt das zwölfte von Johannes Daniel Falks "Seestücken":
 
Verwünschung des Amor
 
Mädchen! Mädchen!! – Schiffer, bauet
Nie auf eines Mädchens Treue!
Schiffer! Schiffer!! – Mädchen, bauet
Nie auf eines Schiffers Worte!
Wer den Mädchen sich vertrauet,
Der vertrauet sich den Winden:
Wer den Schiffern sich vertrauet,
Der vertrauet sich den Wellen.
Schiffbruch leidet man mit beiden,
Mit den Wellen, mit den Winden,
Mit den Mädchen, mit den Schiffern;
Denn die Mädchen und die Schiffer,
Und die Wellen und die Winde,
Und der Himmel und die Erde,
Und die Sonne, Mond und Sterne,
Alle, alle sind Verräter!

 
Das kann man, einerseits, mit "Aus nichts etwas machen" umschreiben; das ist, andererseits, aber durchaus wirksam – es folgt Immer noch) dem Grundsatz von Wiederholung und Abwandlung, und der ist so grundlegend, dass er allein einen Text "bewahrheiten" kann. Aber Falk ist natürlich nicht auf diese Darstellungsart beschränkt – das 43. Seestück zum Beispiel erzählt ganz unaufgeregt unter (fast) völliger Auslassung jeder Form von Wiederholung!
 
Der Mantel
 
Zwischen Mond und zwischen Venus
Standen wir am offnen Fenster,
Das den Blick aufs Meer eröffnet,
Ich und mein geliebtes Mädchen.
Und zwei volle Abendstündchen
Hatten wir bereits verplaudert,
Und die Mutter saß zurücke,
Ziemlich fern an einem Tischchen,
Wo sie nickt', an einer Lampe,
Die schon blau herunter brennte.
Also, unbemerkt uns beiden,
War die Zeit dahingeschlichen
Und die Mitternacht gekommen:
Und da musst' ich endlich scheiden.
"Holder Mond, geliebtes Mädchen,
Und du dunkle Nacht, o leihe
Mir gefällig deinen Mantel,
Dass ich, unentdeckt von Lauschern,
Wandeln mag in dieser Straße."
Und mein holdes Mädchen sagte:
"Wenn ihn eines von uns beiden
Borgen soll, bin ich die Nächste!
Schaudrig hängt die Nacht am Himmel,
Und ihr rau' und kalter Mantel
Könnte meinem Liebsten schaden.
Da, nimm lieber hin den meinen,
Den so warm mein Odem hauchte,
Dass er eine ganze Weile
Vorhält gegen Wind und Nebel,
Wenn du an dem Flusse wandelst!"
Wie sie dies gesagt, umrauschte
Plötzlich eine Flut von Seide,
Bis zu Füßen, meine Schultern.
Wie sie – aber sei verständig!
Kuss und Gruß, und was für andre
Süßgeheime Liebesgaben
Irgend dir zuteil geworden,
Muse, lass und nicht verplaudern!

 
– Der Text bricht ab, gerade als sich die erste Wiederholungsstruktur aufzubauen beginnt ... "Der Mantel" ist vielleicht auch eine gute Bezeichnung für den Vers, den ungereimten trochäischen Vierheber?! Der wiederholt sich selbstredend den ganzen Text hindurch, und hüllt den Leser ein und gestattet ihm, wohlig durch die Erzählung zu schreiten ...
 
(Falk wird einigen von uns an Weihnachten wiederbegegnen – er hat "O du fröhliche" geschrieben; und auch sonst ein Leben geführt, das ein, zwei Blicke wert ist.)

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Beitrag20.10.2023 11:32

von Soleatus
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Falks "Der Mantel" ist nicht wirklich eine Erzählung; eher in diese Richtung geht Gerhart Hauptmanns "Hoch im Bergland von Arkadien", ohne dabei allzu lang zu sein. Die Wiederholungen sind da, aber ohne Überhand zu nehmen; interessant ist das
 
Und bald trug ein jeder sorglich
In der hohlen Hand sein Göttlein,
In der hohlen Hand nach Hause.

 
Aber zum Text:
 
Hoch im Bergland von Arkadien,
Das auf Argos' Ebne blicket,
Rauchen Feuer. Hoch im Bergland
Opfern die Pelasger ihrem
Unsichtbaren Gotte Zeus.
Sinnend steht der alte Priester
An dem roten Stein des Altars,
Lauscht den Winden, lauscht dem Säuseln
Gelber Blüten an der Felswand.
Und es lauschen die Pelasger –
lauschen nur und sind erhoben.
Aber einer tritt zum Priester,
Der der Wolken Bergversammlung
Nicht bemerkte, auch die Stille
Nicht empfand, und sprach zu ihm:
"Nie noch sah ich unsre Gottheit,
Die uns schützt und die uns führet,
Sage mir, wie denk' ich jenen
Gott mir? Zeige mir den Gott!"
Finster wandte sich der Priester:
"Leise rede, rede leise,
Dass du deiner Brüder Busen
Nicht mit gift'ger Saat entzündest!
Siehst du nicht, nun denn, so schweige!
Geh ins Tal und schweige, Jüngling!"
Doch es schwieg nicht lang der Jüngling,
Fragte jeden seiner Brüder
Nach der Gottheit, ob er je sie
Sah, und wo er diese Frage
Tat, so ward ihm e i n e Antwort:
Ungesehen sei die Gottheit,
Und in jedes Seele, den er
Fragte, sank des Zweifels Saatkorn.
 
Seltner rauchten nun die Opfer.
Oft saß jetzt der alte Priester
Einsam auf dem Felsenhaupte,
Fühlte doppelt nun die Gottheit,
Weinte, wenn sie ihn umfing.
Sieh, da zogen bunte Segel
In die Bucht, und bunte Waren
Tauchten aus der Schiffe Leibern
Und umsäumten licht den Strand.
Kamen handelnd die Phöniker.
Staunend standen die Pelasger
Vor den unbekannten Schätzen,
Schauten sie und wurden lüstern:
"Sagt, wer wies euch durch des Meeres
Wüste Bahnen, sagt, wer tat es,
und wer gab euch solche Schätze?"
Zogen eilig die Phöniker
KIeine Götter aus den Wämsern,
Kleine, winzige Idole,
Die sie immer bei sich trugen:
"Diese taten's, unsre Götter."
"Gebt uns Götter, diese Götter,
Die uns leiten, die uns führen,
Gold uns schenken, so wie euch,
Götter, die uns sichtbar sind."
Und bald trug ein jeder sorglich
In der bloßen Hand sein Göttlein,
In der hohlen Hand nach Hause.
Ach, der Gott war so gefügig,
Konnte nachts am Herzen schlafen,
Wurde warm in heißen Kissen,
Konnte überredet werden
Und gestraft, wo er versagte.
 
Hoch im Bergland von Arkadien
Sprach mit seinem unsichtbaren,
Großen Gotte noch der Priester.
Der ging atmend durch die Berge
Noch und bildete die Wolken,
Warf den Bach hinab zu Klüften,
Donnerte und spielte leise
Mit den gelben Bergesblumen,
Fürchtete die neuen Götter
Nicht und zürnte nicht den Menschen;
Und der Priester kniete nieder
Wieder vor dem höchsten Gotte.

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Soleatus
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Beitrag20.10.2023 11:34

von Soleatus
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Ich mag alle die Texte, die inhaltlich in Richtung Anakreontik / spielerischer Umgang mit antiken Vorbildern und antiker Mythologie gehen, sehr gern. Allgemein finden derartige Texte heute nur noch wenige Freunde; aber vielleicht lohnt der Blick auf den folgenden von Christian Adolph Overbeck ja schon wegen seiner formalen Entwicklung und den auftretenden Wiederholungsmustern?!
 
Diana in Paphos
 
Venus:
 
Heil der Schwester des Apollo!
Sei gegrüßt in Paphos Hain!
Sollen leicht geschürzte Knaben
Deinen Fuß mit Narden kühlen?
Sollen schön gekränzte Mädchen
Dir ein Rosenlager spreiten?

 
Der Text ist als Wechselrede der beiden Göttinnen Venus und Diana aufgebaut; Venus eröffnet das Gespräch mit einer Strophe aus sechs ungereimten trochäischen Vierhebern, von denen der zweite um eine Silbe verkürzt ist – eine interessante Wahl! Inhaltlich zerfällt die Strophe in drei je einen Satz umfassende Einheiten aus zwei Versen. (Paphos = Stadt auf Zypern, Narde = Salböl)
 
Diana:
 
Heil der holden Mutter Amors,
Heil der Göttin Cypria!
Aber sieh den goldnen Köcher
Von Dianens Schulter strahlen;
Sieh den diamantnen Bogen
Mit gespannter Sehne blitzen!

 
Diana antwortet in einer genau gleich gebauten und gegliederten Strophe – die letzten vier Verse wirken ein wenig zusammenhanglos, aber ich denke, sie sagt: Sieh, wer ich bin, was soll ich mit den Dingen, die du vorschlägst?! Und damit ist das Thema des Textes gegeben: Die beiden reden zwar miteinander, aber eigentlich doch aneinander vorbei!
 
Venus:
 
Leichtem Wilde nachzueilen
Liebt die hohe Cynthia.
Doch auch Amor spannt den Bogen,
Und sein Pfeil ist sehr gefürchtet.
Willst du nicht in Paphos Haine
Einem frohen Zuge folgen?

 
Wieder diese Strophe; inhaltlich ein nochmaliges Angebot der "Hausherrin".
 
Diana:
 
Amor wundet freie Herzen,
Cynthia das freie Wild.
Aber schöner ist's, o Göttin,
Schweißbedeckt dem starken Eber
Mit der Hetze nachzustürmen,
Bis der Todeswurf nun sinket.

 
Erste leichte Veränderung: Die letzten vier Verse sind jetzt allerdings eine Einheit, nicht mehr zwei!
 
Venus:
 
Amor wundet freie Herzen,
Cynthia das freie WIld.
Aber süßer ist's, Diana,
Mit geheimer List die Herzen
In der Liebe Garn zu winken,
Leicht ergeben sich die Herzen.

 
Venus wiederholt die Verse der erhalten gebliebenen ersten Einheit wörtlich, um dann auch einen Viererblock zu verwenden; inhaltlich ist der aber der völlige Gegensatz.
 
Diana:
 
Wenn nun früh die Hörner hallen,
Rüstet sich die Jägerin.
Ängstlich brüllen dann die Hirsche,
Fliehn in Sümpfe, fliehn in Grotten,
Hängen lechzend in Gebüschen.

 
Wieder die erste Einheit aus zwei Versen; diesmal folgen aber nicht mehr vier, sondern nur noch drei Vierheber!
 
Venus:
 
Wenn der Abendstern nun blinket,
Sammelt Amor seine Schar.
O wie schwimmen dann die Seufzer
In dem Duft der Frühlingswinde!
O wie rauschen dann die Pfeile!

 
Auch diese formale Vorlage übernimmt Venus, während sie die inhaltiche usmalung des Gegensatzes "Liebe" / "Jagd" noch verstärkt.
 
Diana:
 
Tanzt nicht auch in diesen Hainen
Um den Born das schlanke Reh?
Gib, o Königin von Paphos,
Gib mir deine schlanken Rehe
Noch zur Beute dieses Tages!

 
Keine Strophenveränderung; nur eine inhaltliche völlige Überdrehung auf Dianens Seite, jedenfalls meinem Empfinden nach ...
 
Venus:
 
In den Hainen Paphos tanzet
Um den Born kein schlankes Reh;
Aber zwischen Rosensträuchern
Flattern kleine Liebesgötter;
Und ein Spiel ist's, sie zu haschen.

 
Wieder eine engere Wiederholung in den ersten beiden Versen, ehe die letzten drei erneut den Gegensatz schildern.
 
Diana:
 
Lebe wohl, o Cytherea!
Cynthien vergnügt die Jagd.

 
Jetzt verliert Diana endgültig das Interesse; und von der Strophe bleiben auch nur noch die ersten beiden Verse übrig!
 
Venus:
 
Freie Herzen wundet Amor;
Lebe wohl, o Cynthia!

 
Getreu bis zum Schluss schildert Venus in ihren beiden Versen den Gegensatz, die LIebe; und diesmal weichen die beiden Zweizeiler auch deutlich voneinander ab, da das " Lebe wohl" einmal zu Beginn, das andere Mal zum Schluß steht.
 
Sollte jemand dem Text bis hierhin gefolgt sein, fragt er sich wahrscheinlich verwundert, was das alles soll ... Na, um es mit Overbeck zu sagen:
 
Aber zwischen Rosensträuchern
Flattern kleine Liebesgötter;
Und ein Spiel ist's, sie zu haschen.

 
Anakreontik ist immer ein Spiel, manchmal nichts als ein Spiel: Ein Klangspiel, ein Spiel von Wiederholungen ...

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Beitrag20.10.2023 11:35

von Soleatus
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Im Drama findet sich der ungereimte, gereihte trochäische Vierheber nur selten  - der Vers ist ein wenig zu kurz für den Dialog, und die kennzeichnenden Wiederholungen lassen sich im handlungstreibenden Gespräch nur schlecht unterbringen. In Franz Grillparzers "Die Ahnfrau" fehlen sie sogar da, wo eine der Figuren erzählt - hier Berta:
 
Hab ich's Euch doch schon erzählet,
Wie in einer Sommernacht
Ich dort in dem nahen Walde
Mich lustwandelnd einst erging,
Und vom Schmeichelhauch der Lüfte,
Von dem Duft der tausend Blüten
Eingelullt in süß Vergessen
Weiter ging als je zuvor.
Wie mit einmal durch die Nacht
Einer Laute Klang erwacht,
Klagend, stöhnend, Mitleid flehend
Mit der Tonkunst ganzer Macht;
Girrend bald gleich zarten Tauben
Durch die dichtverschlungnen Lauben,
Bald mit langgedehntem Schall
Lockend gleich der Nachtigall,
Dass die Lüfte schweigend horchten
Und das Laub der regen Espe
Seine Regsamkeit vergaß.
Wie ich so da steh und lausche,
Ganz in Wehmut aufgelöst,
Fühl ich mich mit eins ergriffen,
Und zwei Männer, angetan
Mit des Mordes blut'ger Farbe,
Mit dem Dolch, den Augen dräuend,
Seh ich gräßlich neben mir.
Schon erheben sie die Dolche,
Schon glaub ich die Todeswunde,
Schreiend, in der Brust zu fühlen:
Da teilt schnell sich das Gebüsche,
Reißend springt ein junger Mann,
Hoch den Degen in der Rechten,
In der Linken eine Laute,
Auf die bleichen Mörder zu.
Wie er ihnen obgesieget,
Wie er, einzeln, sie bezwang,
Wie die kühne Tat gelang,
Weiß ich nicht. In starre Ohnmacht
War ich zagend hingesunken.
Ich erwacht' in seinen Armen,
Und zum Leben neu geboren,
Unbehilflich, schwach und duldend
Wie ein Kind am Mutterbusen
Hing ich an des Teuren Lippen
Seine heißen Küsse trinkend.
Und mein Vater, für das alles,
Was er erst für mich getan,
Konnt' ich wen'ger als ihn lieben?

 
Was auffällt, sind die etwas häufiger auftretenden männlichen Endungen; und die Art, wie der Text gelegentlich in Reimverse wechselt, die er dann aber genauso schnell wieder aufgibt! So gesehen vielleicht doch eine Wiederholung, hier aber ausschließlich klanglicher Art?!

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Beitrag20.10.2023 11:36

von Soleatus
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Johann Wolfgang Goethe hat eine Handvoll Texte im ungereimten, gereihten trochäischen Vierheber geschrieben; in "Die Musagten" ("Kunstfreunde", Förderer der Künste") nutzt er Teile der leicht angestaubten "lyrischen Kulisse, um zu einem überraschenden Schluss zu kommen:
 
Oft in tiefen Winternächten
Rief ich an die holden Musen:
"Keine Morgenröte leuchtet,
Und es will kein Tag erscheinen;
Aber bringt zur rechten Stunde
Mir der Lampe fromm Geleuchte,
Dass es statt Auror' und Phöbus
Meinen stillen Fleiß belebe!"
Doch sie ließen mich im Schlafe,
Dumpf und unerquicklich, liegen,
Und nach jedem späten Morgen
Folgten ungenutzte Tage.
 
Da sich nun der Frühling regte,
Sagt' ich zu den Nachtigallen:
"Liebe Nachtigallen, schlaget
Früh, o früh! vor meinem Fenster,
Weckt mich aus dem vollen Schlafe,
Der den Jüngling mächtig fesselt."
Doch die lieberfüllten Sänger
Dehnten nachts vor meinem Fenster
Ihre süßen Melodien,
Hielten wach die liebe Seele,
Regten zartes neues Sehnen
Aus dem neugerührten Busen.
Und so ging die Nacht vorüber,
Und Aurora fand mich schlafen,
Ja, mich weckte kaum die Sonne.
 
Endlich ist es Sommer worden,
Und beim ersten Morgenschimmer
Reizt mich aus dem holden Schlummer
Die geschäftig frühe Fliege.
Unbarmherzig kehrt sie wieder,
Wenn auch oft der halb Erwachte
Ungeduldig sie verscheuchet,
Lockt die unverschämten Schwestern,
Und von meinen Augenlidern
Muss der holde Schlaf entweichen.
Rüstig spring' ich von dem Lager,
Suche die geliebten Musen,
Finde sie im Buchenhaine,
Mich gefällig zu empfangen,
Und den leidigen Insekten
Dank' ich manche goldne Stunde.
Seid mir doch, ihr Unbequemen,
Von dem Dichter hoch gepriesen
Als die wahren Musageten.

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Beitrag20.10.2023 11:38

von Soleatus
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Robert Hamerling hat ein umfangreiches satirisches Epos in ungereimten, gereihten trochäischen Vierhebern geschrieben, den "Homunculus"; daraus einige Verse aus der "literarischen Walpurgisnacht", mit allen schon bekannten Arten der Wiederholung! Einige Reime gibt es auch, aber die kennzeichnen "nur" Sangeseinlagen innerhalb der Handlung.
 
Vier kastal'sche Quellen sprudeln
Sah man auf dem Blocksberg-Parnass:
Den kastal'schen Quell des Wassers,
Den kastal'schen Quell des Weines,
Den des edlen Gerstentrankes,
Und zum Vierten den kastal'schen
Quell des Schnapses – des Absinthes.
Demnach teilten die Poeten
Auch sich ein in Wasserdichter,
Weinpoeten, Bierpoeten,
Und in Schnaps- /Absinthpoeten.
Ganz verfallen herbem Weltschmerz,
Bitt'rem Lebensüberdrusse,
Finsterer Melancholei,
Prometheisch-geierbissig-
Lebersiechem Pessimismus
War der Schwarm der Wasserdichter;
Fanden Alles miserabel,
Nur nicht ihre eignen Verse.
Wohler in der Haut um Vieles
War den Wein- und Bierpoeten.
Diesen war die Welt soeben
Recht, und nur an einem Übel
Krankten sie: der Wasserscheu.
Die Absinthpoeten schließlich,
Mit den Wein- und Bierpoeten
Teilten sie die Wasserscheu,
Und den Geierbiss des finster'n
Melancholisch-überdrüss'gen,
Lebersiechen Pessimismus
Mit dem Schwarm der Wasserdichter:
Und sie waren doppelt elend.
In der Schenke, bei den Krügen,
Als Vertreter wasserscheuer
Wein- und Gerstensaft-Begeist'rung
Saßen drei der besten Zecher
Im Kostüm der drei berühmten
Frohgemuten Handwerksbursche
Aus »Lumpazivagabundus«.
Und sie zechten und sie sangen,
Und sie sangen und sie zechten.
"Uns", so sangen sie vergnüglich,
"Uns genügt, wie jenem Alten,
Dem Diogenes, dem weisen,
Eine Tonne, hei, juchheissa,
Aber eine volle!
Und wenn wir sie leer getrunken,
Kriechen wir hinein, juchheissa,
Dass mit uns von einem Wirthhaus
Sie zum andern rolle!
Lebens- und auch Liebeswonne
Spendet sie, die volle Tonne;
Komme was da wolle!
Aus dem Schaum des Gerstentrankes,
Dralle Schenkin, steigt dein Bildnis
Immerdar als alte deutsche
Venus, als Frau Holle!" –
Draußen vor der Tür der Schenke,
In dem grünen Grase saßen
An der Quelle, an dem Bache,
Stumm und kühl die Wasserdichter.
Saßen grün und gelb vor Mißmut,
Ärgerten sich bass, dass jene
Drinnen in der Schenke, singend,
Zechend, jauchzend, springend lärmten,
Und sie wollten es nicht leiden;
Sagten, dieser Lärm der Zecher,
Dies Gesinge, dies Gekreische
Wirke auf sie ohrzerreißend,
Nervenfolternd, sinnverwirrend,
Und vom Anblick jener Räusche
Hätten sie den Katzenjammer.
Unterdessen hat die Schenke
Ganz mit munteren Gesellen
Sich gefüllt. Und das Gestöhne
Draußen vor der Tür vernehmend
All der blassen Wassertrinker,
Hebt der Zecherschwarm ein keckes
Spottlied johlend an zu brüllen:
"Hol' der Teufel diese blassen,
Diese wasserblassen Dichter,
Die da wimmern, die da winseln,
Wehevoll-waschlapp'ge Wichter!
Von des Lebens schweren Nöten
Faseln sie, die Schwerenöter,
Doch geschrieben steht's:
Wie man's treibt, so geht's, juchhei,
Wie man's treibt, so geht's!" –
Grimm befällt die Wassertrinker,
Und mit Kieseln aus dem Bache
Zielen sie durch Tür und Fenster
Nach den Zechern in der Schenke.
Zur Erwid'rung fliegen ihnen
Krüg' und Töpfe an die Köpfe.
Und die Wasserdichter fluchen,
Nehmen ein in Sturm die Schenke.
Aber drinnen, ha, geprügelt
Werden sie, hinausgeworfen,
Und hinabgescheucht zum Bache;
Und sie springen, Fröschen ähnlich,
In die Flut, wo sie am tiefsten,
Während hinter ihnen her es
Heult zum Hohne: "Hol' der Teufel
Diese blassen Wassertrinker,
Diese wasserblassen Trinker –
Wie man's treibt, so geht's, juchhei,
Wie man's treibt, so geht's!" –
Und schon ist es Nacht geworden.

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Beitrag20.10.2023 11:39

von Soleatus
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Wilhelm Müllers "Frühling der Liebe" ist ein kurzes Stück, das zu Beginn auf Wiederholungen verzichtet, sie dann im Übermaß aufeinanderhäuft; und dann wieder ganz ohne sie den Text schließt.
 
Draußen tobt der böse Winter,
Und die Blumen, die er knickte,
Malt er höhnisch an die Fenster
Mir in bleichen, starren Bildern.
Winter, stürme nur und brause!
Machst mich doch nicht mehr erzittern.
Denn aus meines Herzens Grunde
Lass' ich einen Frühling sprießen,
Den der Schnee nicht kann bedecken,
Den das Eis nicht macht gefrieren,
Einen Frühling, dessen Sonne
Ist das Auge meiner Liebsten,
Dessen Luft und Duft ihr Odem,
Dessen Rosen ihre Lippen,
Und ich schweb' als junge Lerche
Drüber hin mit meinen Liedern.

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Beitrag20.10.2023 11:40

von Soleatus
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Verzichtet ein Text in ungereimten, gereihten trochäischen Vierhebern ganz auf Wiederholungen, bekommt er leicht einen unangenehm geschäftsmäßigen Ton; er klingt wie "Prosa mit Zeilenumbrüchen". Als Beispiel Emanuel Geibels "Schlaflosigkeit", wo erst ganz am Ende eine kurze Wiederholung den Textschluss markiert; da ist der Gesamteindruck aber längst gefestigt.
 
Wenn ich in den Knabenjahren
Abends hinsank auf mein Bette,
O wie war die Rast mir lieblich!
Schon nach wenig Atemzügen
Lösten sich von selbst die Wimpern,
Und des Schlafes Wellen spülten
Um die Brust mir leicht und linde,
Und der Traum mit Elfenhänden
Nahm mir von der jungen Seele
Allen kleinen Harm des Tages.
 
Aber jetzt, wie ward es anders!
Such' ich mitternachts mein Lager
Mit herabgebrannter Kerze,
Bleibt der süße Schlaf mir ferne;
Denn die Sehnsucht ruckt am Kissen,
Und es lasten die Gedanken
Auf mir wie ein böser Alpdruck,
Und mit Rabenflügeln schwirren
Um mein Haupt die schlimmen Sorgen.
 
Stundenlang mit heißem Auge
Starr' ich dann hinaus ins Dunkel,
Bis zuletzt die matte Seele
Sich verliert in dumpfen Träumen.
 
Ach, was gäb' ich drum, ihr Freunde,
Könnt' ich nur noch einmal wieder,
Einmal wie ein Jüngling weinen,
Einmal schlafen wie ein Knabe!

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Beitrag20.10.2023 11:41

von Soleatus
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Es braucht gar nicht viel, um bei ungereimten, gereihten trochäischen Vierhebern den "Prosaeindruck" gar nicht erst aufkommen zu lassen – ein klein wenig Wiederholung, eine etwas freiere Satzstellung ... Ein Beispiel gibt Conrad Ferdinand Meyer mit "Camoëns", einer Bezugnahme auf die wahrscheinlich berühmteste Episode im Leben des portugisischen Nationaldichters:
 
Camoëns, der Musen Liebling,
Lag erkrankt im Hospitale.
In derselben armen Kammer
Lag ein Schüler aus Coimbra,
Ihm des Tages Stunden kürzend
Mit unendlichem Geplauder.
 
"Edler Herr und großer Dichter,
Was sie melden, ist es Wahrheit?
Dass gescheitert eines Tages
Am Gestad von Coromandel
Sei das undankbare Fahrzeug,
Das beehrt war, Euch zu tragen?
Dass Ihr, kämpfend in der Brandung,
Mit der Rechten kühn gerudert,
Doch in ausgestreckter Linken,
Unerreicht vom Wellenwurfe,
Hieltet Eures Liedes Handschrift?
Schwer wird solches mir zu glauben.
Herr, auch mir, wann ich verliebt bin,
Sind Apollos Schwestern günstig;
Aber ging′ es mir ans Leben,
Flattern meine schönsten Verse
Ließ' ich wahrlich mit dem Winde,
Brauchte meine beiden Arme!"
 
Antwort gab der Dichter lächelnd:
"Solches tat ich, Freund, in Wahrheit,
Ringend auf dem Meer des Lebens!
Wider Bosheit, Neid, Verleumdung
Kämpft' ich um des Tages Notdurft
Mit dem einen dieser Arme.
Mit dem andern dieser Arme
Hielt ich über Tod und Abgrund
In des Sonnengottes Strahlen
Mein Gedicht, die Lusiaden,
Bis sie wurden, was sie bleiben."

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Beitrag20.10.2023 11:42

von Soleatus
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Karoline vom Günderrode verwendet in "Eine persische Erzählung" neben einer recht ausgewogenen Menge an Wiederholungen auch eine weitgehende Lockerung des prosaischen Satzbaus, was den Text zwar aus den Zwängen der Logik löst, ihn gelegentlich aber auch schwer lesbar macht! Das kann bei der Gestaltung mit Wiederholungen eigentlich nicht passieren.
 
Rasend am Altar des Feuers
Ormuzd Priester war geworden;
Aber als der Morgen helle,
Gülden aus dem Osten blickte,
Kehrte Ruh' in seine Seele.
Laut rief er dem Opferknaben:
"Siehe, wie der Morgen pranget!
Licht hat endlich obgesieget,
Siegend werden nie zur Erde
Wieder sich die Schatten senken."
Trosterfüllet sprachs der Alte,
Kniete nieder am Altare,
Betend auf zum Gott de Lichtes,
Preisend ihn, des frohen Sieges,
Angetan in hellen Kleidern
Zwölf der Stunden täglich feiern.
Aber als die Zwölf im Weste
Trübe sich begann zu färben,
Leis verglomm im Abendstrahle,
Ormuzd Priester ward da stille,
Sorgend blickt er auf zum Himmel,
Forschend, was die Zeit gewähre.
Dunkel kam herangeschritten,
Zagend streift es, blass und ängstlich,
Mutig ward's dann, dehnt' sich mächtig,
Wuchs und deckt mit Riesengliedern
Siegreich bald die niedren Täler,
Reiht sich um den Stern des Tages,
Drängt ihn hastig hin zum Westen.
Ormuzd Priester rief der Sonne,
Tapfer sich im Kampf zu zeigen,
Heftig rief er, Wahnsinn betend.
Aber das Gestirn des Lichtes
Bettet sich im Weste stille.
Rasend, zitternd, sah's der Alte,
Raffte sich empor vom Boden,
Eilte nach dem nahen Meere.
Glänzend aus der Fluten Spiegel
Luna kam heraufgeschritten;
Feucht ihr Haar, vom Meer noch träufelnd,
Taubeglänzet ihre Wange,
Blickte sie zur Erde nieder.
Da ergrimmte Ormuzd Priester,
Nahm den Bogen, nahm die Pfeile,
Eilte zu des Felsen Gipfel,
Achtet nicht der schroffen Höhe,
Drunten nicht des Meeres Brausen,
Nimmt der Pfeile schärfsten, zielet
Hoch zum Mond, dem Herz der Nächte;
Schwirrend reißt ihn da die Sehne
Seines Bogens hin zur Tiefe,
Sterbend büßt er sein Erkühnen.
Mitleidsvoll ihm Mitra lächelt;
Aber gütig nimmt das Dunkel
Auf in seinem heil'gen Schoße,
Freundlich, den verirrten Kranken,
Dass im Arm der Mitternächte
Schweren Wahnsinns er genese.

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Beitrag20.10.2023 11:44

von Soleatus
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Viktor von Scheffels "Der Trompeter von Säckingen" war im 19. Jahrhundert ein Riesenerfolg – die 100. Auflage erschien noch zu Scheffels Lebzeiten. Die Verse dieser episch langen Erzählung sind ein wenig härter, die Wiederholungen fehlen oft ganz, so am Anfang des zweiten Stücks:
 
Traulich in der warmen Stube
Saßen bei der Abendmahlzeit
Der Trompeter und der Pfarrherr;
Auf der Schüssel hatte dampfend
Ein gebraten Huhn gepranget,
Doch getilgt war's und entschwunden;
Nur ein würz'ger Bratenduft noch
Schwebte lieblich durch die Stube,
Gleich dem Liede, drin der tote
Sänger bei der Nachwelt fortlebt.

 
Schön geschildert allemal! Die Wiederholungen, die einfach zu Vers gehören, finden sich aber trotzdem, zum Beispiel gleich am Beginn des nächsten, des dritten Stücks:
 
Schwimmt ein Schifflein auf dem Meere,
Schwimmt heran zur fränk'schen Küste,
Fremde Segel – fremde Wimpel –
Und am Steuer sitzt ein blasser
Mann im schwarzen Mönchsgewand.
Dumpf, wie ein wehmütig Klagen
Klingt der Pilger fremde Sprache,
Klingt Gebet und Schifferrufen,
's sind die alten keltischen Laute
Von Erin, der grünen Insel,
Und das Schifflein trägt den frommen
Glaubensboten Fridolinus.

 
Die zweimalige Trennung von Adjektiv und Substantiv durch den Versschluss zeigt allerdings, dass Scheffel der Verseinheit nicht ganz so viel Beachtung schenkt wie andere schon vorgestellte Verfasser. Und gerade die herauszuheben und einzuhalten sind Wiederholungen ein nützliches Mittel!
 
Hier noch ein längeres Stück Text aus dem vierten Stück, an dem Scheffels Ton ganz gut erfahrbar wird:
 
Leises Sehnen, stolzes Hoffen,
Trotz'gen Mut und kühnes Denken:
Alles danken wir der Liebe;
Ihr den heitern Sinn auch, dran wir
Wie am Bergstock leicht so manchen
Klotz am Wege überspringen.
Glücklich drum der Mann, in dessen
Herz die Liebe jauchzend einzog.
Doch jung Werner schien sich heute
Noch nicht klar darüber, was er
Eigentlich am Rhein hier treibe.
Träumend schritt er durch den Sand hin
Sonder Schonung seiner Stiefel,
Die der Wellenschaum durchnetzte.
Ihn erblickte in dem Grunde
Just der Rhein, der dort dem Zweikampf
Zweier alter Krebse zusah
Und mit schallendem Gelächter
Beifall nickte, wenn in Wut sie
Ihre scharfen Scheren kreuzten.
Ja der Rhein, – er ist ein schöner
Junger Mann, er ist durchaus kein
Geographischer Begriff nur, –
Der erbarmte sich jung Werners,
Rauschend stieg er aus den Fluten,
Einen Schilfkranz in den Locken,
Einen Schilfstab in der Rechten.
Ihn erkannte Meister Werner,
Dem, als Sonntagskind, vergönnt war,
Mehr zu schauen als manch andrer,
Und er grüßte ihn respektvoll.
Lächelnd sprach zu ihm der Rhein drauf:
"Fürcht' dich nicht, mein junger Träumer,
Denn ich weiß, wo dich der Schuh drückt.
Komisch seid ihr doch, ihr Menschen,
Glaubt, ihr tragt ein still Geheimnis
Durch die Welt und schwärmet einsam,
Und es sieht's ein jeder Käfer,
Sieht's die Mücke, sieht's die Schnake,
Sieht's an eurer heißen Stirne,
Sieht's an eurem feuchten Blicke,
Dass die Lieb' in euch gefahren.
Fürcht' dich nicht, ich kenn' die Liebe; –
Hab' auf meinen Wasserfahrten
Manchen falschen, manchen echten
Treuschwur in roman'scher, deutscher,
Wie holländ'scher Zung vernommen
(Letztre waren meist sehr nüchtern),
Habe nächtlich auch am Ufer
Manch ein Kosen, manch ein Küssen
Schon erlauscht und hab' geschwiegen,
Nahm auch manchen armen Teufel,
Den der Kummer tief ins Herz biss,
Tröstend auf in meinen Fluten;
Und die Wasserfrauen sangen
Ihm ein Schlummerlied, – und sorgsam
Trug ich ihn an ferne Ufer,
Unter Weiden, unter Schilfrohr,
Fern von allen bösen Zungen,
Ruht sich's sanft von falscher Liebe.
Manchen hab' ich so bestattet,
Manchen auch im kühlren Grunde,
Im kristallnen Wasserschlosse
Gut beherbergt, dass er nimmer
Sich nach Menschen sehnt und Rückkehr."

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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1002



Beitrag20.10.2023 11:45

von Soleatus
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Wiederholungen sind für den ungereimten, gereihten trochäischen Vierheber besonders dann ein Mittel der Gestaltung, wenn der entstehende Text, wie bisher schon oft gezeigt, viele Dutzende, wenn nicht Hunderte von Versen umfasst. Kürzere Texte kommen auch ohne aus, oder, wie in folgendem Epigramm von Apollonius von Maltitz, wiederholen nur im Rahmen einer rhetorischen Figur:
 
Will der Maler nicht mehr malen,
Bricht entzwei er seine Stifte,
Will der Harfner nicht mehr spielen,
Bricht entzwei er seine Harfe,
Aber will der Dichter schweigen,
Kann er brechen nur sein Herz.

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