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Der trochäische Vierheber

 
 
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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1004



Beitrag23.12.2023 21:27

von Soleatus
Antworten mit Zitat

Ein keineswegs besonders gutes, aber gleich in mehrerlei Hinsicht bemerkenswertes Gedicht von Wilhelm Langewiesche:

Wer ist glücklicher als ich?

In dem All ist eine Erde,
Auf der Erde gibt's ein Land,
In dem Lande liegt ein Städtchen,
In dem Städtchen steht ein Haus,
In dem Hause wohnt ein Mädchen,
In dem Mädchen schlägt ein Herz;
Mehr als alles sonst am Mädchen,
Mehr als alles sonst im Hause,
Mehr als alles sonst im Städtchen,
Mehr als alles sonst im Lande,
Mehr als alles sonst auf Erden,
Mehr als alles sonst im Weltall
Lieb' ich dieses Mädchenherz.
Und es schlägt allein für mich!
Wer ist glücklicher als ich?


– In Bezug auf das Vorstellen der Möglichkeiten des gereihten trochäischen Vierhebers lohnt hier der Blick auf die Art, wie der Text auf der dünnen Linie zwischen "gereimt" und "ungereimt" balanciert, ohne dass eine Entscheidung möglich wäre.

– Der Text ist schamlos anakreontisch, stammt aber aus der Mitte des 19 Jahrhunderts; da war die Anakreontik schon zwei Generationen lang tot und begraben.

– "Aus nichts etwas machen" ist wahrscheinlich die beste Art, die Gestaltung zu beschreiben; auch das ist, auf seine Weise, schamlos und doch eine Technik, die man sich merken kann.

– die Wahrnehmung der Langewischen Gedichte ist eigenartig. Rudolf Schmidt etwa merkt zu dem Gedichtband, aus dem der Text stammt, an: "So veröffentlichte Langewische Gedichte, in denen sich sein tiefreligiöses Empfinden bekundete, unter dem Titel: 'Vorhofklänge eines Wahrheitssuchers'." – Das "tiefreligiöse" entgeht mir hier dann doch ...

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HansGlogger
Geschlecht:männlichKlammeraffe
H

Alter: 65
Beiträge: 615
Wohnort: Bayern


H
Beitrag23.12.2023 23:46

von HansGlogger
Antworten mit Zitat

Sehr interessant Deine Ausführungen, die ich oft lese.
Nach diesem Wilhelm Langewische habe ich gesucht. Der schreibt sich Wilhelm Langewiesche (mit ie). Das nur am Rande bemerkt.


_________________
Wenn keiner ja sagt, sollt ihr's sagen.
Wenn keiner nein sagt, sagt doch nein.
Wenn alle zweifeln, wagt zu glauben.
Wenn alle mittun, steht allein.
Lothar Zenetti, Was keiner wagt
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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1004



Beitrag24.12.2023 00:37

von Soleatus
Antworten mit Zitat

Hallo Hans!

Freut mich, dass du interessiert mitliest, und danke für den Hinweis – ich lasse in letzter Zeit viele "e" weg, keine Ahnung warum ... Wenn so etwas noch einmal passiert, schick mir doch eine PN, dann kann ich es selbst verbessern; jetzt, nach deinem Eintrag, muss sich ein Mod bemühen.

Gruß,

Soleatus
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Skarabäus
Eselsohr


Beiträge: 227



Beitrag30.12.2023 15:57

von Skarabäus
Antworten mit Zitat

Hallo Soleatus,

noch einmal ein kurzer Blick zurück zum Pizzicato.

Soleatus hat Folgendes geschrieben:
Ein kurzer Blick auf die Verwendung des ungereimten, gereihten trochäischen Vierhebers in Epigramm und Kurzgedicht. Auch da ist der Reim erwartbar, weil er hilft, einem kurzen Gedicht Struktur zu geben; aber es geht sicher auch ohne!

Pizzicato

Sanft und rauschend mag der Bogen
Immer nicht die Saiten streichen,
Die in uns'rer Brust erhallen.
Töne, kräftig, voll gerissen,
Klingen reizend, klingen prächtig.
Schicksal, reiße keck die Töne;
Nur zerreiße nicht die Saiten!


– Eduard Dorer–Egloff. Ein klein wenig steif wirkt der Text, aber nicht übertrieben schlimm?! Die ersten vier Verse enden alle auf "-en" – das ist schon eher ein Problem, weil solche Häufungen solcher toter Endungen einem Text viel Leben nehmen. Wenn möglich, sollten es nicht mehr als zwei solcher Versenden sein, ehe ein anderer und wenn möglich vollerer, tönenderer Wortschluss für Abwechslung sorgt! Was sich nicht reimt, muss sich trotzdem um seinen Wohlklang kümmern ...


Mir gefällt wie Dorer-Egloff das Motiv des Pizzicato als Metapher etabliert und gleichzeitig mittels des Sprachflusses ruhige und "gezupfte" Lebensabschnitte darstellt. Er stellt diese beiden Lebensumstände einander gegenüber, weshalb meiner Meinung nach ein verbindender Reim dieses Sprachbild stören würde.

Statt steif würde ich gekünstelt wählen, denn er muss sich sehr anstrengen in den wenigen Zeilen beide Tempi und noch sein Fazit bzw. den Appell ans Schicksal unterzubringen. Mich stören weniger die ruhigen Endungen auf -en zu Beginn, denn sie passen zu den sanften, ruhigen (eintönigen?) Lebensphasen, sondern mich reizt das Staccatohafte der mittleren Verse im negativen Sinn und die angesprochene Pracht kommt bei mir nicht an.

Aber das ist natürlich subjektiv und insgesamt ziehe ich meinen Hut hinsichtlich Idee und deren lyrischer Gestaltung. Ein schönes Beispiel.

Liebe Grüße
Skarabäus
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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1004



Beitrag04.01.2024 01:45

von Soleatus
Antworten mit Zitat

Hallo Skarabäus!

Danke für deine Sicht auf den Text; jede Einschätzung aus dem jeweilgen Blickwinkel kreist den Text ja besser und enger ein, was am Ende eine belastbare Beurteilung doch sehr erleichtert.

Gruß,

Soleatus
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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1004



Beitrag04.01.2024 01:51

von Soleatus
Antworten mit Zitat

Eine ganz einfache Möglichkeit, sich beim Vierheber der Frage der Klangwirkung (also: des Reims oder eben des Nichtreims) zu nähern, ist das unbefangene Wechseln zwischen gereimten und ungereimten Versen. Franz Grillparzer macht das zum Beispiel so in seinem "dramatischen Märchen" "Der Traum, ein Leben". Fast ganz am am Anfang stehen da diese Verse:

Abend ist's, die Schöpfung feiert,
Und die Vögel aus den Zweigen,
Wie beschwingte Silberglöckchen,
Läuten aus den Feierabend,
Schon bereit, ihr süß Gebot,
Ruhend, selber zu erfüllen.
Alles folgt dem leisen Rufe,
Alle Augen fallen zu;
Zu den Hürden zieht die Herde,
Und die Blume senkt in Ruh'
Schlummerschwer das Haupt zur Erde.

Ferneher vom düstern Osten
Steigt empor die stille Nacht;
Ausgelöscht des Tages Kerzen,
Breitet sie den dunkeln Vorhang
Um die Häupter ihrer Lieben
Und summt säuselnd sie in Schlaf.

Alles ruht, nur er allein
Streift noch durch den stillen Hain,
Um in Berges dunkeln Schlünden,
Was er hier vermisst, zu finden.
Und mich martert hier die Sorge,
Und mich tötet hier die Angst.


Da fällt der Wechsel der Gestaltungsmöglichkeiten kaum auf? Das ganze Stück ist so gestaltet, wobei natürlich ein dramatischer Text da auch andere Möglichkeiten bietet als ein lyrischer oder epischer!

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abentroth
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 257



Beitrag04.01.2024 07:43

von abentroth
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Soleatus hat Folgendes geschrieben:
Da fällt der Wechsel der Gestaltungsmöglichkeiten kaum auf?
Kommt jetzt ein Reim? Doch nicht ... ah, jetzt! Das hat mich beim ersten Lesen etwas aus der Spur geworfen, so, als würde das meiner (Lese-)Erwartung nicht folgende Schema den Inhalt überlagern.

Gruß,
abentroth
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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1004



Beitrag14.01.2024 22:57

von Soleatus
Antworten mit Zitat

Hallo Abentroth!

Interessant, wie sich unsere Wahrnehmungen da unterscheiden – ich registriere den Reim natürlich, aber ich erwarte ihn nicht. Hm ... Ich kann mir vorstellen, das liegt auch daran, dass ich recht viele gereimte Verserzählungen gelesen habe, in denen der Reim zwar durchgängig, aber nicht regelmäßig verwendet wird, also Kreuz-, Paar-, Haufen- und umarmender Reim in buntem Durcheinander; da gewöhnt man sich irgendwann ab, ein Muster zu erwarten. Geht hier vielleicht ähnlich im Bezug auf "gereimt" und "ungereimt" – auch die ungereimten Verse haben ja gute Klangwirkung, der Unterschied ist also gar nicht so groß!

Gruß,

Soleatus
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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1004



Beitrag14.01.2024 22:58

von Soleatus
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Eduard Mörikes "Der junge Dichter" war schon in der ersten Auflage von Mörikes "Gedichten" enthalten, und in den weiteren Auflagen ist er, wie andere Gedichte auch, an einigen Stellen überarbeitet worden. Da ist es vielleicht ganz interessant, zu schauen, wie sich die erste und die letzte Fassung unterscheiden?!

Von der ersten Fassung gibt es auch eine Lesung von Fritz Stavenhagen! Nun aber zum Text – der Anfang der ersten Fassung:

Wenn der Schönheit sonst, der Anmut
Immer flüchtige Erscheinung
Wie ein heller Glanz der Sonne
Einmal vor die Sinne wieder
Mit der Neuheit Zauber trat,
Dass ein heimlich trunk'nes Jauchzen
Mir der Ausdruck lauter'n Dankes
Für solch süßes Dasein war:
O wie drang es da mich armen,
Mich unmünd'gen Sohn Apollens,
Dieses alles auch in schöner,
Abgeschlossener Gestaltung
Fest, auf ewig festzuhalten,
Es durch goldne Leierklänge
So zum Einklang mit mir selber
Umzubilden, neu zu schaffen,
Dass ich, heiter wie ein Gott,
Über der gediegnen Schöne,
Die aus mir herausgetreten,
Die ich ganz mein eigen nenne,
Ruhig, klaren Auges schwebe.


Da setzt der Vers den Sätzen fast gar keinen Widerstand entgegen; die Darstellung wirkt aber auch etwas weitschweifig. Im Vergleich die letzte Fassung:

Wenn der Schönheit sonst, der Anmut
Immer flüchtige Erscheinung
Wie ein heller Glanz der Sonne
Mir zu staunendem Entzücken
Wieder vor die Sinne trat;
Wenn Natur mir oft und alles
Erdenlebens liebe Fülle
Fast zu schwer am Busen wurde,
Dass nur kaum ein trunknes Jauchzen
Noch der Ausdruck lautern Dankes
Für solch süßes Dasein war:
O wie drang es da mich armen,
Mich unmünd'gen Sohn Apollens,
Dieses alles, schön gestaltet
Unter goldnen Leierklängen,
Fest, auf ewig festzuhalten!


Hinten fehlt einiges, das aufgegeben wurde zugunsten eines pointierten, klareren Abschnittendes; vorne wird das "mir" früher eingeführt, was Klarheit schafft, und vor allem wird durch das "Wenn" ... "Wenn" ... "O" der Text viel klarer strukturiert als in der ersten Fassung! Einiges weitere ist verändert, aber hier soll es gleich weitergehen zum zweiten Abschnitt. Erste Fassung:

Doch, wenn mir das tief Empfund'ne
Nicht alsbald so rein und völlig,
Wie es in der Seele lebte,
In des Dichters zweite Seele,
Den Gesang, hinüberspielte,
Wenn ich nur mit stumpfem Finger
Ungelenk die Saiten rührte,
Sollt' ich dann nicht mutlos werden,
Dass ich stets ein Schüler bleibe?


... Und zum Vergleich der Schluss der letzten Fassung:

Wenn ich nur mit stumpfem Finger
Ungelenk die Saiten rührte –
Ach, wie oft wollt ich verzweifeln,
Dass ich stets ein Schüler bleibe!


Wieder ist der Schluss viel nachdrücklicher gestaltet: Gedankenstrich statt Komma hinter "rührte", was eine längere Sprechpause anzeigt, dann das emphatische "Ach", und dazugehörig keine Frage, sondern ein Ausruf!

Erste Fassung, dritter Abschnitt:

Aber, Liebchen, sieh, bei dir
Bin ich plötzlich wie verwandelt,
Im erwärmten Winterstübchen
Bei dem Schimmer dieser Lampe,
Wo ich deinen Worten lausche,
Hold bescheid'nen Liebesworten.
Wie du dann geruhig deine
Braunen Lockenhaare schlichtest,
Also legt sich schön geglättet
All dies wirre Bilderwesen,
All des Herzens eitle Sorge,
Viel-zerteiltes Tun und Denken.
Froh begeistert, leicht gefiedert
Flieg' ich aus der Dichtung engen
Rosenbanden, dass ich nur
Noch in ihrem reinen Dufte,
Als im Elemente, lebe.


Die ersten sechs Verse der letzten Fassung:

Aber, Liebchen, sieh, bei dir
Bin ich plötzlich wie verwandelt:
Im erwärmten Winterstübchen,
Bei dem Schimmer dieser Lampe,
Wo ich deinen Worten lausche,
Hold bescheid'nen Liebesworten!


– Es macht sich ein Muster bemerkbar: Der Doppelpunkt und das Rufzeichen grenzen die einzelnen Gedanken viel stärker gegeneinander ab, als es die Punkte können. Zeichensetzung ist eben auch immer Pausenkennzeichnung und macht viel aus!

Erste Fassung, vierter Abschnitt:

Oder, Mädchen, sage mir,
Bist du gar die Muse selber,
Die, wie wahre Dichtung pflegt,
Selbst unwissend, wer sie sei,
Mich in ihren Armen hält,
Dass ich selber, eins mit ihr,
Nur ein zart Gedicht erscheine?


Hier ist dem Gedankengang nicht ganz einfach zu folgen, was ganz spannend ist; denn Mörike hat diesen kurzen Abschnitt in der letzten Fassung ganz weggelassen, mit Auswirkungen (meiner Wahrnehmung nach) für den weiteren Text! Die erste Fassung fährt dann mit dem fünften und letzten Abschnitt fort:

O du Liebliche, du lächelst,
Schüttelst, küssend mich, das Köpfchen,
Und begreifst nicht, was ich meine.
Möcht' ich selber es nicht wissen,
Wissen nur, dass du mich liebest,
Dass ich in dem Flug der Zeit
Deine kleinen Hände halte!


Dieser Abschnitt liest sich in der letzten Fassung genauso. Mir ist das Gedicht in dieser letzten Fassung bekannt geworden, und ich erinnere mich noch, dass mir das "Und begreifst nicht, was ich meine" erst einmal seltsam vorkam; so unbegreiflich war doch nicht, was da vom "Ich" ausgebreitet wurde?! Folgt dieser Vers aber wie in der ersten Fassung nach dem später weggelassenen Abschnitt, kann ich mir diese Reaktion schon eher vorstellen! Andererseits sind schwer zu lesende Stellen nie ein guter Gedanke, und vielleicht hat Mörike ja gerade deswegen gekürzt?! Müsste man einmal herauszubekommen versuchen ... Am Vers selbst hat Mörike gefühlt fast gar nicht verbessert; das ist aber auch ein interessanter Punkt, und dazu lohnt später vielleicht ein Blick zurück zum schon vorgestellten "Tulifäntchen" Immermanns, der mit Heine brieflich über die Versgestaltung beraten hat; und das ist heute noch durchaus erhellend!

Über die üblichen Eigenheiten des Vierhebers, die Parallelitäten und Wiederholungen und alles andere, ist damit nichts gesagt; aber wer mag, findet die entsprechenden Belege sicher selbst. Sie sind vorhanden, wenn auch nicht so stark wie in anderen Texten!

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Soleatus
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Beitrag16.01.2024 02:06

von Soleatus
Antworten mit Zitat

Um noch einmal auf den Wechsel von gereimten und ungereimten Vierhebern zu sprechen zu kommen – da lohnt vielleicht der Vergleich mit einem Text, in dem gereimte und ungereimte Verse wechseln, wie in "Die Hahnenfedern" von Johann Ulrich Bissinger. Der nutzt eine etwas eigene achtzeilige Strophe, deren erste vier Verse ungereimt sind, worauf dann zwei Paarreime folgen mit erst weiblicher, dann männlicher Kadenz. Erzählt wird aus dem Mittelalter, genauer von einem Ritter namens "Kuno von der Reckenstaige"; der sieht einen Bauern namens Gottschalk, der seinen Hut mit Hahnenfedern geschmückt hat, und dann

Kommt der Ritter hergestoben,
Spricht mit rauer Herrenmiene:
"Bauer, deine Hahnenfedern
Wollen mir gar bass gefallen:
Wirst sie also mir auch geben;
Deine Hühner mögen leben.
Was den freien Ritter schmückt,
Steht dem Bauern ungeschickt."

"Ei", sprach Gottschalk zu dem Ritter,
Denn sein Herz war gut und bieder,
"Ei, gefallen euch die Federn!
Nehmt sie, Bruder, nehmt sie alle;
Gerne will ich sie entbehren,
Können sie den Ritter zieren.
Unter Brüdern ist gemein
Jede Gabe, schön und fein."

Doch, wie er dies Wort gesprochen,
Runzelt Kuno seine Stirne,
Greift nach seiner Todeswaffe,
Blitzt ihn an mit Zornesworten:
"Bruder solltest du mich nennen?
Will dir diese Schmach nicht gönnen.
Bauer, such' dir and're Brüder!"
Sprach's und schoss ihn frevelnd nieder.


Raue Sitten allemal ... "Entbehren" / "zieren" ist eigentlich gar kein Reim, alle anderen Strophen des längeren Textes sind an der Stelle aber gereimt, wie hier die anderen beiden Strophen des Ausschnitts; und verglichen mit Grillparzers Dramentext sorgt die Erwartbarkeit der Reime schon für eine andere Wahrnehmung, scheint mir!

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Soleatus
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Beitrag26.01.2024 01:39

von Soleatus
Antworten mit Zitat

Bei Georg Keil finden sich einige "anakreontische Lieder", späte Nachzügler; das erste davon ist ganz und gar konventionell, ein schlichtes Zusammenleimen anakreontischer Versatzstücke, und es verwendet auch nicht den trochäischen Vierheber, sondern einen iambischen Dreiheber, der ungereimt und gereiht ein anderer wichtiger Vers der Anakreontik war:

Wer könnt' es wohl versagen,
Wenn gold'ner Wein ihm duftet
Aus labendem Pokale,
Das süße Nass zu schlürfen?
Wer könnt' es wohl versagen,
Wenn duft'ge Lippen winken
Und sich zum Kusse runden,
Die schwellenden zu küssen?
Drum küssen nur und trinken,
Drum trinken nur und küssen,
Bis einst die Parze winket!


In Vergleich dazu bietet das letzte Gedicht der Reihe eine immerhin etwas eigenständigere Szene, und diesmal ist das Versmaß wieder der vertraute trochäische Vierheber:

Auf dem Purpurvließe ruhend
Lag ich jüngst, im festen Schlummer
Aufgelöst die müden Glieder,
Denn ich war voll süßen Weines.
Und mir däucht', ich höre Hymnen
Zu des Eros Preis gesungen
Hold von süßen Mädchenlippen;
Und mir däucht, die gold'ne Kypris
Habe sich zu mir gelagert,
Und ich griff, sie zu umfassen.
Da erwacht' ich, und im Arme
Hielt ich fest den Schlauch und gab ihm
Tausend brünstig heiße Küsse;
Ein verbuhltes Sperlingspärchen
Sang dazu das üpp'ge Brautlied.
Kichernd flohen jetzt die Mädchen,
Die den Schlummernden belauschet,
Und mir brannt' vor Scham die Wange.


Da lohnt vielleicht schon ein vergleichender Blick auf die beiden Texte ...

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Soleatus
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Beitrag01.02.2024 22:21

von Soleatus
Antworten mit Zitat

Noch eine andere Möglichkeit, im trochäischen Vierheber auf der Grenze zwischen Reim und Nicht-Reim zu wandeln, ist die Assonanz, wie sie nach spanischem Vorbild vor allem die Romantiker verwendet haben. Dabei enden immer die geraden Verse auf denselben betonten Vokal. Deutlich zu hören ist es in Ludwig Uhlands Nacherzählung des bekannten Märchens, in der die Assonanzen immer nahe am Reim bleiben, aber nie wirkliche Reime sind:


Romanze vom kleinen Däumling

Kleiner Däumling! Kleiner Däumling!
Allwärts ist dein Ruhm posaunet.
Schon die Kindlein in der Wiege
Sieht man der Geschichte staunen.
Welches Auge muss nicht weinen,
Wie du liefst durch Waldes Grausen,
Als die Wölfe hungrig heulten
Und die Nachtorkane sausten!
Welches Herz muß nicht erzittern,
Wie du lagst im Riesenhause
Und den Oger hörtest nahen,
Der nach deinem Fleisch geschnaubet!
Dich und deine sechs Gebrüder
Hast vom Tode du erkaufet,
Listiglich die sieben Kappen
Mit den sieben Kronen tauschend.
Als der Riese lag am Felsen,
Schnarchend, dass die Wälder rauschten,
Hast du keck die Meilenstiefel
Von den Füßen ihm gemauset.
Einem vielbedrängten König
Bist als Bote du gelaufen;
Köstlich war dein Botenbrot:
Eine Braut vom Königshause.
Kleiner Däumling! kleiner Däumling!
Mächtig ist dein Ruhm erbrauset.
Mit den Siebenmeilenstiefeln
Schritt er schon durch manch Jahrtausend.



Nicht ganz so deutlich klingen die "Au"-Assonanzen in August von Platens "Die Gründung Karthagos" heraus; dafür wechselt er aber zwischen weiblich und männlich endenden Versen, was die paarweise Gliederung wieder hervorhebt – ein Ausschnitt, Karthago ist im Werden:

Bald beschirmen stolze Mauern
Tempel, Hafen, Hütt und Haus;
Drauf als Königin beherrschte
Dido diesen stolzen Raum.
Doch der Ruf von ihrer Schönheit
Breitet seine Flügel aus:
König Jarbas wohnt benachbart,
Tapf'rer Männer Oberhaupt;
Dieser bietet seine Hand ihr,
Ja die Drohung macht er laut:
Wenn die Königin sich weigert
Meiner Kraft sich anzutrau'n,
Wehe jener Stadt, sie möchte
Dann verschwinden wie ein Traum!
Zitternd hört es ganz Karthago,
Weil er mächtig überaus,
Und des Volks ergraute Väter
Treten vor der Fürstin auf,
Fleh'n sie, jenen Bund zu schließen,
Hinzugeben nicht dem Raub
Diese Laren, diese Tempel,
Die sie liebend selbst gebaut!


Man kann die Assonanzen aber auch fast gänzlich verschwinden lassen wie Joseph von Eichendorff in "Maria Magdalena" – der Anfang:

Duftig blühte Abendröte,
Aus dem prächt'gen Meeres-Schlosse
Trat die schöne Magdalena
Prangend für auf dem Balkone,
Aus der dunklen Nacht des Haares
Edelsteine zaub'risch lockend,
Um der Glieder blühend Schwellen
Buhlend blaue, laue Wogen,
Trunk'ne Blicke, wie aus langen
Schönen Träumen erst gehoben,
Durstig blühend in die Ferne;
Und die Ströme tönend zogen,
Und die Nachtigallen schlugen,
Berge, Auen, Wälder, Bronnen,
Von so überholden, reichen
Sternes Strahlen angesogen,
Tiefe Sehnsucht auszusagen,
Sendend Blicke still nach oben,
Standen, Eine glüh'nde Blume
Zart aus Duft und Klang gewoben,
Wie in Träumen ganz versunken,
Aufgericht't im Abendgolde.


Eichendorf verwendet einen etwas weniger auffälligen Vokal für die Assonanzen, das "o"; und er schmeißt den Leserhörer auch im Versinnern und am Versbeginn so mit Klängen und Bildern zu, dass es nicht ganz einfach ist, die Verspaargliederung nicht aus dem Ohr zu verlieren ...

Also: Auch da gibt es viele, viele Möglichkeiten, denen nachzuspüren durchaus lohnt!

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Soleatus
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Beitrag10.04.2024 22:40

von Soleatus
Antworten mit Zitat

Der 1876 in Prag geborene Josef Adolf Bondy hat einen Text geschrieben, der hier ganz gut hinpasst: Nicht ganz lang, nicht ganz kurz; episch-gelassen-dinghaft, aber doch auch lyrischen Inhalts.


Heimkehr

Wieder zog ich in die schmale
Graue, winkeltiefe Gasse,
Wo mich alle Leute kennen,
Deren Namen ich vergessen,
Und dieselben alten Hüte
Mich gevattermäßig grüßen.
Kehr' ich spät und immer später,
Mag ich draußen König werden
Und den Erdball umgestalten:
Sie sind immer noch dieselben,
Und ich wuchs auf ihrem Pflaster,
Und ich spielte ihre Spiele,
Und so bin ich ihresgleichen.
Und es ist, als wär' Verwirrung
Draußen aller Kampf gewesen,
Und ich wär' von langem Fieber
Diese Stunde erst genesen.
Und da stehn sie in den Toren
Mit den Frauen, mit den Kindern,
Um mir linde Luft und Sonne,
Mut auf neuem Weg zu wünschen.
Wenn ich Dankesworte streue
Wie Dukaten für die Güte,
Heben sie die alten Hüte
Und verneigen sich aufs neue.

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