Eine unglaubliche Geschichte

[Federfuchser]

Am 17. Oktober 2022 kletterte Marcus D., 34, mit dem 40-jährigen Morgan T. eine Brücke am Rande der Stadt hoch und legte sich in 60 Metern Höhe in eine Hängematte. Dann entfalteten die beiden ein Banner, mit dem sie auf etliche Missstände im Lande hinweisen wollten. Die Polizei benötigte 36 Stunden, um die Aktivisten von der Brücke zu holen. Seitdem sitzen sie im Gefängnis. Marcus D. muss für die Blockade der Brücke für zwei Jahre und sieben Monate ins Gefängnis, sein Mitstreiter Morgan T. sogar für drei Jahre. Das Urteil wurde von einem Berufungsgericht bestätigt. Es ist eine der höchsten Gefängnisstrafen, die in neuerer Zeit für einen friedlichen Protest verhängt wurde. Die Gerichtswelt ist schockiert. „Für einen friedlichen Protest ist dieses Strafmaß einfach zu lang“, sagte auch D.´s Verteidigerin. „Es ist ein klarer Verstoß gegen die Grundsätze der Europäischen Menschenrechtskonvention.“ Marcus D. droht außerdem Abschiebung, was seine berufliche Existenz vernichten würde.
   Das Gericht hatte während des Prozesses Dutzende von Zeugen angehört, die von der stundenlange Blockade betroffen gewesen waren. Darunter eine Hochschwangere, die dringend medizinische Hilfe benötigte sowie ein Kind, das spezielle Medikamente brauchte aber nicht bekam.
Der Richter machte keinen Hehl daraus, dass das Urteil abschreckende Wirkung haben sollte. Die konservative Regierung hatte zuvor ein Gesetz auf den Weg gebracht, nach dem friedliche Protestformen mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden können, wenn die öffentliche Ordnung gestört wird.  
   D,´s Partnerin hat inzwischen eine Petition gestartet, um seine Abschiebung zu verhindern. Über 120000 Menschen haben sie bereits unterzeichnet. „Was wir auch in anderen Ländern sehen“, sagte einer der Unterzeichner, „ist, dass die Regierung nicht auf die legitimen Ziele der Proteste reagiert, sondern mit Haftstrafen.“
    Russland, Weißrussland, die Türkei?
   Nein, Großbritannien, die Wiege der Demokratie. Die beiden Inhaftierten sind Mitglieder der britischen Sektion von Last Generation.

[Arminius]

Liest sich wie eine Zeitungsmeldung oder ein Tatsachenbericht (der Fall ist ja real). Aber warum eine unglaubliche Geschichte? Unglaublich wäre gewesen, wenn die Gerichte die Straftat  angemessen bestraft und auf den Selbstverteidigungscharakter der Aktion verwiesen hätten, die durch die Untätigkeit der verantwortlichen Politiker und Industriellen im Interesse zukünftiger Generationen zwingend notwendig geworden sei.

[Federfuchser]

Ich mochte bisher nicht glauben, dass solche übertriebenen Urteile in einer westlichen Demokratie möglich sind. Deshalb schrieb ich: unglaublich. Sollte das Beispiel Schule machen, werde ich einen neuen Bericht schreiben mit dem Titel: Eine durchaus glaubhafte Enzwicklung.

[Arminius]

[Eris Ado]

[Arminius]

[Federfuchser]

Ich hebe bewusst auf Hintergrunginfos verzichtet und den Bericht so allgemein gehalten, dass der Leser zunächst an ein autoritäres Regime denken sollte.

Für das Urteil ist entscheidend, ob das Fernziel  besserer Klimaschutz  berücksichtigt wird. Sobald es in die moralische Bewertung einer Aktion einfließt, sieht es für die Aktivist*innen gleich deutlich besser aus: 2021 hat das Bundesverfassungsgericht das 1,5-Grad-Ziel zum "hohen Verfassungsgut"“ erklärt. Damit ist klar: Klimaschutz hat auch juristisch einen hohen Stellenwert.

[Pickman]

Hi Federfuchser,

die Geschichte ist gut geschrieben und die Pointe sitzt.

Fast hätte ich Deinen Text nicht gelesen, den der Titel Ein unglaubliche Geschichte ist arg nichtssagend.

Cheers

Pickman

[Eris Ado]

[Federfuchser]

"Den CO2 Ausstoß beeinflussen derartige Protestformen überhaupt nicht."
So sieht es zunächst aus, z. B. wenn ich mir die Zulassungszahlen von schweren PKW, die Zuwächse im Ferntourismus, die chronisch verstopften Autobahnen anschaue. Es erwächst der Eindruck, dass man Klimaschutz getrost den Aktivisten überlassen sollte, die mal als KlimaRetter, mal als Prügelknaben gehandelt werden.
 Doch keinerlei Wirkung? Der Erfolg des 49-Ticket spricht dagegen.

[nebenfluss]

[Eris Ado]

Sobald etwas unter Einsatz illegitimer Mittel gefordert wird, darf es ein Staat nicht mehr umsetzen. Andernfalls wirkt der Staat erpressbar. Also: Wer will, dass vorgeschlagene Maßnahmen auch umgesetzt werden, sollte im legalen Bereich bleiben.

Wie sieht es eigentlich mit der Fürsorge der LG genüber ihren Mitgliedern aus? Solche Aktionen werden ja vorher bedacht. Dass man einen Aktivisten dafür auswählt, der in Gefahr gerät abgeschoben zu werden, wirkt etwas befremdlich.

[Willebroer]

[Eris Ado]

Es wird doch schon eine Verringerung des CO₂ Ausstoßes angestrebt. Wie gut diese Verringerungswünsche umzusetzen sind, ist halt eine andere Frage.

[Willebroer]

[Federfuchser]

Nein, das 49-Euro-Ticket wurde nicht von Aktivisten gemacht. Aber die Aktivitäten von Last Generation und und Co. haben dabei möglicherweise eine Rolle gespielt.

[R Rüesch]

Was mich stört, ist der Hinweis, dass es in Grossbritannien geschah, die Wiege der Demokratie.
Grossbritannien hat Gesetze für Demonstrationen und eine Person, die dagegen verstösst wird gebüsst. Der Richter muss nicht entscheiden, war der Grund für die illegale Aktion Gut oder Böse.
Wie würden wir über das Urteil sprechen, hätten die Akteure eine Fahne mit einem Hakenkreuz ausgerollt.
Da ich eine “blinde” Justiz unterstütze, bin ich mit dem Urteil einverstanden.

[Calvin Hobbs]

[Willebroer]