Annemi schmeißt alle raus

[LoniOderNatalie]

Hallo liebe Mitschreiber,

Was man so ausbrütet, wenn man im Stau steht ...

Ich poste das Ergebnis mal, hoffe, dass es nicht zu aufdringlich rüber kommt und bin gespannt auf euere Meinung.

Bis auf eine Ausnahme habe ich darauf verzichtet, Gedanken kursiv oder mit Anführungsstrichen zu kennzeichnen, weil das den Lesefluß sehr schnell bremsen kann. Wie seht ihr das?

Vorweg schon mal Dank an alle, die lesen und mich ihre Meinung wissen lassen.



Annemi schmeißt alle raus

Annemi sitzt hinterm Lenkrad.
Feierabend. Ab nach Hause.
Im Radio läuft ein guter Song. Sie singt laut mit.
Links ziehen sie an ihr vorbei, die Audis und die BMWs und all die anderen Verrückten.
Sollen sie. Und Tschüss! In der Klinik sehen wir uns wieder.
Annemi hat Zeit.

„… Verkehr wird einspurig an der Unfallstelle vorbei geleitet.“
Annemi schlägt mit der flachen Hand aufs Lenkrad.
Jetzt noch im Stau stecken. Als wäre ihr Tag nicht lang genug gewesen.
Ihre Hände greifen das Lenkrad fester.

Vor ihr leuchten Bremslichter reihenweise rot auf.
Annemi knipst die Blinkanlage an und geht vom Gas.
Schon steckt sie fest im Stopp and Go.
Stoßstange an Stoßstange geht es voran. Die Kolonne schiebt sie mit.
Blaulicht zuckt über ihre Motorhaube. Die Unfallstelle kommt in Sicht.
Sie sieht Feuerwehr und Rettungswagen; die Helfer laufen auf der Fahrbahn herum. Polizisten sichern sie.
Da, das Unfallfahrzeug. Himmel, sieht das aus…

Diese Gaffer!
Gebt Gas, ihr Idioten! Die Show ist aus, die Bahn ist frei!
Annemi tritt aufs Gaspedal, tritt es beinahe durch den Fahrzeugboden.
Sie zieht rüber auf die linke Spur. Wer im Weg ist, wird beiseite gefegt.
Die Tachonadel zittert am Anschlag.
Annemi fährt, als säße der Teufel auf ihrer Rückbank.

Doch der ist es nicht.
Es ist der Sciroccofahrer. Rücksitze raus, Kenwood-Anlage rein.
Annemi schaut sich nicht um.
Sie weiß es auch so, erkennt ihn am Geruch. Hat ihn ja oft genug in Mull und Gaze gewickelt, seinen Schädel, der beim Aufprall auf die Lärmschutzwand im Lenkrad hängen blieb.
Und da ist der mit dem verdrehten Oberkörper, dem einer ungebremst durch die Fahrertür krachte. Das Beatmungsgerät kam an seine Grenzen, als es seine verzwirbelten Lungen mit Luft versorgen sollte; es knarrte und giemte mit den Alveolen um die Wette.
Das Mädel ohne Gesicht. Die Haut blieb in den Glassplittern hängen, als sie den Flieger durch die Windschutzscheibe machte. Dumme Nuss! Wenn man einen Freund hat, der fährt wie ein Henker, sollte man sich wenigstens anschnallen.
Die Mutter von zwei kleinen Kindern, die auf der Fahrt in den Urlaub still und tot auf dem Beifahrersitz zusammen sackte. Aneurhysma im Hirn hochgegangen. Zeitbomben, diese Dinger. Und der Ehemann saß rund um die Uhr an ihrem Bett, begriff nicht…

Die Sicht verschwimmt. Annemi wischt sich mit dem Handrücken über die Augen.
Wieder keine Tempos im Handschuhfach.
Im Blindflug rast sie über die Autobahn. Auf der Rückbank ihre Mitfahrer, stumm und unsichtbar, starren ihr in den Nacken.
Es ist kalt im Auto. Das Radio ein Paralleluniversum, eine andere Welt, in der Lady Gaga plärrt.
Annemis Schultern zucken.
Nach Hause! Sie will nach Hause!

Am Fahrbahnrand huscht eine autobahnblaue Schliere vorbei, mit etwas Weißem in der Mitte.
Annemi steigt auf die Bremse und reißt am Lenkrad.
Über drei Spuren hinweg zieht ihr Auto nach rechts und rollt auf dem Rastplatz aus, kommt hinter einem Opel zum Stehen.

Annemi stürzt hinaus. Die Fahrertür lässt sie sperrweit offen.
Sie reißt die hintere Tür auf.
„Raus!“, brüllt sie in den Fond.
Stampft um den Wagen herum, zerrt die Türen auf der rechten Fahrzeugseite auf.
Klappt den Kofferraumdeckel hoch.
„Raus! Macht, dass ihr raus kommt!“
Aufrecht steht sie, mit dem Türgriff in der Hand. Ihr Zeigefinger weist unmissverständlich die Richtung.
„Haut ab! Schert euch in die Wüste! Kommt mir nie wieder unter! Es reicht mir mit euch!“
Ihre Tirade schallt über den Parkplatz.
„Ihr kotzt mich an. Alle! Verpisst euch endlich!“
Ihre Stimme überschlägt sich. Kübelweise schüttet sie Wut und Pein in ihr Auto, spült es gründlich aus.

Plötzlich hält sie inne.
‚Was mache ich hier?’, geht ihr durch den Sinn. ‚Schreie mein leeres Auto an. Ich hab `n Knall!’
Sie gluckst erleichtert.
Lacht dem Opelfahrer, der sie anstarrt und dabei vergessen hat, seine Kinnlade zu schließen, ins Gesicht.  
„Ich hab `n Knall“, ruft sie ihm zu. „Alles in Ordnung. Sie können ruhig weiterfahren. Ich hab nur `n Knall.“
Kichernd steigt sie wieder ein und lässt den Motor an.
Beim Vorbeifahren winkt sie dem immer noch glotzenden Opelfahrer zu.

Sie setzt den Blinker und fädelt sich in den laufenden Verkehr ein.
Über die Schulter wirft sie einen Blick auf die Rückbank.
Der Junge mit dem nach hinten gedrehten Fuß und dem gebrochenen Schädel ist noch da. Er saß auf seinem Mofa, doch der LKW, der ihn übersah, war stärker.
Annemi seufzt.
„Nein, mein Schatz, ich möchte dich nicht mit nach Hause nehmen. Ich fahr dich noch eben beim Friedhof vorbei. Ist das okay?“

[lady-in-black]

Hi LoniOderNatalie,  

als ich deinen Text las, saß plötzlich ein kleiner Junge neben mir auf dem Sofa ... er plapperte die ganze Zeit dazwischen, störte mich daher sehr beim Lesen. Er sagte, sein Name sei Cole und er wäre ein Patient von Dr. Malcolm Crowe ...   

Wäre er nicht dagewesen, hätte ich deinen Text vermutlich recht gut finden können.  

[Alexander Hill]

Hallo,

mir gefällt deine Geschichte sehr gut. Eine Ärztin oder Krankenschwester (in der Notaufnahme?) wird auf dem Nachhauseweg von den "Leichen" begleitet, die sie in ihrem stressigen Berufsleben so trifft. Geht unter die Haut.

Zwei Sachen sind mir beim Lesen aufgefallen:

Zuerst fährt Annemi gemütlich rechts, aber nach der Baustelle fängt sie an zu rasen. Das kam für mich etwas zu unmotiviert. Vor allem, weil sie weiß, was mit Rasern passiert.

Die autobahnblaue Schliere mit Weiß in der Mitte hat mich auch einen kurzen Zwinkerer gekostet.

Ansonsten danke für diesen Text.

Alex

[Voland]

Hallo  

Das ist mir so noch zu stückwerkhaft, hat aber Potential. Die Idee von der Krankenschwester, die ihre Patienten nicht los wird, ist originell umgesetzt ( klingt ein bisschen wie eine moderne Version von klassischen edgarallanpoeesken Horrorgeschichten ), und das Ende ließ mich kurz schlucken. Wenn du an diesem Text rhythmisch/sprachlich weiterfeilst, etwa unwesentliche Beobachtungen und Füllworte rauswirfst ( und dich entscheidest, ob du mehr das Kurzgeschichtenformat oder eine Art inneren Monolog anpeilen willst), steckt da mehr drin.


Hab einen schönen Tag, Voland  

[Fjodor]

Der Titel zog fiel mir auf - draufgeklickt.
Reingelesen.
Nach zwei Absätzen gedacht, dass es irgendwie herzerfrischend locker wirkt.
Zurückgescrollt.
Lachen müssen, als ich den Autorennamen entdeckte.

Sind noch ein paar Fehler drin.
Die Perspektive wirkt nicht immer ganz stimmig.

Aber eine Handschrift, die ich mag.

LG, F.

[LoniOderNatalie]

Moin allerseits!

Vielen Dank an euch Leser und Ansagemacher.

Der Text ist das Derivat eines größeren Projektes, mit dem ich mich zur Zeit vergnüge und erzählt von einer professionellen Helferin, die eine Methode findet, die Risiken und Nebenwirkungen ihres Berufes zumindest zeitweise zu lindern.
Da liegt der Hase wohl im Pfeffer: erzählt, zeigt nicht.
Beim Schreiben war ich so darauf verkniffen, kurz und knackig zu bleiben, dass ich offensichtlich nur Pünktchen, keine Bilder an die Wand geworfen habe.
Sechs. Setzen.

@ LiB
Neeee, der Shyamalan hat nicht für einen Cent mitgeschrieben. Ich hatte auch gar nix Okkultes im Sinn. Die Annemi hat ein durchaus reales Problem.
Kannst du mir sagen, was dich zum "Sixt Sense" switchen ließ? Das wäre hilfreich.

@ Alex
Ich freue mich, dass dir die Geschichte gefallen hat.
An der Unfallstelle kriechen die Patienten in die Erinnerung der Protagonistin. Es stimmt: dass an dieser Stelle ihre Vernunft aussetzt und die Qual das Steuer (und das Gaspedal) übernimmt, lässt sich im Text nicht erkennen.

@ Voland
Danke für deine Anregungen.
Ins klassische Kurzgeschichtenformat passt die Geschichte nicht, da hast du Recht.
Mit den Füllwörtern ist es zum ..., die sehe ich auch beim zigsten Überlesen nicht. Gibts irgendwo einen Füllwortdetektor zu kaufen?

@ Fjodor
 


Euch allen viele Grüße
Eve

[kskreativ]

Na hier: https://www.schreiblabor.com/textlabor/filler/

[lady-in-black]

[LoniOderNatalie]

Boah, Mist. hmm
Da kann ich zu meiner Ehrenrettung ja nur beteuern, dass ich nicht abschreiben wollte, echt jetzt ...

[Voland]

Aber es spricht ja nichts dagegen, mit einem ähnlichen Motiv zu arbeiten, solange du was eigenes daraus machst Kopf hoch, und ich bin immer noch für die Horrorgeschichte

[Jacaranda]

Wow. Angeklickt und mußte durch Interessante Art und Weise, seine Geister loszuwerden. Ich finds gut! Es zieht mit.
Den Bezug zu Sixt Sense hatte ich auch, und zwar direkt bei der Erwähnung des Sciroccofahrers. Ich dachte, er sei ihr früher einmal hinten reingefahren (und deshalb fährt sein Geist bei ihr mit),  was mir dann aber bei der vorherigen Situationsbeschreibung seltsam vorkam, und dann habe ich es verstanden. Diese drei Zeilen musste ich zweimal lesen, weil ich so auf dem 6th Sense- Dampfer war.

lg chris

[Siebeneis]

Danke für die packende Geschichte.
Die wirkt bei mir noch eine Weile nach.