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Karina. Die Geschichte einer Terroristin


 
 
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wunderkerze
Eselsohr
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Beitrag14.04.2023 16:43

von wunderkerze
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  Erika kraulte Abdelkarims Brust.
 „Glaubst du wirklich, ihr könnt das Geld abschaffen?“
   Er runzelte die Stirn. „Wer sagt denn das?“
   „Hörte ich so im Vorbeigehen. Ich glaub Adamyan war´s, der so sprach. Kann aber auch ein anderer gewesen sein. War gerade ein Höllenlärm im Saal.“
   „Unsinn!“
   „Denke ich auch. Ich versteh zwar nicht viel vom Geld, hab auch noch nie richtig was davon gehabt, aber ich kann logisch denken. Der Mensch hängt nun mal am Geld, und viele Leute würden sich vermutlich alles Mögliche abschneiden lassen, wenn sie nur ihr Portemonnaie behalten könnten. Oder was meinst du? Man kann doch nicht Billionen und Aberbillionen von Euros, Dollars, Franken und was sonst noch für Währungen auf der Welt sind, auch nur ansatzweise einstampfen! Will mir einfach nicht in die Birne! Die Gelddrucker würden doch sofort nachliefern! Und nehmen wir mal an, es gäbe wirklich eine Möglichkeit, das Geld abzuschaffen, was ich für ausgeschlossen halte, aber nehmen wir es spaßeshalber ruhig mal an, dann würden die Leute doch anfangen, Kakaobohnen oder Glasperlen zu horten, wie bei diesen Indianervölkern. Und nix würde sich ändern.“
   „Doch. Vieles würde sich ändern.“
  „Glaub ich nicht. Kannst du dir vorstellen, wie hoch ein Berg ist, der aus zwei Billionen Kaffeebohnen oder Glasperlen besteht, der Summe, mit der die Amerikaner gerade ihre Wirtschaft wiederbeleben wollen?“
   Er sah sie treuherzig an. „Verblüffe mich!“
   „Es wäre auf jeden Fall ein riesiges Transportproblem. Zig-Kilometer lange Güterzüge müssten Tag und Nacht unterwegs sein, um das Geld dahin zu bringen, wo es gebraucht wird. Da ist es bequemer, man nimmt einen Zettel, druckt ein paar Zahlen darauf und nennt es Konto.“  
   „Das ist wohl wahr . . .“
   Erika ließ das Brusttoupet fahren und beschäftigte sich jetzt mit  Abdelkarims linkem Ohrläppchen. Plötzlich rief sie: „NA KLAR! FALSCHGELD!“
   „Warum schreist du denn so? Geht´s vielleicht auch leiser?“
   „Entschuldige! War mir so rausgerutscht.“ Sie beugte sich über das Ohr und begann zu knabbern. Dabei flüsterte sie: „Wollt ihr wirklich Falschgeld drucken?“
   „Natürlich nicht. Das würde auch nichts bringen. So viel könnten wir gar nicht drucken, um die reale globale Geldmenge  nachhaltig zu beeinflussen, abgesehen davon, dass uns die technischen Möglichkeiten fehlen. Wir haben einen anderen Weg gewählt, einen viel raffinierteren.“
   „Welchen?“
   „Kannst du schweigen?“
   „Ja, natürlich.“
   „Ich auch.“
   Ein Biss, ein Schrei. Abdelkarim fuhr herum „Aua! Musste das sein?“
    Ein Augenaufschlag. „Tat es weh? O mein Süßer, dass wollte ich nicht! Es war doch nur ein Liebesbiss.“
   „Auch das noch! Dann lerne lieben ohne zu beißen.“
    „Weißt du, dass in Deutschland mehr Menschen an Liebesbissen als an Hundebissen sterben?“
   „Wirklich? Ts, ts. Ts . . . Seltsames Land, dieses Deutschland.“
   Stille.
   „Sag mal, Tarek, kann das stimmen?“
   „Was?“
   „Angeblich sollen die deutschen Sparschweinebesitzer mehrere Billionen Euro auf der hohen Kante haben.“
   „Nicht mehrere, sondern viele. Siebenkommafünf, sagen die Experten, aber die Zahl ist wahrscheinlich zu niedrig gegriffen. Dazu kommen noch mehrere Milliarden alte Demarkscheine, die vergessen in irgendwelchen Truhen, Schränken oder sonst wo vor sich hinschimmeln.“
   „Ach! Und warum habe ich so gut wie nix?“
   „Tja, das fragen sich viele. Wahrscheinlich machst du etwas falsch.“
   „Und was?“
   „Frag mich was Leichteres. Mir geht’s doch genauso, und ich weiß auch nicht, woran es liegt. Wahrscheinlich, weil wir Geld nicht wirklich lieben.“  
   „Das wird es sein! Na, wenn ihr das Geld abgeschafft habt, ist es eh egal.“
   Abdelkarim fuhr hoch. „Herrgottnochmal! Keiner will das Geld abschaffen! Wie oft soll ich das noch sagen? Es würde auch viel zu lange dauern, bis der letzte Dollar oder Euro verschwunden ist, so viel wie es davon auf der Welt gibt. Und es wird immer noch mehr gedruckt. Und, wer sollte es denn einsammeln, hä? Das schafft ja noch nicht einmal die EZB!“
   Erika vergrub ihre Nase in Abdelkarims Armbeuge und schnüffelte. „Oh, was riechst du gut!“  
   Eine Weile tat sich nichts. Er lag stocksteif da und starrte an die Decke, sie hatte sich auf die Seite gedreht und starrte in die Kerzenflamme. Sie schwiegen solange, dass ihn ihre Stimme überraschte.
   „Wenn ihr das Geld nicht abschaffen und auch kein Falschgeld drucken wollt, was wollt ihr dann?“
   Leugnen ist zwecklos, dachte er. Besser, sie weiß Bescheid, als dass sie Unsinn erzählt. Es weiß sowieso bald die halbe Stadt. Dieser verfluchte Adamyan!
   „Wir wollen das Geld mit all seinen Erscheinungsformen wertlos machen“, sagte er kleinlaut, „so wertlos, dass die Menschen das Interesse daran verlieren.“
   „Dann raffen sie Kieselsteine zusammen.“
   „Du verstehst mich nicht. Auch Kieselsteine sind dann wertlos. Die Menschen werden überhaupt kein Bedürfnis nach Gold, Geld und dergleichen verspüren. Das Papiergeld werden sie zum Heizen benutzen, das Hartgeld wird eingeschmolzen und als Rohstoff für nützliche Dinge verwendet, mit Edelsteinen werden die Kinder Murmeln spielen –“
   „Und aus den Goldbarren werden Nachttöpfe für die Kleinen geschmiedet. Hahaha, ich lach mich kaputt! Und das glaubst du?“
   „Ja.“
   „Und wovon sollen die Leutchen leben? Etwa von Wind und Wetter? Wenn es nix zu verdienen gibt, kommt doch kein Aas auf die Idee, etwas zu produzieren!“
   „Jetzt, meine Liebe, jetzt! Aber dann, wenn es soweit ist, werden sie es tun! Und zwar freudig und aus Überzeugung. Es wird alles da sein, was die Menschen zum Leben brauchen. Aber auch nicht mehr. Es soll keine falschen Anreize geben.“
   „Aha! Und wer hält den Laden zusammen?“
   „Wie meinst du das?“
   „Wer sorgt dafür, dass sich die Leute auch danach richten und trotzdem arbeiten?“
   „Die neue Weltregierung.“
    „Aha! Und diese Weltregierung ist wer?“
   „Die zwölf Imame und die vierzehn Unfehlbaren."
   „Hmm . . . hört sich irgendwie islamistisch an . . . Davon hab ich allerdings die Nase gestrichen voll. Und nicht nur ich.“
   „Nicht islamistisch. Islamisch. Das ist ein Unterschied.“
   „Soso. Und was machen die Leute dann den lieben langen Tag so? Wenn sie nicht mehr Geld zählen und ihre Goldbarren putzen können? Däumchendrehen?“
   „Sie beschäftigen sich mir den wirklich wichtigen Dingen.“
   „Als da wären?“
   „Mit der Religion. Mit beten, den Armen spenden, fasten, pilgern.“
   Erika klatschte vergnügt in die Hände. „Hey, pilgern! Das erinnert mich stark an Paderborn! Sonntags um zehn, zum Biergarten Alt-Enginger Mühle. Der Herr Schlag-Oberst mit Frau und Tochter. Mann, wie mich das ankotzte! Nimm´s mir nicht übel, Tarek, aber das, was ihr da vorhabt, ist milde gesagt Spintuskram, um nicht zu sagen: Ausgesprochener Quatsch.“
   Schweigen. Dann: „Sag mal, Tarek, wer außer uns beiden gehört noch zu diesen Rächern, die diese Leute . . . na du weißt schon.“
   „Du verlangst doch nicht, dass ich Namen nenne.“
   „Natürlich nicht. Die wären bestimmt falsch. Ich meine, sind es diese Brüder?“
   „Nein.“
   Abdelkarim drehte sich auf die andere Seite. „Kannst du jetzt mal eine Weile nichts sagen? Muss morgen gründlich ausgeruht sein.“
   „Aye aye Sir!“
   Ich bin ein Idiot, dachte er. Schon seit dem ersten Treff führt sich mich an der Nase herum. Doch diese Erkenntnis schmälerte keineswegs seine Müdigkeit.
   Nach kurzer Weile: „Tarek?“
   „Hmmrrr.“
   „Bist du mir böse?“
   „Warum sollte ich?“
   „Weil ich dein Geheimnis kenne.“
   „Quatsch Geheimnis! Mittlerweile pfeifen´s ja die Spatzen vom Dach.“
   „Warum liegst du dann da, stocksteif wie eine tote Ratte und maulst?“
   „Ich maule nicht. Ich bin wirklich müde. Der Tag war lang und anstrengend.“
   „Gegen Müdigkeit wüsste ich was.“
   „Und was?“
   Plötzlich warf sie sich auf ihn und rief: „Komm, du alter Schwerenöter, mach mir den Hengst!“
F. f
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wunderkerze
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Beitrag12.05.2023 20:10

von wunderkerze
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    Abdelkarim führte seinen Bekannten über die Reste einer einst ausladenden Wendeltreppe über mehrere zerstörte Stockwerke nach oben. Vor einer Stahltür blieb er stehen und wartete. Nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür. In der Öffnung stand – Emil.
   „Emil!“, rief Adamyan überrascht, „du, eine geheimer Bruder? Hätte ich nicht gedacht!“
   „Qutatsch nicht und komm rein!“
   Sie betraten einen großen dunklen Raum mit schiefen Wänden, vor denen etliche  Computermonitoren flimmerten. Die Mattscheiben zeigten nichts als Zahlen, Graphiken, Tabellen, Diagramme. Davor hockten zwölf Männer, die bei ihrem Eintritt ohne Kenntnis zu nehmen weiter fleißig auf den Tastaturen herumtippten und mit ihren Computermäusen spielten. Sie waren alle ähnlich gekleidet wie der 'aba, nur schimmerten ihre Gewänder nicht grün, sondern in sanften Gelbtönen.
  „Die zwölf Geheimen Brüder“, erklärte Abdelkarim, „gemäß der Anzahl der Zwölf Imame, der Bewahrer der reinen Offenbarung bis zur Auferstehung: Der Think-Tank unserer Bewegung. Sie sind damit beschäftigt, einen Algorithmus zu entwickeln, mit dem wir den Teufel, der die Menschheit ins Verderben stürzt, aus der Welt treiben können. Aber ich wollte dir etwas anderes zeigen. Schau das Halal dort an der Wand an!“
   „Was soll damit sein?“
   „Fällt dir nichts auf?“
    „Nein . . . hmm . . . doch! Es hängt falsch herum!“
   „Es hängt nicht falsch herum, es i s t falsch!“
   „Wie?“
    „Ich hab es zunächst auch nicht wahrhaben wollen“, sagte Abdelkarim. „Astronomisch gesehen ist die übliche Darstellung des Halal jedoch inkorrekt, da die Sichel des zunehmenden Mondes von der Nordhalbkugel der Erde aus gesehen nach links statt nach rechts geöffnet ist.“
   Adamyan schüttelte unwillig den Kopf. „Na schön, nur, ist das so wichtig? Wichtig ist doch, was es bedeutet, und nicht wie es abgebildet ist!“
   „Wie kann eine Lehre die volle Wahrheit enthalten“, rief der Alte, der unbemerkt herein gekommen war, „wenn ihr Zeichen nicht den Tatsachen entspricht? Gott hat Mond und Erde bewusst so geschaffen, dass sich die Sichel des zunehmenden Mondes nach links öffnet! Also ist auch die Lehre nicht vollkommen rein. Ich blicke in die Welt, und was sehe ich da? Nicht nur der Westen, auch die Kinder Allahs sind vom Virus der Maßlosigkeit befallen! Hier himmelhohe Bauten, die Gottes Größe verhöhnen, dort marmorne Paläste ohne Maß, mit Gold und Edelsteinen überladen, die Völker misstrauisch und zerstritten, und die Enkel Abrahams führen gegeneinander Krieg!“
    Der Alte schien mit jedem Wort zu wachsen, für einen Moment schien es Adamyan sogar, als liege auf dem Greisenschädel ein Heiligenschein. Er hält sich für einen neuen Rasul, dabei ist er nichts anderes als ein Spinner und wahrscheinlich völlig harmlos. Weiß der Teufel, warum ich den umbringen soll! Er sah Abdelkarim hilfesuchend an, doch der wich seinem Blick aus.
   „Überall falsche Propheten und verlogene Priester!“, fuhr der Alte fort. „Wahrlich, ich sage euch, diese gottlos rasende Zivilisation ist dem Untergang geweiht, es sei denn, sie findet noch den rechten Weg. Und ich bin auserwählt, diesen Weg zu weisen, ich bin der neue Rasul Gottes, der Gesandte der reinen Lehre, ich – kich – kich –“
   Ein Hustenanfall beendete diese Tirade, der Alte schwankte; Tarek schob ihm einen Stuhl unter.
  Adamyan wunderte sich. Obwohl die Unterhaltung ziemlich hitzig verlief, zeigten die Brüder keinerlei Anteilnahme. Nach wie vor hielten sie ihren Tunnelblick starr auf die Monitoren gerichtet.
  „Ihr wollt also die Welt verbessern“, sagte er und sah ungläubig zuerst den Rasul von eigenen Gnaden, dann seinen Weggefährten an. „Kann es sein, dass ihr euch da etwas zu viel zutraut? Die Menschheit versucht seit mindestens zehntausend Jahren, den Teufel zu besiegen, und er ist immer noch in der Welt.“
  „Eben, eben, eben“, fistelte der Alte, stimmlich wieder etwas erholt, „beten, fasten, wallfahren, die Gebote erfüllen, den Armen geben – all das ist gottgefällig, aber es hilft eben nur für den Moment, und nicht auf Dauer! Das Erz-Übel bleibt unangetastet: Das Geld! Das Geld! Das Geld, und damit die Gier! Es ist Teufelswerk! Ich aber werde den Stachel im blutigen Fleisch der Menschheit ausreißen“ – seine Stimme überschlug sich – „radi – iii– kal! Und mit dem Erz-Schaytan werden auch die anderen Shayāṭīn verschwinden – kich – kich – kich –“
   „Aber . . . Aber“, stotterte Adamyan, „Ihr schafft das Geld ab, aber der Mensch ist noch der alte! Was kann sich da ändern?“
   Der Alte ist das Original, dachte er, Abdelkarim die Kopie . . .
    Doch der Alte war auf seinem Stuhl zusammengesunken; seine Lippen bewegten sich, durch seine Finger glitten die Kugeln seiner Misbaha: Er betete und war jetzt nicht mehr ansprechbar.
   „Vielleicht hörst du jetzt mal zu, Saad“, sagte Emil nicht eben freundlich, „und zerbrichst dir nicht den Kopf über Dinge, die niemand behauptet hat. Von Geld abschaffen war nie die Rede. Auch Christus hat die Geldwechsler aus dem Tempel vertrieben, und was hat es gebracht? Nichts.“
   „Und der Prophet“, ergänzte Abdelkarim, „ächtet nicht das Geld, sondern nur den Wucher. Nein, wir wollen –“
    Jetzt konnte Adamyan seine Ungeduld nicht mehr beherrschen. „Herr im Himmel!“, rief er, „Tarek, rede endlich Klartext! Nehmt ihr mich auf oder nicht?“ Er sah Abdelkarim böse an. „Tarek, Bruder! Rede endlich!“
   Ein harter Schlag traf ihn auf den Hinterkopf. Bevor er die Besinnung verlor, dachte er noch: Er ist also doch ein Verräter.
                                                                                     5
   Am selben Abend, im „Siebten Himmel“.
    Über der Stadt tobte sich gerade ein Gewitter aus; Sturzbäche von Regenwasser rauschten durch die unterirdischen Überlaufkanäle.
   Abdelkarim lag auf einem zerschlissenen Diwan, nahm die Pfeife in die eine Hand und spießte mit der anderen mittels einer feinen Nadel ein erbsengroßes Chandu-Klümpchen in der Büchse an. Dieses Klümpchen hielt er über die Flamme derer kleinen Lampe, bis der Stoff seine zunächst flüssige Form veränderte und zu einem zähen Pech verdickt war. Er drückte die braune Masse in die enge Öffnung des Pfeifenkopfes. Mit einer drehenden Bewegung zog er die Nadel heraus und erzeugte so einen winzigen Kanal zum Bambusrohr. Er drehte den Pfeifenkopf nach unten und hielt ihn über die Flamme.
   Die Tür ging auf. Emil erschien, nahm auf dem zweiten Diwan Platz und machte sich ebenfalls eine Pfeife zurecht.
   „Zöllner haben an der deutsch-polnischen Grenze bei Frankfurt gestern Abend mehr als zweihundertzwanzig Kilogramm Opiumplatten aus dem Verkehr gezogen“, knurrte er. „Irgendwelche Schnüffelhunde haben es entdeckt. Grrr! Hab Köter noch nie leiden können. Wenn das so weitergeht, bleibt uns der Nachschub weg.“
   Abdelkarim lachte kurz und trocken. „Nicht doch! Unsere Leute sind nicht so dumm, und verstecken das Zeug in irgendwelchen Hohlräumen, zum Beispiel in Keksdosen. Da suchen die Köter doch zuerst! Aber würdest du es in Gouda-Kugeln vermuten, auf denen dich die gute Käsefrau Antje unschuldig anlächelt? Nein. Dein Unterbewusstsein signalisiert dir: Diese Frau lächelt so süß, so lecker, so schmuck und sauber, also ist auch ihr Käse lecker, schmuck und sauber. Du kämst gar nicht auf die Idee, dass der leckere Käseballen in Wirklichkeit eine Drogenbombe ist. Und die Hunde riechen nur Käse. Geschickte Täuschung ersetzt die Wahrheit.“
   „Wie kämen die Leute sonst auch auf die Idee, verseuchte Lebensmittel zu kaufen, nur weil auf dem Etikett eine grüne Wiese mit glücklichen Kühen aufgedruckt ist.“
   „Glückliche Hühner von freilaufenden Bauern.“
    „Wie?“
   Abdelkarim grinste vergnügt.
   „Las ich neulich auf einem dieser Werbeprospekte, die manchmal in den Lieferungen stecken. Finde ich ganz lustig.“
   „Hmpf.“
  Inzwischen war die Pfeife fertig. Abdelkarim lehnte sich zurück und begann zu rauchen.
    Zunächst sah es nicht danach aus, als habe er die Absicht, in diesem Leben noch ein Wort zu sagen. Er rauchte in langsamen Zügen und mit geschlossenen Augen. Doch dann sagte er: „Glaub ja nicht, dass ich mich hier unten zudröhnen will! Es ist nur so: Ohne meine zwei, drei Pfeifchen am Abend finde ich nicht mehr in den Schlaf. Dafür ist unser Projekt zu nervig. Und den Schlaf brauch ich dringend, auch wenn es nur vier Stunden sind, schließlich muss jemand die Verbindung zur Außenwelt aufrechterhalten. Ich will mich nicht wie die anderen Brüder mit Amphetaminen vollschütten. Nach manchen Tagen fühlt es sich so an, als würde mein Gehirn schmelzen und an meinem Rücken hinunter kriechen.“
   „Ach deshalb! Mir fiel gleich der Tunnelblick auf, mit dem die Brüder auf ihre Rechner starren! Sie sind zugedröhnt! Und ihr Meister, ein Raucher! Wer hätte das gedacht!“
   „Zugedröhnt! Wie du das sagst! Hört sich an, als handele es sich um Teufelszeug! Nun übertreib mal nicht! Auch Koffein und Teein sind Drogen. Es kommt immer darauf an, wie man damit umgeht. Den Brüdern verhilft das Crystal zu erhöhter Leistungsbereitschaft, und es vermindert ihr Schlafbedürfnis. Sie müssen fast rund um die Uhr hellwach sein, denn der globale Geldmarkt kennt keine Nachtruhe. Und Kemal empfängt im Opiumrausch seine Visionen. Hast du das Regal in seinem Zimmer gesehen? Alles eigene Manuskripte.“
   „Worauf willst du hinaus?“
    Abdelkarim machte einen kräftigen Zug. „Hast du dich inzwischen, was den Geldmarkt betrifft, informiert?“
   „Ein wenig.“
   „Schön, dann schieß mal los!“
   „Was willst du denn hören?“
   „Na zum Beispiel, wie es zu den riesigen Geldmengen kommen konnte, die angeblich im Umlauf sind.“
   Emil stieß den Rauch aus und holte tief Luft. Dann legte er los: „Als am fünfzehnten August Neunzehnhunderteinundsiebzig der damalige US-Präsident Richard Nixon die Goldbindung des Dollar aufhob, legte er den Grundstein für das heutige Welt-Wirtschaftssystem. Von diesem Zeitpunkt an war die Weltwährung Dollar nur mehr eine Papierwährung, die beliebig vermehrt werden konnte, und die anderen Notenbanken zogen nach. Dann müsste doch aber die Kaufkraft des Euro ins Bodenlose sinken, aber Fakt ist doch das Gegenteil! Der Teuro, das war einmal.“
   „Ja, der Euro, die alte Tante Teuro! Fragt sich nur, wie lange noch. . . Hast du dich inzwischen mit der Geldmengentheorie befasst?“
   „Natürlich.“
   „So. Dann müsste dir auch klar sein, dass diese enormen Summen nur zwischen den Banken hin- und hergeschoben werden, aber kaum etwas mit dem physischen Geldumlauf, dem Geldmengenaggregat M null, zu tun haben, es sei denn –“
   „Du schwatzt wie ein Lehrbuch –“
   „ – es sei denn, diese horrenden Summen gelangen aus irgendwelchen Gründen nach M null. Und was dann passiert, dürfte dir auch klar sein.“
   „Na ganz einfach: Die Leute flüchten panikartig in Gold und Aktien, wie es schon mehrmals geschehen ist.“
   „Oder in Kryptowährungen wie Bitcoin, Ethereum und Co. Sehr schön! Wenn sie dann feststellen, dass das Zeug auch nichts mehr wert ist, kannst du dir unschwer vorstellen, was dann passiert.“ Abdelkarim grinste. „Dann kann Frau Merkel, die ich übrigens sehr schätze, nicht mehr mit gutem Gewissen vor ihr Volk treten und mit dem Brustton der Überzeugung verkünden: Ihr Geld, meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, ist sicher! Und wenn wir damit fertig sind, knöpfen wir uns die Computerbörse vor.“
   Ein leises Grollen lief durch den Raum: Eine U-Bahn fuhr vorbei.
  Abdelkarim klopfte seine Pfeife aus und begann, sich eine neue zu machen.
   „Alles schön und gut“, sagte Emil, „aber ich begreife immer noch nicht, wie ihr das anstellen wollt. Diese Summen sind doch im Grunde nur Zahlenreihen auf irgendwelchen Computern von Großbanken. Wie wollt ihr da herankommen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich diese Computer so mir nichts dir nichts hacken lassen.“
   „Bist du der Softwaretüftler oder ich? Natürlich wird es nicht einfach sein, da muss ich dir leider Recht geben. Was ist schon einfach, wenn man etwas radikal verändern will. Aber ich bin sicher, uns wird schon etwas Passendes einfallen. Und weil es eben nicht einfach ist, beginnen wir bei einem Land mit vergleichsweise überschaubarer Geldwirtschaft: Albanien.“
   Emil betrachtete den „Bruder“, während er langsam den Rauch ausließ. Sieht gut aus, verdammt gut. Liegt wahrscheinlich an dem reichlichen Essen hier unten. Oder an der Berliner Luft. Oder am Geruch der Freiheit. Scheißegal. Kein Wunder, dass er hinter Erika her ist. Ist wahrscheinlich ständig notgeil. Würd mich nicht sehr überraschen, wenn er ihr demnächst einen echten Heiratsantrag macht. Nicht nur für ein, zwei Stunden. Sondern für die Ewigkeit. Moslem und Christin ist es ja nach dem Koran erlaubt. Und eine Familie, die Krach schlagen könnte, ist weit weg. Und ohne Kinder kriegen ist es noch entspannter.
   Eine Weile rauchten sie schweigend. Dann sagte Emil: „Sag mal, Tarek, was hast du mit Erika vor?“
   Abdelkarim blickte erstaunt auf. „Was ich mit ihr vorhabe? Was geht dich das an.“
   „Nein, das meine ich nicht.“
   „Dann drück dich gefälligst klarer aus!“
   „Jetzt, wo sie es weiß.“
   „Ach so! Tja, da erwischst du mich auf dem falschen Fuß. Wegsperren wie den Adamyan geht auf keinen Fall. Ich überlege noch. Bei Adamyan ist die Sache einfacher. Ich habe ihm eine neue Blockflöte mitgegeben. Entweder er bringt den Richtigen um, oder sie bringen ihn um.“
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Beitrag13.05.2023 21:34

von HansGlogger
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wunderkerze hat Folgendes geschrieben:
   „Emil!“, rief Adamyan überrascht, „du, eine geheimer Bruder? Hätte ich nicht gedacht!“


Ein geheimer Bruder? (ohne e)

Sporadisch lese ich noch mit.
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Beitrag17.05.2023 17:36

von wunderkerze
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HansGlogger, danke für den Hinweis.

"Sporadisch lese ich noch mit." Warum auch nicht? Hab Goethes Romane auch nur sporadisch gelesen.

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Beitrag17.05.2023 18:57

von Gast
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wunderkerze hat Folgendes geschrieben:
    Abdelkarim machte einen kräftigen Zug. „Hast du dich inzwischen, was den Geldmarkt betrifft, informiert?“

Thematisch handelt es sich bei den nachfolgenden Ausführungen um den Währungsmarkt, nicht um den Geldmarkt.

wunderkerze hat Folgendes geschrieben:
Als am fünfzehnten August Neunzehnhunderteinundsiebzig der damalige US-Präsident Richard Nixon die Goldbindung des Dollar aufhob, legte er den Grundstein für das heutige Welt-Wirtschaftssystem. Von diesem Zeitpunkt an war die Weltwährung Dollar nur mehr eine Papierwährung, die beliebig vermehrt werden konnte, und die anderen Notenbanken zogen nach. Dann müsste doch aber die Kaufkraft des Euro ins Bodenlose sinken, aber Fakt ist doch das Gegenteil! Der Teuro, das war einmal.“


Damals gab es die D-Mark, aber noch keinen Euro. Selbst die synthetische Euro-Vorgängerwährung ECU war noch fern.

Die Freigabe der Wechselkurse der D-Mark gegenüber dem US-Dollar im Frühjahr 1973 war einer der Gründe für die Kursverwerfungen und den drängenden Handlungsbedarf der USA.
Goldstandard, Bretton Woods und Paul A. Samuelson sind in diesem Zusammenhang die relevanten Schlagwörter.

Letzte Anmerkung und nur weil es allein optisch eine echte Herausforderung der Duldung verlangt:
wunderkerze hat Folgendes geschrieben:
M null

M0
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wunderkerze
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Beitrag19.05.2023 18:01

von wunderkerze
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Fritz Budach, danke für die Hinweise.

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wunderkerze
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Gast







Beitrag19.05.2023 18:29

von Gast
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Die Freigabe der Wechselkurse der D-Mark gegenüber dem US-Dollar im Frühjahr 1971 war einer der Gründe für die Kursverwerfungen und den drängenden Handlungsbedarf der USA.

Sorry, das war natürlich 1971.
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wunderkerze
Eselsohr
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Beitrag30.05.2023 18:47

von wunderkerze
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5
   Rotes Rathaus, Kantine im Keller
   Frau Dr. Erdmute Große-Otte von der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung, eine hagere Dame mit eckig nachgezogenen Augenbrauen und wassergebürstetem  Kurzhaar, stocherte lustlos in ihrer veganen Salatschüssel herum. Seit der Mann ihr gegenüber seine Riesenportion Spaghetti Bolognaise „Berliner Art“ verschlang, war ihr der Appetit vergangen. Nicht die Menge war es, die sie verstörte, und auch nicht die Art der Nahrungsaufnahme – schließlich speiste man in vornehmstem Ambiente – sondern die unangenehme Angewohnheit des Herrn Wulf Wulfert, des Regierenden Bürgermeisters, beim Essen vollmundig zu monologisieren, wie es seine Art war, wenn er sich wohl fühlte. Und er fühlte sich wohl; zu dieser vorgerückten Stunde – die Uhr ging auf halb neun – war außer ihm, seinen beiden Vasallen und dem Küchenpersonal niemand mehr hier unten. Also auch kein harmlos erscheinender Schreiberling von der Lügenpresse mit eingeschaltetem Handy in der Westentasche, der ihm das gestohlene Wort verdrehen und morgen an die große Glocke hängen konnte.
   Frau Dr. Große-Otte versuchte angestrengt, eine Erbse aufzuspießen, die ihr immer wieder von der Gabel sprang. Bloß nicht aufblicken . . .
    Die dritte Personalie am Tisch, der Chef der Senatskanzlei, ein kolossaler Sitzriese mit gewaltigem Pferdegebiss und fast kürbisgroßer Glatze, schlug gerade mit sichtlichem Vergnügen die Zähne in ein massives Stück Eisbein mit Sauerkraut, an dem noch allerhand „Leipziger Allerlei“ klebte.
   Der Vertreterin der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung schluckte.
   „Wir müssen, hmpf“, dozierte der Regierende unverdrossen, „den Mut aufbringen, in unserer Stadt jetzt die Veränderungen vorzunehmen, die – schluck – notwendig sind, um wieder an die Spitze der wirtschaftlichen sowie der sozialen Entwicklung in diesem unserem Lande zu kommen. Ich möchte Ihnen – hmpf – jetzt nicht Punkt für Punkt erklären, welche Maßnahmen nach meine Überzeugung vorrangig sind –“
   Er griff nach der kleinen Flasche „Kreuzberger Namenlos“, schenkte sich ein – „und, ha, umgesetzt werden müssen, für Konjunktur und Haushalt, für Arbeit und Wirtschaft, für die soziale Absicherung und Bildung.“ Er trank. „Brrr, is det sauer –  –“
  Frau Dr. Große-Otte grauste.
   In der Küche fiel mit lauten Geklirr ein Berg Teller zu Boden, woraufhin heiteres Gelächter erklang.
   „– die dem Arbeitsmarkt womöglich, hahaha, gar nicht zur Verfügung stehen, Arbeitslosenhilfe beziehen. Ich akzeptiere auch nicht–“,
   „Ha, hab ich dich endlich doch erwischt!“, rief Frau Große Otte siegessicher und führte das aufgegabelte Stück Gemüse zum Mund.
   „ – dass Menschen“, fuhr der Regierende mit zusammengezogenen Brauen und feuchten Lippen fort, „die gleichermaßen, hahaha, bereit sind zu arbeiten, Hilfen in unterschiedlicher Höhe bekommen. Ich denke –“
   Die Vertreterin der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung knallte ihre Gabel auf den Tisch und starrte dem Regierenden einige Sekunden auf den volllippigen Mund. Dann sagte sie laut und deutlich: „Herr Wulfert, Sie sind eine Arschgeige! Und der da neben Ihnen ist ein widerlicher Vielfraß!“ Dann brach sie in schrilles Gelächter aus.
   „– das kann keine erfolgreiche Integration . . . äh . . . wir brauchen deshalb . . . wie?“
   Der Regierende schwieg verdutzt. Dann brüllte er los. „Was haben Sie da gerade gesagt, Sie dürre Salatwachtel? Wiederholen Sie das doch nochmal.“ Doch sein martialischer Ton entsprach keineswegs seinem Gesichtsausdruck, auf dem sich ein schiefes Lächeln zeigte.
    Zu einer Wiederholung kam es nicht, denn Herr Rotermund, der Chef der Senatskanzlei, klatschte sich bestens gelaunt auf den Oberschenkel. „Hahaha, Arschgeige, das ist gut, hahaha, Arschgeige, das ist gut!“, rief er immer wieder und klappte sein Riesenmaul laut grölend auf, so dass sein Gesicht nur noch aus Zähnen zu bestehen schien.
   Ein fröhliches Brüllen war die Antwort. „Herr Rotermund! Wenn ich eine Arschgeige bin, dann sind Sie – dann sind Sie –“
   „Ein verdammter Vielfraß!“, kreischte Frau Dr. Große-Otte.
   „Was sagen Sie da?“, grölte Rotermund. Er sprang auf und schüttete der Vertreterin der Senatsverwaltung die Überbleibsel seines Eisbeins mit Weinauerkraut in den flachen Ausschnitt. Anschließend goss er die Neige des „Kreuzberger Namenlos“ hinterher.
   Die Getroffene sprang entsetzt auf und stürzte sich auf ihn. „Leck das ab, du Vielfraß!“, kreischte sie und drückte ihm ihre magere Brust ins Gesicht. Rotermund ließ sich nicht lange bitten, fing an zu lecken, wobei er wie ein brünstiger Eber grunzte. Dann steckte er seine Zunge in den Ausschnitt der resoluten Dame, wofür er sich zwei saftigen Ohrfeigen einhandelte.
   Hierüber musste der Regierende derart lachen, dass er fast vom Stuhl fiel.
   „Kannst du Klavier spielen?“, fragte Rotermund die Dame grinsend und zog ihr mit zwei spitzen Fingern einen Knochen aus der mageren Busenspalte.
   „O ja doch, ein wenig“, jammerte die Frau.
   Rotermund nahm die hagere Dame bei der mageren Hüfte, stand auf und setzte sie aufs Klavier. „So, nun spiel uns was! Aber nichts Trauriges, hörst du!“
   Der Regierende hatte wieder etwas Fassung gewonnen. „Heda, Küche, wo bleibt der Nachtisch?“, schrie er. „Verdammt nochmal, muss man sich denn in diesem Saustall um alles selber kümmern?“ Er nahm seinen Teller und schleuderte ihn gegen eine Säule, an der er klirrend zerbrach.
   Auch aus der Küche waren jetzt seltsame Laute zu hören. Es hörte sich an, als dresche jemand mit einem Hammer gegen eine Stahlwand. Dies und das Geklimper der Frau Große-Otte vermischten sich zu einer höllischen Kakophonie außerirdischer Art. Dazwischen erklang immer wieder unbändiges Gelächter.
   Die Küchentür wurde aufgestoßen, heraus marschierten der Koch, ein kuscheliger Chinese mit vollkommen rundem Kahlkopf und seine Crew. Ein langer Mensch mit plattem Gesicht schlug mit einer Kelle auf einen Pfannenboden, die anderen drei Genossen prusteten hinter vorgehaltenen Händen. Frau Große-Otte drosch gerade die Melodie des 20er-Jahre-Hits

                      Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste auf der Welt . . .

   aus den Tasten.
   „Aufhören!“, schrie Herr Wulfert, „sofort aufhören! Das ist ja unerträglich!“
   In die nun eintretende Stille hinein fistelte der Koch: „Hell Legielendel Bülgelmeistel haben gelufen?“, woraufhin sich alle Anwesenden einschließlich der Kunstpalme neben dem Klavier vor Lachen bogen.
   „Luhe!“, schrie der Regierende mit greisenhaft hohler Stimme, „noch ein Ton, und ihr seid alle entlassen! Also, Meister, was haben Sie als Dessert anzubieten?“
   Der Küchenchef verbeugte sich. „Käsetellel mit velschiedene Solten Lohmilchkäse“, verkündete er lachend, „dazu selvielen wil fünf Centilitel Beelenauslese Weingut Klachel aus Östelleich, Neusiedlelsee –“
   Der Leiter der Staatskanzlei bekam einen Lachanfall und fiel vom Stuhl.  
   „Weitel!“, fistelte der Regierende, „was haben – verdammt nochmal, jetzt fang ich auch schon an!“
   „Sehl wohl! Desweitelen kann ich Eldbeel-Solbet mit Zitlonen-Lemulade, köstlich, fluchtig und elflischend an –“
   „Laus!“, schrie der Regierende mit brüchiger Fistelstimme, „abel sofolt!“, nun nicht mehr lachend. Seine Erscheinungsbild hatte sich stark verändert. Die Haare hingen wirr durcheinander, sein feistes Gesicht schimmerte eigenartig teigig, der ganze stattliche Mann wirkte irgendwie entkernt. Er wollte aufstehen, sackte aber hilflos auf seinen Stuhl zurück.
    Auch Herr Rotermund auf dem Boden vor seinem Stuhl sah ziemlich angezählt aus; ein paarmal noch klappte sein Riesengebiss auf und zu, dann knallte sein Kopf auf die Fliesen – er war ohnmächtig geworden.
   Verstörende Laute kamen jetzt aus Richtung Klavier. Frau Große-Otte heulte Rotz und Wasser, während ihre Finger einen wüsten Schlussakkord in die Tasten hieben. Plötzlich stand sie auf und torkelte wie eine teilweise entbeinte Spinne auf die Tür zu, die zu den Toiletten führte. Die Tür wurde aufgestoßen, ein halbes Dutzend schwarz vermummter und schwer bewaffneter Gestalten erstürmte den Saal. Jemand brüllte: „Hände hoch und flach auf den Boden legen! Keine Bewegung!“
   In diesem Moment verließen die Vertreterin der Senatsverwaltung die Kräfte. Sie knickte in den Knien ein, machte leise aufstöhnend eine halbe Drehung und wäre sicherlich lang auf den Boden geknallt, wenn sie der Hauptkommissar Slavonka nicht in letzter Sekunde aufgefangen hätte.
   Forts. folgt

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Beitrag22.06.2023 19:40

von wunderkerze
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6
   Friedrichshain, Transformatorenhaus Eldenaer Straße
   „Hrrmm . . . Eins senkrecht. Anderer Name für Schloss. Hmm . . . Verriegelung . . . nee, zu lang, passt nicht . . . Riegel . . . nee, passt auch nicht, zu kurz . . . Anderer Name für Schloss . . . Schließe, Schnalle . . . Scheiße! Anderer Name für Schloss . . . Hmm . . . Das muss doch aber . . . Ha, ich hab´s! Kastell! Natürlich! Grrr . . . Die Arschlöcher, können die nicht präziser fragen?“
  In vierundzwanzig Metern Tiefe sitzt Heribert Großkopf über einem Kreuzworträtsel, das ihn schon seit einiger Zeit beschäftigt. Vor ihm leuchten die beiden Monitore der Überwachungskameras, die seit Jahren immer das gleiche Bild zeigen: Den Blick in den 380-KV-Tunnel, der linke Monitor in Richtung Marzahn, der rechte in Richtung Umspannwerk Mitte. Der Tunneleingang, eine Stahltür, liegt wenige Schritte hinter ihm. Ab und zu gleitet sein gelangweilter Blick zu den Bildschirmen. Dann wendet er sich wieder seinem Rätsel zu. Die Luft ist kühl und riecht erdig-feucht.
   Da ihm kalt ist, legt er den Bleistift mit dem zerkauten Ende beiseite, lehnt sich zurück und gießt sich aus einer Thermoskanne heißen Kaffee ein. Er führt die Tasse zum Mund; dabei fällt sein Blick auf den rechten Monitor. Großkopf stellt die Tasse sofort wieder ab, denn im Tunnel hat sich etwas bewegt. Ein Wartungstrupp, denkt er, um diese Zeit? Wieso das denn? Eine Störung ist doch nicht gemeldet!
   Gebannt starrt er auf den Bildschirm. Noch hält er eine Täuschung für möglich, die Bewegung für ein Schattenspiel seiner Fantasie, geboren aus stundenlanger Einsamkeit. Doch jetzt erkennt er, das sich tatsächlich die kleine Tunnelbahn nähert, die unter der Tunneldecke an Schienen hängt und für die  Wartungstechniker gedacht ist. Noch kann er nicht viel erkennen, schließlich ist dieser Tunnelabschnitt mehr als sechs Kilometer lang. Doch allmählich wird das Bild klarer –
   Großkopf streicht sich verblüfft durch seinen Rauschebart und beugt sich weiter vor. Im trüben Licht der Tunnelbeleuchtung sieht er: Die Bahn ist besetzt mit mindestens einem Dutzend anscheinend schwer bezechter Personen, die wild gestikulierend und lachend eine feucht-fröhliche Loren-Party feiern. Eine Frau mit einem Gewehr feuert Schüsse in die Tunneldecke. Zwei Greise liegen sich in den Armen, währen ein dritter einem jungen Mann ununterbrochen ohrfeigt, was der geduldig grinsend über sich ergehen lässt.
    Der Angestellte der berliner Elektrizitätsversorgung ist so verblüfft, dass Sekunden vergehen, ehe er zum Telefon greift und die Zentrale des „Transmission Control Centers“ anruft.
   Inzwischen ist das Narrenschiff weitergezogen und nun in dem Monitor zu sehen, der  den Tunnelabschnitt Richtung Marzahn überwacht. Großkopf starrt verzweifelt auf die Mattscheibe, dann schließt er die Augen und öffnet sie wieder, doch auch jetzt ist er Anblick der gleiche: Die Wagons sind leer.

                                                                             *
   Zwei Stunden später, Palisadenstraße 48, Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg.
  Das alte Umspannwerk Ost ist ein Haus, das hundert Jahre und mehr sprichwörtlich unter Strom stand. Sieben große Transformatoren lieferten Elektrizität für Berlin. Noch heute ist das technische Ambiente erkennbar und die Raumdimensionen beeindruckend. Dort, wo einst die Trafos verankert waren, stehen heute Tische und Stühle in der weiten Maschinenhalle umgeben von sechs Meter hohen lichtdurchfluteten Glastoren.
    Im Untergeschoss befindet sich der TheaterClub. Auch er besitzt eine einzigartige Atmosphäre. Durch das freigelegte Originalmauerwerk und die sichtbaren Granitsockel der Säulen lässt sich auch hier das ehemalige technische Ambiente nicht leugnen. Die Verbindung von Architektur, Kultur und Gastronomie kommt hier in ganz besonderem Maße zur Geltung . . .
   So ähnlich steht es auf dem Info-Blatt in der Speisekarte, die der Ober gerade an eine Gruppe ausländischer Gäste des TheaterClubs verteilt. Was dort aber nicht steht und den Betreibern des Lokals möglicherweise gar nicht bekannt, ist die Tatsache, dass es im Keller noch verdeckte Zugänge zu ehemaligen Tunneln gibt, die das Umspannwerk mit anderen seiner Art verbanden. Im Zweiten Weltkrieg wurden Teile der Anlagen zerstört, etliche unterirdische  Zu- und Abgänge verschüttet und anschließend vergessen.
   Die Spätvorstellung am heutigen Abend ist wie immer gut besucht. Man gibt das Kriminalspiel „Im Namen der Rose“,  nach dem Roman von Umberto Eco, mit viel schauerlicher Klosterromantik und mittelalterlicher Rabulistik. Gerade haucht wieder ein Mönch unter Qualen sein Leben aus; da springt eine Seitentür auf, und eine Schar bizarrer Gestalten, offenbar Komödianten, betritt die Bühnen-Bretter.
   Die Gäste sind entzückt, einige klatschen sogar Beifall. Die Figuren sind auch zu köstlich. Drei kichernde Greise in wallenden Gewändern hinken, sich gegenseitig stützend, über die Bühne, dann folgt eine Schar junger Männer mit martialischen Bärten, die anscheinend nicht mehr ganz nüchtern sind; den Schluss bildet eine Frau in Pulli und Jeans, die die Männer mit einem Karabiner in Schach hält. Das Ganze wirkt nicht sehr mittelalterlich, doch zeitnah und passend zur Romanvorlage. Die Verblüffung der Schauspieler nehmen die Zuschauer als gespielte Verwunderung. Eine gute Theateraufführung lebt eben von überraschenden Effekten. Die Spannung wächst, wird geradezu knisternd; denn jetzt mischen sich die Komödianten unter die Gäste und beginnen, ihnen die Gläser leer zu trinken. Ein Hüne mit einem gewaltigen Hipster greift in eine Schüssel mit Fritten und füllt sich den Mund.
   Noch immer schwant den Zuschauern nichts Böses; zwar stehen die eigentlichen Schauspieler wie gelähmt, doch die wenigsten Gäste machen sich darüber Gedanken; zu absonderlich ist das Geschehen zwischen den Tischen. Jetzt nämlich reißt einer der bärtigen Männer eine junge Frau vom Stuhl und ruft mit stark ausländischem Akzent: „Keine Bewegung, sonst ist sie tot! Die Handys bleiben aus!“, und der Lauf einer Pistole blitzt auf.
   „He, Atze“, ruft die Frau mit dem Karabiner einem der beiden Kellner zu, „hüpf mal nach oben und sag deinem Chef, wenn ich in der nächsten halben Stunde eine Polizeisirene höre oder einen Polizistenarsch sehe, mach ich deinen Kollegen zum Kugellager!“ Zum Beweis ihrer Entschlossenheit schießt sie eine Salve in die Spiegelwand. Dann bohrt sie dem anderen Bediener, einem noch jungen Flaumbart mit spitzen Ohren, den Karabiner in den Rücken und kommandiert: „Auf auf, du Hasenbraten, und nicht gemuckt!“
   Die Gruppe setzt sich in Bewegung und verlässt eine Minute später das Alte Umspannwerk.
 
                                                                               *
   BERLINER ABENDSPIEGEL, Sonnabend, den 13. 3. 20..
    Das Geiseldrama, dass sich gestern Nacht in der Palisadenstraße 48 abspielte, nahm wider Erwarten ein unblutiges Ende. Wenige Minuten, nachdem die Entführer das Haus verlassen hatten, waren die beiden Geiseln, ein Gaststättenbediensteter und eine junge Frau, wieder frei. Um in das Gebäude zu gelangen benutzten die Entführer einen vergessenen Stollen unter dem ehemaligen Umspannwerk. Obwohl der St. Petri-Luisenstadt-Friedhof, in den die Geiselnehmer geflüchtet waren, wenig später von der Polizei gründlich durchsucht wurde, fehlt von den Entführern bisher jede Spur. Die Ermittlungen dauern an.

F. f

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Beitrag02.07.2023 10:41

von wunderkerze
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Berghain, Erikas "Kuschelelkammer“
   Gerade hämmert der Metal Song Killing in the Night von Penthouse4sale, wie die lautsprecherverstärkte Stimme soeben erklärt hat, durch die Luft, übermalt vom Gedröhn aus dem Stockwerk darüber. Abdelkarim knallt die Tür zu, der Lärm erlischt wie abgeschnitten. Er setzt sich aufs Bett und wartet. Nach einer Weile steht er wieder auf und stellt den Sekt und zwei Gläser auf den Tisch. Dann wirft er Hemd und Hose ab und schlüpft unter die Bettdecke.
   Die Tür geht auf, Erika, im Bademantel, erscheint, umgeben von Getöse.
   „Tür zu!“, schnauzt Abdelkarim, „das ist ja grauenhaft!“
   „Wat regste dir uff, Sportsfreund, mir jefällst´s. Außerdem kann uns keena abhorchen!“
   Sie schließt die Tür. „Brrr, war det klalt! Sag ma, haste nich wat Warmet in petto?“
   „Aber ja doch!“ Ein fröhliches Grinsen. „Wenn du aufhörst, zu berlinern, sag ich dir auch, wo du es finden kannst.“
   „Aber zuerst gibt es mal ´nen Schluck.“ Erika knallt den Korken von der Flasche und gießt ein. Mit den sprudelnden Gläsern in den Händen balanciert sie an Abdelkarims Bettseite uns setzt sich.
   Abdelkarim leert sein Glas auf einen Zug; sie trinkt in spatzenhaften Zügen und schüttelt sich nach jedem Schluck. Plötzlich prustet sie los. „Ich seh wieder den Kerl vor mir, als Bruder Mahmud ihm die Fritten wegfraß. So ein dummes Gesicht hab ich lange nicht mehr gesehen! Gottseidank hat der Kerl keinen Krach geschlagen. Ein Handgemenge oder Ärgeres hätte unseren schönen Plan über den Haufen geworfen.“
    „Es kam zu Überraschend. Das ist ja das Gute an der Überraschung. Weil man nicht darauf vorbereitet ist, fällt einem zunächst nichts Passendes ein.“
   „Stets findet Überraschung statt, wenn man nichts auf Lager hat.“
    „Ist der von dir?“
   „Nee, von meinem Herrn Vater. Sagte er immer, wenn ihm nichts einfiel. Und das fand ziemlich häufig statt. Ähem . . . Woher wusstest du eigentlich, dass unter der Grabplatte ein Geheimgang liegt?“
   „Na woher wohl? Von einem Maulwurf. Einer unserer Leute, der dort den Friedhofsgärtner macht, hat´s mir geflüstert. Ein alter Judengang. Wenn der olle Kaiser den Friedhof betrat, mussten diese Leute möglichst schnell verschwinden. Sagt er.“
   „Der Kaiser?“
   „Nein, der Maulwurf.“
   „Aha! Und von der Tür im toten Winkel?“
   „Von einem anderen Maulwurf.“
   „Na klar! In Berlin wimmelt´s von Maulwürfen, besonders in der Nähe von Friedhöfen.“
   „Willst du nun zuhören, oder nicht?“
   „Okay, okay.“
  „Ich ließ den Gang erkunden, und siehe da, er endete genau am alten Umspannwerk. Alles weitere war eine Sache von Spitzhacke und Schaufel. Immer, wenn im Lokal der Bär tanzte, schaufelten meine Leute den Schutt weg und trugen das Mauerwerk zum Keller soweit ab, bis es nur noch hauchdünn war und leicht eingedrückt werden konnte. Zum Schluss reichte ein Daumendruck.“
   Erika wechselt das Sitzbein, wobei sich ihr Bademantel in verlockender Weise öffnet. „Wenn ich nur wüsste“, sinniert sie, „wer von den drei Opas meiner ist.“  
   „Du meinst Rhawshad Khan alias –“
   „Genau den meine ich.“ Abdelkarims Finger berühren Erikas Knie. „Seit zweieinhalb Jahren lauf ich hinter dem Kerl her, und wenn ich schon meine, das ist er, dann ist er´s doch nicht. Es ist zum Heulen.“
   Seine Finger kneten ihren Oberschenkel.
   „Untersteh dich, Freundchen! Bis hierher und nicht weiter!“
  „Du bist dem Kerl immer noch böse?“
   Sie stößt die Hand weg und springt auf. „Böse? Hach, du . . . du . . . armseliger . . . Nein, ich bin ihm nicht böse! Ich hasse ihn, ich hasse ihn, ich hasse ihn!“, bricht es aus ihr heraus, „die Kanalratte wird nicht eher ruhen, bis sie ihn gefunden und erledigt hat!“ Das Sektglas zersplittert an der Wand. „Und wenn ich dazu über ein Dutzend Leichen gehen muss!“, brüllt sie.
   Abdelkarim, begütigend: „Davon wird auch nichts besser, nur du wirst zur Mörderin.“
   Sie verdreht die Augen. „Mein Gott, was bist du bloß für ein lahmer Lutscher! Und so etwas hätte ich fast geheiratet! Raus aus meinem Bett!“
   Er blickt sie entgeistert an, rührt sich aber nicht.
   „Hast du nicht gehört“, schreit sie, „RAUS AUS MEINEM BETT!“ Mit der Geschwindigkeit eines Kampffrettchens geht sie in die Knie, greift unter die Liege, eine Pistole glänzt auf. „Ich zähle bis drei. Eins . . . Zwei . . .“ Sie lädt durch.
   „Lass das zählen“, sagt Abdelkarim unbeeindruckt, „das brachte schon gestern nichts. Hör lieber zu. Ich weiß, wer von den drei Opas Rhawshad Khan ist.“
   Sie lässt die Waffe sinken. „Wer?“
   „Der Opa mit dem Glasauge, oder besser mit dem –“
   Die Pistole fährt hoch. „Glasauge? Willst du mich verarschen?“  
   „Nein. Dazu bist du mir in diesem Moment nicht sympathisch genug. Ich will dir erklären, woran ich ihn erkannt habe, und wo du ihn finden kannst.“
  
                                                                         8
   Die Pranke des Innensenators knallt heftig auf den Tisch: Frau Kanopke, die das Lauschen nicht lassen kann, prallt erschreckt zurück.
   „Da haben Sie aber einen gewaltigen Bock geschossen, Slavonka!“, röhrt der Gewaltige. „Mir kam die Sache gleich zu risikobehaftet vor. Aber Sie wollten ja unbedingt. Jetzt lacht sich die halbe Republik halb tot, und raten Sie mal, auf wessen Kosten.“
   „Konnte ich den ahnen, dass es eine offenbar noch intakte Rohrpostleitung ins Rote Rathaus gibt? In der Karte war keine verzeichnet.“
   „Und die Bande ist über alle Berge. Und wo sie geblieben ist, wissen Sie auch nicht.“
   „Doch! Auf dem St. Petri-Luisenstädter-Friedhof. Ich lasse den Gottesacker gerade gründlich nach unentdeckten Fluchttunneln untersuchen. Möglicherweise gibt es da einen, der noch nicht einmal der STASI bekannt war.“ “
   „Schlecht, ganz schlecht.“
   Stinkan steht auf und schleicht zur Tür. „Irgendjemand muss die Sache durchgestochen haben, denn außer uns beiden wusste doch niemand Bescheid!“
   „Die beiden Beamten, die das Gas eingefüllt haben“, gesteht der Kommissar kleinlaut. „Sie sind zwar schlecht bezahlt, können aber trotzdem zwei und zwei zusammenzählen. Darf ich bei dieser Gelegenheit, Herr Senator, höflich anfragen, warum Sie die laufenden Tarifgespräche mit der Polizeigewerkschaft seit Wochen blockieren –“
   Stinkan braust auf. „Wie? Was? Ich blockiere? Unsinn! Ich blockiere nicht. Ich verteile nur nicht, was ich nicht habe! An Ihrer Stelle, Herr, würde ich jetzt mal ganz schön leise treten.“
   Er reißt die Tür auf. „Ah, Frau Kanopke! Gut, dass Sie schon da sind, dann muss ich nicht so brüllen! Hier –“ er überreicht ihr zwei Schriftstücke – „das ist für die Abendpost, und das hier ist für die „BLIND“-Zeitung. Schicken Sie das Zeug an die entsprechenden Redaktionen – sofort.“
   Frau Kanopke geht steifbeinig ab.
   „Wollen Sie wissen, was da drin steht?
   „N-nicht wirklich. Ich bin Polizist, kein Politiker.“
   „Ich sag´s Ihnen trotzdem. Ich habe auf die Bedeutung des Rohrpostprinzips in Zeiten allgegenwärtiger terroristischer Bedrohung hingewiesen und auf dessen Vorteile gegenüber elektronischer Nachrichtenübermittlung. Da kann nichts mitgehört,  abgefangen, gehackt werden. Sogar ein Stromausfall wäre völlig unbedeutend, gesetzt, es ist genug Pressluft da. Verstehen Sie? Ich wandle einen offensichtlichen Fehlschlag in eine Zukunftsvision um, und den möchte ich sehen, der mir dann noch einen Strick drehen kann. Und weil es schon heute Mittag in der Zeitung steht, wird mir diese Idee auch keiner wegnehmen!“
   Stinkan reibt sich vergnügt die Hände. „Nun zu Ihnen, Herr Hauptkommissar Slavonka. Hand auf´s Herz. Sie haben grandios versagt und mich der Lächerlichkeit preisgegeben. Was halten Sie von einer angemessenen Gehaltskürzung?“ Plötzlich brüllt er vor Lachen. „Ihr Gesicht hätten Sie gerade sehen sollen!“, japst er, „einfach umwerfend. Jaja, zum Gelde drängt, am Gelde hängt doch alles . . . Oder heißt es zum Weibe? Ist auch egal.“ Er geht auf Slavonka zu und berührt ihn freundschaftlich am Arm. „So, nun sind wir Quitt. Keine Angst, ich nehme Ihnen nichts. Sie hatten Ihre Schrecksekunde gerade, ich heute morgen, als ich die Zeitung aufschlug.“

                                                                     9
   „Als die drei Greise mit den Augen rollten“, sagt Abdelkarim und steigt in die Hosen, „war ich genau so überrascht wie du. Ein Glasauge rollt doch nicht! Sollte sich Nazrullah – Gott sei seiner Seele gnädig – doch geirrt haben? Aber er hatte doch mehrfach versichert, einer der drei habe ein künstliches Auge, und bisher hatten sich Nazrullahs Tipps immer als richtig erwiesen. Also setzte ich mich vor einen unserer Computer und surfte etwas herum. Und siehe da, ich wurde fündig. Von wegen Glasauge! Vergiss es! Heutzutage sind solche Prothesen kleine Wunderwerke der Bionik, sie bestehen auch nicht aus Glas, sondern aus einem speziellen Kunststoff. Sie sehen täuschend echt aus, du kannst mit ihnen weinen, du kannst sie verdrehen, du kannst, wenn dir danach ist, mit ihnen verliebte Äugelchen machen, sie können blinzeln – nur eines können sie nicht . . . äh . . . Hast du irgendwo meinen Gürtel gesehen?“
   Erika knöpfte sich gerade die Bluse zu. „Nu mach´s nicht so spannend, Alter!“
   „Schön. Ich dachte also ein wenig nach – Herrgottnochmal, wo ist denn dieser bescheuerte Ärmel geblieben? Eben war er doch noch . . . Kannst du vielleicht mal –“
   Die Pistole schnellte vor. „Noch so eine Albernheit, Kerl, und du brauchst kein Hemdärmel mehr!“
   „Schon gut, schon gut, alte Kanalratte! Ich sag´s ja jetzt. Also. Ich sah den Greisen in die Augen, und tatsächlich, was glaubst du, was ich da sah?“
   „Grrrr!“
   „Einer hatte zwei verschieden große Pupillen.“
   „Na und?“
   „Diese Kunstaugen besitzen keinen Irisreflex, das heißt, ihre Pupillen sind immer gleich weit, egal, wie stark das Licht ist, im Unterschied zu einem lebenden Auge. Und das Licht war stark, denn es stammte von meiner Taschenlampe. Daraufhin gab der Greis zu, Rhawshad Khan alias –“
   „Und wo finde ich ihn?“
   „In seiner Klause.“

Ende folgt

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Beitrag09.07.2023 12:56

von wunderkerze
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   Friedrichshain, Kleiner Bunkerberg                                                              
   Scheich Omar al-Sheik bin Ajay alias Rawshad Khan, der Chef der versprengten Terrorgruppe „Seif-al-Islam – Schwert des Islam“ – sitzt beim trüben Licht einer Kerze in seiner Klause zehn Meter unter der Erdoberfläche und wartet. Er wartet auf seinen Todesengel, der jede Minute eintreffen kann. Damit ihm die Zeit nicht lang wird, greift er in sein Bücherbord und zieht ein Buch mit alten religiösen Schriften heraus, eine Textsammlung um Paradies, Hölle, Tod, Auferstehung, Wiederkunft. Obwohl es zum genauen Lesen nicht hell genug ist und er sowieso jeden Buchstaben auswendig kennt, verleiht ihm die dunkle Vollkommenheit des arabischen Schriftbildes innere Ruhe, und allmählich nimmt die uralte Erzählung in seinem Kopf wieder Gestalt an.  
   . . . der Gesandte Allahs, Allahs Segen und Heil auf ihm, sagte: „Der Todesengel wurde zu Musa (Moses), Allahs Heil auf ihm, geschickt. Als er zu ihm kam, verpasste dieser ihm einen kräftigen Hieb und zerstörte dabei eines seiner Augen. Der Engel kehrte zu seinem Herrn zurück und sagte: „Du hast mich zu einem Deiner Diener gesandt, aber er will nicht sterben!“ Da gab Allah dem Engel sein Auge zurück . . .
   Der Mann, der sich Rawshad Khan nennt, lässt das Buch sinken und denkt nach.
   . . . und zerstörte dabei eines seiner Augen . . . Bedarf es da noch eines weiteren Beweises, dass ich ein Gesandter Gottes bin?
   . . . und dann gab Allah dem Engel sein Auge zurück . . .
   Nun gut, es ist kein richtiges Auge, und billig war es auch nicht, aber doch immerhin so täuschend echt, dass außer diesem Satansbraten Abdelkarim niemand dahinter gekommen ist. Und auch das mit dem Todesengel stimmt. Hat er nicht Dutzende von Feinden des Islam in die Hölle geschickt? Alles in allem: Die Parallelen sind zu verblüffend, um zufällig zu sein . . .
   Doch seit zwei Tagen weiß er, ein anderer Todesengel ist ihm auf den Fersen, stärker als er, von Allah geschickt, um ihn in die Arm der heiligen Zainab zu werfen. Irgendetwas hat er falsch gemacht. Nur was?
   Zuerst wollte es es nicht glauben. Eine Frau, dazu eine, die er noch nie gesehen hat! Doch als sie ihn dann vor zwei Tagen anbrüllte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Vor ihm stand die Reinkarnation des Oberst Weizenkorn! Es waren die gleichen hellblauen Augen, die ihn böse anstarrten, das gleiche herrische Kinn, das sich ihm entgegenstreckte, die gleiche teutonische Überheblichkeit, die aus ihrem Gebrüll sprach . . . Er wollte es nicht wahr haben.! Die ganze Zeit hat er sich gegen den Gedanken gesträubt, dieser Mann könne nicht wirklich tot sein! Und er IST nicht wirklich tot . . .
   Der Alte ballte die Hand zur kinderkleinen Faust . . .  
   Doch jetzt ist es Gewissheit! Da steht er, dieser Giaur, vor ihm in Gestalt seiner Tochter. Nicht ein Verräter aus den eigenen Reihen, nicht ein amerikanischer, syrischer, iranischer Geheimdienstler . . . Eine junge deutsche Frau ist sein Todesengel! Er – sie – hat ihn gefunden, trotz aller Reisefinten und wunderlicher Kostümierungen! Da wäre er in seinem Höhlensystem unter dem Kohn-i-Babd besser aufgehoben als in dieser feucht-kalten Bunkerruine!
   Heftiges Klopfen und Rufen an der Stahltür erschüttern die Ruhe der modernen Katakombe.
   Der Scheich lässt sich nicht stören. Weiter gleitet das Auge des Alten über die heiligen Buchstaben . . .   
    . . . und wenn die festgesetzte Stunde schlägt, so offenbare denn mit Gottes, des Allweisen, Erlaubnis, von den Gipfeln des Erhabensten, des Mystischen Berges einen schwachen, zarten Schimmer Deines undurchdringlichen Geheimnisses –
   Das Klopfen und Rufen wird stärker. Ein schwerer Gegenstand donnert mehrmals heftig gegen die Tür, die sich keinen Millimeter bewegt.  
   Und weiter schweift sein Geist durch die heiligen Worte . . .
   . . . dass sie, die Gerechten, die des Sinai strahlende Herrlichkeit erkennen, dahinschmelzen und sterben, sobald sie einen Funken des brennenden Lichts erhaschen, das Deine Offenbarung umhüllt . . .
  Ein Kichern löst sich aus einer mageren Brust. „Ja komm doch komm, du mein Engel“, höhnt er, „komm doch, wenn du kannst! Doch denke nicht, dass du stärker bist als ich! Denn wo ist deine strahlende Helligkeit? Wenn ich sterbe, dann sterbe ich als Gerechter in den Funken des brennenden Lichts und nicht in der Finsternis! Warum wohl sitzt ich beim trüben Schein einer Kerze? Den Tod fürchte ich nicht. Doch solange ich im Dunkeln sitze, bist du, mein Engel, machtlos!“
    Scheich Omar al-Sheik bin Ajay alias Rawshad Khan bläst die Kerze aus. Es ist wieder Ruhe eingekehrt, kein Rufen, Klopfen, Stoßen erschüttert die Stille.
   Der Scheich legt die Hände in den Schoß. Langsam versinkt er in somnambule Schwerelosigkeit.

   „Das Arschloch reagiert nicht“, faucht Erika in der ihr eigenen Art, „vielleicht ist er schon vor Angst gestorben.“
   „So schnell stirbt sich nicht“, antwortet Abdelkarim, „schon gar nicht vor Angst. Wovor sollte einer denn Angst haben, der den Tod nicht fürchtet?“
   Erika macht Anstalten, erneut gegen die Tür anzurennen.
   „Es hat keinen Zweck“, sagt er. „Eine Stahltür, die zehn Tonnen Dynamit fast unbeschädigt überstanden hat, bekommst du mit einer Eisenstange nicht klein. Warte . . . Ich hab da gerade eine Idee. Wie heißt es doch? Nur Diamant bricht Stahl. Ja, so könnte es gehen. Ich bin gleich wieder zurück!“

   Ein seltsam singend-sägendes Geräusch lässt ihn hochfahren. Benommen blickt er in die Finsternis. Für einen Moment ist ihm nicht klar, wo er sich befindet. In seiner Höhle unter dem Kohn-i-Babd? Oder etwa – nein, das kann nicht sein! Er ist ein Gerechter, und es steht geschrieben: „Nur denjenigen, die sich Gott und Seinem Gesandten widersetzen, ist das Feuer der Hölle bestimmt; darin werden sie auf ewig bleiben." Außerdem ist es dort nicht so kalt.
   Also, wo ist er?
   Das rasende singende Geräuscht scheint von der Tür her zu kommen. Der Scheich ist zwar ein religiöser Träumer und Fantast, aber trotzdem nicht aus der Welt gefallen. Sie  flexen die Tür auf, schießt es ihm durch den Kopf.
   Gebannt starrt er in Richtung Tür –  – da, ein erster Stern löst sich und verglimmt, dann noch einer, ein winziger glühender Halbmond erscheint und wird wird zur Scheibe, die sich mit rasender Geschwindigkeit dreht und durch die Türfüllung frisst. Noch wenige Sekunden, und die Funken des strahlenden brennenden Lichts fallen auf ihn! Da – eine zweite Scheibe erscheint, und eine ungeheure Kaskade herrlich sprühenden Lichts erhellt die Klause. Jetzt ist es nur noch eine Angelegenheit von wenigen Minuten, bis ein Loch in der Breite eines Menschen ausgefräst ist und der Engel eintreten kann.
    Scheich Omar al-Sheik bin Ajay alias Rawshad Khan richtet sich zu seiner ganzen Kleinheit auf. „O ihr Ungläubigen!“, ruft er in den Funkenregen hinein, „bildet euch doch nicht ein, ihr könntet mir noch irgendetwas anhaben! Ich bin der letzte wahre Kalif des Propheten und einer der größten Märtyrer, den Allahs Sonne beschienen hat!“ Offenbar hat er vergessen, dass er in seinem ganzen Leben kaum die Sonne gesehen hat. „Obwohl du stärker bist als ich, du wirst mich nicht töten“ Er hält den Atem an, lange, unerträglich lange – ein Beben geht durch den zarten Körper – ein krampfartiges Zucken – jetzt wankt er und sinkt lautlos zu Boden.
   Die heilige Zainab, die Schutzpatronin der Märtyrer, breitet die
Arme aus.
Ende folgt

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Beitrag12.07.2023 10:18

von wunderkerze
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10
   Die Kugel hoch über dem Alex verkündet den Sieg des Kreuzes über die Sichel. Der Viertel-Mond hängt wie Sindbads Schiff im Morgendunst. Ja, das Kreuz, diese Lichtreflexion mit Schmunzelpotential. Oder wie die Westberliner damals höhnten: Die Rache des Papstes. Dafür, dass die DDR-Oberlinge die Kirchen unterdrückten. Stimmt. Aber die Kirchen gibt es immer noch, die DDR nicht mehr.  

  Im Dreh-Restaurant „Sphere“ des Berliner Fernsehturms, 9 Uhr 30.
   „Zehn Meter“, sagt Erika. Sie sitzt in Verlängerung der Sichtachse „Frankfurter Allee“ in 207 Meter luftiger Höhe und wartet auf das Frühstück. Drumherum schlichter Retro-Chic á-la 1970ger Jahre: Violette Sitzmulden, blank polierte Stahltische, minimalistische Tischleuchten. Wegen der frühen Stunde ist das Lokal nur schwach besetzt.
   „Zehn Meter? Wie kommst du darauf?“, fragt Abdelkarim.
   „Seit der Bestellung und jetzt sind zehn Minuten vergangen. In dieser Zeit bewegt sich das Restaurant –“
   Die Bedienung mit dem Frühstück tänzelt an, stellt die Teller ab und will wieder gehen.
  „Hey, wo bleibt der Kaffee?“, ruft Erika verblüfft.
  „Der is nich im Preis mit drin! Müssen Se extra bestellen, Frollein.“
   „Ach! Und dann neunzehn fuffzig! Ziemlich happig für nüscht!“
   „Pah!“
   Die Bedienerin dreht sich um und geht.
   „Reg dich nicht auf“, sagt Abdelkarim, „Towerfrühstück. Preise mit Höhenaufschlag. Dafür hast du ´ne super Aussicht mit Panoramablick.“
   „Ich reg mich auf, wann und wo ich will! Wenn jetzt auch noch der Lachs nicht mehr frisch ist, schrei ich die Bude hier zusammen!“
   Doch der Zorn ist schnell verraucht. „Holst du mir noch einen O-Saft, Schmusekater? Der Lachs ist okay!“
   „Was meinst du, woran ist der Scheich gestorben, wenn nicht vor Angst?“ Erika schiebt ihren Teller mit dem halben Brötchen und der angeschmolzenen Butter beiseite. „Ist mir immer noch ein Rätsel, der Mann. Tags zuvor wirkte er doch noch putzmunter. Dann stirbt er mir einfach unter den Fingern weg, das Aas.“
   „Ich denke mal, sein Herz hat aufgehört zu schlagen.“
   „Arschloch! SO SCHLAU BIN ICH AUCH! Aber was war die Ursache, der Grund?“
   „Da könnte ich nur spekulieren.“
   „Dann spekulier doch mal, Herzass!“
   „Hmm . . . Nun ja . . . Ich habe mal von einem schwarzen Sklaven gelesen, der von seinem Herren geschlagen wurden und daraufhin über Nacht starb, obwohl die Verletzungen nicht tödlich waren. Die erlittene Schmach war offensichtlich so stark, dass er nicht mehr leben wollte. Wie er das anstellte, ist nach wie vor ein Rätsel.“
   „Du meinst, Rawshad Khan hat seinem Herzen einfach befohlen: Bleib stehen! Und es blieb stehen?“
   „Nicht unbedingt einfach. Möglicherweise aufgrund ungeheurer Willensanstrengung. Vom Typ her würde ich es ihm zutrauen. Ich hab ihn doch erlebt, mit welcher Unerbittlichkeit er die Brüder auf sein Projekt einschwor! Er war ein Fanatiker, der über Leichen ging. Notfalls über seine eigene.“
   „Apropos Brüder. Arbeiten sie noch an der Entwertung des Geldes?“
   „Ja.“
   Erika sitzt jetzt in der Sichtachse „Landsberger Allee“. Von Ferne grüßte das Hotel „Alexanderplatz“.
   „Und was hast du mit den beiden anderen Greisen vor?“
   „Kemal al-Libwani ist ein freier Mann und wird demnächst Asyl beantragen. Der dritte, dieser Batah Moghadat, ist bereits auf dem Weg zum Internationalen Strafgerichtshof  in Den Haag.“
   „Hoffentlich kommt er auch an.“
   „Der Flieger ist bereits seit zwei Stunden dort.“
   „Und Adamyan?“
   „Ist verschwunden.“
   Zwei Männer nähern sich dem Tisch. Erika reibt sich verwundert die Augen. „Ich glaub es nicht! Was wollt ihr beiden Lutscher denn hier?“
   „Dürfen wir platzen?“ Emil und Maxe, der „Lange Lulatsch“, setzten sich.
   „Du wolltest doch vor ein paar Tagen wissen, wer alles zu den Rächern gehört“, erklärt Abdelkarim. „Da sind sie!“
   Erika ist für den Moment sprachlos. Dann stammelt sie: „D-die? D-der Maxe? Hab ich da etwa unter der Laterne mit einem Mörder geknutscht?“
   „Nun tu mal nicht so!“, sagt Abdelkarim, „als wärst du ein reiner Engel!“
   Erika fährt hoch. „Was meinst du damit?“
   „Du hast den Hundertfünfundachtziger auf dem Gewissen, und wäre ich nicht dazwischengefahren, hättest du auch noch mindestens einen von den Greisen erschossen.“
   Sie entspannt sich. Gottseidank, keiner weiß, dass ich Rumpelstielschen heiß.
   „Und ich“, sagt Maxe, „war lediglich Verbindungsmann zur Ausländerbehörde. Ich bin klein, mein Herz ist rein.“
   „Und ich“, ergänzt Emil, „habe mit gezielten Falschinformationen dafür gesorgt, dass uns der Verfassungsschutz nicht die Tour vermasselte. Ich bin zwar ein Lügner, aber kein Schwein.“
   „Leider ist Nazrullah nicht mehr bei uns. Friede seiner Asche.“
   „Zweimal Kaffee und ein Lachsbrötchen!“, ruft Emil.
   „Macht achtzehn fuffzig!“, kommt es prompt zurück.
   „Die Arbeit der Brüder wirkt schon“, bemerkt der Lange Lulatsch und lacht trocken.
   „Ihr seid eingeladen!“, sagt Abdelkarim.
   „Die Firma dankt!“
   „Ja sind denn hier alle übergeschnappt?“, ruft Erika verzweifelt. Sie funkelt Abdelkarim böse an. „Grrr . . . Wegen diesem Schwachsinn zerrst du mich auf diesen blöden Telespargel! Du bist ein –“
   „Möglich. Vielleicht aber auch nicht. Die Zukunft wird´s erweisen.“
   „Frollein, zahlen!“, ruft Erika.
   „Du bist auch eingeladen“, sagt Abdelkarim.
   „Ich denk nicht dran! Die paar Kröten kann ich noch selber abdrücken.“
   „Mein Gott, Tarek“, mahnt Emil, „mach´s nicht so spannend. Sag´s ihr und jonglier jetzt keine rohen Eier.“
   Erika sieht ihn misstrauisch an. „Was soll er sagen?“
   „Er soll sagen“, sagt Abdelkarim, „dass er dich heiraten will.“
   Erika lacht schrill. „Ach nee! Wieder so eine Ehe auf Zeit, für ein, zwei Stunden, wie schon mal? Da soll er sich mal ne andere Dame suchen, der saubere Sexualkobold.“
   „Nein. Zunächst für neunundneunzig Jahre. Wenn das nicht reicht –“
   „Er meint es ernst“, sagt Maxe, „wir sind hier als Trauzeugen geladen.“
    Erika holt Lippenstift und Spiegel hervor und zieht sich die Lippen nach.
    „Was dem Soldaten sein Gewehr, das sind der Frau die spröden Lippen“, frotzelt Abdelkarim. „Reimt sich zwar nicht, aber –“
   „Wie meinst du das denn schon wieder?“
   „Na ja . . . Beide müssen regelmäßig gefettet werden, damit sie keine Ladehemmungen haben!“
   Anscheinend hat sie nicht verstanden, denn sie sagt nichts. Plötzlich stürzt sie sich auf ihn. „O du gemeiner Bock!“, ruft sie. „Na warte! Wenn wir erst verheiratet sind . . .“
  Doch ihre Lippen sprechen eine andere Sprache.

                                   ENDE

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