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RunaSomberg
Geschlecht:weiblichGänsefüßchen

Alter: 104
Beiträge: 27



Beitrag22.03.2008 23:03
Plüsch
von RunaSomberg
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Wo ist mein Kaninchen? Sie haben es mir doch geschenkt! Ich durfte es streicheln. Ich durfte es mit in mein Bett nehmen. Die Gitterstäbe waren doch eng genug, dass es nicht entkommen konnte. Gestern war es war es auch mal weg. Aber nicht so lange. Mutter es mir wiedergegeben. Sie sagte, dass sie Angst um mich gehabt hätte, weil das Kaninchen mich hätte ersticken können.
Das Kaninchen hat noch keinen Namen. Mutter hat mir versprochen, dass wir es bald taufen werden und dass wir zusammen einen schönen Namen dafür aussuchen werden. Das Fell ist so herrlich weich. Ich drücke immer meine Nase hinein. Es riecht nach nichts, was ich kenne. Angenehm, ich möchte nur noch das Kaninchen atmen. Es wackelt immer mit der Nase, als würde es damit zu mir sprechen. Nur seine Zähne mag ich nicht, die sind so lang und so einzeln. Vater mag das Kaninchen, glaube ich, nicht. Aber Vater hat ja auch soviel zu tun. Er geht morgens weg, wenn ich noch schlafe und kommt meistens erst wieder, wenn ich schon zu Bett gehen muss. Aber manchmal, wenn ich noch auf bin und Mutter vergessen hat, mich zu waschen und ins Bett zu bringen, dann nimmt er mich auf seinen Schoß und streichelt mir die Haare. Ich mag nur nicht, wenn er mit seinem Kinn über meine Wan¬gen streicht. Das kratzt so. Mutter sagt, er muss Brot und Kartoffeln besorgen, das sei im Mo¬ment harte Arbeit. "Ja, ja", sagte sie sinnierend "im Krieg hatten wir wenigstens mehr zu essen". Ich habe mich nicht getraut, Mutter weiter danach zu fragen. Sie hatte dabei ein Gesicht, das ganz weit weg war. Und sie hatte dabei solch große dunkle Augen. Wie mein Kaninchen.
Sie sind alle da. Es ist Weihnachten. Mutter trägt mich auf dem Arm, und ich darf am Weihnachts¬baum den kleinen Glasvogel anfassen. Er ist gelb, dünn und zart. Wenn ich puste, schaukelt er hin und her, als würde er fliegen. Großmutter, Großvater und Tante Rosi sind auch da. Tante Rosies Mann ist nicht dabei. Mutter sagt, dass er noch im Krieg ist. Tante Rosi hat ein schwarzes Kleid an. Sie sitzen alle um den großen Tisch mit der dicken zerkratzten Platte. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle und am Tisch hochziehe, kann ich den großen Siegelring an Opas Hand sehen. Tante Rosi hat jetzt sogar zwei Ringe an demselben Finger. Vater redet heute sehr laut. Manchmal grölt er dabei, und Großvater macht mit. In solchen Momenten gehe ich immer ganz schnell zu Mutter und verstecke mich in ihrer Schürze. Sie hält beide Hände um meinen Kopf. Dann ist es nicht mehr ganz so laut. Ich will mein Kaninchen wieder haben. Mutter sagt: "Du sollst aufhören, rumzunörgeln, sonst musst du ins Bett, du bekommst es später!".
Aus dem Backofen duftet es nach knusprig gebratenem Fleisch. Mutter stellt das Blech mit einem großen, braunen Braten auf den Tisch. Alle schauen mit freundlichen Augen das Fleisch an und sagen "Ah" und "Oh" und "wie das duftet!".
Ich habe keinen Hunger. Ich kann nichts essen. Die Großen sind allzu sehr mit dem beschäftigt, was auf ihrem Teller liegt, und merken es nicht. "Es ist richtig Weihnachten", sagen sie.
Ich will mein Kaninchen wieder haben. Und ich weiß gar nicht, wie es heißt, mein Kaninchen.

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Brynhilda
Felix Aestheticus

Alter: 44
Beiträge: 7748
Wohnort: Oderint, dum probent.


Edgar Allan Poe (1809 bis 1849) - Zum 200. Geburtstag
Beitrag23.03.2008 17:52

von Brynhilda
Antworten mit Zitat

Ich bin sprachlos.
Ich kann mich völlig mit der Ich-Erzählerin identifizieren.
Man möchte dem Kind fast gar nicht die Wahrheit sagen, obwohl es alles schon zu wissen scheint und offenbar alle Kräfte seiner Seele mobilisiert, um sich selbst zu belügen.

Viele Grüße,
Brynhilda
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Gabi
Geschlecht:weiblichReißwolf

Alter: 54
Beiträge: 1216
Wohnort: Köln


Beitrag23.03.2008 18:08

von Gabi
Antworten mit Zitat

Hallo Runa Somberg!

Der Text ist so schön und so traurig. Eine einzige Stelle stört mich ein wenig.

Zitat:
Es riecht nach nichts, was ich kenne. Angenehm, ich möchte nur noch das Kaninchen atmen.


Das beschreibst du zwar vollkommen richtig, aber wenn man seine Nase mal in das weiche Fell eines Kaninchens gesteckt hat, könnte man es anders beschreiben. Vielleicht so:

Es stinkt nicht, im Gegenteil es riecht so gut. So warm und sauber, dass ich nur noch seinen Geruch atmen möchte.

L.G.
Gabi


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"Das hier ist mein Dach und mein Tag!" (Oma Thea macht die Fliege)
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Locard
Geschlecht:männlichKlammeraffe

Alter: 36
Beiträge: 696
Wohnort: Münster


Beitrag23.03.2008 18:17

von Locard
Antworten mit Zitat

Mein Kaninchen roch immer ein wenig nach Stroh oder Heu ...
Eine wirklich schöne Geschichte, die ich dir gerne abnehmen. Es stimmt einfach alles! Eine tolle Atmosphäre! Der Stil passt auch zum Ich-Erzähler

Zitat:
Mutter es mir wiedergegeben

Hier fehlt bloß ein hatte  Wink

Aber sonst bekommst du von mir einen Daumen hoch !


_________________
"Komm, essen wir Opa!" - Pro Satzzeichen, denn sie retten Leben
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revilO
Geschlecht:männlichSchneckenpost
R

Alter: 32
Beiträge: 7



R
Beitrag23.03.2008 20:24

von revilO
Antworten mit Zitat

wirklich toll geschrieben!!
Icht dachte als, du löst die Sache am Ende auf, und bestätgst meine Vermutung. Aber so hast du es noch besser gelöst. Hat echt Spaß gemacht zu lesen...
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