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alegria
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Beitrag19.02.2018 17:04
Wäre dankbar für Kritik
von alegria
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Vollendet?

Fragte man sie, ob sie ihr Leben noch einmal genauso leben wollte wie es geschah, würde sie nicken, den Mund um die Dritten pressen, die ihr schon lange die nach und nach gezogenen Zähne ersetzen,  dazu die Finger heftig ineinander drehen und die Zehenspitzen in den Boden drücken. Gerade so wie sie es immer tut, wenn sie die Wahrheit verbergen möchte, doch ihr Körper nichts davon wissen will.

Bisher hat ihr allerdings niemand weder eine solche Frage gestellt noch irgendwelche Details aus ihrem Leben wissen wollen. Mag sein, dass der Bürgermeister fragen wird, wenn er den Strauß Blumen zum 100. bringt. Vielleicht wird er nicht nur Kuchen essen, Kaffee trinken und  schnell wieder verschwinden wie bei der Nachbarin im letzten Jahr. Es könnte immerhin sein, dass es ihn interessiert. Denkt sie, wider alle Erfahrung.

Vorsichtshalber wird sie sich um freundliche Antworten kümmern müssen. Sie will ihn ja nicht enttäuschen. Den Bürgermeister. Wenn er sich schon die Mühe macht.

Zum Grübeln bis zu diesem Tag hat sie noch knapp drei Jahre Zeit. Die schafft sie auch noch. Glaubt sie. Denn sie ist zäh. Zäh wie Kruppstahl hätte Paul gesagt. Damals als er noch lebte. Paul war ihr Mann. Beinahe der Einzige. Er war in beiden Kriegen. Die hat er überlebt. Das, was man dann Frieden nannte, hat er kaum bemerkt. Zu sehr tobte das Erlebte in ihm. Auch wenn er nie darüber sprach, verstand sie ihn. Auch heute noch.

Nur der Strick hätte  nicht sein müssen. Hätte er die Brücke genutzt, wäre den Kindern dieser Anblick erspart worden. Aber das konnte er wohl nicht bedenken im Nebel der nicht sterben wollenden Bilder in seinem Kopf. Sie versteht das. Er war eben nicht aus dem gleichen Holz wie sie, die in den Bombennächten die Kinder, Eltern und Schwiegereltern über Berge von Schutt und Toten dirigierte. Und all das erst einmal vergaß. Vergessen musste ob der Aufgaben, die ihr gestellt waren.

Dass der Hunger dieser Zeit sich für sie und die Ihrigen, dank ihres persönlichen körperlichen Einsatzes, in aushaltbaren Grenzen hielt und der Jüngste mit schwarzer Hautfarbe zur Welt kam, hat er ihr weder vorgeworfen noch verziehen. Er hatte andere Probleme und brauchte alle verbliebene Kraft für sein gestern, das ihm kein morgen erlaubte.

Sie selbst hätte sich wohl wieder an ihn gewöhnt. Da ist sie sich sicher. Den anderen Frauen ist das ja auch gelungen. Und nicht nur das.

Seit dem Sturz damals, lebt sie bei einem der Enkel und dessen Familie. Im Souterrain. Früher hätte man das Keller genannt. Doch heute gibt es neue Wörter. Dieses eine haben die Franzosen mitgebracht. Damals. So wie Trottoir. Aber das kennt heute niemand mehr.

Seit ein paar Jahren bringen sie ihr das Essen in ihre Kellerstube. Es ist immer genug. Das ist gut. Obwohl sie dafür nur ihre winzige Rente bekommen, geben sie ihr genug. Ein Dach über dem Kopf und Essen. Immer genug. Und immer isst sie alles auf. Auch das was ihr nicht schmeckt.

Gemeinsame Mahlzeiten gibt es auch oben nicht mehr. Zu unregelmäßig sind die Arbeitszeiten. Die Schule endet ebenfalls nicht mehr einheitlich.
Doch dem trauert sie nicht nach. Dem nicht. Beim Essen hat es ja häufig Streit gegeben. Laut und aggressiv war es. Oft. Lauter als es ihre Ohren vertrugen und aggressiver als es ihrem Herzen guttat. Oder liegt das doch am Cholesterin und dem Blutdruck, wie der Oberarzt, der ihr die Bypässe gelegt hat, damals vermutete?

Streit und Türenknallen hört sie jetzt nur noch von Ferne. Das Haus ist kaum hellhörig und sie selbst ist es sowieso nicht mehr. Manchmal setzt sich jemand am Abend einen Moment zu ihr. Dann richtet sie sich auf, spitzt die Ohren und konzentriert sich auf fast jeden Buchstaben aus dessen Mund.

Ein paar Worte über die Welt da draußen machen ihr Millionen neue Gedanken, die dann tagelang mit den altbekannten in ihrem Kopf Tango tanzen und ihr so die Zeit vertreiben, die sich von Tag zu Tag weiter und weiter dehnt. Mal umschließt sie nur „eben und jetzt“ oder „gestern und heute“. Oft enthält das „jetzt“ aber auch manchen Tag des vorigen Jahrhunderts. Manchmal kann sie beides nicht voneinander unterscheiden. Schon seit Jahren nicht mehr. Oder Tagen.

Lange schon hat sie keine Aufgabe mehr. Man traut ihr nichts mehr zu. Vielleicht zu Recht. Sie weiß es nicht. Hauptsache es gibt keinen Streit mehr. Jedenfalls nicht mit ihr. Nie wieder Krieg, hätte Paul gesagt. Auch nicht im Haus, hätte sie hinzugefügt.

Einer ihrer Urenkel heißt auch Paul, so wie sein Vater, dessen Vater und wiederum dessen Vater. Ihrem Paul. Eine der wenigen Traditionen, die sich gehalten haben. Sonst ist ja beinahe alles neu. Heute muss ja immer alles neu sein. Kaum noch etwas bleibt wie es war, wird erhalten oder gar repariert.

Sie selbst ist alt. Sehr alt mittlerweile. Mag sein, dass der Tod sie vergessen hat. Mag sein, dass sie den Tod doch noch fürchtet. Mag sein, dass sie leben will. Trotz allem.

Als Paul IV, wie sie den, ihr allerliebsten, Urenkel vor sich selbst nennt, aus Afghanistan zurückkehrt, erkennt sie ihn kaum wieder. Traumatisiert sei er, heißt es. Doch es sei gut, dass er lebendig zurück sei, sagen sie. Drei seiner Kumpels wurden im Sarg zurück gebracht. Sie werden gefeiert. Als Opfer. Opfer innerhalb einer Sache, die nach langem Ringen nun doch auch offiziell Krieg genannt wird.

Paul bekommt, wenn er will, therapeutische Hilfe. So wie alle anderen scheinbar lebendig Heimgekehrten heutzutage. Also alles kein Problem. Sagen sie. Nicht wie damals als alle ohne Hilfe da standen.

Sie selbst erträgt seinen Anblick nur mit Mühe. Einer vertrauten Mühe. Einer Mühe, die sie zwingt, kurz die Augen zu schließen. Sie erlebt einen langen Moment in dem sich die Bilder beider, gleichzeitig abgemagerter und aufgedunsener, Männerkörper übereinander legen. Niemals wird sie diese leeren Blicke vergessen. Niemals mehr wird sie diesen Blick vergessen. Auch mit wieder geöffneten Augen nicht.

Paul IV will Hilfe und begibt sich in die Obhut eines bundeswehreigenen Therapeuten. Einem jungen Mann mit guter Ausbildung, der in seinem Leben selbst noch niemals einen Toten gesehen hat und auch sonst in sehr behüteten Verhältnissen lebt.

Mit verschiedenen Methoden bemüht er sich, Paul zum Sprechen zu bewegen. Doch Paul spricht nicht. Nicht mehr über seine, auch monetären, Beweggründe für dieses Abenteuer. Und auch nicht über das Erlebte selbst. Nicht nur, weil er den jungen Mann verschonen will. Ihm fehlen schlicht die Worte. Und der Mut.

Natürlich fehlt Opfern der Mut von Tätern, denkt es im Takt eines sehr langsamen Walzers im Inneren des Hirns der alten Frau, als man ihr bei einem bis dato seltenen Festessen in den oberen Räumlichkeiten vom therapeutischen Misserfolg berichtet.

Paul selbst sitzt nun oft stundenlang bei ihr im Keller. Arbeitsunfähig auf unbestimmte Zeit. Psychopharmaka, Alkohol und Ähnliches lassen sich leicht besorgen. Der Bund zahlt reichlich.

Eines Tages hätte er beinahe sein Schweigen gebrochen. Eines Moments will er mit ihr, seiner Urgroßmutter ein wenig vom entstandenen Leid und der damit verbundenen Aussichtslosigkeit teilen. Beinahe wäre er über den Wall aus Angst und Panik geklettert, der nun schon so lange massiv und stabil sein Inneres beschützt. Beinahe. Im letzten Augenblick entdeckt er das Stoppschild in ihren Augen. Ein Schild am Tor. Am Tor zu ihrer Seele, wie man sagt. Eine Warnung, die sie selbst wohl kennt, aber nur bei anderen vermutete. Massiv. Stabil. Unmöglich zu Überwinden. Nicht nur weil ihm die Kraft dafür fehlt.

Als sie die kleine Meldung über den „Freitod“ eines jungen Mannes unter „Vermischtes“ liest, hört ihr Herz auf, zu schlagen. Einfach so, sagen sie.

Paul, der IV., hat sich von der Brücke in den Fluss fallen lassen.

Ende?

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hannahliebt
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H

Alter: 28
Beiträge: 9



H
Beitrag19.02.2018 18:07

von hannahliebt
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Liebe alegria,

vielen Dank, dass Du Deine Erzählung mit uns teilst! Ich schreibe Dir einfach ein paar kleine Gedanken direkt dazu:

Vollendet?

Fragte man sie, ob sie ihr Leben noch einmal genauso leben wollte wie es geschah, würde sie nicken, den Mund um die Dritten pressen, die ihr schon lange die nach und nach gezogenen Zähne ersetzen, dazu die Finger heftig ineinander drehen und die Zehenspitzen in den Boden drücken. Gerade so wie sie es immer tut, wenn sie die Wahrheit verbergen möchte, doch ihr Körper nichts davon wissen will.

Hier bin ich ein wenig über das "geschah" gestolpert im Lesefluss;vielleicht brauchst Du das gar nicht, ich denke, die Aussage ist auch ohne diese Ergänzung klar. Wie Du dann ihre Emotionen zeigst, finde ich sehr gelungen, obgleich ich eventuell bei den Zehen ein anderes Wort  wählen würde - "die Zehenspitzen in den Boden krampfen", vielleicht? Hmmm.


Bisher hat ihr allerdings niemand weder eine solche Frage gestellt noch irgendwelche Details aus ihrem Leben wissen wollen. Mag sein, dass der Bürgermeister fragen wird, wenn er den Strauß Blumen zum 100. bringt. Vielleicht wird er nicht nur Kuchen essen, Kaffee trinken und schnell wieder verschwinden wie bei der Nachbarin im letzten Jahr. Es könnte immerhin sein, dass es ihn interessiert. Denkt sie, wider alle Erfahrung.

Ich glaube, anstelle des "niemand" muss ein "jemand" stehen, da dann eine weitere Verneinung (weder/noch) folgt. "Denkt sie, wider alle Erfahrung." finde ich einen wundebraren Satz, der schon ihre Angst zeigt.

Vorsichtshalber wird sie sich um freundliche Antworten kümmern müssen. Sie will ihn ja nicht enttäuschen. Den Bürgermeister. Wenn er sich schon die Mühe macht.

Auch hier finde ich, baust Du Stimmung auf,  man beginnt zu erfassen, wie sie ihr Leben gelebt hat.

Zum Grübeln bis zu diesem Tag hat sie noch knapp drei Jahre Zeit. Die schafft sie auch noch. Glaubt sie. Denn sie ist zäh. Zäh wie Kruppstahl hätte Paul gesagt. Damals als er noch lebte. Paul war ihr Mann. Beinahe der Einzige. Er war in beiden Kriegen. Die hat er überlebt. Das, was man dann Frieden nannte, hat er kaum bemerkt. Zu sehr tobte das Erlebte in ihm. Auch wenn er nie darüber sprach, verstand sie ihn. Auch heute noch.

"Beinahe der Einzige" ist eine gut eingebaute Vorausdeutung und in der Untertreibung ein toller Ausdruck für ihr Empfinden, ihr Verdrängenwollen, nichtanderskönnen.

Nur der Strick hätte nicht sein müssen. Hätte er die Brücke genutzt, wäre den Kindern dieser Anblick erspart worden. Aber das konnte er wohl nicht bedenken im Nebel der nicht sterben wollenden Bilder in seinem Kopf. Sie versteht das. Er war eben nicht aus dem gleichen Holz wie sie, die in den Bombennächten die Kinder, Eltern und Schwiegereltern über Berge von Schutt und Toten dirigierte. Und all das erst einmal vergaß. Vergessen musste ob der Aufgaben, die ihr gestellt waren.

"Hätte er die Brücke genutzt" - vielleicht besser: Gewählt?
"...im Nebel der nicht sterben wollenden Bilder in seinem Kopf" das finde ich sehr einfühlsam beschrieben.

"...über Berge von Schutt und Toten dirigierte" - dirigiert hatte.

Dass der Hunger dieser Zeit sich für sie und die Ihrigen, dank ihres persönlichen körperlichen Einsatzes, in aushaltbaren Grenzen hielt und der Jüngste mit schwarzer Hautfarbe zur Welt kam, hat er ihr weder vorgeworfen noch verziehen. Er hatte andere Probleme und brauchte alle verbliebene Kraft für sein gestern, das ihm kein morgen erlaubte.

Ein richtig gelungener Absatz, Du sagst sehr viel zwischen den Zeilen.
"Dass der Hunger dieser Zeit sich für sie und die Ihrigen" - sie und die Ihren, denke ich. "Das ihm kein Morgen erlaubte" ist sehr eindrücklich.

Sie selbst hätte sich wohl wieder an ihn gewöhnt. Da ist sie sich sicher. Den anderen Frauen ist das ja auch gelungen. Und nicht nur das.

Seit dem Sturz damals, lebt sie bei einem der Enkel und dessen Familie. Im Souterrain. Früher hätte man das Keller genannt. Doch heute gibt es neue Wörter. Dieses eine haben die Franzosen mitgebracht. Damals. So wie Trottoir. Aber das kennt heute niemand mehr.

Seit ein paar Jahren bringen sie ihr das Essen in ihre Kellerstube. Es ist immer genug. Das ist gut. Obwohl sie dafür nur ihre winzige Rente bekommen, geben sie ihr genug. Ein Dach über dem Kopf und Essen. Immer genug. Und immer isst sie alles auf. Auch das was ihr nicht schmeckt.

Das vervollständigt das Bild ihres aktuellen Lebens sehr anschaulich. Auch, wie sehr sie immer noch unter allem leidet, auch wenn sie das selbst nicht sehen mag/kann.

Gemeinsame Mahlzeiten gibt es auch oben nicht mehr. Zu unregelmäßig sind die Arbeitszeiten. Die Schule endet ebenfalls nicht mehr einheitlich.
Doch dem trauert sie nicht nach. Dem nicht. Beim Essen hat es ja häufig Streit gegeben. Laut und aggressiv war es. Oft. Lauter als es ihre Ohren vertrugen und aggressiver als es ihrem Herzen guttat. Oder liegt das doch am Cholesterin und dem Blutdruck, wie der Oberarzt, der ihr die Bypässe gelegt hat, damals vermutete?

Streit und Türenknallen hört sie jetzt nur noch von Ferne. Das Haus ist kaum hellhörig und sie selbst ist es sowieso nicht mehr. Manchmal setzt sich jemand am Abend einen Moment zu ihr. Dann richtet sie sich auf, spitzt die Ohren und konzentriert sich auf fast jeden Buchstaben aus dessen Mund.

Ein paar Worte über die Welt da draußen machen ihr Millionen neue Gedanken, die dann tagelang mit den altbekannten in ihrem Kopf Tango tanzen und ihr so die Zeit vertreiben, die sich von Tag zu Tag weiter und weiter dehnt. Mal umschließt sie nur „eben und jetzt“ oder „gestern und heute“. Oft enthält das „jetzt“ aber auch manchen Tag des vorigen Jahrhunderts. Manchmal kann sie beides nicht voneinander unterscheiden. Schon seit Jahren nicht mehr. Oder Tagen.


Wie sehr sie auf Menschen, Erzählungen wartet, ist unglaublich traurig und schön beschrieben. Diese sich-verlieren.


Lange schon hat sie keine Aufgabe mehr. Man traut ihr nichts mehr zu. Vielleicht zu Recht. Sie weiß es nicht. Hauptsache es gibt keinen Streit mehr. Jedenfalls nicht mit ihr. Nie wieder Krieg, hätte Paul gesagt. Auch nicht im Haus, hätte sie hinzugefügt.

Ihr innerste Motivation,die ihre Fügsamkeit anders beleuchtet.

Einer ihrer Urenkel heißt auch Paul, so wie sein Vater, dessen Vater und wiederum dessen Vater. Ihrem Paul. Eine der wenigen Traditionen, die sich gehalten haben. Sonst ist ja beinahe alles neu. Heute muss ja immer alles neu sein. Kaum noch etwas bleibt wie es war, wird erhalten oder gar repariert.

Sie selbst ist alt. Sehr alt mittlerweile. Mag sein, dass der Tod sie vergessen hat. Mag sein, dass sie den Tod doch noch fürchtet. Mag sein, dass sie leben will. Trotz allem.

Ein richtig richtig toller Absatz. Mein liebster, glaube ich.

Als Paul IV, wie sie den, ihr allerliebsten, Urenkel vor sich selbst nennt, aus Afghanistan zurückkehrt, erkennt sie ihn kaum wieder. Traumatisiert sei er, heißt es. Doch es sei gut, dass er lebendig zurück sei, sagen sie. Drei seiner Kumpels wurden im Sarg zurück gebracht. Sie werden gefeiert. Als Opfer. Opfer innerhalb einer Sache, die nach langem Ringen nun doch auch offiziell Krieg genannt wird.

Ich finde es toll, wie Du die Parallelen der beiden "Pauls" konstruierst. Gerade weil die Protagonistin ja die Erlebnisse ihres Urenkels mit denen ihres Mannes, ihren eigenen Erlebnissen vermischt, vergleicht, verbindet, war für mich die Bebennung in "Paul IV" aber eher etwas, das mich aus diesem Verweben beider Geshcichten herausgerissen hat. Sie zu verwechseln könnte für uns Lesende zwar erst verwirrend sein, führt aber dann ja noch näher an die Wahrnehmung der Protagonisitn heran, für die auch alles ineinanderfließt. Was meinst Du?


Paul bekommt, wenn er will, therapeutische Hilfe. So wie alle anderen scheinbar lebendig Heimgekehrten heutzutage. Also alles kein Problem. Sagen sie. Nicht wie damals als alle ohne Hilfe da standen.

"scheinbar lebendig Heimgekehrten" sehr anschaulich, ich mag auch das "Sagen sie."

Sie selbst erträgt seinen Anblick nur mit Mühe. Einer vertrauten Mühe. Einer Mühe, die sie zwingt, kurz die Augen zu schließen. Sie erlebt einen langen Moment in dem sich die Bilder beider, gleichzeitig abgemagerter und aufgedunsener, Männerkörper übereinander legen. Niemals wird sie diese leeren Blicke vergessen. Niemals mehr wird sie diesen Blick vergessen. Auch mit wieder geöffneten Augen nicht.

Den Absatz mag ich sehr, wie alles veschwimmt.

Paul IV will Hilfe und begibt sich in die Obhut eines bundeswehreigenen Therapeuten. Einem jungen Mann mit guter Ausbildung, der in seinem Leben selbst noch niemals einen Toten gesehen hat und auch sonst in sehr behüteten Verhältnissen lebt.

Mit verschiedenen Methoden bemüht er sich, Paul zum Sprechen zu bewegen. Doch Paul spricht nicht. Nicht mehr über seine, auch monetären, Beweggründe für dieses Abenteuer. Und auch nicht über das Erlebte selbst. Nicht nur, weil er den jungen Mann verschonen will. Ihm fehlen schlicht die Worte. Und der Mut.

Hier könnte ich mir gut noch einen Bezug zum anderen Paul vorstellen. Hat er über Erlebtes, Schreckliches gesprochen?

Natürlich fehlt Opfern der Mut von Tätern, denkt es im Takt eines sehr langsamen Walzers im Inneren des Hirns der alten Frau, als man ihr bei einem bis dato seltenen Festessen in den oberen Räumlichkeiten vom therapeutischen Misserfolg berichtet.

"denkt es im Takt eines sehr langsamen Walzers im Inneren des Hirns der alten Frau" - "denkt es" finde ich nicht ganz stimmig, sie selbst denkt ja, vielleicht eher: Die Gedanken der alten Frau tanzen im Takt eines sehr langsamen Walzers im Inneren ihres Hirns - natürlich fehlt Opfern der Mut von Tätern, denkt sie.

Wer sind hier die Täter?  War der erste Paul ein Täter, ein Opfer, ist man nicht immer beides? Spannend!

Paul selbst sitzt nun oft stundenlang bei ihr im Keller. Arbeitsunfähig auf unbestimmte Zeit. Psychopharmaka, Alkohol und Ähnliches lassen sich leicht besorgen. Der Bund zahlt reichlich.

Eines Tages hätte er beinahe sein Schweigen gebrochen. Eines Moments will er mit ihr, seiner Urgroßmutter ein wenig vom entstandenen Leid und der damit verbundenen Aussichtslosigkeit teilen. Beinahe wäre er über den Wall aus Angst und Panik geklettert, der nun schon so lange massiv und stabil sein Inneres beschützt. Beinahe. Im letzten Augenblick entdeckt er das Stoppschild in ihren Augen. Ein Schild am Tor. Am Tor zu ihrer Seele, wie man sagt. Eine Warnung, die sie selbst wohl kennt, aber nur bei anderen vermutete. Massiv. Stabil. Unmöglich zu Überwinden. Nicht nur weil ihm die Kraft dafür fehlt.

Man leidet richtiggehend mit beiden.

Als sie die kleine Meldung über den „Freitod“ eines jungen Mannes unter „Vermischtes“ liest, hört ihr Herz auf, zu schlagen. Einfach so, sagen sie.

"Einfach so, sagen sie", vielleicht noch genauer: sagen sie später.

Hier bin ich inhaltlich unsicher. In der Regel wird in der Presse auf Berichterstattung über Suizide (Berühmtheiten bilden Ausnahmen) verzichtet, um Menschen in suizidalen Krisen nicht zur Nachahmung "anzuregen"... Ich weiss also nicht, ob sie diese Zeile in dieser Form drucken würden.
Vielleicht kannst Du alternativ überlegen: Als sie ihr sagen, dass er nie mehr wiederkommen wird, hört ihr Herz..." ... oder so etwas?

Ich finde fast, dass der Satz mit ihrem stehenbleibenden Herzen und dem "einfach so, sagen sie", ein gelungenerer Schluss ist, ohne den erklärenden Nachsatz...
Man weiss auch so, was furchtbares geschehen ist und die Geschichte "stirbt" quasi mit der Protagonistin, endet mit diesem Schock. Andererseits verstehe ich gut, dass Du die Brücke als Verknüpfung zum ersten Paul nochmal einbringen magst.

Paul, der IV., hat sich von der Brücke in den Fluss fallen lassen.

Ende?


Mir gefällt Dein Schreibstil sehr, ich finde, dass Du sehr einfühlsam Stimmung aufbaust und gleichzeitig durch das bisweilen sprunghaft-abbrechende und kreishafte gut die Gedanken der Protagonistin abbildest, auch ihre Härte. Ich fand Deinen Text sehr berührend und schön.

Liebe Grüße
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alegria
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Beitrag19.02.2018 19:25

von alegria
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Liebe hannahliebt,

ich bin platt. Dass du dich so schnell und so detailliert mit dem Text befasst hast ist ja kaum zu glauben. Ganz herzlichen Dank! Deine Anmerkungen sind enorm wertvoll für mich.

Hier bin ich ein wenig über das "geschah" gestolpert im Lesefluss;vielleicht brauchst Du das gar nicht, ich denke, die Aussage ist auch ohne diese Ergänzung klar. Wie Du dann ihre Emotionen zeigst, finde ich sehr gelungen, obgleich ich eventuell bei den Zehen ein anderes Wort  wählen würde - "die Zehenspitzen in den Boden krampfen", vielleicht? Hmmm.

- Das "geschah" als Verstärkung gefällt mir im Moment noch ganz gut (denke aber drüber nach)
- "die Zehenspitzen in den Boden krampfen" gefällt mir besser ... das übernehme ich

"Hätte er die Brücke genutzt" - vielleicht besser: Gewählt?
ja, besser. Ändere ich.

..über Berge von Schutt und Toten dirigierte" - dirigiert hatte.
Danke!

"Dass der Hunger dieser Zeit sich für sie und die Ihrigen" - sie und die Ihren, denke ich.
Danke!

Ich finde es toll, wie Du die Parallelen der beiden "Pauls" konstruierst. Gerade weil die Protagonistin ja die Erlebnisse ihres Urenkels mit denen ihres Mannes, ihren eigenen Erlebnissen vermischt, vergleicht, verbindet, war für mich die Bebennung in "Paul IV" aber eher etwas, das mich aus diesem Verweben beider Geshcichten herausgerissen hat. Sie zu verwechseln könnte für uns Lesende zwar erst verwirrend sein, führt aber dann ja noch näher an die Wahrnehmung der Protagonisitn heran, für die auch alles ineinanderfließt. Was meinst Du?
Ja, ich meine, du hast Recht. Kann sein, dass ich mich von dem "IV" trenne. Ich werde es ausprobieren ...

"denkt es im Takt eines sehr langsamen Walzers im Inneren des Hirns der alten Frau" - "denkt es" finde ich nicht ganz stimmig, sie selbst denkt ja, vielleicht eher: Die Gedanken der alten Frau tanzen im Takt eines sehr langsamen Walzers im Inneren ihres Hirns - natürlich fehlt Opfern der Mut von Tätern, denkt sie.
Das ist ähnlich wie: das Leben geschah ... kann sein, dass auch die Gedanken, die sie meint aktiv zu denken, sich einfach denken?

"Einfach so, sagen sie", vielleicht noch genauer: sagen sie später.
Ja. schöner, danke!

Hier bin ich inhaltlich unsicher. In der Regel wird in der Presse auf Berichterstattung über Suizide (Berühmtheiten bilden Ausnahmen) verzichtet, um Menschen in suizidalen Krisen nicht zur Nachahmung "anzuregen"... Ich weiss also nicht, ob sie diese Zeile in dieser Form drucken würden.
Vielleicht kannst Du alternativ überlegen: Als sie ihr sagen, dass er nie mehr wiederkommen wird, hört ihr Herz..." ... oder so etwas?

Ich glaube schon, solche Notizen gelesen zu haben (immer mit dem Nachsatz: wenn sie selbst suizidale Absichten haben, dann .... Hilfe dort).
Werde aber deine Idee noch einmal bewegen ...


Ich finde fast, dass der Satz mit ihrem stehenbleibenden Herzen und dem "einfach so, sagen sie", ein gelungenerer Schluss ist, ohne den erklärenden Nachsatz...
Man weiss auch so, was furchtbares geschehen ist und die Geschichte "stirbt" quasi mit der Protagonistin, endet mit diesem Schock. Andererseits verstehe ich gut, dass Du die Brücke als Verknüpfung zum ersten Paul nochmal einbringen magst.

Ja. Deine Version des Endes ist vermutlich schöner und vor allem mutiger als meine. Aber du hast schon richtig erkannt, im Moment hänge ich an der Klammer zum 1. Paul, bzw. der Benennung derselben. Aber auch das werde ich überlegen.

Ganz herzlichen Dank für deine Mühe. Deine Anmerkungen, Verbesserungen und Fragen sind mir eine große Hilfe und auch Freude (wie ich erstaunt feststelle).

Herzliche Grüße
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Beitrag19.02.2018 20:43

von jon
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Hallo alegria,

auch mir gefällt der Sound dieses Textes sehr gut. Er ist recht gleichförmig, was bei einem längeren Text problematisch wäre, hier aber gut zum Inhalt - permanent kontrollierte bzw. unterdrückte Emotionen - passt.

Es gibt ein paar kleine Details, die man ausbessern müsste (einiges hat hannaliebt schon genannt); bevor ich die rauspuhle, möchte ich aber etwas zum Bau der Story sagen:

Die Sache mit dem 100. Geburtstag stört (mich). Zum einen führt sie in die Irre (die 100 ist noch lange nicht da), zum anderen hat sie mit der eigentlichen Story nichts zu tun.  

Am Ende steht, dass sie die Nachricht in der Zeitung liest - im ganzen Text steht aber nichts davon, dass sie Zeitung liest. Sie scheint im Gegenteil völlig abgeschnitten von der Welt zu sein und zwar echt, nicht nur, weil sie das, was sie hört/liest, nicht mehr versteht. (Auch Fernsehen und Radio finden nicht statt. Müssen sie auch nicht, ich will nur drauf hinweisen, was der Text vermittelt.)

Mir erscheint die ausführliche Beschreibung des Sich-Verstellens am Anfang zu überzogen. (Auch der Point of View ist hier verletzt.) Wenn sie so kämpfen muss, dann macht das die im Folgenden erzählte Duldsamkeit ein bisschen unglaubwürdig. Es wäre was anderes, wenn der Text damit enden würde, dass sie endlich doch mal "explodiert" oder zumindest nicht mehr klaglos duldet.


Meckerei an Details liefre ich gern nach, wenn gewünscht. wink

Gruß von
jon


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alegria
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Beitrag19.02.2018 21:33

von alegria
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Hallo Jon,

herzlichen Dank für deine Anmerkungen. Hier meine spontanen Gedanken dazu ...

Zitat:
Die Sache mit dem 100. Geburtstag stört (mich). Zum einen führt sie in die Irre (die 100 ist noch lange nicht da), zum anderen hat sie mit der eigentlichen Story nichts zu tun.


Das mit dem 100. Geburtstag, der noch lange nicht erreicht ist, hat für mich insofern mit der Story zu tun, als es die passive Duldsamkeit, das Aushalten all dessen, was das Leben ihr bietet, aus der Vergangenheit und Gegenwart noch in die Zukunft trägt, also verstärkt. Ich kann aber verstehen, dass das irritiert. Ich überdenke das noch einmal.


Zitat:
Am Ende steht, dass sie die Nachricht in der Zeitung liest - im ganzen Text steht aber nichts davon, dass sie Zeitung liest. Sie scheint im Gegenteil völlig abgeschnitten von der Welt zu sein und zwar echt, nicht nur, weil sie das, was sie hört/liest, nicht mehr versteht. (Auch Fernsehen und Radio finden nicht statt. Müssen sie auch nicht, ich will nur drauf hinweisen, was der Text vermittelt.)

Ja. Das bedarf ganz klar einer Änderung!

Zitat:
Mir erscheint die ausführliche Beschreibung des Sich-Verstellens am Anfang zu überzogen. (Auch der Point of View ist hier verletzt.) Wenn sie so kämpfen muss, dann macht das die im Folgenden erzählte Duldsamkeit ein bisschen unglaubwürdig. Es wäre was anderes, wenn der Text damit enden würde, dass sie endlich doch mal "explodiert" oder zumindest nicht mehr klaglos duldet.

Ich kenne einige Frauen dieser Generation, die sich in dieser "immer den Blick auf den anderen gerichteten" Art verstellen, sich selbst verleugnen und niemals explodieren würden und es tatsächlich auch nicht tun. Diese Verhaltensweise ermöglicht ja erst "den Rest" der Geschichte (jedenfalls aus meiner Sicht)

Zitat:
(Auch der Point of View ist hier verletzt

Da wäre ich dir dankbar, wenn du mir das am Text zeigen könntest, damit ich das erkennen und ändern kann.

Zitat:
Meckerei an Details liefre ich gern nach, wenn gewünscht.

Wäre mir eine große Hilfe und fände ich super.

Herzliche Grüße
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Beitrag19.02.2018 23:29

von jon
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Hallo alegria,

zur Sache mit der Duldsamkeit: Ja, diese Typen gab und gibt es, gerade in dieser Generation. Was ich meine, ist, dass so eine Frau mit 97 diese Haltung so extrem verinnerlicht hat, dass die beschriebenen Symptome nicht auftreten dürften.

Hier steckt auch das Problemchen mit dem Point of View: Alles in allem ist das Ganze aus der Sicht der Alten erzählt, wenn auch personell. Das hieße aber, dass ihr am Anfang, bei dieser Wortwahl, all diese Dinge mehr oder weniger stark bewusst sind. Und das wiederum hieße, dass sie kurz vor dem Aufbegehren stünde, dass dafür nur ein Anlass fehlt. Der dann folgende Text ist aber so formuliert, als stünden sie nicht nur nicht kurz vor dem Aufbegehren, sondern als hätte sich mehr und mehr in die Dulderrolle vertieft.

Vielleicht hilft es beim Thema 100. Geburtstag alles ein wenig zu kürzen, damit es nicht ganz so gewichtig daher kommt. Eine Alternative wäre - aber das würde mit großen Textänderungen einhergehen müssen, weshalb ich das nicht ernsthaft vorschlage - das Motiv immer mal wieder aufzunehmen.

Detail-Meckerei kommt gleich …


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jon
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J
Beitrag20.02.2018 00:41
Re: Wäre dankbar für Kritik
von jon
Antworten mit Zitat

Zitat:
Vollendet?

Warum das Fragezeichen?


Zitat:
Fragte man sie, ob sie ihr Leben noch einmal genauso leben wollteKOMMA wie es geschah, würde sie nicken, den Mund um die Dritten pressen, die ihr schon lange die nach und nach gezogenen Zähne ersetzen,  dazu die Finger heftig ineinander drehen und die Zehenspitzen in den Boden drücken. Gerade so wie sie es immer tut, wenn sie die Wahrheit verbergen möchte, doch ihr Körper nichts davon wissen will.

All diese Symptome sind körperlich - der Körper weiß es also sehr wohl. Ihr Kopf will es nur nicht wissen.
"wie es geschah" klingt im Zusammenhang mit "Leben leben" seltsam, "wie sie es getan hatte" wäre semantisch passender
Der Leser weiß, warum jemand die "Dritten" trägt, die nachgeschobene Erklärung wirkt belehrend. Und: Wenn ich diese Mimik zu schauspielen versuche, muss ich mein Gesicht geanz schön verrenken. Wie wäre es, sie einfach die Lippen schmal aufeinanderpressen zu lassen?
Man kann, wenn man den Fuß flach auf dem Boden stehen hat, nicht nur die Zehenspitzen in den Boden pressen.
Das "gerade" ist entbehrlich, ergo ein Füllwort; der Satz klingt ohne stimmiger.

Zitat:
Bisher hat ihr allerdings niemand weder eine solche Frage gestellt noch irgendwelche Details aus ihrem Leben wissen wollen.

"niemand hat weder das noch das getan" heißt "jeder hat zumindest eins davon getan". Also: Bisher hat ihr allerdings nie jemand eine solche Frage gestellt oder auch nur irgendwelche Details aus ihrem Leben wissen wollen.

Zitat:
Mag sein, dass der Bürgermeister fragen wird, wenn er den Strauß Blumen zum 100. bringt.

In erzählenden Texten Zahlen ausschreiben. Es sie denn, sie werden dann unübersichtlich wie dreihundertfünfundsiebzigtausendachthundertzweiundneunzig. Zum "Hundertsten" ist jedoch übersichtlich.


Zitat:
Zum Grübeln bis zu diesem Tag hat sie noch knapp drei Jahre Zeit.

Das ist irgendwie falsch sortiert - das hier heißt, dass sie erst in drei Jahren mit dem "Grübeln bis zu diesem Tag" anfangen muss. Du meinst wohl eher sowas: Zum Grübeln hat sie Zeit, drei Jahre dauert es noch bis zu diesem Tag.

Zitat:
Zäh wie KruppstahlKOMMA hätte Paul gesagt.


Zitat:
Paul war ihr Mann. Beinahe der Einzige.

Bei einer Ellipse nicht die Kategorien (Semantik) mischen! Das eine ist der Gatte, das andere "nur" ein Mann, mit dem man schläft. ("Er nah sich Hut, Stock und anschließen das Leben", ist ein ähnlicher Fall wie dieser hier.)
Der hier zweite Satz ist überflüssig; dass sie mindestens einmal fremd ging, ist unten zu sehen, dass sie es selten tat, kann man sich bei diesem Text denken.
Zeiten! Paul war ihr Mann gewesen. Wenigstens am Anfang des Rückblickes sollte man das Plusquamperfekt benutzen.

Zitat:
Er war in beiden Kriegen. Die hat er überlebt.

hatte

Zitat:
Das, was man dann Frieden nannte, hat er kaum bemerkt.

hatte (besser aber "bemerkte er kaum")

Zitat:
Sie versteht das. Er war eben nicht aus dem gleichen Holz wie sie, die in den Bombennächten die Kinder, Eltern und Schwiegereltern über Berge von Schutt und Toten dirigierte. Und all das erst einmal vergaß. Vergessen musste ob der Aufgaben, die ihr gestellt waren.

"Sie versteht das" ist okay, wenn sie es "heute" immer noch versteht. Aber "er war nicht aus dem Holz wie sie gewesen".
(Ich dachte dabei, dass das schon ein wenig selbstgefällig ist. Ja, auch sie hat Schlimmes und Schlimmstes erlebt. Aber das ist nicht dasselbe wie das Erleben von "Front", zumal in diesen beiden bis dahin brutalsten und unmenschlichsten Kriegen aller Zeiten.)

Zitat:
Sie selbst hätte sich wohl wieder an ihn gewöhnt. Da ist sie sich sicher. Den anderen Frauen ist das ja auch gelungen. Und nicht nur das.

Wieso "hätte"? Sie hat sich also nicht an ihn gewöhnt. Wie hat sich das geäußert?

Zitat:
Seit dem Sturz damals, lebt sie bei einem der Enkel und dessen Familie.

Ohne Komma, glaube ich.

Zitat:
Im Souterrain. Früher hätte man das Keller genannt. Doch heute gibt es neue Wörter. Dieses eine haben die Franzosen mitgebracht. Damals. So wie Trottoir. Aber das kennt heute niemand mehr.

Sicher, dass diese Worte erst nach den Kriegen kamen? Wiktionary z. B. sagt zu Souterrain, dass es scon im 18. Jahrhundert aus dem Französischen ins Deutsch fand - für die Alte dieser Story ist das also mitnichten ein "neues" Wort.

Zitat:
Auch dasKOMMA was ihr nicht schmeckt.


Zitat:
Ein paar Worte über die Welt da draußen machen ihr Millionen neue Gedanken,

Das hier sagt ganz klar, dass sie sonst keine andere Info aus "der Welt da draußen" hat - also auch keine Zeitung.

Zitat:
Kaum noch etwas bleibtKOMMA wie es war, wird erhalten oder gar repariert.


Zitat:
Opfer innerhalb einer Sache, die nach langem Ringen nun doch auch offiziell Krieg genannt wird.

"Opfer innerhalb einer Sache"? "in" ioder "bei" oder einfach "Opfer einer Sache"

Zitat:
Nicht wie damalsKOMMA als alle ohne Hilfe da standen.


Zitat:
Sie erlebt einen langen MomentKOMMA in dem sich die Bilder beider, gleichzeitig abgemagerter und aufgedunsener, Männerkörper übereinander legen.



Zitat:
Mit verschiedenen Methoden bemüht er sich, Paul zum Sprechen zu bewegen. Doch Paul spricht nicht. Nicht mehr über seine, auch monetären, Beweggründe für dieses Abenteuer.

Was meinst du mit "Nicht mehr"?

Zitat:
Und auch nicht über das Erlebte selbst. Nicht nur, weil er den jungen Mann verschonen will. Ihm fehlen schlicht die Worte. Und der Mut.

Verletzung des Point of View: Woher weiß die Alte das? Dass er nicht spricht - na gut, bei dem Essen erfährt sie es. Aber warum er es nicht tut? Erzählt er es ihr? Dann vielleicht … Und er Mut. Als er ihr das anvertraut, nickt sie nur. Sie versteht es. Aber auch ihr fehlen die Worte.

Zitat:
Eines Tages hätte er beinahe sein Schweigen gebrochen. Eines Moments will er mit ihr, seiner Urgroßmutter ein wenig vom entstandenen Leid und der damit verbundenen Aussichtslosigkeit teilen. Beinahe wäre er über den Wall aus Angst und Panik geklettert, der nun schon so lange massiv und stabil sein Inneres beschützt. Beinahe. Im letzten Augenblick entdeckt er das Stoppschild in ihren Augen. Ein Schild am Tor. Am Tor zu ihrer Seele, wie man sagt. Eine Warnung, die sie selbst wohl kennt, aber nur bei anderen vermutete. Massiv. Stabil. Unmöglich zu Überwinden. Nicht nur weil ihm die Kraft dafür fehlt.

Point of View! Ist ihr das alles (halb)bewusst? Ich glaube, diese künstliche Dramatik braucht es gar nicht. Tragischer finde ich, wenn er es ihr sagt - nur kurz, eben weil es mal rausmuss - und nicht die passende Reaktion vorfindet. Wenn sie es - duldend, wie sie ist - sich zwar anhört, aber nicht kommentiert; mit keinem Wort und auch keiner Geste oder Mimik. Verstehst du, was ich meine? Das muss in dem Jungen noch mehr Einsamkeit erzeugen als Zurückweisung, weil es wirken muss, als sei es für das Gegenüber so unerheblich, dass es keiner Antwort wert ist.

Zitat:
Als sie die kleine Meldung über den „Freitod“ eines jungen Mannes unter „Vermischtes“ liest, hört ihr Herz auf, zu schlagen.

Nicht den Stil wechseln! Bis hierher war alles gnadenlos offen, jetzt Rätsel (welcher junge Mann?) zu bringen, stört. Außerdem lässt es das wie ein Zufall wirken - irgendein junger Mann hat sich umgebracht und als sie das liest, setzt eben ihr Herz aus. Pech.
Warum "Freitod" in relativierenden Anführungsstricheln?

Zitat:
Einfach so, sagen sie.

Überflüssig

Zitat:
Paul, der IV., hat sich von der Brücke in den Fluss fallen lassen.

Oben bei der Todesnachricht einflechten?

Zitat:
Ende?

???


_________________
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alegria
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Beitrag20.02.2018 11:51

von alegria
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Hallo liebe Jon,

das ist ja der Hammer! Ein komplettes Lektorat. Mitten in der Nacht. Einfach so zum Einstand hier. Ich bin platt und beglückt.
Vieelen Dank!

Werde alles be- und durchdenken und in den nächsten Tagen die überarbeitete Fassung hier einstellen. Bis dahin hier schon einmal erste Reaktionen:

Zitat:
Zitat:
Vollendet?

Warum das Fragezeichen?

Weil nicht klar ist, ob mit der Art des Lebens und dem Selbstmord von Paul IV. die Reihe der "Pauls", die schweigend an Kriegserlebnissen sterben unterbrochen wurde. Es sieht so vollendet aus. Ist es aber vermutlich nicht, da ja keine Änderung gemacht wurde, kein bewusster Ausstieg erfolgte.
Aber vermutlich ist eine Überschrift ohne Fragezeichen gelungener?

Zitat:
Zitat:
Fragte man sie, ob sie ihr Leben noch einmal genauso leben wollteKOMMA wie es geschah, würde sie nicken, den Mund um die Dritten pressen, die ihr schon lange die nach und nach gezogenen Zähne ersetzen,  dazu die Finger heftig ineinander drehen und die Zehenspitzen in den Boden drücken. Gerade so wie sie es immer tut, wenn sie die Wahrheit verbergen möchte, doch ihr Körper nichts davon wissen will.

All diese Symptome sind körperlich - der Körper weiß es also sehr wohl. Ihr Kopf will es nur nicht wissen.
"wie es geschah" klingt im Zusammenhang mit "Leben leben" seltsam, "wie sie es getan hatte" wäre semantisch passender
Der Leser weiß, warum jemand die "Dritten" trägt, die nachgeschobene Erklärung wirkt belehrend. Und: Wenn ich diese Mimik zu schauspielen versuche, muss ich mein Gesicht geanz schön verrenken. Wie wäre es, sie einfach die Lippen schmal aufeinanderpressen zu lassen?
Man kann, wenn man den Fuß flach auf dem Boden stehen hat, nicht nur die Zehenspitzen in den Boden pressen.
Das "gerade" ist entbehrlich, ergo ein Füllwort; der Satz klingt ohne stimmiger.

"Wie es geschah" ist semantisch falsch und darf (und soll) meines Erachtens auch seltsam klingen. In der Geschichte geht es u.a. um die Frage, ob wir das Leben tatsächlich selbstbestimmt und losgelöst von "Vererbungen und Aufträgen der Ahnen" leben können oder ob sich das Leben einfach l(auch durch uns) lebt, also geschieht.
Zähne ... ja. Belehrend und schiefes Bild ...
Gerade weg ... ja.

Zitat:
Zitat:
Bisher hat ihr allerdings niemand weder eine solche Frage gestellt noch irgendwelche Details aus ihrem Leben wissen wollen.

"niemand hat weder das noch das getan" heißt "jeder hat zumindest eins davon getan". Also: Bisher hat ihr allerdings nie jemand eine solche Frage gestellt oder auch nur irgendwelche Details aus ihrem Leben wissen wollen.

Ja. das war mir nicht klar. Hatte hannahliebt schon angemerkt und selbst da hatte ich es noch nicht verstanden. Die Änderung übernehme ich dann so.

Zitat:
Zitat:
Mag sein, dass der Bürgermeister fragen wird, wenn er den Strauß Blumen zum 100. bringt.

In erzählenden Texten Zahlen ausschreiben. Es sie denn, sie werden dann unübersichtlich wie dreihundertfünfundsiebzigtausendachthundertzweiundneunzig. Zum "Hundertsten" ist jedoch übersichtlich.

Ja.

Zitat:
Zitat:
Zum Grübeln bis zu diesem Tag hat sie noch knapp drei Jahre Zeit.

Das ist irgendwie falsch sortiert - das hier heißt, dass sie erst in drei Jahren mit dem "Grübeln bis zu diesem Tag" anfangen muss. Du meinst wohl eher sowas: Zum Grübeln hat sie Zeit, drei Jahre dauert es noch bis zu diesem Tag.

Ja.

Zitat:
Zitat:
Paul war ihr Mann. Beinahe der Einzige.

Bei einer Ellipse nicht die Kategorien (Semantik) mischen! Das eine ist der Gatte, das andere "nur" ein Mann, mit dem man schläft. ("Er nah sich Hut, Stock und anschließen das Leben", ist ein ähnlicher Fall wie dieser hier.)
Der hier zweite Satz ist überflüssig; dass sie mindestens einmal fremd ging, ist unten zu sehen, dass sie es selten tat, kann man sich bei diesem Text denken.
[i]Zeiten! Paul war ihr Mann gewesen. Wenigstens am Anfang des Rückblickes sollte man das Plusquamperfekt benutzen.

Oh ja ... die Zeiten ... ändere ich.
Sätze wie: "Er nahm sich Hut, Stock und anschließen das Leben" liebe ich persönlich ja, verstehe aber natürlich, was du meinst.

Zitat:
[i]Zitat:
[i]Er war in beiden Kriegen. Die hat er überlebt.

hatte [/i]

ja. Natürlich. Da wird die Schwierigkeit der "verschiedenen Vergangenheiten" 1A deutlich.
 
Zitat:
Zitat:
[i]Das, was man dann Frieden nannte, hat er kaum bemerkt.


hatte (besser aber "bemerkte er kaum")

s.o.

Zitat:
Zitat:
Sie versteht das. Er war eben nicht aus dem gleichen Holz wie sie, die in den Bombennächten die Kinder, Eltern und Schwiegereltern über Berge von Schutt und Toten dirigierte. Und all das erst einmal vergaß. Vergessen musste ob der Aufgaben, die ihr gestellt waren.

"Sie versteht das" ist okay, wenn sie es "heute" immer noch versteht. Aber "er war nicht aus dem Holz wie sie gewesen".
(Ich dachte dabei, dass das schon ein wenig selbstgefällig ist. Ja, auch sie hat Schlimmes und Schlimmstes erlebt. Aber das ist nicht dasselbe wie das Erleben von "Front", zumal in diesen beiden bis dahin brutalsten und unmenschlichsten Kriegen aller Zeiten.)

Ja. Ich denke auch, dass das (heimlich) selbstgefällig und ungerecht von ihr ist. Gehört meines Erachtens zu diesem Typ Frau.

Zitat:
Zitat:
Sie selbst hätte sich wohl wieder an ihn gewöhnt. Da ist sie sich sicher. Den anderen Frauen ist das ja auch gelungen. Und nicht nur das.


Wieso "hätte"? Sie hat sich also nicht an ihn gewöhnt. Wie hat sich das geäußert?

Er hat ja nicht mehr lange gelebt. Zu einem "Gewöhnen" konnte es schon aus deshalb nicht kommen, weil er sich bald umbrachte.

Zitat:
Zitat:
Im Souterrain. Früher hätte man das Keller genannt. Doch heute gibt es neue Wörter. Dieses eine haben die Franzosen mitgebracht. Damals. So wie Trottoir. Aber das kennt heute niemand mehr.


Sicher, dass diese Worte erst nach den Kriegen kamen? Wiktionary z. B. sagt zu Souterrain, dass es scon im 18. Jahrhundert aus dem Französischen ins Deutsch fand - für die Alte dieser Story ist das also mitnichten ein "neues" Wort.

Nein. Da bin ich natürlich nicht sicher. Da vertraue ich natürlich deiner Wiktionary-recherche.


Zitat:
Zitat:
Ein paar Worte über die Welt da draußen machen ihr Millionen neue Gedanken,


Das hier sagt ganz klar, dass sie sonst keine andere Info aus "der Welt da draußen" hat - also auch keine Zeitung.

Ja. Klar. Bedarf der Änderung.

Zitat:
Zitat:
Opfer innerhalb einer Sache, die nach langem Ringen nun doch auch offiziell Krieg genannt wird.


"Opfer innerhalb einer Sache"? "in" ioder "bei" oder einfach "Opfer einer Sache"

Opfer einer Sache.

Zitat:
Zitat:
Mit verschiedenen Methoden bemüht er sich, Paul zum Sprechen zu bewegen. Doch Paul spricht nicht. Nicht mehr über seine, auch monetären, Beweggründe für dieses Abenteuer.


Was meinst du mit "Nicht mehr"?

Keine Ahnung, was ich damit meine. Änderung notwendig.

Zitat:
Zitat:
Und auch nicht über das Erlebte selbst. Nicht nur, weil er den jungen Mann verschonen will. Ihm fehlen schlicht die Worte. Und der Mut.

Verletzung des Point of View: Woher weiß die Alte das? Dass er nicht spricht - na gut, bei dem Essen erfährt sie es. Aber warum er es nicht tut? Erzählt er es ihr? Dann vielleicht … Und er Mut. Als er ihr das anvertraut, nickt sie nur. Sie versteht es. Aber auch ihr fehlen die Worte.

1A Vorschlag. Werde ich vermutlich so übernehmen.

Zitat:
Zitat:
Eines Tages hätte er beinahe sein Schweigen gebrochen. Eines Moments will er mit ihr, seiner Urgroßmutter ein wenig vom entstandenen Leid und der damit verbundenen Aussichtslosigkeit teilen. Beinahe wäre er über den Wall aus Angst und Panik geklettert, der nun schon so lange massiv und stabil sein Inneres beschützt. Beinahe. Im letzten Augenblick entdeckt er das Stoppschild in ihren Augen. Ein Schild am Tor. Am Tor zu ihrer Seele, wie man sagt. Eine Warnung, die sie selbst wohl kennt, aber nur bei anderen vermutete. Massiv. Stabil. Unmöglich zu Überwinden. Nicht nur weil ihm die Kraft dafür fehlt.

Point of View! Ist ihr das alles (halb)bewusst? Ich glaube, diese künstliche Dramatik braucht es gar nicht. Tragischer finde ich, wenn er es ihr sagt - nur kurz, eben weil es mal rausmuss - und nicht die passende Reaktion vorfindet. Wenn sie es - duldend, wie sie ist - sich zwar anhört, aber nicht kommentiert; mit keinem Wort und auch keiner Geste oder Mimik. Verstehst du, was ich meine? Das muss in dem Jungen noch mehr Einsamkeit erzeugen als Zurückweisung, weil es wirken muss, als sei es für das Gegenüber so unerheblich, dass es keiner Antwort wert ist.

Ja. Ich verstehe, was du meinst. Werde sehen, wie ich das löse.

Zitat:
Zitat:
Als sie die kleine Meldung über den „Freitod“ eines jungen Mannes unter „Vermischtes“ liest, hört ihr Herz auf, zu schlagen.


Nicht den Stil wechseln! Bis hierher war alles gnadenlos offen, jetzt Rätsel (welcher junge Mann?) zu bringen, stört. Außerdem lässt es das wie ein Zufall wirken - irgendein junger Mann hat sich umgebracht und als sie das liest, setzt eben ihr Herz aus. Pech.
Warum "Freitod" in relativierenden Anführungsstricheln?

Ja. Du hast recht. So geht es nicht.

Zitat:
Zitat:
Einfach so, sagen sie.


Überflüssig

ok. Hängt wohl auch damit zusammen, wie ich den "Benachrichtigungsabschnitt" löse.
Zitat:
Zitat:
Paul, der IV., hat sich von der Brücke in den Fluss fallen lassen.

Oben bei der Todesnachricht einflechten?

s.o.


Zitat:
Zitat:
Ende?

???

Die Begründung für das Fragezeichen ist wieder dieselbe wie für das Fragezeichen im Titel.
Wir denken so oft in Ausrufezeichen, obwohl wir doch das meiste nicht wissen können. Ich neige dazu, dem Leser Fragezeichen aufzudrängen.
Aber vermutlich wäre es geschickter, das zu unterlassen und ihm selbst zu überlassen, ob er die Worte als Tatsache nehmen oder in Frage stellen möchte.

Zitat:
zur Sache mit der Duldsamkeit: Ja, diese Typen gab und gibt es, gerade in dieser Generation. Was ich meine, ist, dass so eine Frau mit 97 diese Haltung so extrem verinnerlicht hat, dass die beschriebenen Symptome nicht auftreten dürften.

Hier steckt auch das Problemchen mit dem Point of View: Alles in allem ist das Ganze aus der Sicht der Alten erzählt, wenn auch personell. Das hieße aber, dass ihr am Anfang, bei dieser Wortwahl, all diese Dinge mehr oder weniger stark bewusst sind. Und das wiederum hieße, dass sie kurz vor dem Aufbegehren stünde, dass dafür nur ein Anlass fehlt. Der dann folgende Text ist aber so formuliert, als stünden sie nicht nur nicht kurz vor dem Aufbegehren, sondern als hätte sich mehr und mehr in die Dulderrolle vertieft.

Vielleicht hilft es beim Thema 100. Geburtstag alles ein wenig zu kürzen, damit es nicht ganz so gewichtig daher kommt. Eine Alternative wäre - aber das würde mit großen Textänderungen einhergehen müssen, weshalb ich das nicht ernsthaft vorschlage - das Motiv immer mal wieder aufzunehmen.

Ich verstehe, was du meinst. Und doch glaube ich, dass es (dieser Art Frau) möglich ist, die eigene Situation bewusst zu reflektieren, zu wissen, dass es eigentlich nur noch ein kleines Zündhölzchen zum Ausbruch bräuchte und sich doch wegducken, wenn es droht auf der Bildfläche zu erscheinen. Die Alte hier weiß, wie sie ist und hat Gründe, die sie stets von Ausbrüchen jeglicher Art fernhalten. Einer der Gründe ist meines Erachtens das, was man "Obriigkeitsgläubigkeit" nennen könnte und was ich mit ihrer frühen Reaktion auf den in der Zukunft vermuteten Bürgermeisterbesuch ausdrücken wollte.
 
Liebe jon. Nochmals Herzlichen Dank. Du hast mir sehr geholfen und ich bin sehr beglückt.

Ich habe auf deinem Profil und deiner Website gesehen, dass du Lektorat professionell anbietest. Gut zu wissen.

herzliche Grüße
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alegria
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Beitrag20.02.2018 21:44
Überarbeitete Version
von alegria
pdf-Datei Antworten mit Zitat

So sieht die überarbeitete Version nun aus. Nochmals herzlichen Dank für die wertvollen Hilfen!

Vollendet

Fragte man sie, ob sie ihr Leben noch einmal genauso leben wollte wie es geschah, würde sie nicken, den Mund um die Dritten pressen, die ihr schon lange viel zu groß waren, die Finger heftig ineinander drehen und versuchen, die Zehenspitzen in den Boden zu krampfen. So wie sie es immer tut, wenn sie die Wahrheit verbergen möchte, doch ihr Körper beim Vertuschen nicht mitspielt.

Bisher hat ihr allerdings nie jemand eine solche Frage gestellt oder auch nur irgendwelche Details aus ihrem Leben wissen wollen. Mag sein, dass der Bürgermeister fragen wird, wenn er den Strauß Blumen zum Hundertsten bringt. Vielleicht wird er nicht nur Kuchen essen, Kaffee trinken und schnell wieder verschwinden wie bei der Nachbarin im letzten Jahr. Es könnte immerhin sein, dass es ihn interessiert. Denkt sie, wider alle Erfahrung.

Vorsichtshalber wird sie sich um freundliche Antworten kümmern müssen. Sie will ihn ja nicht enttäuschen. Den Bürgermeister. Wenn er sich schon die Mühe macht.

Zum Grübeln hat sie Zeit, drei Jahre dauert es noch bis zu diesem Tag. Die schafft sie auch noch. Glaubt sie. Denn sie ist zäh. Zäh wie Kruppstahl hätte Paul gesagt. Damals als er noch lebte. Paul war ihr Mann gewesen. Er war in beiden Kriegen. Die hatte er überlebt. Das, was man dann Frieden nannte, hatte er kaum bemerkt. Zu sehr tobte das Erlebte in ihm. Auch wenn er nie darüber sprach, verstand sie ihn. Auch heute noch.

Nur der Strick hätte nicht sein müssen. Hätte er die Brücke gewählt, wäre den Kindern dieser Anblick erspart worden. Aber das konnte er wohl nicht bedenken im Nebel der nicht sterben wollenden Bilder in seinem Kopf. Sie versteht das. Er war eben nicht aus dem gleichen Holz wie sie gewesen, die in den Bombennächten die Kinder, Eltern und Schwiegereltern über Berge von Schutt und Tote dirigiert hatte. Und all das erst einmal vergaß. Vergessen musste ob der Aufgaben, die ihr gestellt waren.

Dass der Hunger dieser Zeit sich für sie und die Ihren, dank ihres persönlichen körperlichen Einsatzes, in aushaltbaren Grenzen hielt und der Jüngste mit schwarzer Hautfarbe zur Welt kam, hat er ihr weder vorgeworfen noch verziehen. Er hatte andere Probleme und brauchte alle verbliebene Kraft für sein gestern, das ihm kein morgen erlaubte.

Sie selbst hätte sich wohl wieder an ihn gewöhnt. Da ist sie sich sicher. Den anderen Frauen ist das ja auch gelungen. Und nicht nur das.

Seit dem Sturz damals, lebt sie bei einem der Enkel und dessen Familie. Im Souterrain.

Seit ein paar Jahren bringen sie ihr das Essen in ihre Kellerstube. Es ist immer genug. Das ist gut. Obwohl sie dafür nur ihre winzige Rente bekommen, geben sie ihr genug. Ein Dach über dem Kopf und Essen. Immer genug. Und immer isst sie alles auf. Auch das, was ihr nicht schmeckt.

Gemeinsame Mahlzeiten gibt es auch oben nicht mehr. Zu unregelmäßig sind die Arbeitszeiten. Die Schule endet ebenfalls nicht mehr einheitlich.

Doch dem trauert sie nicht nach. Dem nicht. Beim Essen hat es ja häufig Streit gegeben. Laut und aggressiv war es. Oft. Lauter als es ihre Ohren vertrugen und aggressiver als es ihrem Herzen guttat. Oder liegt das doch am Cholesterin und dem Blutdruck, wie der Oberarzt, der ihr die Bypässe gelegt hat, damals vermutete?

Streit und Türenknallen hört sie jetzt nur noch von Ferne. Das Haus ist kaum hellhörig und sie selbst ist es sowieso nicht mehr. Manchmal setzt sich jemand am Abend einen Moment zu ihr. Dann richtet sie sich auf, spitzt die Ohren und konzentriert sich auf fast jeden Buchstaben aus dessen Mund.

Ein paar Worte über die Welt da draußen machen ihr Millionen neue Gedanken, die dann tagelang mit den altbekannten in ihrem Kopf Tango tanzen und ihr so die Zeit vertreiben, die sich von Tag zu Tag weiter und weiter dehnt. Mal umschließt sie nur „eben und jetzt“ oder „gestern und heute“. Oft enthält das „jetzt“ aber auch manchen Tag des vorigen Jahrhunderts. Manchmal kann sie beides nicht voneinander unterscheiden. Schon seit Jahren nicht mehr. Oder Tagen.

Lange schon hat sie keine Aufgabe mehr. Man traut ihr nichts mehr zu. Vielleicht zu Recht. Sie weiß es nicht. Hauptsache es gibt keinen Streit mehr. Jedenfalls nicht mit ihr. Nie wieder Krieg, hätte Paul gesagt. Auch nicht im Haus, hätte sie hinzugefügt.

Einer ihrer Urenkel heißt auch Paul, so wie sein Vater, dessen Vater und wiederum dessen Vater. Ihrem Paul. Eine der wenigen Traditionen, die sich gehalten haben. Sonst ist ja beinahe alles neu. Heute muss ja immer alles neu sein. Kaum noch etwas bleibt, wie es war, wird erhalten oder gar repariert.

Sie selbst ist alt. Sehr alt mittlerweile. Mag sein, dass der Tod sie vergessen hat. Mag sein, dass sie den Tod doch noch fürchtet. Mag sein, dass sie leben will. Trotz allem.

Als Paul IV, wie sie den, ihr allerliebsten, Urenkel vor sich selbst nennt, aus Afghanistan zurückkehrt, erkennt sie ihn kaum wieder. Traumatisiert sei er, heißt es. Doch es sei gut, dass er lebendig zurück sei, sagen sie. Drei seiner Kumpels wurden im Sarg zurückgebracht. Sie werden gefeiert. Als Opfer. Opfer einer Sache, die nach langem Ringen nun doch auch offiziell Krieg genannt wird.

Paul bekommt, wenn er will, therapeutische Hilfe. So wie alle anderen scheinbar lebendig Heimgekehrten heutzutage. Also alles kein Problem. Sagen sie. Nicht wie damals, als alle ohne Hilfe dastanden.

Sie selbst erträgt seinen Anblick nur mit Mühe. Einer vertrauten Mühe. Einer Mühe, die sie zwingt, kurz die Augen zu schließen. Sie erlebt einen langen Moment, in dem sich die Bilder beider, gleichzeitig abgemagerter und aufgedunsener, Männerkörper übereinanderlegen. Niemals wird sie diese leeren Blicke vergessen. Niemals mehr wird sie diesen Blick vergessen. Auch mit wieder geöffneten Augen nicht.

Paul IV will Hilfe und begibt sich in die Obhut eines bundeswehreigenen Therapeuten. Einem jungen Mann mit guter Ausbildung, der in seinem Leben selbst noch niemals einen Toten gesehen hat und auch sonst in sehr behüteten Verhältnissen lebt.

Mit verschiedenen Methoden bemüht der sich, Paul zum Sprechen zu bewegen. Doch Paul spricht nicht. Nicht über seine, auch monetären, Beweggründe für dieses Abenteuer. Und auch nicht über das Erlebte selbst. Nicht nur, weil er den jungen Mann verschonen will, wie er sagt. Ihm fehlten schlicht die Worte für das Grauen. Und der Mut.

Natürlich fehlt Opfern der Mut von Tätern, denkt es im Takt eines sehr langsamen Walzers im Inneren des Hirns der alten Frau, als man ihr bei einem bis dato seltenen Festessen in den oberen Räumlichkeiten aus Familiensicht vom therapeutischen Misserfolg berichtet.

Paul selbst sitzt nun oft stundenlang bei ihr im Keller. Arbeitsunfähig auf unbestimmte Zeit. Psychopharmaka, Alkohol und Ähnliches lassen sich leicht besorgen. Der Bund zahlt reichlich.

Meist schweigen sie beide. Nur einmal hat er den Versuch gemacht, sie teilhaben zu lassen an seinem Leid und der damit verbundenen Aussichtslosigkeit. Einmal nur. Als sie den Versuch bemerkte, stoppte sie ihn wortlos. Wegdrehen genügte. Einen zweiten Anlauf unternahm er nicht mehr.

Dass man ihn tot im Fluss gefunden hat, sagen sie der Alten ohne jede Vorbereitung. In diesem Moment bleibt auch ihr Herz stehen. Endlich. Einfach so, werden sie später sagen. Die Hundert hätten sie ihr doch noch gegönnt.
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jon
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J
Beitrag23.02.2018 21:06

von jon
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Zitat:
ich bin sehr beglückt

Hui, das hat mir noch keiner gesagt. Jedenfalls nicht nach einem Lektorat. Laughing


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Es ist nicht wichtig, was man mitbringt, sondern was man dalässt. (Klaus Klages)
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Nina C
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Beitrag27.02.2018 03:13

von Nina C
Antworten mit Zitat

Ich bin ja ebenso geständig wie notorisch schlecht in Textarbeit bei anderen Autoren und wage mich daher nur selten dran, deshalb gibt es bei mir auch nur Korinthenkackerei:

„Berge von Schutt und Toten
(Berge von Toten)

„sein Gestern, das ihm kein Morgen erlaubte“
(imho groß, weil das gestern und das Morgen, nominalisiert)

„machen ihr Millionen neue Gedanken “

Finde ich einfach etwas unschön. „erzeugten Millionen Gedanken (in ihr)“ oder „hatten Millionen Gedanken zur Folge“ ?

„Niemals wird sie diese leeren Blicke vergessen. Niemals mehr wird sie diesen Blick vergessen.“

Dopplung Absicht? Dopplung aber so oder so nicht wirklich hübsch.

„Eines jungen Mannes
(Da der Rückbezug hier „eines Therapeuten“ ist, würde ich im Kasus bleiben. Wenn nicht, sollte es zumindest „Ein junger Mann“ sein, für den Dativ sehe ich da keine Verwendung.)

Ab davon gefallen mir Idee & Ausführung der Zeitlosigkeit von Krieg und seiner Folgen sehr gut, auch wenn ich sonst so ein Schachtelsatzfan bin Wink.

Liebe Grüße,

Nina

P.S.: Entschuldige die Verspätung – lahm bin ich auch noch =)


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alegria
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Beiträge: 6



Beitrag01.03.2018 22:27

von alegria
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Ach du meine Güte! Kaum gucke ich mal 2 Tage nicht hier rein und schon verpasse ich ein weiteres Geschenk! Und ein so witzig formuliertes noch dazu.

Ich werde die von dir gefundenen Korinthen die Tage einarbeiten.

Herzlichen Dank liebe Nina!
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