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Annes Amen


 
 
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Taschmetu
Gänsefüßchen
T


Beiträge: 26



T
Beitrag11.10.2014 16:11
Annes Amen
von Taschmetu
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Anne hatte sich immer alleine gefühlt. Das war jetzt nicht mehr so, aber wenn sie daran zurück dachte, dann musste sie manchmal lächeln. Sofern man das, was sie dann tat, als Lächeln bezeichnen konnte.

An einem dunklen Novembernachmittag lag Anne auf der großen, weißen Couch eingehüllt in eine Decke und trank Tee. Sie dachte darüber nach (das tat sie oft), wie alles gekommen war und wie sie sich gerade fühlte. Der Tee war heiß, sie nippte daran, stellte ihn dann auf das Bord neben dem Sofa. Sie würde ihn trinken, wenn er kälter war. Sie mochte kalte Getränke, die eigentlich heiß getrunken wurden. Die Reaktionen, die sie darauf bekam, wenn sie eine Gruppe von Menschen standhaft glauben machte, kalten Kaffee zu mögen, schwankten irgendwo zwischen der Ehrung eines Kriegsveteranen und dem Blick in die schwarze Mülltonne.

Er war schon wieder nicht da und das machte sie fast krank. Seitdem er in ihre Welt gekommen war, konnte sie nicht mehr in Ruhe nachdenken. Wenn er fort war, wurde es noch schlimmer. Draußen peitschte der Winterwind an die Scheibe. Sie kuschelte sich enger in die Decke hinein. Wo war er? Wo konnte er sein?

Sie hatte Klaus vor zwei Monaten kennengelernt im Anatomie-Kurs, den sie extra auf die lange Bank geschoben hatte (sie ekelte sich davor), auf den er seit dem ersten Semester brannte (Gibt es etwas interessanteres als tote Körper, Anne?). Ihre erste Begegnung war alles andere als erfolgversprechend, wären da nicht seine Hilfsbereitschaft und ihre Übelkeitsanfälle, jedes Mal, wenn sie eine dieser Leichen aufschnitten, die sie unweigerlich zusammenführten.
Vielleicht lag es auch an Herrn Professor Marx-Weber, der mit dem Doppelnamen, der eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Professor namens Dumbledore aufwies und der, weil er wusste, dass die Studenten ihn so nannten, sich bei seinen Zöglingen mit Namen aus dem Fantasy-Märchen revanchierte. Sicherlich auch, um die Situation aufzulockern, denn selbst den taffsten Medizinstudenten ließ eine mit Metastasen durchsetzte Brust nicht unberührt, geschweige denn von einer acht Wochen alten Wasserleiche.
Bis auf Klaus natürlich, dachte Anne.
So waren aus Klaus und Anne Ron und Hermione geworden, erst ein paar Zickereien, dann gute Freunde und dann ...
Ihren ersten Kuss gaben sie sich im Kühlhaus mit Minzöl unter der Nase, das den Geruch der Verwesung halbwegs überdeckte. Anne musste lächeln. Das war ganz schön verwegen, eigentlich war sie nicht so eine, zumal es nach dem Kuss noch weiterging, fast zu weit, da war die freie Aluminiumliege, sie trug nur einen kurzen Rock unter ihrem Arztkittel, seine Lippen und betörende Pfefferminzküsse. Doch dann rauschte Professor Dumbledore hinein und setzte dem Zauber ein Ende.
Sie schüttelte sich. Im Kühlhaus bei all den Toten Liebe machen. Was war damals nur in sie gefahren?
Klaus wich ihr seit diesem Tag nicht mehr von der Seite, Du bist das coolste Mädchen hier, hatte er immer wieder gesagt, zwickte sie in den Po und reichte ihr den Spucknapf.
Dann waren sie zusammengezogen. Zwei Wochen schon wohnten sie zusammen. Nicht lange, aber er blieb immer länger weg. Jetzt schon. Gedanken flackerten in Anne auf, ähnlich der Neonröhren im Untersuchungssaal: Und wenn er nun eine andere hatte? Das war ja nicht ungewöhnlich, heutzutage. Gab es jemanden? Es gab sicherlich jemanden.
Sie schüttelte den Kopf und trank ihren kalten Baldrian-Tee.

Anne lag allein im Bett, ein zwei mal zwei Meter Futonbett, ganz schön hart, was sie sich bei Ikea gekauft hatten („Frauenhimmel und Männerhölle“, sagte Klaus immer und meinte damit aber Ikea und nicht das Bett). Sie hatte lange auf Klaus gewartet, aber er war nicht gekommen. Sie hatte ein wenig an sich rumgespielt, war dabei aber eingeschlafen. Anne träumt oft und intensiv. Heute nacht träumte sie einen unruhigen Traum.
Sie sah eine Kirche. Eine Hochzeit. Die Hochzeit von ihr und Klaus. Sie sah Klaus, der vor der Apsis stand und auf sie wartete in einem Smoking, den Altar und ein Geistlicheen mit konzentriertem Gesichtsausdruck über dem Talar. Im Hauptschiff der Kirche waren Rosen an den Reihen befestigt, in den Bänken aber saß niemand. Die Kirche war riesig und gähnend leer, stellte Anne fest und etwas Missmut breitete sich in ihr aus. Sie sah das alles von oben, gleichzeitig stand sie in ihrem Brautkleid vor der Kirchentür, denn es konnte jeden Moment losgehen.
Sie wartete auf die ersten Töne eines Stückes aus den Vier Jahreszeiten von Vivaldi. Sie nannte es nur „das Schneeflockenlied“. Sie liebte es und es passte ausgezeichnet zu einer Hochzeit, denn es war so lieblich, klar und hell.
Die ersten Noten wurden gespielt und Anne erstarrte. Das war nicht Vivaldi. Das war irgendeine Schnulze. Etwas, das so gar nicht passte.
„Kann Klaus nicht einmal das richtig machen?“, fuhr es ihr zornig durch den Kopf. In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass Klaus das alles geplant hatte, er hatte die gesamte Hochzeit geplant. Das alles war seine Idee gewesen, sogar das Kleid, das sie umhüllte, war seine Kreatur, genauso, wie der Blumenschmuck, die Wahl der - zu großen!- Kirche und nicht zuletzt diese bescheuerte Schnulze!
Der Missmut in ihr wuchs. Sollte Klaus die verdammte Hochzeit doch alleine feiern. Sie war raus.
Allerdings. Im nächsten Moment sah sie sich oben neben dem Orgelspieler stehen, die Hände in die Hüften gestützt, die Nasolabialfalte zusammengekniffen (Klaus sagte ihr immer, sie sähe dann besonders böse aus), dann hatte sie die weißbetuchten Finger auf die Tasten gelegt und Vivaldi angestimmt.
„Ich kann ja nicht mehr besonders gut spielen“, dachte sie zufrieden, „aber das Stück hier, das kann ich noch.“
Sie fragte den Organist, ob er das zu übernehmen imstande sei. So etwas können gute Musiker doch. Der Mann nickte ängstlich.
Erleichtert schwebte Anne an ihren Platz vor die Kirchentür zurück.
Endlich. Vivaldi. Das Schneeflockenlied.
Mit bauschendem Kleid durchschritt sie den Mittelgang, ihre Augen auf Klaus gerichtet, auf Jesus, auf den Priester. Nur nicht nach links und rechts in die gähnend leeren Reihen blicken. Doch sie tat es.
In diesem Moment, auch wenn sie bisher nicht das Gefühl hatte, in einem Alptraum zu sein, veränderte sich etwas.
Der Orgelspieler spielte Vivaldi schneller und schneller, der Priester grinste süffisant, ja fast lüstern, aus den Reihen krochen gezackte Schatten, die sich überall verteilten und die Kirche in Besitz nahmen.
Na, wenigstens ist sie jetzt voll, hörte sie sich denken, doch dann sackte Klaus zusammen, verlor sich in seinem Smoking und als sie sich hinunter beugte, um nachzusehen, was los war, wurde ihr schlecht von dem Anblick.
Dort wo seine Hände, Füße und sein Kopf gewesen war, wimmelte eine undefinierbare Masse aus dunklen, winzig kleinen Wesen. Sie sahen aus wie schwarz gefärbte Maden. Und sie glitzerten.
„Klaus!“, kreischte Anne und wachte auf.

„Was‘n los, Baby ...“
Klaus wälzte sich schlaftrunken auf. Anne konnte seine Bierfahne riechen.
„Du bist da!“, realisierte sie und schlang ihre Arme um ihn.
„Ja, ...“, sagte Klaus etwas verblüfft, „geht es Dir gut?“
„Ich hatte einen gruseligen Traum ...“
„Einen Alptraum?“ Mit einem Mal war er hellwach, „Erzähl!"
„Na klar“, dachte Anne. Klaus liebte Horror und diese ganze Scheiße. Sie verdrehte die Augen, - er konnte das nicht sehen- und begann zu erzählen.


Weihnachten war schon vorbei. Der Januar war kalt und grau. Wenn sie so darüber nachdachte, heißer Tee, weiße Couch, dann fand sie es selber merkwürdig, dass sie sich in Klaus verliebt hatte. (Er war schon wieder nicht da). Klaus war so ganz anders als sie, hatte eine Vorliebe für alles Düstere und Schreckliche. Zum Glück zwang er sie nicht mehr diese Horrorfilme zu gucken. Er war ein ziemlich selbstbewusster Typ und ein guter Medizinstudent. Wahrscheinlich würde er das Studium sogar eher schaffen als sie. Dabei war er etwas jünger, zwei Jahre.
Wenn sie so darüber nachdachte, saß sie schon seit Wochen auf dieser grellweißen Couch und trank Tee oder kalten Kaffee. Die Zeit lief. Hausarbeiten, Prüfungen, das Physikum.
Klaus war fort. Heute schon wieder. Wenn er heimkam, dann ganz spät. Er sagte, er sei in der Bibliothek. Neulich hatte er Anne sogar gefragt, ob sie nicht mitkommen wolle.
„Lernen Du musst, junger Padawan!“, hatte er lachend gesagt.
Er war wirklich lustig, manchmal.
Sie blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie glaubte ihm kein Wort. Wenn sie ehrlich darüber nachdachte, - es war ihr sogar egal.
„Ist es Dir das wirklich?“
Anne erschrak bis auf die Knochen Woher kam die wispernde, dünne Stimme? Ihre Augen tasteten den Raum ab. Die Couch, das Bord, das Fenster. Hinter ihr war die Wand, neben ihr die Tür und wäre jemand hinein gekommen hätte sie es gesehen, aber vielleicht war dieser jemand hinter der Tür?
Ein Einbrecher, jemand, der in Studentenbuden einstieg um irgendwas zu klauen oder, oh Gott bitte nein!, sie hatte mal von so einem gelesen, der immer nur zu den Mädels kam und dann. Sechs oder acht Wochen später wurde sie aus dem Kanal gefischt. Die Wasserleiche in der Pathologie. Übelst zugerichtet. Ihr Gesicht war mit einem Hammer zerstört worden, absolut unkenntlich gemacht. Ihre untere Körpermitte, das konnte man noch erkennen, obwohl die Leiche so aufgedunsen war, dass sie jederzeit zu platzen schien, malträtiert bis auf die Knochen. Sie hatte keine Vagina mehr, es war nur noch ein großes, schwarzes Loch.
Ängstlich lauschte Anne. Couch, Bord, Tür. Da war niemand.
Der zweite Gedanke, der ihr in den Sinn kam, war nicht weniger beunruhigend. Eine beginnende Schizophrenie? Warum hörte sie auf einmal Stimmen?
Foucault und die Geburt der Klinik. Seit den Vierzigern war die Zahl der psychisch Kranken explodiert, weil die verrückten Mediziner immer neue Krankheiten kategorisierten. Vielleicht, überlegte Anne, bekam sie eine ganz neue Krankheit. Ob sie imstande wäre, diese dann selber zu entdecken?
„Wenn überhaupt, dann habe ich eine leichte Depression“, sagte sie laut zu sich selbst. Noch einmal lauschte sie, doch da war nichts als der heulende Wind und außerhalb der Wohnung am Himmel die glänzenden Sterne.
Sie ging in die Küche, - es war wirklich niemand da- Medizinschrank, Beruhigungstablette, zurück auf die Couch und dann der kalte Kaffee.

Klaus kam spät nach Hause. Mitternacht. Er hatte eine Einkaufstüte dabei. Tiefkühlpizza für sie beide. Er befreite sie aus der Plastikfolie, steckte das Papier in den Mülleimer und schob die Dinger in den Ofen.
„Ich hab Stimmen gehört.“
„Echt jetzt?“
„Ja.“
„Erzähl mir davon, aber nur, wenn nicht ich wieder in Madengewimmel verwandelt werde.“
„Okay.“
„Was hast Du heute sonst noch gemacht?“
„Nichts.“
Und dann sagte er ihr, sie solle mal was tun, die Prüfungen wären in wenigen Wochen und die seien wichtig und ohne Lernen einfach nicht zu schaffen und sie müsse mal was anderes machen als den ganzen Tag auf der Couch liegen.
Anne standen auf einmal Tränen in den Augen und sie sagte, das sei nichts, das sie nicht wüsste, aber es wäre scheiße, einfach scheiße, in einer Welt für irgendwas zu lernen, wo Frauen vergewaltigt und jeden Tag neue Krankheiten erfunden würden.
„Das ist alles so furchtbar!“, schrie Anne, rannte ins Wohnzimmer und schloss sich ein.
Keuchend lag sie unter der Decke auf dem Sofa. Es war heiß und gemütlich, ihr Atem feucht, oh, was hatte sie kalte Hände, schöne, warme Geborgenheit, fast wie in einer Höhle, wie in einer Gebärmutter.
Neugeboren nach zwanzig Minuten schloss sie die Wohnzimmertür wieder auf.
Sie tappte zu Klaus in die Küche.
Er saß am Tisch und aß traurig Pizza.
„Tut mir leid“, flüsterte sie und sah betreten zu Boden.
Klaus räusperte sich, brachte seinen Teller zur Spüle, ließ Wasser darüber laufen. Mit dem Rücken zu ihr sagte er:
„Baby. Du musst echt was tun. Ich weiß nicht, was los ist, aber - so geht es nicht weiter.“
Anne nickte.

Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug. Anne lernte. Anne schrieb Prüfungen, Anne büffelte Tag und Nacht, Klaus und sie saßen twentyfourseven in der Bibliothek, lernten, lernten auswendig, wiederholten, lernten noch mehr auswendig, diese ganze Anatomiescheiße, dazwischen Ritalin, wieso muss man jeden Knochen auf Latein können, wieso gab es selbst im Ohr noch Scheißknochen, nein, Gehörnknörpelchen, Knochentrocken der Scheiß, das kann ja wohl mal aufhören, bald ist es so weit, Zisch! Kaffee aus dem Kaffeeautomaten, Zisch! Heiße Suppe aus dem Kaffeeautomaten, Zisch! Heiße Luft aus dem Kaffeeautomaten. Das Ding war leer, so sehr hatten sie es gemolken.
„Das ist unser Ende“, sagte Klaus.
„Jetzt müssen wir dem Kannibalismus anheim fallen“, scherzte Torben, der recht beleibt war.
„Du wärst unser erstes, nahrhaftes Opfer“, witzelte Anne und zwackte Torben in den vorstehenden Bauch.
Klaus schlang seinen Arm um Annes Taille und strahlte sie an.
„Das ist mein Mädchen“, rief er und fragte dann, ob sie nicht alle gemeinsam irgendwo richtig essen wollten, es sei immerhin schon fast Mitternacht und es würde heute wohl wieder eine lange Nacht werden.

Sie stapften durch den Schnee zum Dönerladen um die Ecke, Metin, Cetin - die hatten immer auf. Cola, Kaffee und drei Döner (einer Superlarge mit extra viel Fleisch), wanderten über den die Theke.
Sie setzten sich an einen der kleinen, fettigen Alu-Tischchen und schlugen ihre Zähne in die Döner. Anne kaute und beobachtete Torben, der seinen fast zu atmen schien. Um Mund und Nase tummelten sich Zwiebelreste, rote Soße und einzelne Stückchen Fleisch.
Aber wenn es gar kein Fleisch wäre, kein Tierfleisch, was er da essen würde?
Sie nannten es nur das „Dönertier“, ein Lebewesen, dem man praktischerweise bloß Kopf und Extremitäten abhacken musste, dann konnte sein runder Leib am Drehspieß befestigt werden. Ungewiss war, wo es lebte und was es aß.
Draußen schneite es wieder und Anne dachte an eine Szene aus einem dieser Horrorfilme, die Klaus ihr vor Wochen gezeigt hatte, wo ein im Schnee eingeschlossenes Forscherteam Lose verteilte, um die Reihenfolge zu ermitteln, wer als erster gegessen würde. Was würde passieren, wenn sie eingeschneit wären? Wen würde es zuerst treffen nach dem Dönertier?
Sie erzählte den anderen davon.
Klaus lachte, Schnipsel roter Beete fielen aus seinem Mund auf die Serviette auf dem Teller. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.
„Dich natürlich“, schmatzte er, „Aber wenn wir hier heil rauskommen, dann würd dich auf der Stelle heiraten, gleich nach den Prüfungen!“
Anne lächelte fein und kaute nachdenklich.
So etwas wie Kannibalimus gab es wirklich. Aber letztendlich war die Sache mit dem Dönerfleisch schon ekelhaft genug. Gab es da nicht immer wieder diese Skandale mit Gammelfleisch? Sie betrachtete Cetin oder Metin, der an der Theke neue Kunden bediente. Ob er auch Gammelfleisch verkaufte?
Ihr Döner war halb aufgegessen. Sie legte ihn zurück auf den Teller.
Und dann diese ganzen Tiertransporte. Selbst wenn der Döner aus richtigem, guten Fleisch bestünde, Tiere hatten dafür sterben müssen, nach einer ewig langen Fahrt im Transporter ohne Wasser und Brot, nach einem stundenlangen Todeskampf.
Anne nahm einen Schluck Cola.
Vor Wochen hatte sie so eine Doku gesehen. Die Rinder und Schweine, wobei, Schweine vermutete sie nicht in diesem Fleisch, hatten bei ihrer Ankunft auf dem Schlachthof einen guten Blick auf ihre bereits toten Kameraden, und, was schlimmer war, auf die, die nicht beim ersten Bolzenschuss starben. Von Zehn waren Zwei noch lebendig. Von Zehntausend noch Zweitausend, dachte Anne angeekelt. Zweitausend und mehr Tiere, die noch atmeten, wenn man sie am Haken aufschlitzte.
Sie erzählte den anderen davon. Keiner lachte. Torben hatte seinen Döner bereits verschlungen und meinte, ihm sei nun schlecht. Klaus ließ den letzten Bissen, auf dem Teller liegen. Vielleicht war er satt.
Dann kehrten sie mit trägen Bäuchen zurück in die Bibliothek.

An dem Tag, als die Prüfungsergebnisse aushingen, schien die Sonne.
Sie hatten ausgemacht, alle drei zusammen zu gucken. Im Nachhinein bereute Anne ihre Entscheidung, aber auf dem Weg war sie froh, nicht alleine gehen zu müssen.
Torben hatte mit mäßigem Erfolg alle Prüfungen bestanden. Er grinste wie ein Totenschädel. Dann war Anne an der Reihe.
Es war kaum zu glauben. Sie hatte alles bestanden. Sie verstand es erst, als Torben ihr anerkennend zunickte und Klaus sie durch die Luft wirbelte und ihr einen Kuss auf den Mund drückte. Und noch einen und noch einen.
Dann war es kurz still und Torben murmelte so etwas wie, „Ich glaube, Du hast sogar richtig gut abgeschnitten. Richtig gut.“
Während sie gemeinsam die Tafel nach den Ergebnissen anderer Matrikelnummer absuchten, um zu ermessen, wie heftig sie heute Abend feiern würden, da entdeckte Anne die Nummer mit der -932 am Ende, und dahinter stand: Nicht bestanden.
Sie schluckte und las weiter.
Wieder.
- 932: Nicht bestanden.
Und noch einmal.
Nicht bestanden.
„Shit“, flüsterte sie.
„Ey, krass!“, rief Klaus, „in Anatomie habe ich eine 2,0!“
(Und im Rest, mein Lieber, hast Du verdammt noch mal verschissen)
Anne biss sich auf die Lippen.
„Was hast Du gesagt, Babe?“
Anne konnte beobachten, wie die gute Laune aus seinem Gesicht gerissen wurde.
„Scheiße“, flüsterte er. Und dann noch einmal und noch einmal. „Scheiße, ... Scheiße!“
Er schlug gegen die Wand und rannte einfach davon. Anne und Torben sahen ihm nach.
„Lass nur, ich mach schon ...“, sagte Anne und drückte Torben zum Abschied.
„Glückwunsch, Anne“, antwortete Torben und irgendwie hörte sich das zynisch an, so als ob sie für ihre Leistung einen missmutigen Mann gewonnen hätte oder etwas in dieser Art.
„Es ist doch immer irgendwas“, dachte sie traurig.

Klaus kam spät nach Hause. Anne hatte ihn auf dem Campus gesucht, aber er war wie vom Erdboden verschluckt. Sie hatte tausend Mal versucht ihn anzurufen, er ging nicht ran. (Die Schlampe!) Dann kam er und weckte sie, indem er über ihre Brüste streichelte. Er wollte Sex.
Anne richtete sich auf und zog ihn ins Bett. Manchmal war es so, dass sie einfach keine Lust hatte. Heute hatte sie eigentlich keine Lust, aber sie war froh, dass Klaus wieder da war. Er küsste sie. Er roch nach Bier. Er sagte nichts, er streichelte sie, aber zaghafter als sonst. Er war tief getroffen. Anne seufzte und wanderte an seinem Körper unter die Decke. Sie mochte das nicht, hatte es immer abgelehnt, aber heute, aus irgendeinem Grund, vielleicht waren es die guten Ergebnisse, die ihren Geist aufputschten, machte sie sich in dieser Höhle an seinen Boxershorts zu schaffen, befreite seinen Penis und schob ihn vorsichtig in ihren Mund. Klaus stöhnte an der Erdoberfläche und seine Hände wühlten sich zu ihrem Kopf.
„Oh Baby.“
Nachdenklich lutschte sie an seinem Schwanz. Dieses „Baby“ hatte ihr nie gefallen. Sie wusste, dass es seine Art war, Zuneigung auszudrücken. (Nannte er die andere auch so?) Sie wollte jetzt nicht daran denken. Das schmatzende Geräusch, Klaus‘ Erregung und dieser würzig-laszive Geruch. Sie wollte ihn in sich spüren. Jetzt.

Danach lagen sie Arm in Arm auf ihrem steinharten Futonbett. Klaus atmete ein und aus und Anne wusste, dass es ein glückliches Atmen war.
„Danke, Baby.“
„Nenn mich nicht mehr Baby.“
„Alles, was Du willst, ... Schatz.“
„Schatz ist okay.“
„Ich liebe Dich.“
Annes Herz krampfte sich für einen Augenblick zusammen. Das hatte er noch nie gesagt. Fast war sie wütend. War das jetzt wegen dieser Blowjob- Geschichte? Sie überlegte, ob sie ihn einfach fragen sollte. Pistole auf die Brust. Seid ihr Männer wirklich so einfach gestrickt?
Sie entschied sich dagegen.
„Ich liebe Dich auch.“
Er kuschelte sich an sie.
„Wirklich Anne, ich liebe Dich. Ich würd‘ Dich auch lieben, wenn Dir ein Bein abfallen sollte oder so etwas."
Anne sagte nichts.
„Ich muss jetzt bald viel Lernen, Ba... äh, Schatz“, fuhr Klaus fort. „Und Du kannst wieder auf der Couch liegen. Das hat Dir ja nicht geschadet.“
Er wuschelte ihr durchs Haar. Anne seufzte. Deswegen die lieben Worte. Er wollte sie schlicht günstig stimmen für das, was folgte.
„Dann bist Du immer weg, oder?“
„Ja.“
„Kannst Du nicht hier lernen?“
Er überlegte.
„Nein.“
„Wieso nicht?“
„Es geht einfach nicht, darum. Ich brauch die Bücher ...“
„Du kannst sie ausleihen.“
„Ja, aber ... Hier bin ich abgelenkt.“
„Von mir?“
Wieder schwieg er.
„Ja.“ - „Ich kann das nicht, vor allem, weil Du ... Du hast alles bestanden, mein Gott, ich weiß immer noch nicht, wie Du das geschafft hast, Du hast so spät angefangen zu lernen ...“
„Die Welt ist ungerecht“, sagte Anne trocken. „Ich bin nur eine von sieben Milliarden."
Klaus lachte kurz auf. Es klang bitter.
„Oder eine von tausend Medizinstudenten. Es ist so ... Ich brauche einfach die Leute um mich, mit denen ich lernen kann.“
„Mit denen Du Bier trinken kannst.“
„Das auch okay, gut, ich geb es zu. Aber ich brauche sie einfach. Ich hab‘ heute Marcel getroffen, er hat zwei Prüfungen nicht bestanden, wir können gemeinsam lernen.“
„Schon gut“, sagte Anne und drehte sich auf die Seite.
„Ehrlich?“, fragte Klaus.
„Ja“, sagte Anne und schloss die Augen. Irgendwo ins Dunkle flüsterte er: „Ich liebe Dich“, und sie tat als sei sie schon eingeschlafen.

Es war nicht gut. Es war ganz und gar nicht gut. Er ließ sie wieder alleine und Anne kam einfach nicht klar. Sie stand auf und aß nichts. Sie schlief viel und dann kroch sie vom Bett zum Sofa oder umgekehrt. Der Fernseher plapperte sinnloses Zeug und zeigte absurde Bilder; meine Mitbewohnerin malt Sahnegemälde und das bei uns im Bad, die stinken und die fette Kuh stinkt ganz besonders ...
Zapp.
Fernseher aus, Falle zu, Maus tot.
Niemals zuvor hatte Anne sich so einsam gefühlt wie in den letzten Tagen. Es war beinahe so, als ob sich ihre letzte Verbindung zur Außenwelt langsam auflöste. Irgendwann Nachts war sie wieder da und brachte vertraute Dinge von draußen mit, Tiefkühlpizza, Cola, manchmal einen Döner.
Dann küsste sie sie, sie streichelte sie, es gab Zärtlichkeiten, Liebe, aber zu oft gab es gar nichts. Dann war da nur Müdigkeit, Schnarchen, ihre Verbindung schnarchte, es war fast wie das Freizeichen am Telefon *schnarch ... schnarch*, aber am anderen Ende der Leitung nahm niemand den Hörer ab.
Er blieb immer länger weg und das jeden Tag.
(Er betrügt Dich)
Anne war davon überzeugt. Fest überzeugt. Klaus hatte schon lange nicht mehr „Ich liebe Dich“ gesagt, was sie zumindest für einen Tag, ein paar Stunden, einen Moment, beruhigen konnte.
Sie begann wie in Trance, hinter ihm her zu spionieren. Klaus schlief und sein Smartphone lag auf dem Nachttisch. Sie tappte heran, löste es von der Ladestation und durchsuchte seine SMS. Whatsapp. Facebook. Alle Passwörter in dem kleinen Ding gespeichert. Willkommen in der neuen Welt. Bilder, Bilder, Bilder, - wenig Text.
Da war so eine kleine Rothaarige, die Anne nicht kannte. Das ist sie. Das ist die Schlampe. Anne stellte die Weckfunktion aus und legte das Smartphone zurück an seinen Platz.
Am morgen verschlief Klaus, erwachte viel zu spät, sie lag blinzelnd neben ihm, beobachtete genüsslich, wie er nackt und fluchend durch das Schlafzimmer rannte, gleichzeitig versuchte Hose und Hemd anzuziehen.
„Ich hab verschlafen, Schatz!“, rief er zwischen Zähneputzen und Mund ausspülen, „Ich muss jetzt los!“
Er war schon bei der Tür, kam noch mal zurück, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Bis später - mach heute doch mal was Schönes.“
„Bis später ...“, flüsterte sie, drehte sich auf die andere Seite und schlief einfach weiter.
Nachmittags lag sie auf der Couch, zappte durchs Fernsehprogramm.
„Die IS-erobert mehr und mehr Territorium im Nahen Osten, die EU und angrenzende Nachbarländer verhandeln ...“
Zapp aus, mausetot.


Frühling. In anderen Kulturen, das sah Anne gerade in einer Arte-Doku, galt der Frühlingsanfang als eigentlicher Beginn des neuen Jahres. In vielen Teilen der Welt wurde jetzt erst das Neujahrsfest gefeiert. Die Alten, die Maya, Sumerer, Ägypter, die hatten das schon immer gemacht.
Sie dachte zurück an Silvester, ein kleines Fest bei Freunden, damals war sie in einer ganz ähnlichen Situation wie jetzt. Zu nichts zu gebrauchen. Die Feuerwerkskörper schnellten in den Himmel und explodierten. Tausende Sterne. Ja, jede Rakete erschuf ein eigenes Universum. Und Nebel, viel Nebel.
„Du musst seine E-Mails lesen.“
Da war sie wieder, diese Stimme. Anne musste grinsen. In den letzten Tagen hatte die Pflanze im Wohnzimmer angefangen, mit ihr Konversation zu betreiben. Die Pflanze sprach nicht immer und war recht eigenwillig, aber sie war da. Anne fühlte sich nicht mehr alleine.
Es war eine große Glückskastanie, deren Stamm geflochten war wie ein Zopf und an deren spindeldürren Ästchen schwere, grüne Kastanienblätter hingen.
Das erste, was die Pflanze gesagt hatte, war: „ICH HABE HUNGER!“ Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sich Anne von ihrem Schrecken erholt hatte und bis sie feststellte, dass es nicht sie selbst war, von der die Pflanze naschen wollte, sondern dass sie schlichtweg ein Düngestäbchen forderte.
„Oder zwei oder drei oder vier, - gib mir fünf.“
„Okay“, hatte Anne zögernd gesagt, war aufgestanden und verabreichte der Pflanze ihr Futter.
Dann war die Kastanie erst mal wieder still, mehrere Stunden und Anne saß wie betäubt auf dem Sofa und wälzte in Gedanken die Frage, ob sie verrückt geworden sei.
„Ja und nein,“ antwortete die Pflanze gegen Abend, als Anne bereits beschlossen hatte, nicht verrückt zu sein.
Und seitdem wusste Anne, dass sie wirklich mit der Pflanze sprechen konnte und hörte auf, Überlegungen über ihren Geisteszustand anzustellen.
Es war einfach so, wie es war.
„E-Mails,“ sagte Anne, „Die schreibt doch heute kein Mensch mehr.“
„Doch“, sagte die Pflanze. „Lies seine E-Mails.“

Klaus rief seine E-Mails nur vom Laptop, nicht vom Smartphone ab. Es war ungleich schwerer an seinen Laptop zu kommen. Er nahm ihn überall mit, meistens ging er direkt nach der Bibliothek noch irgendwo hin. (Zu dieser rothaarigen Schlampe)
Dann, an einem Mittwoch, brachte er ihr Lahmacun vorbei und ging danach noch mal los, um sich mit Marcel zu treffen. Die Tasche ließ er in der Wohnung. Das Passwort knackte Anne mühelos: 184932, seine Matrikelnummer. Während der Rechner die Programme lud, ging sie in die Küche, holte Wasser für die Kastanie, goss sie und streichelte ihre Blätter.
Der Rechner hatte aufgehört zu laden, der Bildschirm leuchtete hellblau. Fast schien es, als blicke Anne in den Himmel. (Und hinter dem Blau, da lauert das Schwarz)
Sie klickte auf das E-Mail Symbol.
Hunderte Mails hingen in seinem Postkorb, alle geöffnet, die meisten beantwortet. Anne scrollte mit zitternden Fingern nach unten, um sich einen Überblick zu verschaffen. Als erstes stach ihr „Frau Glaumann“ in die Augen, Frau Glaumann und nochmal: Frau Glaumann.
Bestimmt zehn Mails.
Sie öffnete eine und las, dass Frau Glaumann die Pastorin der evangelischen Kirchengemeinde war (eine heilige Frau) und dass es in der Korrespondenz um eine Hochzeit ging (eine heilige Hochzeit). Es dauerte ein paar Minuten bis sie begriff.
Klaus plante ihre Hochzeit.
Sie lehnte sich zurück. Das musste sacken.
Es sackte und verursachte einen Anfall unterschiedlichster Gefühle in ihr. Irgendwo darin erinnerte sie sich an ihren Traum, diesen merkwürdige Traum einer von Klaus geplanten Hochzeit. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass er ihre Träume erfüllen würde. „Immerhin“, dachte sie lächelnd, „er weiß jetzt, dass ich Vivaldi als Eingangslied haben möchte."
Ich lächle. Stellte sie fest. Ja, sie grinste sogar. (Er betrügt Dich)
Dann gefror ihr Lächeln, denn sie sah, weiter unten, noch im Dezember, da gab es zwei E-Mails, die trugen den Namen „Patrizia“ und das war ein Name, der zu der Rothaarigen gehörte. (Zwei von zehn Tieren starben nicht)
Es war wirklich wahr. Ein Gefühl des Schmerzes breitete sich in ihrem Brustkorb aus. Sie las. Er hatte sie betrogen. Nicht richtig, wenn man so will, es war seine Exfreundin, er hatte sie noch ein paar Mal getroffen, sie kam nicht darüber hinweg und er hatte sie wohl hin und wieder „getröstet“ und ...
Tränen traten Anne in die Augen, rollten über ihre Wange, spritzen auf die Tastatur. Eine nach der anderen.
Auf einmal klingelte das Telefon.
Riiiing, ... Riiiiiing, ... Riiiiing.
Einen Moment war Anne völlig überfordert. Wer ruft mitten in der Nacht an, der erste Gedanke, dann, Rechner ausmachen, nein, Telefon abheben, Klaus schläft, Klaus wacht auf, Rechner aus, nein, Telefon. Klaus ist gar nicht da.
Sie riss das Telefon aus seiner Ladestation.
„Hallo,“ flüsterte sie.
„Hallo Anne!“
Es waren ihre Eltern.
„Wir machen gerade eine kleine Gartenparty, bei uns ist so gutes Wetter, es ist richtig warm, fast eine Sommernacht, wie geht es Dir Anne?“
„Jaja“, sagte Anne, „das ist ja schön ...“
Es war ihr Vater der da redete, gut gelaunt und leicht angeschickert.
Anne hatte sich nie wirklich für ihre Eltern interessiert und umgekehrt war es genauso. Sie hatten Anne geboren und liebevoll aufgezogen, aber ihnen fehlte eine Verbindung, jegliches Verständnis füreinander, auch wenn sie ausgesprochen höflich miteinander umgingen. (Zu distanziert, ich war immer allein, ich gehöre nicht zu euch)
Ihre Eltern riefen selten an und noch seltener rief Anne sie an und selbst an Weihnachten war sie nicht zu Hause gewesen - „Ich muss lernen“ -, das hatte als Ausrede und Entschuldigung gedient und es war nichts gekommen, kein Geschenk, kein Care-Paket für die Prüfungszeit, es war einfach so, wie es war. Aber jetzt redeten und redeten sie und reichten sich abwechselnd den Hörer.
„Du, Papa“, sagte Anne müde, „Ich glaube, ich muss jetzt schlafen."
„Oh“, sagte Annes Vater, vielleicht klang es sogar traurig, dann fing er an zu lachen: „Ist doch nicht zu glauben, dass die Eltern ihre hart arbeitenden Studentenkinder belästigen. Also zu meiner Zeit, da ging es jetzt erst richtig los, ihr seid doch noch so jung ...“
„Ich möchte schlafen“, sagte Anne noch einmal nachdrücklich.
„Entschuldige bitte, Schatz. Ich wünsch‘ Dir eine gute Nacht. Bis bald.“
„Gute Nacht,“ sagte Anne, stellte das Telefon zurück in die Ladestation und legte sich schlafen.

„Wer ist Patrizia?“, schrie sie, als Klaus am frühen Morgen die Treppe hinauf stapfte. Anne konnte förmlich sehen, wie sich die Windungen in seinem Gehirn regten und er eins und eins zusammenzählte.
„Was ist los mit Dir?“, fragte er ungläubig.
„Du Schwein!“, rief Anne und wollte auf ihn einprügeln, aber er hielt sie fest und schüttelte sie.
„Sieh mich an, Anne!“
Sie sah ihn an.
„Was hast Du gemacht, Baby?“, fragte er.
„Nenn‘ mich nicht Baby!"
Er rannte durch die Wohnung, fand seinen Laptop und die geöffnete E-Mail. Er kam zurück.
„Hast Du mit ihr geschlafen?“, wollte Anne wissen.
„Nein ...", hob er an, „Nein ... Nein ..."
„Hast Du oder nicht?“, fragte sie noch einmal.
„Es war doch nur ein Mal, ein Mal ..."
„Das heißt,“ kreischte Anne, „ich hatte Deinen Schwanz im Mund, der vorher in einer anderen steckte?“
Klaus wurde rot und blass zugleich. Anne konnte sein Herz bis zu ihrem Körper pochen hören.
„Anne ...“, sagte er. „Das war ein Fehler, ein Fehler ...“ Dann weinte und schluchzte er, dass es kaum auszuhalten war.
„Wird alles gut, Anne?", fragte er immer wieder.
Anne dachte nach. Sie fragte sich, was die Pflanze jetzt wohl sagen würde. Was würdest Du sagen? Deine Entscheidung. Die Antwort kam prompt.
Klaus kam aus der Küche. Er hatte sich die Nase geputzt. Er atmete ruhig und gleichmäßig. Er umarmte sie vorsichtig, vorher fragte er noch: „Darf ich?“
Dann sagte er etwas, fast wie in einem Fantasy-Märchen, so romantisches, dass es beinahe unglaubwürdig wirkte.
„Wir heiraten, Anne. Mit Vivaldi und allem.“
Anne lächelte, aber so, dass Klaus es nicht sehen konnte.
„Willst Du?“
„Ich glaub schon.“
„Ist das ein „Ja“?“
„Ja.“
„Gut, dass Du „Ja" sagst. Frau Glaumann ist gebucht für den 14. März. Nur wir zwei.“
„Nur zwei?"
„Ich hab die Prüfungen übrigens bestanden. Das sollte eigentlich eine Überraschung sein, aber ...“
„Du hast bestanden?“, Anne blinzelte verblüfft.
„Ich hab die letzte Klausur vorgestern geschrieben, Dumbeldore hat mir das Ergebnis heute mitgeteilt. Ich wollte Dir eigentlich erst am Wochenende davon erzählen. So eine Hochzeit zu planen ist nicht einfach. Ich hatte so gehofft, dass Du „Ja“ sagen würdest.“
Er drückte sie an sich. Fester.
(Und wenn ich „Nein“ sagen würde?)
„Du hast bestanden ...“, flüsterte Anne und in diesem Moment wirkte sie unheimlich froh. Klaus entkorkte eine Flasche alten Schampus, den ihnen irgendwann mal irgendwer geschenkt hatte, eine Flasche mit Staub drauf, die seit Ewigkeiten in ihrer Küche stand. Der Schampus schmeckte gut, sprudelnd lief er Klaus die Kehle hinunter und Annes Mundwinkel entlang.
Sie betranken sich, dann schmiegte sich Klaus an sie und wärmte Anne.

Vielleicht war es ein seltsamer Zufall, dachte Anne, wobei sie später wusste, dass es das nicht war. Die Hochzeit und der Frühlingsanfang fielen auf denselben Tag.
Klaus und sie hatten noch ein wenig darum gestritten, ob sie zu zweit oder gemeinsam mit Freunden und Familie feiern sollten, aber Klaus bestand darauf, dass es nur sie beide etwas anging, und dass sie später in einer großen Runde mit allen zusammen feiern könnten. Er war selten so besitzergreifend gewesen, fand Anne. Er wollte sie ganz für sich. Selbst Torben hielt er von ihr fern. Jeden Morgen, Mittag und Abend sagte er: „Ich liebe Dich“, und Anne lächelte, so dass er es nicht sah.
„Ich will keine gähnend leeren Reihen“, hatte sie noch einmal betont. Sie stapften durch den letzten Schnee des Jahres und Klaus küsste ihre kalten Lippen. Sie fanden ein hübsches Kleid für sie, das nicht zu teuer war und trotzdem teuer aussah. Anne war zufrieden.
Doch dann bekamen ihre Eltern Wind von der Hochzeit und regten sich furchtbar darüber auf, dass Klaus und Anne alleine heiraten wollten. Sie informierten Klaus‘ Eltern und kamen gemeinsam vorbei. Sie machten ein furchtbares Theater und Anne beschloss, diese Tage in der Pathologie zu verbringen. Das Gezeter war nicht auszuhalten.
(Es war ein Fehler)
Die Pflanze hatte bisher nicht mehr mit ihr gesprochen und Anne hatte sie nicht mehr um ihren Rat gebeten. Allerdings kroch manchmal ein Satz in ihre Gedanken, den sie alsbald wieder vergaß, so als ob die Hochzeit ein Handel war, den sie unter falschen Bedingungen eingegangen war.

Am Tag der Hochzeit war der Himmel grau. (Dahinter das Blau)
Blaukraut bleibt Blaukraut und Brautkleid bleibt Brautkleid.
Sie hatten sich so verabredet, dass Anne alleine in die Kirche gehen würde, zu den Klängen von Vivaldis fallendem Schnee, ein Lied, das doch so viel besser in den Frühling passte, denn es war luftig und leicht. Klaus würde am Altar auf sie warten.
Anne betrachtete die Eingangspforte der Kirche. Sie war aus Ebenholz und Szenen aus dem Alten Testament zierten die zwei Flügeltüren.
(Es war ein Fehler)
Vivaldi erklang in leichten Orgeltupfern. Es wurde Zeit zu gehen. Auf einmal überkam Anne das Gefühl, dass sie, wenn sie durch diese Tür in die Kirche schreiten würde, wenn sie sich traute, wenn sie hineinging, dass sie dann für immer verbunden wäre. Mit Klaus, aber auch mit all dem hier.
(Evas Fehler)
Das alles war in diesem Moment der kleine Kirchenfriedhof, die friedlich rauschenden Bäume, die Felder hinter den Bäumen. Das alles, das war aber auch das unendliche Leid auf der Erde.
Anne lachte kurz auf. Ihre Stimmbänder waren trocken, sie hustete, räusperte sich. In ihrer Hand hielt sie ihren Brautschleider, zarter Tüllstoff mit kleinen, glitzernden Kristallen. Sie berührte die schmiedeeiserne Klinke, zögerte. Ihr Blick fiel auf die Szene, in der Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden.
Sie kannte sich nicht besonders gut aus in der Bibel, aber diese Geschichte hatte sie immer aufgeregt. Eva nahm den Apfel von der Schlange, aß davon, reichte ihn dann weiter an Adam. Beide wurden vertrieben und nur, weil sie Adam hatte abbeißen lassen, war Eva dann für ewig die Sünderin. Dabei wusste sie doch gar nicht, was sie tat. Die Schlange im Baum hatte Eva verführt.
Beide waren Schuld an der Misere, die sie über die Welt gebracht hatten, dachte Anne. Sie, Anne, sie war unschuldig.
„Es war ein Fehler“, hatte Klaus zu ihr gesagt, auf diesem verdammten, steinharten Bett.
„Es war meine Entscheidung“, sagte Anne. Sie hatte nichts falsch gemacht. Sie hatte Klaus nicht betrogen. Sie hatte ihm nachspioniert, das war nicht in Ordnung, aber hätte er sonst jemals zugegeben, was vorgefallen war? Überhaupt, dachte Anne, seitdem sie wusste, dass sie sich nicht getäuscht hatte, war ihre Depression wie verflogen. Sie war in der Stadt gewesen und im Park, sie hatte Enten beobachtete und mit ihren Eltern gesprochen, die seltsam apathisch auf sie wirkten, sie war gewaschen, geschminkt und frisiert worden und hatte all diesen Kram gemacht, den junge Frauen tun.
Nur ihre Haut war seit ein paar Tagen so verdammt trocken und zeigte rote und braune Flecken, aber das war normal, es stand in jeder Frauenzeitschrift, dass die Braut vor der Hochzeit Pickel bekam oder gar Schlimmeres. Klaus störte sich überhaupt nicht daran. Die Wohnzimmerpflanze vertrocknete langsam, denn weder sie noch Klaus hatten sich in den letzten Wochen um sie gekümmert.
Anne lugte durch das Schlüsselloch. Sie hoffte, Klaus dort stehen zu sehen; möge seine Gestalt mich irgendwie hineinziehen in dieses Leben, was hinter der Tür liegt.
Doch sie sah nur Schwärze. (Und hinter dem Schwarz, da sind die Sterne)
Die Musik wurde lauter, schneller, der Organist spielte sie noch einmal von vorne, so als ob er die Braut rufen wollte. Irgendwo zwischen den Tönen, schwebten ein paar Worte vorbei an den schweren Türen hinein in Annes Ohren.
Sie beteten dort in der Kirche. Sie beteten das Vater Unser. Sie beteten diese alten Worte für sie, für Anne.
Anne hörte noch etwas. Es war die Stimme der Priesterin, die laut und deutlich sagte:
„Unfassbar für uns, doch es war Annes Entscheidung."
In diesem Moment breitete Anne die Arme aus und schaute in den Himmel. (Grau, dahinter Blau, dahinter Schwarz, dahinter die Sterne)
Und dann zog sie etwas hinauf, löste sie auf und ließ sie verschwinden, durch das Blau in das Schwarz zu den Sternen.

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XY
Gänsefüßchen
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Beiträge: 36



X
Beitrag09.12.2014 12:20

von XY
Antworten mit Zitat

Hallo Taschmetu,

trotz unzähliger Bekenntnisse zum Schreiben, blieb dein Stück laut Kopfzeile zwei Monate unkommentiert. Ein Hinweis, dass Schreibinteressierte nicht automatisch zum Kritiker taugen?

Schade, denn es ist das gelungenste, was ich hier bisher las. Du hast es mit minimalem Aufwand fertig gebracht, mich direkt neben Anne zu platzieren. Die Einfachheit und Klarheit deiner Sprache machte es mir leicht, ihr zu folgen. Bemerkenswert professionell war die Entscheidung, den Lesern kein Bild von Anne und Klaus aufzudrängen! Dadurch blieb der Fantasie viel Freiraum, die Entscheidung zahlte sich aus.

Du hast das sehr schön routiniert erzählt: Nur wenig Stolperschwellen. Ein Herausforderung war dieser Satz:

Zitat:
„So waren aus Klaus und Anne Ron und Hermione geworden, erst ein paar Zickereien, dann gute Freunde und dann ...“


Es dauerte, bis ich die Worte richtig zu trennen verstand und erkannte, dass du wohl Ron und Hermine gemeint hast. Tippfehler: Herminone. Nicht jeder kennt diese Figuren. Zusätzlich tendiere ich zu dem Rat, den Satz an dieser Stelle deutlicher zu trennen:

„…Anne Ron…“ "--Anne zu Ron...?" Es wird anders nicht auf Anhieb klar, dass Anne und Ron zwei Personen sind. Spontan entscheidet der Verstand, dass sie Ron der Zuname der Anne ist. Anne Ron.

Im folgenden Satz hast du einen Dreher übersehen: (nicht ich) zu (ich nicht) ändern.


Zitat:
„Erzähl mir davon, aber nur, wenn nicht ich wieder in Madengewimmel verwandelt werde.“


Zitat:
„Anne standen auf einmal Tränen in den Augen und sie sagte, das sei nichts,…“


Anne stiegen die Tränen in die Augen…. wäre mein Vorschlag. "Auf einmal" streichen.


Die Parallele zur Pflanze: SAUSTARK! Du erfüllst die Pflicht, die Leser mit eigenen Gedanken über die Geschichte hinaus zu schicken, vorbildlich. Dabei spielt die Pflanze eine tragende Rolle, als Schicksalsgefährtin der Hauptfigur.

Ein Manko gäbe es allerdings zu schwächen. Ich drücke mich vage aus, um anderen Interessierten nicht die Pointe zu verderben. Führte eine eigene Entscheidung zur Pointe oder war es höhere Gewallt? Mir blieb dazu nur eine Vermutung. Vielleicht kannst Du das stärker heraus arbeiten? Vielleicht schaust du auch noch mal über die beiden Schlusssätze. Zu viel „schwarz, Sterne usw. Du erkennst es sicher, sobald du dich drauf konzentrierst.

Schlusswort: Danke für die gelungene Kurzgeschichte. Respekt! Sie hebt sich deutlich von der Masse ab Daumen hoch

XY
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Taschmetu
Gänsefüßchen
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Beiträge: 26



T
Beitrag12.12.2014 20:53

von Taschmetu
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo XY!

Danke für Dein Feedback! Ich guck hier nicht so oft rein, habe mich aber gerade sehr gefreut über Deinen Kommentar!

Vielleicht könnte man das Ende deutlicher machen, da haste recht ... allerdings weiß ich es selber nicht, was genau passiert ist. Rolling Eyes

Vielleicht setze ich mich beizeiten noch mal dran und mache das klarer.

Hermione ist der ursprünglichere Name von "Hermine", Hermine der eingedeutschte. Aber danke, das habe ich nicht berücksichtigt und würde das daher auch ändern. (Leider geht das hier ja nicht "einfach so" im Dokument.)

Das nicht ich ... habe ich so geschrieben, damit das ICH etwas stärker betont wird, aber du hast recht, das könnte man auch umstellen - zum besseren Verständnis.

Ich freue mich sehr, dass Dir die Geschichte so gut gefallen hat!

Dankeschön!!!

Viele Grüße

taschmetu
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