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Das Herz des Zackenbarsches


 
 
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Taschmetu
Gänsefüßchen
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Beiträge: 26



T
Beitrag30.08.2014 14:15
Das Herz des Zackenbarsches
von Taschmetu
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Das Herz des Zackenbarsches

"Dieses Ding", hörte es die Menschen sagen, "hat kein Herz."
Ein Herz zu haben ist wichtig, wusste das Ding und machte sich auf die Suche danach. Es fand Fliegenpilze und einen Nasenzwerg, gelbe Schuhe und Blut, sogar den Tod fand es, aber der schüttelte nur seine schwarze Kapuze.
Schließlich traf das Mädchen einen Zackenbarsch.

„Was tust du hier in meinen eisigen Gefilden?“, wollte der Zackenbarsch wissen.
„Ich suche ein Herz“, sagte das Mädchen.
„Vielleicht findest du eines in mir,“ sagte der Zackenbarsch, denn das Mädchen gefiel ihm gut. „Hier ist der Schlüssel.“ Und er spuckte ihm einen goldenen Schlüssel vor die Füße.
Das Mädchen nahm den Schlüssel, machte sich ganz klein und kletterte vorbei an den spitzen Zähnen in den Bauch des Zackenbarsches. Der tauchte glücklich unter in die Tiefen des Nordmeeres. Sie wärmte sich in seinem Innern.

Doch so sehr das Mädchen auch suchte, dort waren Leber, Geist und Mut, ein Herz fand es nicht. Es wurde unruhig und fürchtete sich.
„Hier ist kein Herz! Lass mich hinaus!“
Der Zackenbarsch spürte ihre Angst und sorgte sich. Er überlegte genau, was er sagen sollte und antwortete schließlich:

„In mir hast du ein Herz.“

Das Mädchen wunderte sich über diese Worte, sah hinunter auf seine Brust, doch da war nichts. Es spürte nichts. Alle Menschen hatten gesagt, es sei herzlos. Der Zackenbarsch musste lügen.
„Lass mich gehen und weiter suchen“, rief das Mädchen und hoffte insgeheim, er täte es nicht, denn in ihm fühlte es sich warm und gemütlich an.

Doch der Zackenbarsch schwamm zurück ans Land, weil er nicht wollte, dass sich das Mädchen vor ihm fürchtete. Das Mädchen kroch hinaus aus dem Bauch und kletterte auf das Eis. So einfach lässt er mich gehen, dachte es bekümmert. Und es war sicher, dass er es, wenn sie ein Herz hätte, nicht so leicht gehen lassen würde.

Der Zackenbarsch sah sie traurig an. Das Mädchen stand zitternd am Ufer und der Himmel wurde langsam heller.
Einmal noch hob er an zu sprechen, um sie zu behalten, denn sie gefiel ihm wirklich gut.
„Wir sind wie Nebelschwaden, Schatten in der Dämmerung der Zeit. Wir verschwinden, wenn die Sonne aufgeht. Es wäre schöner, wenn du bei mir wärst.“

Was redet er für seltsames Zeug, dachte das Mädchen, denn es verstand seine Worte nicht. „Verschwinde jetzt“, schrie es wütend und schleuderte ihm den Schlüssel gegen sein Maul. Da flog einer der kleinen, spitzen Zähne blitzschnell zu dem Mädchen zurück und riss ihm den Brustkorb auf. Es betrachtete die Stelle ungläubig, fasste danach, fühlte es, spürte den kräftigen, schmerzenden Schlag. Tief in ihrer Brust schlug und pochte ein kleines Herz.
Die ersten Strahlen der Morgensonne schienen über die weiten Eisfläche, ließen sie glitzern und funkeln. Der Zackenbarsch aber war verschwunden.

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Siegerlein
Geschlecht:weiblichSchneckenpost

Alter: 65
Beiträge: 12
Wohnort: die schöne Nordheide


Beitrag30.08.2014 15:58
Re: Das Herz des Zackenbarsches
von Siegerlein
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Dein Text gefällt mir, die Geschichte hat mich berührt.
Nur der Anfang verwirrt mich.

"Dieses Ding", hörte es die Menschen sagen, "hat kein Herz."
Ein Herz zu haben ist wichtig, wusste das Ding und machte sich auf die Suche danach. Es fand Fliegenpilze und einen Nasenzwerg, gelbe Schuhe und Blut, sogar den Tod fand es, aber der schüttelte nur seine schwarze Kapuze.
Schließlich traf das Mädchen einen Zackenbarsch.

Das Ding entpuppt sich als Mädchen. Irgendwie passt das nicht. Aber vielleicht empfinde nur ich das so?

Ich liebe parabelhafte Geschichten.

Herzliche Grüße von Birgit


_________________
Die Planer planen und das Schicksal lacht darüber. Muhammad

Solange man lacht, befindet man sich in Gesellschaft der Götter. Aus Japan
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henry
Geschlecht:männlichGänsefüßchen


Beiträge: 18



Beitrag31.08.2014 22:27

von henry
Antworten mit Zitat

Mir geht es sehr ähnlich wie Birgit. Sehr berührend und gehaltvoll. Aber die "Transformation" vom Ding zum Mädchen ging etwas abrupt.

Ich finde die Message sehr bewegend und dennoch stark kontrastiert durch die morbiden Spitzen - gerade am Schluss. Insgesamt finde ich den Text sehr kreativ.

Viele Grüße
Henry
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Rainer Zufall
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

Alter: 70
Beiträge: 801

Pokapro und Lezepo 2014


Beitrag01.09.2014 19:55

von Rainer Zufall
Antworten mit Zitat

Hallo Taschmetu,
das ist eine reizende und sehr schöne kleine Geschichte mit einer Reihe wirklich bezaubernder Sätze.

Als Beispiele:
Zitat:
Das Mädchen nahm den Schlüssel, machte sich ganz klein und kletterte vorbei an den spitzen Zähnen in den Bauch des Zackenbarsches. Der tauchte glücklich unter in die Tiefen des Nordmeeres. Sie wärmte sich in seinem Innern.

Zitat:
Doch so sehr das Mädchen auch suchte, dort waren Leber, Geist und Mut, ein Herz fand es nicht.


Zitat:
Einmal noch hob er an zu sprechen, um sie zu behalten, denn sie gefiel ihm wirklich gut.
„Wir sind wie Nebelschwaden, Schatten in der Dämmerung der Zeit. Wir verschwinden, wenn die Sonne aufgeht. Es wäre schöner, wenn du bei mir wärst.“


Zitat:
Die ersten Strahlen der Morgensonne schienen über die weiten Eisfläche, ließen sie glitzern und funkeln. Der Zackenbarsch aber war verschwunden.


Die Sätze sind echt toll, wie ein schönes altes Märchen. Ich mag das gern.

Nicht gut finde ich dagegen den Übergang vom Ding zum Mädchen. Das heißt, ich kann deine Intention nachvollziehen. Es ist eine gute Idee, die Menschen Ding zum Mädchen sagen zu lassen. Und vielleicht könnte das Mädchen sich zwar wie ein Mädchen fühlen und daher traurig über die Ding-Benennung sein, andererseits könnte es auch das Gerede der Menschen nachvollziehen und an sich zweifeln, sich daher auch ambivalent fühlen, als hätten die Menschen Recht.
Jedenfalls finde ich, dass du es da in diesem Absatz einfach viel zu schnell und auch unbedacht abhandelst. Da könntest du mehr aus dieser Mädchen-Ding-Idee machen.
Zitat:
"Dieses Ding", hörte es die Menschen sagen, "hat kein Herz."
Ein Herz zu haben ist wichtig, wusste das Ding und machte sich auf die Suche danach. Es fand Fliegenpilze und einen Nasenzwerg, gelbe Schuhe und Blut, sogar den Tod fand es, aber der schüttelte nur seine schwarze Kapuze.
Schließlich traf das Mädchen einen Zackenbarsch.


Viele Grüße und viel Spaß noch.

Zufall
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Doir
Geschlecht:männlichWortedrechsler


Beiträge: 54



Beitrag01.09.2014 21:14

von Doir
Antworten mit Zitat

Wie den anderen auch, hat mich die Verwandlung des Dings in das Mädchen etwas verdutzt. Der Erzähler wechselt die Bezeichnung ohne einen ersichtlichen Grund.

Also mir fallen da zwei Lösungsmöglichkeit ein.

Entweder ersetzt du in diesem Satz:

Taschmetu hat Folgendes geschrieben:
Ein Herz zu haben ist wichtig, wusste das Ding und machte sich auf die Suche danach


"das Ding" durch "das Mädchen". Dafür müsstest du aber im ersten Satz etwas besser herauskristallisieren, dass die Menschen das Mädchen als das Ding bezeichnen.

Oder du ersetzt "das Mädchen" im kompletten Text durch "das Ding" und nennst das Ding erst Mädchen, nachdem es ein Herz bekommen hat.

Letztere Möglichkeit würde ich präferieren.


Ansonsten hat es mir wirklich gut gefallen.

lg
Doir
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Taschmetu
Gänsefüßchen
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Beiträge: 26



T
Beitrag11.09.2014 09:27

von Taschmetu
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Hallo!

Vielen Dank für eure lieben Kommentare!

Bzgl. der Wandlung Ding-Mädchen habe ich jetzt eine Veränderung eingebaut. Ihr habt recht, das wirkte etwas zu plump.

Gerne könnt ihr erstmal lesen (siehe oben, ich habe die Geschichte entsprechend geändert).


Zur "Interpretation": Der Zackenbarsch, da wichtig für die Transformation des "Dings", erkennt sie recht früh als Mädchen. Sie selbst sieht sich erst später als "Sie", nachdem sie weiß, dass sie auch ein Herz hat. --- Daher vorher noch "es"; es sei denn, wenn es um die Sicht des Barsches geht.
Dabei spiele ich ein wenig mit dem grammatische + natürlichen Geschlecht von Mädchen, das ja eigentlich grammatisch "das" (neutrum") ist, aber natürlich eine "sie".

Habt Dank!

Taschmetu
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Taschmetu
Gänsefüßchen
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Beiträge: 26



T
Beitrag11.09.2014 09:29

von Taschmetu
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Oh, ich sehe gerade, dass ich gar nix verändern kann ... das ist ja doof!

Nagut, ich hänge die Geschichte dann einfach noch mal hier an.







Das Herz des Zackenbarsches

"Dieses Ding", hörte es die Menschen sagen, "hat kein Herz."
Ein Herz zu haben ist wichtig, wusste das Ding und machte sich auf die Suche danach. Es fand Fliegenpilze und einen Nasenzwerg, gelbe Schuhe und Blut, sogar den Tod fand es, aber der schüttelte nur seine schwarze Kapuze.
Schließlich traf das Ding einen Zackenbarsch.

„Was tust du hier in meinen eisigen Gefilden?“, wollte der Zackenbarsch wissen.
„Ich suche ein Herz“, sagte es.
„Vielleicht findest du eines in mir,“ sagte der Zackenbarsch, denn was er sah, es war ein Mädchen, gefiel ihm gut. „Hier ist der Schlüssel.“ Und er spuckte ihm einen goldenen Schlüssel vor die Füße.
Das Mädchen nahm den Schlüssel, machte sich ganz klein und kletterte vorbei an den spitzen Zähnen in den Bauch des Zackenbarsches. Der tauchte glücklich unter in die Tiefen des Nordmeeres. Sie wärmte sich in seinem Innern.

Doch so sehr das Mädchen auch suchte, dort waren Leber, Geist und Mut, ein Herz fand es nicht. Es wurde unruhig und fürchtete sich.
„Hier ist kein Herz! Lass mich hinaus!“
Der Zackenbarsch spürte ihre Angst und sorgte sich. Er überlegte genau, was er sagen sollte, und antwortete schließlich:

„In mir hast du ein Herz.“

Das Mädchen wunderte sich über diese Worte, sah hinunter auf seine Brust, doch da war nichts. Es spürte nichts. Alle Menschen hatten gesagt, es sei herzlos. Der Zackenbarsch musste lügen.
„Lass mich gehen und weiter suchen“, rief das Mädchen und hoffte insgeheim, er täte es nicht, denn in ihm fühlte es sich warm und gemütlich an.

Doch der Zackenbarsch schwamm zurück ans Land, weil er nicht wollte, dass sich das Mädchen vor ihm fürchtete. Das Mädchen kroch hinaus aus dem Bauch und kletterte auf das Eis. So einfach lässt er mich gehen, dachte es bekümmert. Und es war sicher, dass er es, wenn sie ein Herz hätte, nicht so leicht gehen lassen würde.

Der Zackenbarsch sah sie traurig an. Das Mädchen stand zitternd am Ufer und der Himmel wurde langsam heller.
Einmal noch hob er an zu sprechen, um sie zu behalten, denn sie gefiel ihm wirklich gut.
„Wir sind wie Nebelschwaden, Schatten in der Dämmerung der Zeit. Wir verschwinden, wenn die Sonne aufgeht. Es wäre schöner, wenn du bei mir wärst.“

Was redet er für seltsames Zeug, dachte das Mädchen, denn es verstand seine Worte nicht. „Verschwinde jetzt“, schrie es wütend und schleuderte ihm den Schlüssel gegen sein Maul. Da flog einer der kleinen, spitzen Zähne blitzschnell zu dem Mädchen zurück und riss ihm den Brustkorb auf. Es betrachtete die Stelle ungläubig, fasste danach, fühlte es, spürte den kräftigen, schmerzenden Schlag. Tief in ihrer Brust schlug und pochte ein kleines Herz.
Die ersten Strahlen der Morgensonne schienen über die weiten Eisflächen, ließen sie glitzern und funkeln. Der Zackenbarsch aber war verschwunden.
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holg
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Bronzenes Licht Der bronzene Roboter


Beitrag11.09.2014 11:46

von holg
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Endlich zum lesen gekommen. gefällt mir. stilistisch wie narrativ. nur hier:
Zitat:
Und es war sicher, dass er es, wenn sie ein Herz hätte, nicht so leicht gehen lassen würde.
geht es mir mit Genus und Sexus ein wenig durcheinander. das zweite "es" könnte gut ein "sie" sein, denke ich.

gerne gelesen

holg


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Muskat
Eselsohr


Beiträge: 343



Beitrag13.01.2015 18:28
Zackenbarsch
von Muskat
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Hallo Taschmetu,


das Märchen habe ich gerne gelesen. Die Erzählsprache passt sehr gut. Ein paar Vorschläge habe ich noch. Schau, ob du davon etwas gebrauchen kannst:



Zitat:
"Dieses Ding", hörte es die Menschen sagen, "hat kein Herz."

„Diese Ding!, sagten die Menschen, „hat kein Herz.“


Zitat:
Ein Herz zu haben ist wichtig, wusste das Ding


...ist wichtig, wusste es und ....

Zitat:
, sogar den Tod fand es, aber der schüttelte nur seine schwarze Kapuze.


begegnete es dem Tod. (Ihn finden, klingt, als stürbe es).

Zitat:
Schließlich traf das Ding einen Zackenbarsch.


 ...traf es...

Zitat:
„Vielleicht findest du eines in mir,“ sagte der Zackenbarsch, denn was er sah, es war ein Mädchen, gefiel ihm gut. „Hier ist der Schlüssel.“ Und er spuckte ihm einen goldenen Schlüssel vor die Füße.


...sagte der Zackenbarsch. Denn er sah ein Mädchen und es gefiel ihm gut. Er spuckte ihm ihm einen goldenen Schlüssel vor die Füße: „Hier ist mein Schlüssel zum ....?“

Und hier stellt sich mir die Frage: Wozu braucht es den Schlüssel? Denn später heißt es ja nur, im Barsch habe es ein Herz. Möglich wäre, das Mädchen könnte eine Verbindung von Herz zu Herz damit finden, es gelingt ihm aber nicht. Sowas halt. Denn ansonsten macht der Schlüssel zum Herz keinen Sinn.


Zitat:
„Lass mich gehen und weiter suchen“, rief das Mädchen und hoffte insgeheim, er täte es nicht, denn in ihm fühlte es sich warm und gemütlich an.



...“, rief das Mädchen. Insgeheim hoffte es, er täte es nicht. Denn in ihm fühlte es sich warm...


Zitat:
Und es war sicher, dass er es, wenn sie ein Herz hätte, nicht so leicht gehen lassen würde.


Und es war sicher: Hätte es ein Herz, ließe er es nicht so leicht gehen.

Zitat:
Der Zackenbarsch sah sie traurig an. Das Mädchen stand zitternd am Ufer und der Himmel wurde langsam heller.

...sah es traurig an. Es stand zitternd...Ufer.


Zitat:
Einmal noch hob er an zu sprechen, um sie zu behalten, denn sie gefiel ihm wirklich gut.


„es“ statt „sie“

Nun sollte erst der Satz mit dem Himmel folgen.

Also: Das Mädchen stand zittrend am Ufer. Einmal noch hob er an zu sprechen, um sie zu behalten, denn sie gefiel ihm wirklich gut. Doch der Himmel wurde hell.
„Wir sind wie Nebelschwaden, Schatten in der Dämmerung der Zeit. Wir verschwinden, wenn die Sonne aufgeht. Es wäre schöner, wenn du bei mir wärst.“



Gerne gelesen!

Liebe Grüße

Muskat
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Taschmetu
Gänsefüßchen
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Beiträge: 26



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Beitrag04.04.2015 11:15
Das Mädchen ohne Herz
von Taschmetu
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Dieses Ding", hörte es die Menschen sagen, "hat kein Herz."
Ein Herz zu haben ist wichtig, wusste das Ding und machte sich auf die Suche danach. Es fand Fliegenpilze und einen Nasenzwerg, gelbe Schuhe und Blut, sogar den Tod fand es, aber der schüttelte nur seine schwarze Kapuze.
Schließlich traf das Ding einen Zackenbarsch.

„Was tust du hier in meinen eisigen Gefilden?“, wollte der Zackenbarsch wissen.
„Ich suche ein Herz“, sagte es.
„Vielleicht findest du eines in mir“, sagte der Zackenbarsch, denn das Mädchen gefiel ihm gut. „Hier ist der Schlüssel.“ Und er spuckte ihm einen goldenen Schlüssel vor die Füße.
Das Mädchen nahm den Schlüssel, machte sich ganz klein und kletterte vorbei an den spitzen Zähnen in den Bauch des Zackenbarsches. Der tauchte glücklich unter in die Tiefen des Nordmeeres. Sie wärmte sich in seinem Innern.
Doch so sehr das Mädchen auch suchte, dort waren Leber, Geist und Mut, ein Herz fand es nicht. Es wurde unruhig und fürchtete sich.
„Hier ist kein Herz! Lass mich hinaus!“
Der Zackenbarsch spürte ihre Angst und sorgte sich. Er überlegte genau, was er sagen sollte, und antwortete schließlich:
„In mir hast du ein Herz.“
Das Mädchen wunderte sich über diese Worte, sah hinunter auf seine Brust, doch da war nichts. Es spürte nichts. Alle Menschen hatten gesagt, es sei herzlos. Der Zackenbarsch musste lügen.
„Lass mich gehen und weiter suchen“, rief das Mädchen und hoffte insgeheim, er täte es nicht, denn in ihm fühlte es sich warm und gemütlich an.
Doch der Zackenbarsch schwamm zurück ans Land, weil er nicht wollte, dass sich jemand vor ihm fürchtete. Dort kroch das Mädchen hinaus aus dem Bauch und kletterte auf das Eis. So einfach lässt er mich gehen, dachte es bekümmert. Aber kein Wunder, dachte es weiter, das geschieht einem, wenn man herzlos ist.

Der Zackenbarsch betrachtete sie und er sah traurig aus. Das Mädchen stand zitternd am Ufer und der Himmel wurde langsam heller.
Einmal noch hob er an zu sprechen, um sie zu behalten, denn sie gefiel ihm wirklich gut.
„Wir sind wie Nebelschwaden, Schatten in der Dämmerung der Zeit. Wir verschwinden, wenn die Sonne aufgeht. Es wäre schöner, wenn du bei mir wärst.“
Was redet er für seltsames Zeug, dachte das Mädchen, denn es verstand seine Worte nicht. „Verschwinde jetzt“, schrie es wütend und schleuderte ihm den Schlüssel gegen sein Maul. Da brach einer der spitzen Zähne, flog blitzschnell zu dem Mädchen zurück und schnitt ihm den Brustkorb auf. Erschrocken blickte es zu der Stelle, fasste dorthin, fühlte es, spürte den kräftigen, tuckernden Schlag. Tief in ihrer Brust pochte ein kleines Herz.
Die ersten Strahlen der Morgensonne schienen über die weiten Eisflächen, ließen sie glitzern und funkeln. Der Zackenbarsch aber war verschwunden.
Das Mädchen aber kniete sich ungeachtet der Schmerzen noch einige Male nieder, zog mit dem Zeigefinger Kreise im Wasser und rief leise: „Zackenbarsch, komm zurück.“

Nachdem das Mädchen nun wusste, dass es ein Herz hatte, und weil der Zackenbarsch nicht auftauchte, ging es nach Osten der Sonne entgegen.
Dort fing sie an zu spinnen, denn etwas musste ihr tägliches Brot sein. Die Menschen freuten sich an dem Flachs, den das Mädchen spann, reichte er doch hier und da für einen Pullover, Hemd und Hose. So kamen bald viele zum Mädchen und sie ward „Maria“ genannt, denn die Menschen wussten, dass es einst dem Meer entsprungen war und daher ihre Verletzung rührte.
Die Wunde schloss sich langsam und manchmal war Maria, als sähe sie eine kleine Schuppe in ihrem Haufen Spinnerei, die dort glitzerte und funkelte wie ein winziger Diamant. Dann wurde sie still und hielt inne, gedachte des Barsches, schüttelte den Kopf und begann ihre Arbeit von neuem. So ging es, bis sie geheilt war. Doch eine kleine Narbe sollte bleiben.

Eines Tages hörte Maria ein Wispern im Wind: Im Süden solle es ein Land geben mit reichlich Platz für Flachs und Spinnerei und noch einen kleinen Topf mit Gold obendrauf. Dorthin würden aber nur die Mutigen kommen, die mit Geist und Verstand, Mut und Herz. „Nun“, dachte Maria, „ein Herz habe ich, der Rest wird sich zeigen, - und spinnen tu ich unheimlich gerne.“
Sie verabschiedete sich von den Menschen, die ihr einen Namen gegeben hatten, und machte sich auf den Weg.
Der Süden war heiß und trocken. Die Erde rissig und durstig. Die Sonne, die das Mädchen leitete, brannte heiß vom Himmel, verbrannte die Pflanzen, bräunte die Bäume und verkohlte den Flachs. Die Haut des Mädchens wurde dünn. Nirgends gab es etwas zu trinken und ihr Ziel war noch lange nicht in Sicht.
Da stand am Wegesrand ein großer, grüner Kaktus und machte ihr schöne Augen.
„Ich will dir wohl zu trinken geben, wenn du mich ein wenig liebhaben wirst.“
Zögernd ging Maria auf ihn zu, denn ihr war nicht wohl dabei. „Was meinst du denn damit?“
„Umarme mich nur ein wenig, Kleines.“
„Du bist so stachelig.“
„Bin ich nicht auch grün und schön?“
Marias Zunge klebte schon an ihrem Gaumen und sie konnte kaum noch sprechen, daher tat sie wie ihr geheißen, doch: die Stacheln stachen in ihre Arme und in ihren Oberkörper, ja, sie spürte sie auch an den Beinen und am Bauch.
„Au!“, wollte Maria sagen, doch Trockenheit verschloss ihre Kehle.
„Schhht“, zischte der Kaktus. „Bald will ich dir zu trinken geben.“
Maria wollte dem Kaktus glauben, wusste sie doch, dass Liebhaben schmerzen kann. Und tatsächlich, nach einer Weile floss Wasser zwischen den Stacheln den grünen Leib des Kaktus` hinab. Aber, ach wie schade, es waren nur wenige Tropfen, die kaum die Zungenspitze benetzten.
Maria ließ den Kaktus augenblicklich los.
„Dummes Mädchen, geh weiter, hab dich doch sowieso nie lieb gehabt“, lachte der Kaktus.
Na, warte, dachte Maria zornig, und brach sechs Kaktusstacheln mit ihren bloßen Händen.
„Ich bin kein Mädchen mehr“, rief sie und drückte den ersten Stachel zurück in den Kaktusleib. „Ich habe einen Namen, Maria!“ - „Dass lieben weh tut, habe ich schon erfahren.“- „Das hat mich ein Zackenbarsch gelehrt, ein viel schöneres Wesen als du, und nicht so stachelig und gemein!“-„Er hat mir einen ganzen Ozean gezeigt und nicht nur ein Rinnsal!“- „Wisse, was Schmerzen sind!“, und damit drückte sie den letzten, den sechsten Stachel tief zurück in das Kaktusfleisch.
Dann ging sie weiter gen Süden, der Sonne entgegen, in Richtung des Landes der Spinnerei.
Nach einiger Zeit wurden die Strahlen wieder sanfter und streichelten die Haut, anstatt sie zu stechen. Vielleicht lag es auch daran, dass die Kratzer, die sie sich durch den Kaktus zugefügt hatte, einfach verschwanden. Und Maria dachte darüber nach, was geschehen war. Sie dachte lange und ausführlich, bis sie beschloss, dass die Liebe sie nie wieder verletzen sollte. Denn Liebe musste doch eigentlich genau so sein, wie sie genannt war.
Lieb.
Den Kaktus aber hörte sie noch lange nach ihr rufen.

Auf ihrem Weg sammelte Maria Blumen und Flachs spann daraus wunderschöne Stoffe. Manche davon verkaufte sie, andere lud sie auf ihre Schultern und trug sie mit sich. Sie fragte die Menschen, wo das Land lag, das sie suchte. Je weiter sie kam, desto mehr hatten davon gehört, doch keiner konnte ihr den Weg nennen. Irgendwann begann Maria zu zweifeln. Auch wenn alle davon wussten, betreten hatte das Land noch keiner.
Dann, eines Abends, zogen sich Wolken dunkel und drohend am Himmel zusammen und Maria suchte einen Unterschlupf für sich und ihren Flachs, damit er trocken blieb und nicht schwer vor Nässe wurde. Sie fand auf einem Hügel einen alten Heuschober, in den kroch sie hinein. Draußen tobten Blitz und Donner. Außerdem meinte Maria, die Meereswogen branden zu hören. Doch wusste sie nicht genau, wo sie war und ob es hier in der Nähe überhaupt Wasser gab.
Sie war schon fast eingeschlafen, als plötzlich der Blitz in den Schober fuhr, dass es nur so krachte.
Augenblicklich stand das Gebäude in Flammen, da half auch der Regen nichts, der literweise vom Himmel goss. Immerhin gelangte Maria unbeschadet aus dem dampfenden Qualm, aber die Arbeit der letzten Monate war zunichte. Und während sie noch darüber klagte, dass das Feuer ihre vollendeten Gedanken fraß, da sah sie vor sich auf einmal die aufgeschäumten Wellen eines riesigen Ozeans, die langsam rollend an steilen Klippen brachen.
Direkt hinter der brennenden Scheune eröffnete sich ein Blick in die Ferne, und dort, noch ein kleines Stückchen weiter, glänzte der Strand in silbernem Licht.
„Dort wird es kein Unwetter mehr geben“, sprach Maria zu sich selbst und rannte durch den wütenden Sturm die Steilküste entlang, bis sie zu der Stelle kam. Darüber waren die Wolken aufgerissen und der Himmel zeigte seine Schätze: den Mond und seine unzähligen Begleiter.
Immer noch brausten die Wellen hart an den Strand und der Wind wehte einzelne Regentropfen an ihr Gesicht. Marias Herz pochte aufgeregt vom Laufen. Sie ließ sich in eine kleine Kuhle in den Sand fallen und blickte abwechselnd zu den Sternen und in die schäumende Flut. Ihr fror, aber noch mehr staunte sie über die Schönheit der Gestirne.
Und irgendwo zwischen den hellen Häuptern der Ewigen, entdeckte sie einen weißgelockten Fleck, der dort gar nicht hinzugehören schien, weil seine Form sich nie veränderte. Bevor sie erkannte, was es war, hörte sie ein tiefes Brummen, das den Rhythmus der Wellen in sich aufzunehmen schien. Maria spürte das Brummen bis ins Mark, es kitzelte sie von innen und sie wurde auf einmal so unglaublich froh, dass sie aufstand, um zu tanzen. Ganz selbstvergessen tanzte sie, nur Mond und Sterne sahen ihr dabei zu, auch sang sie zuweilen in das Brummen hinein, das die Melodie der Gezeiten mit sich brachte.
Schließlich aber trat ein Tier aus den Wellen. Es war ein riesiger, weißer Stier mit dichtem Fell und einem silbrig glänzenden Schwanz. Sein Fell triefte vor Wasser und vielleicht hatte er Maria schon gesehen, bevor sie ihn sah. Vielleicht hatte er sie sogar tanzen gesehen. Nun stand er ruhig vor den brausenden Wogen und betrachtete sie. „Konntest du mich hören?“, fragte der Stier. Und dann schüttelte er sich, dass es nur so spritzte.
„Ich habe dazu getanzt“, sagte Maria. Und dann fügte sie hinzu, weil es die Wahrheit war: „Und es war sehr schön.“
Der Stier kniff die Augen zusammen und schüttelte sich noch einmal. Maria glaubte schon, er habe sie nicht recht verstanden, da öffnete er erst das eine und dann das andere Auge und sah sie prüfend an.
„Dann tanze noch einmal und ich will dazu brummen.“
„Oh“, sagte Maria und wurde rot. „Ich kann das doch gar nicht.“
„Nun“, sagte der Stier, „Dann müssen wir uns eben noch besser kennenlernen. Was machst du hier und wo willst du hin?“
Und Maria erzählte ihm ihre Geschichte. Sie erzählte vom Zackenbarsch, vom Kaktus und vom Flachs – davon, was ihr auf der Reise verloren gegangen war, was sie gefunden hatte und wohin sie wollte.
Der Stier sah zufrieden aus. „Ich glaube, so eine wie dich habe ich schon immer vermisst, - wenn das geht.“
Ich glaube, das geht, dachte Maria. Aber dem Stier sagte sie erst einmal nichts, sondern streckte ihm nur die Hand entgegen, an der er schnüffelte und schleckte.
„Hm. Salzig“, sagte der Stier. „Gemeinsam werden wir das Land finden, in dem sie Spinnereien bezahlen. Vielleicht hört jemand dort auch mein Brummen. Denn das ist mein täglich Brot.“
„Ach“, seufzte Maria, „das ist lieb von dir, aber ich habe schon lange gesucht. Mein Flachs ist verbrannt. Jetzt habe ich nichts mehr und ich weiß nicht, wo ich noch suchen soll.“ Und dabei wurde sie ganz traurig und sank zu Boden. Nun fühlte sie die Kälte des Strandes, obwohl Wind und Wellen sich gelegt hatten.
„Hab keine Angst“, sagte der Stier und trat näher an sie heran. „Ich will dich wärmen. Ich will dir wieder aufhelfen. Und morgen, wenn die Sonne scheint, dann durchschwimme ich mit dir die sieben Weltmeere und wenn es sein muss, auch noch mehr. Schau, ich bin ein großer, starker Stier. So ein zartes Wesen, wie du es bist, findet doch leicht auf meinem Rücken Platz. Also, was meinst du?“
Und weil der Stier so freundlich war und weil Maria fröstelte, sagte sie: „Ach ja, das wäre schön“, kuschelte sich an das dichte Fell und fiel in einen traumlosen, tiefen Schlaf.

Am nächsten Morgen, oder besser gesagt, am nächsten Mittag, denn die Sonne stand schon hoch am Himmel, begann die Reise von Maria und ihrem Stier. Der Stier war ein fantastischer Schwimmer und Maria war niemals bang oder kalt, wenn sie auf ihm saß. Ja, manchmal schlief sie sogar auf ihm, denn der Stier war unermüdlich und durchschwamm die Ozeane, ganz wie er es versprochen hatte.
Dann und wann ruhte er. Wenn der Stier schlief, gab er ein bezauberndes Brummen von sich und Maria tanzte dazu, erst vorsichtig, dann immer ausgelassener, denn der Stier konnte sie nicht sehen. Und irgendwann tanzte Maria, wenn der Stier ihr dabei zusah, denn sie lernte ihm zu vertrauen.
Die Zeit flog dahin, von Insel zu Insel, von Kontinent zu Kontinent, hin und wieder sprang hier und da ein Fisch aus dem Wasser und Maria spann und spann.
Schließlich aber fiel es Maria wie Schuppen von den Augen. Denn auf ihrem Weg durch die Ozeane der Welt gelangte sie zurück an den Ort, den sie vor Jahren verlassen hatte.

Es war einer dieser belanglosen Tage. Ein Tag, an dem nichts passiert und doch so eine merkwürdige Stimmung in der Luft liegt. Maria lag auf dem Rücken des Stiers und suchte mit den Augen die Küstenregion ab, ob sich dort ein Ort fände, den sie noch nicht kannten.
Eine jede Küste gleicht der anderen, wenn auch manche aus Fels, mache aus Strand, manche aus Bäumen sind. Es gibt glatte und bröckelige Felsen, weiße und graue Strände, solche mit Pinien und solche mit Palmen. Dennoch ist ihnen gemeinsam, dass Wasser und Land zusammenkommen.
An diesem Tag schwamm der Stier an einer Küste mit braunem Sand und grünen Wiesen, die sich dahinter weit ins Landesinnere erstreckten. Etwas erregte Marias Aufmerksamkeit. Sie kraulte den Stier am rechten Ohr, dass er seine Bahn dorthin lenke, und je näher Maria der Gegend kam, desto bekannter erschien sie ihr. Da bat Maria den Stier, er sollte am Strand auf sie warten, damit sie ein paar Schritte alleine gehen konnte, denn dies war ein Weg, den nur sie allein beschreiten konnte. Der Stier verstand, aber er sah sie traurig an und sprach:
„Damit du mich nicht vergisst, sollst du drei Sachen von mir bekommen: ein Stückchen meines Fells, ein Brummen – in einer Flasche verpackt – und einen silbernen Zottel meines Schwanzes. Trage diese immer bei dir und sie werden dir von großem Nutzen sein. Das letztere führt dich geradewegs zurück zu mir.“

Maria schnürte ein Bündel mit diesen Dingen und ihren Siebensachen, gab dem Stier einen Kuss auf sein weiches Maul und kehrte ihm den Rücken zu. Über die Wiesen gelangte sie an eine schmale Tür mit Mustern und allerlei Zeichen. Sie schritt hindurch und kam in ein kleines Dorf, in dem Wesen lebten, die aussahen wie trocken´ Holz. Diese Wesen und ihre Art waren Maria wohl bekannt, denn sie war Wesen und Weise von denen, die ihr einst sagten, sie habe kein Herz.
Die Knorrigen saßen auf dem Marktplatz und versuchten sich an einem blauen Feuer zu wärmen. Nannten sich Menschen und hatten doch keine Vernunft. Denn während sie so dasaßen, froren sie bitterlich, doch wagte keiner von ihnen, sich dem anderen zu nähern. Schlimmer noch, um ihre knöchrigen Leiber zu wässern, sammelten sie in kleinen Schälchen die Tränen ihrer Kinder. Denn es waren Schattengleiche und sie wussten nicht, was sie taten.
Maria beobachtete sie eine Weile. Einst war auch sie ein hölzernes, brechbares Wesen, so wie die, die sie jetzt sah. Angst, Wut und Trauer stiegen in ihrem Innern auf und begannen, dort miteinander zu ringen. Je genauer Maria die Gestalten betrachtete, desto stärker spürte sie, dass jene Gefühle auch in den Ausgedörrten tobten, die dort saßen und nicht sprachen. Ja, der Kampf hatte sie ausgehöhlt, bis sie gänzlich spröde waren. Maria nahm das Stückchen Fell aus ihrem Bündel, das der Stier ihr gegeben hatte, legte es an ihre Wange und schmiegte sich an seine Weichheit.
Die Gefühle aber mochten das ganz und gar nicht und verließen Marias Herz. Angst, Wut und Trauer huschten durch die Gestalten hindurch in das blaue Feuer hinein und verglühten dort in einer schönen, spitzen Stichflamme.
Über den Marktplatz und das Dorf aber warf Maria aus ihren Siebensachen das größte Tuch, das sie je gesponnen hatte, damit es die Knöchrigen und ihre Kinder wärme. Und es war noch nass von den Weltmeeren, so dass es sie auch befeuchten würde, damit die Kinder ihre Tränen behielten.
Zufrieden betrachtete Maria ihr Werk und beschloss, zurück zum Stier zu kehren, denn er sollte nicht zu lange warten und sie vermisste seine Sanftmütigkeit. Doch als sie an die bunte Tür kam, die mit den Mustern und Zeichen, und sie vorwärts rückwärts durchschritt, war ihr, als wäre sie wieder herzlos, als wäre die Zeit niemals vorangerollt, als wäre sie wieder auf dem Weg in die Kälte.
Und die Erinnerung schlug über ihr zusammen, riss sie mit sich und aus allen Wolken mitten in das Nordmeer.

Der Sturz war heftig und schnell. Sie klatschte in das schwarze Wasser, kopfüber, in die Tiefe. Und Grund, einen Grund, schien es nirgendwo zu geben. Sie rauschte hinab mit rasender Geschwindigkeit, gerade so, als ob sie durch Luft und nicht durchs Meer gleiten würde.
Da sprach eine wohlbekannte Stimme: „Ich bin es. Kennst du mich noch?“
Maria war, als ob ihre Stimme von ihr fortgerissen würde, so heftig war ihr Fall.
„Ich kann dich nicht sehen“, antwortete Maria, „nur hören. Aber natürlich kenne ich dich noch.“
„Kennen, pah!“, rief der Zackenbarsch. „Zeit ist vergangen. So weit ist es gekommen.“ Seine Worte hallten in Marias Gedächtnis.
„So weit trug mich die Zeit“, flüsterte Maria.
Das Wort „Zeit“ rauschte unterm Wasser.
„Ab und an sprang ich über dich und den anderen hinweg“, sagte der Barsch schließlich. Tatsächlich, Maria erinnerte sich, springende Fische gab es in allen sieben Weltmeeren. Und es war wohl der Zackenbarsch gewesen und nicht bloß irgendeiner.
„Ich habe dich nicht gesehen.“
„Dabei hast du immer Ausschau gehalten.“
„Auf der Suche nach einem Land …“
„Ich habe ein Land gefunden. Jetzt bin ich König hier im Nordmeer.“
Maria kannte den Zackenbarsch gut, hatte sie doch einst in ihm gelebt.
„Und?“, fragte sie also.
„Ich habe eine Königin.“
Seine Worte versetzten Maria einen Stich ins Herz. Sie seufzte schwer und durch das Seufzen schien sich der Fall ein wenig zu verlangsamen.
„Was willst du hier?“, fragte der Zackenbarsch und er klang ein bisschen ärgerlich, fast so, als hätte er zu viel von sich preisgegeben.
„Ich fiel durch meine Erinnerung“, sagte Maria und das war die Wahrheit. In diesem Moment stieß ihr Kopf an den Meeresboden. Mit Armen und Beinen strampelte sie im Wasser, um sich zurück zu drehen. Und ihre wilden Bewegungen erinnerten sie an etwas, das hier unten leicht vergessen werden konnte.
„Ich bin gekommen, um dir ein Geschenk zu machen“, keuchte sie. „Womit man die Dunkelheit um sich herum vergessen kann, etwas, das im Innern kitzelt und glücklicher macht als alles andere auf der Welt.“
Damit zog sie die Flasche aus ihrer Tasche, die mit dem Brummen, welche ihr der Stier gegeben hatte. Denn auch, wenn sie vielleicht nie wieder auftauchen sollte, so wollte sie dem Zackenbarsch doch danken, und das Geräusch des Stiers war das kostbarste, was sie besaß.
„Die ist für dich“, flüsterte Maria leise, „ist es mir doch das Zweitliebste auf der Welt geworden. Für das liebste aber, für mein Herz, danke ich dir tausend Mal.“
Ein tiefer Ton erfüllte das Nordmeer und brachte ein wenig Licht ins Dunkel. Maria sah den Zackenbarsch, ein letztes Mal, sein glänzendes Kettenhemd, die kleinen, spitzen Zähne und eine winzige Krone auf seinem Haupt. Er ist ein Fisch, selbst wenn er ein König ist, dachte sie bei sich.
Und in diesem Moment spürte sie den Boden unter ihren Füßen und stieß sich kräftig ab. Zur Sicherheit nahm sie den silber glänzenden Schwanzzottel aus ihrem Beutel, damit er sie schnell zurück zum Stier leitete.

Zurück am Strand, ganz in der Nähe des Ortes, wo Maria aufgewachsen war, sah Maria nirgendwo einen Stier. Aber im hellen Sonnenschein, in Jeans und weißem Hemd, stand ein schöner Mann.
„Hast du hier einen Stier gesehen?“, fragte Maria ihn.
„Ich bin dein Stier“, sagte der Mann und zwinkerte ihr fröhlich zu, „Dein Kuss hat mich verwandelt. Bist du den Dingen auf den Grund gegangen?“
Und wahrlich, es war seine Stimme, die da sprach, wenngleich sie jetzt aus einer menschlichen Brust strömte.
„Aus den tiefsten Tiefen hat ein Teil von dir mich zurückgebracht“, sagte Maria ernst, fasste ihren Stier bei den Händen und küsste ihn sanft.

Und als Maria fortfuhr mit ihren Spinnereien, da suchte sie einmal nach altem Flachs in ihrem Beutel und fand dort ein kleines, zackiges Fischgewand mit unzähligen, feinen Schuppen. Sie löste es sachte heraus und betrachtete es erstaunt.
„Er muss wohl“, sagte sie zu ihrem Mann, „auch eine andere Gestalt angenommen haben, so wie du.“

Maria und der Jüngling aber reisten noch eine Weile durch die Welt, und weil der Stoff mit den eingenähten Fischteilen glänzte und schimmerte und viel Aufsehen erregte, kam schließlich ein Bote, der lud die beiden ein.
In ein fernes Land, wo es viel Platz für Spinnerei und Flachs gab und noch einen Pott mit Gold obendrauf.
Und man sagt, der einstige Stier habe dort mit seinem Brummen für Furore gesorgt und es in gekorkten Flaschen verkauft!
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Seraiya
Geschlecht:weiblichMondsüchtig


Beiträge: 924



Beitrag04.04.2015 12:48

von Seraiya
Antworten mit Zitat

Hallo Taschmetu,

Wow. Solche Texte sind eigentlich gar nicht mein Ding, aber ich finde den einfach zu schön. Wunderschön. Rührend und herzerwärmend. Würde ich sofort kaufen und meiner Tochter abends vorlesen!
Kleine "Fehler", wie ein fehlendes Komma, habe ich, wenn überhaupt, nur nebenbei bemerkt und die haben mich nicht gestört. War viel zu sehr von der süßen Geschichte abgelenkt.
Von mir aus hätte es auch mit dem vorletzten Satz aufhören können, aber dann hätte der Rest der Welt ja nichts von dem wohltuenden Brummen, was widerum sehr schade wäre. smile
Toll!

Liebe Grüße,

Seraiya


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"Some people leave footprints on our hearts. Others make us want to leave footprints on their faces."
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