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Alissa und der Schneekönig

 
 
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Merope
Geschlecht:weiblichKlammeraffe


Beiträge: 715
Wohnort: Am Ende des Tals
Der Goldene Käse


Beitrag31.12.2013 16:42
Alissa und der Schneekönig
von Merope
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

So viel Schnee!

Es schneite. Alissa sah zum Fenster hinaus und seufzte. So viel Schnee!! Normalerweise freute sie sich jeden Winter auf die ersten Schneeflocken. Es konnte ihr gar nicht genug schneien. Doch dieser Winter war anders. Seit Wochen fielen große Flocken vom Himmel, Tag und Nacht.
Anfangs waren zumindest die Kinder begeistert. Endlich konnten sie wieder Schneemänner und Iglus bauen, Schlitten- und Skifahren und sich im Schnee richtig austoben. Die Erwachsenen freuten sich mit den Kindern, aber sie stöhnten auch ein bisschen, weil sie soviel Schneeräumen mussten.
Nach einer Woche lag schon sehr viel Schnee. Man wusste nicht mehr, wohin mit den Schneebergen. Die Kinder bauten große Tunnel, und weil es sehr kalt war, stürzten die Tunnel nicht ein.
Doch es schneite weiter. Wenn Alissa zum Himmel hochsah, konnte sie die dicken, grauen Schneewolken erkennen, die aussahen, als könnten sie ein ganzes Jahr lang große, weiße Flocken ausschütten.
Die Erwachsenen stöhnten nicht mehr, sie warfen sorgenvolle Blicke zum Himmel hoch. Die Schneeräumer kamen zu den kleineren Orten schon nicht mehr durch. Sie hatten genug zu tun, die Hauptstrecken offenzuhalten, und auch das gelang ihnen nur mit viel Mühe.
Alissas Mutter ging jeden Tag zweimal in die Speisekammer, um die Vorräte zu kontrollieren. Seit 4 Tagen konnten sie nicht mehr zum Einkaufen fahren. Frische Milch war nur noch für 2 Tage da. Aber die meisten Sachen - Brot, Gemüse, Fleisch – waren ausreichend vorhanden, entweder eingefroren oder in Konserven.
 Peter, Alissas Vater, legte Alissa die Hand auf die Schulter: „Na, gehst Du heute gar nicht raus zum Schlittenfahren?"
„Nein“, sagte sie, „ich hab' keine Lust. Immer nur der blöde Schnee!"
„Ja“, meinte er, „langsam könnte es wirklich aufhören." Seit 3 Tagen konnte er nicht mehr in die Bank fahren, in der er arbeitete. Er machte sich Sorgen. Das kleine Dorf, in dem sie wohnten, lag in den Hügeln. Der Schnee machte es unmöglich, hinein- oder herauszukommen. Er und seine Familie hatten zwar bisher keine Probleme. Sie hatten genug zu essen und zu trinken. Strom gab es auch noch, Gott sei Dank. Aber, wenn jetzt jemand krank werden sollte?
Sein alter Nachbar war nicht gut auf den Beinen. Seit über 2 Wochen plagte ihn ein schlimmer Husten, der nicht besser wurde. Im Dorf gab es keinen Arzt, der ihn behandeln konnte. So half man sich eben mit alten Hausmitteln weiter. Eibischtee mit Honig war ein gutes Rezept. Vielleicht ging ja alles gut, und es hörte bald auf zu schneien. Er seufzte. Wenn sogar Alissa keine Freude mehr am Schnee hatte...

                                                    * * *

Stellina

Nach dem Abendessen ging Alissa zum Zähneputzen. Sie versuchte noch ihren Vater zu überzeugen, dass es besser wäre, die Zahnbürste zu schonen und Zahnpasta zu sparen. Denn wenn sie noch einen Monat eingeschneit wären, hätten sie bestimmt keine Zahnpasta mehr, wenn sie nach jedem Essen putzen müsste. Aber er ließ sich nicht überreden. Schade!
Sie sah aus dem Badezimmerfenster in die Dunkelheit hinaus. Nur ein kleiner Fleck am Fenster war frei, den sie freigehaucht hatte. Der Rest des Fensters war bedeckt mit wunderschönen Eisblumen. Hübsch sahen sie aus, dachte Alissa beim Zähneputzen.
Ein Eiskristall sah aus wie der, den sie vor 2 Wochen für die Schule aus Papier ausgeschnitten hatte.
Sie wusch sich noch schnell das Gesicht - sehr schnell, denn sie wollte kein Wasser vergeuden - sprang die Treppe hinunter zu ihren Eltern und sagte ihnen gute Nacht. Nachdem sie noch ein wenig auf Peters Schoß gekuschelt hatte, ging sie nach oben. Sie wusste, sie durfte noch lesen. Ihre Bücherkiste stand in der Ecke. Alissa zog ein Buch nach dem anderen heraus, sah es kurz an und steckte es wieder in die Kiste.
Eine große braune Wolldecke lag auf dem Sessel. Sie wickelte sie um sich herum, dass sie aussah wie ein kleiner Indianerhäuptling und setzte sich im Schneidersitz auf ihr Bett. Vorsichtig hauchte sie gegen das Fenster. Sehr dunkel war es draußen. Durch ihr kleines Loch konnte sie im Schein der Lampe immer noch die großen, zarten Schneeflocken fallen sehen. Sie waren wie dicke Flaumfedern, die das ganze Land unter ihrer Decke erstickten.
Am Fensterrand setzte sich eine neue Schneeflocke fest. Alissa sah sie genauer an. Fein verästelt war sie, wunderschön. Und in der Mitte sah es aus, als hätte sie Augen mit langen Wimpern und einen kleinen Mund. Alissa legte ihre Lippen an das Fenster. Das Glas war sehr kalt. Doch bevor sie ihren warmen Atem gegen das Fenster blasen konnte: Nanu, dachte sie, hat die Schneeflocke ihren Mund verzogen? Das gibt's doch gar nicht.
Alissas Lippen formten ein großes „O" , als sie noch mal gegen die Fensterscheibe hauchen wollte. Doch was geschah da: Nein, sie täuschte sich bestimmt nicht! Die Schneeflocke hatte ihren Mund aufgemacht und die Augen zusammengekniffen. War da nicht ein feines Stimmchen zu hören?
Verdutzt öffnete Alissa das Fenster einen Spalt.
„Nicht hauchen, sonst schmelze ich!" schrie das Schneeflöckchen. Na ja, wenn ein Schneeflöckchen schreit, ist das nicht sehr laut. Aber Alissa konnte es ganz deutlich verstehen.
„Keine Angst, ich hör' schon auf. Aber sag mal, wieso kannst du eigentlich sprechen? Und was machst Du hier, kleine Schneeflocke?" fragte Alissa.
Vorsichtig öffnete das weiße Flöckchen erst das linke, dann das rechte Auge. Misstrauisch schielte sie das Mädchen an: „Machst Du mir auch bestimmt nicht mehr warm mit Deinem Mund?"
„Nein, nein", versicherte Alissa, „bestimmt nicht, ich passe schon auf."
Da lächelte die kleine Schneeflocke glücklich. „Na, hatte ich jetzt aber eine Angst! Wenn Dein warmer Atem noch mal an die Scheibe gekommen wäre, wäre ich zu Wasser geworden. Und ich wollte doch so gerne sehen, wie es in einem Menschenhaus aussieht. Ich bin nämlich noch ganz jung und bin jetzt das allererste Mal vom Himmel gefallen. Wenn wir uns an einem kalten Fenster festhalten und zu Eiskristallen werden, können wir genau beobachten, was die Menschen alles tun. Und ich bin doch soooo neugierig!"
Alissa musste lachen. Wenn sie selbst eine Schneeflocke wäre, würde sie es sicher genauso machen. Ihre Mutter sagte immer zu ihr: „Alissa, Du bist neugierig wie eine kleine Spitzmaus!"
Und da Alissa alles immer ganz genau wissen wollte, musste sie die kleine Schneeflocke noch einmal fragen: „Wieso kannst du eigentlich mit mir sprechen? Bist du eine Zauberflocke?"
Jetzt fing das Schneeflöckchen an zu kichern: „Du kommst vielleicht auf Ideen! Nein, also so was! Zauberflocke, das hab' ich ja noch nie gehört!!" Es konnte sich gar nicht mehr beruhigen.
Alissa musste mitlachen. Die kichernde Schneeflocke sah einfach zu lustig aus. Als beide fertiggelacht hatten, sahen sie sich an. Die Schneeflocke meinte: „Hast du aber große Augen. Und so komische Haare!"
„Na, und Du?" fragte Alissa. „Eine Schneeflocke mit Mund und Augen! Du bist auch komisch!"
Beide schwiegen. Durch den Fensterspalt kroch die kalte Luft in das Kinderzimmer hinein. Alissa fröstelte.
„Kannst Du nicht mit in mein Zimmer kommen?" fragte sie. „Ich friere so und möchte das Fenster zumachen!" Das ging natürlich nicht. Im warmen Zimmer wäre die Schneeflocke sofort geschmolzen.
„Komm doch raus zu mir!" schlug das Schneeflöckchen vor. „Und wenn Dir dann kalt ist, bekommst Du einfach einen warmen Mantel aus Schnee."
Alissa schüttelte den Kopf. Warmer Schneemantel, das gab's doch gar nicht. Das Schneeflöckchen bettelte so lange, bis Alissa im Bademantel durch das Fenster auf den kleinen Balkon kletterte. Sie musste gut aufpassen, um nicht aus Versehen an die Fensterscheibe zu stoßen. Es war bitterkalt draußen. In den Hausschuhen stand sie bis über die Knöchel im Schnee, der auf dem Balkon lag.
Sie klapperte mit den Zähnen. „Nein, hier erfriere ich ja. Da holt man sich ja den Tod!" Dann packte sie den Fensterrahmen, um wieder zurückzuklettern.
Da stieß die Schneeflocke ein eigenartiges Sirren aus. Es hörte sich an wie das Zirpen der Grillen, oder wie der Wasserkessel, kurz bevor das Wasser kocht, oder…? Ganz genau lässt es sich nicht beschreiben. Es war auch ziemlich leise, zumindest für Alissas Ohren.
Auf einmal sanken Flocken so groß wie eine Hand auf Alissa nieder. Jede einzelne Flocke hatte Augen und einen kleinen Mund. Sie verhakten sich mit ihren Ärmchen, lächelten Alissa an und bedeckten sie langsam vom Hals bis zu den Füßen. Alissa fühlte sich wie in einen dicken, warmen Pelz eingehüllt. Ihr wurde kuschelig warm.
„Wie hast Du denn das gemacht?" fragte sie. „Und woher kommen diese großen Flocken? Und wieso friere ich nicht mehr? Und wieso ..."
„Halt, Halt, Halt!" unterbrach sie das Schneeflöckchen. „Nicht soviel auf einmal fragen!" Es grinste. „Siehste, ich hab Dir ja gesagt, ich habe einen warmen Schneemantel. Wie heißt Du eigentlich?"
„Alissa“, sagte das Mädchen, „und wie heißt Du? Haben Schneeflocken auch Namen?"
„Ich heiße Stellina!"
Nur gut, dass Alissas Eltern das nicht sahen: ihr Töchterchen eingehüllt in eine dicke Schneedecke. Und wenn sie erst gehört hätten, dass Alissa sich mit einer Schneeflocke unterhielt - ich weiß wirklich nicht, ob sie das geglaubt hätten.
Alissa wickelte sich eng in den Schneeschal, der von ihrem Schneemantel herabhing. Dann fragte sie ihre neue Freundin: „Du, Stellina, warum schneit es eigentlich schon so lange? Ich mag Schnee gern, aber das ist jetzt wirklich zuviel. Mein Papa hat auch gesagt, langsam wird's sogar gefährlich, wenn man mit keinem Fahrzeug mehr in unser Dorf hineinkommt."
Stellina machte ein überraschtes Gesicht, zog die winzigen Augenbrauen hoch: „Wirklich? Das wusste ich nicht. Ich dachte immer, alle Menschen freuen sich über uns Schneeflocken. Warum wir diesen Winter so viele sind, weiß ich auch nicht. Manches Jahr waren wir nur ganz wenige. Aber dieses Jahr, ja, du hast recht, wir sind sehr viele. Und oben in den Wolken sind noch viel, viel mehr von uns, die darauf warten, zur Erde hinabzuschweben!"
Alissa erschrak: „Aber das darf nicht sein! Wenn es noch lange so weiterschneit, haben wir nichts mehr zu essen und zu trinken. Und keine Zahnpasta mehr - obwohl das nicht ganz so schlimm ist. Aber unser Nachbar, der Onkel Petz - eigentlich heißt er Peter wie mein Vater, aber ich sage immer Petz zu ihm. Er sieht aus wie ein alter Braunbär! - der ist krank. Vielleicht muss ein Doktor kommen, um ihn wieder gesund zu machen. Wie soll der denn durch diesen Schnee kommen, wenn nicht einmal die Schneeräumer durchkommen? Stellina, Du musst etwas tun, damit das Schneien aufhört!!"
Stellina schaute das Mädchen ernst an. „Aber das kann ich nicht, Alissa. Ich bin doch nur eine kleine Schneeflocke. Da müsstest Du schon mit unserem König sprechen!"
„Wer ist denn Dein König?", wollte Alissa wissen.
„Na, der Schneekönig natürlich. Wer denn sonst?!" Stellina war sehr verwundert über die Frage.
„Den kenne ich nicht!" sagte Alissa. „Ich habe auch noch nie von ihm gehört. Meine Mutti hat mir schon viel erzählt, aber von einem Schneekönig noch nicht. Dann gibt es den auch gar nicht!"
Stellina empörte sich: „Also so was! Diese Menschen haben wirklich keine Ahnung! Wer, denkst Du denn, sorgt dafür, dass es soviel schneit? Der Schneekönig, das weiß doch jeder!! Wenn du es mir nicht glaubst, brauchst Du bloß auf sein Schloss zu gehen!“ Sie knisterte vor Zorn.
 Alissa hatte den Eindruck, als sprühten richtige Eisfunken aus dem kleinen Schneeflöckchen heraus.
Um Stellina zu beruhigen, sagte das Mädchen: „Entschuldige, reg' dich bloß nicht so auf! Ich glaube Dir ja. Allerdings habe ich wirklich keine Ahnung, wie ich auf sein Schloss kommen könnte. Obwohl - die Idee ist ziemlich gut. Wenn ich ihn bitten könnte, mit dem Schneien aufzuhören...ach, Stellina, das wäre toll!" Ihre Augen strahlten. Sie stellte sich vor, wie glücklich alle im Dorf wären, wenn endlich kein Schnee mehr fiele.
Stellina wurde angesteckt von der Begeisterung des Mädchens. Eifrig sagte sie: „Kein Problem mit dem Hinkommen. Das schaffen wir schon. Aber ob Du den Schneekönig überzeugen kannst, also, ich weiß nicht. Der macht eigentlich immer nur das, was er will. Versuchen kannst Du es ja einmal."
„Stellina, wie soll ich denn nur auf sein Schloss kommen?" fragte Alissa.
Da stieß Stellina wieder dieses eigenartige Sirren aus, das Alissa schon einmal gehört hatte. Allerdings dauerte es diesmal länger und klang auch etwas höher. Wieder sanken große Flocken mit Augen und Mündern vom Himmel herab. Sie hatten noch längere Arme wie die von Alissas Schneemantel. Auf dem Balkon legten sie sich zu einem Teppich zusammen, formten wunderschöne Muster.
Als er ganz dicht und flauschig geworden war, sagte Stellina stolz: „Schau, Alissa, mit diesem Teppich können wir zum Schneekönig fliegen. Ist er Dir auch weich und warm genug, oder soll ich ihn noch dicker machen lassen?"
Alissa sah mit großen Augen auf den Schneeteppich herab. „Nein“, sagte sie, „er ist wunderschön so. Lass ihn, wie er ist. Ach, Stellina, was Du alles kannst! Und mit diesem Teppich kann ich wirklich zum Schneekönig fliegen? Und Du kommst mit?"
„Na klar“, antwortete Stellina, „Du kennst doch den Weg nicht. Also muss ich mitkommen, oder nicht?"
Alissa setzte sich, eingehüllt in ihren Schneemantel, auf den Schneeteppich. Ein kleiner Windstoß löste Stellina von der Fensterscheibe. Langsam schwebte sie direkt vor Alissa herunter und setzte sich vor sie hin.
„Wir brauchen noch ein bisschen Wind zum Starten." sagte sie. War es wirklich so, dass jetzt alle Schneeflocken im Teppich ihre Lippen spitzten und anfingen, mit vollen Backen zu blasen? Alissa wusste es nicht genau.
Der Teppich hob sich sanft in die Luft, stieg hoch, bis Alissa fast in den Schornstein hineinschauen konnte und flog los, über die Hügel, immer höher, immer schneller.
Alissa wickelte ihren Schneeschal noch enger um sich herum, sogar über den Mund und die Nase. Sie vergrub die Hände tief in den Schneemanteltaschen.
Stellina blickte aufmerksam nach vorne in die dunkle Nacht. Eine schmale Mondsichel gab ein wenig Licht. Müde geworden lehnte sich Alissa zurück. Die Schneeteppichflocken bildeten ein weiches Kissen unter ihr. Sie schlief ein.

                           * * *

Beim Schneekönig

Weit, weit im Norden liegt der Eispalast des Schneekönigs. Blauweiß glitzern die Türme, die Mauern sind aus blankem Eis, der Garten ist verziert mit Schnee- und Eisblumen der schönsten Art.
Alissa erwachte, als der Schneeteppich etwas bremste und sich in eine Kurve legte, um unter dem großen Palasttor hindurchzufliegen. Verschlafen rieb sie sich die Augen. Die aufgehende Sonne spiegelte sich in den Eisflächen der Mauern, die Schneekristalle glitzerten.
Aufgeregt fragte sie Stellina: „Sind wir wirklich schon da?"
„Natürlich. Du hast ja die ganze Zeit geschlafen!", meinte Stellina. Mit einem sanften Bogen flog der Schneeteppich die Treppe hinauf, die ganz aus Eis gehauen war. Oben, direkt vor der Eingangstür zum Palast, landete er. Alissa kuschelte sich eng in ihren Schneemantel, stand auf und sah sich um.
Im Palastgarten gab es Blumenbeete, Bäume, Sträucher und wunderschöne Rosenhecken, alles geformt aus Eis und Schnee. Sogar ein kleiner Springbrunnen war da. Ein gefrorener Wasserstrahl spritzte einem kleinen Schneefisch direkt in sein Mäulchen.
Alissa musste lachen. Sie wandte sich Stellina zu: „Hier ist es wirklich wunderschön. Nur ein bißchen wenig Farbe. Ich habe es lieber, wenn die Blumen bunt sind."
„Ich kenne gar keine bunten Blumen“, sagte Stellina traurig. „Wenn wir vom Himmel herabschneien, gibt es doch gar keine Blumen, die blühen."
„Du hast recht, Stellina. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht." Alissa wurde ernst. „Stellina, wir müssen unbedingt zum Schneekönig hinein. Wenn ich nicht bald wieder nach Hause komme, machen sich meine Eltern große Sorgen. Sie wissen doch gar nicht, wo ich bin!"
Wie von Zauberhand öffnete sich in diesem Augenblick die große Tür. Beide Türflügel aus blankem Eis schwangen knarrend nach innen.
„Geh' nur hinein, Alissa!" sagte Stellina. „Ich muss hier draußen bleiben und warten. Der Schneekönig mag nämlich keine Schneeflocken in seinem Palast haben. Er sagt immer, das sieht so unordentlich aus."
Sie verzog das Gesichtchen zu einer Grimasse. „Am liebsten will er alles aus Eis haben. Das muss auch noch schön poliert sein, damit es glänzt. Wenn wir mal schnell in den Palast hineinfliegen, nur um zu schauen, dann staubt er uns gleich wieder hinaus."
Alissa hatte ein komisches Gefühl in ihrem Bauch. Aber sie wollte vor Stellina nicht wie ein Angsthase erscheinen. Daher holte sie tief Luft, winkte Stellina kurz zu und ging mutig durch die großen Türen. Laut knarrend schlossen sich die schweren Türen hinter ihr.
Staunend schritt Alissa durch einen langen Gang. Große Fensteröffnungen mit blitzblanken Eisscheiben ließen das Sonnenlicht herein. Schneebilder verzierten die Wände. Und alles war so weiß, dass es fast in ihren Augen schmerzte. Wieder öffneten sich Türen vor ihr. Sie betrat einen großen Saal.
„Warum störst Du mich, Menschenkind?" Eine tiefe Stimme erfüllte den Raum.
Alissa sah sich suchend um. Am anderen Ende des Saals sah sie die Rückenlehne eines großen Sessels. Vielleicht war das der Thron des Schneekönigs? Vorsichtig ging sie näher. Wutsch, der Boden war so blank poliert, dass sie hinfiel.
„Auatsch!" Sie rieb sich das Knie, als sie wieder aufstand. „Hier ist es ja so glatt, dass man Schlittschuhe braucht!" Sie schlidderte vorsichtig an der Wand entlang bis zum Thron.
Der Schneekönig schaute durch die prächtigen Fenster des Thronsaals hinaus in den Garten. "Warum störst Du mich, Menschenkind?" wiederholte er. Er wandte den Kopf und sah Alissa tief in die Augen: „Was willst Du hier?"
Für einen Moment konnte Alissa nicht antworten. Der Schneekönig war sehr groß, viel größer als ihr Vater. Alles an ihm war weiß, fast blauweiß. Seine Eiskrone glitzerte, in seinem langen weißen Bart funkelten Eiskristalle. Schließlich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen: „Herr Schneekönig, bitte, sorgen Sie doch dafür, dass es bei uns nicht mehr schneit. Unser Dorf ist schon ganz eingeschneit. Wir können nicht mehr hinaus, und keiner kann zu uns herein. Unser Nachbar ist krank. Es muss endlich ein Doktor kommen, um ihn zu behandeln. Und ich habe fast keine Zahnpasta mehr zum Zähneputzen!"
Täuschte sie sich, oder sah sie da ein Lächeln im strengen Gesicht des Schneekönigs?
„Wie bist Du denn hierher gekommen?" fragte er.
„Stellina, die kleine Schneeflocke hat mich mit dem fliegenden Schneeteppich hergebracht." erklärte Alissa.
„Soso, Du hast also tatsächlich gehört, was die kleine Schneeflocke gesagt hat?! Selten, dass Menschen das hören können. Meistens achten sie gar nicht darauf. Wo ist denn Stellina?"
„Sie wartet draußen, Herr Majestät Exzellenz. Sie hat mir gesagt, dass Schneeflocken nicht hereindürfen, weil sie alles vollstauben."
Wieder erschien der Hauch eines Lächelns auf dem ernsten Gesicht des Schneekönigs. „Stellina soll hereinkommen!" rief er so laut, dass die Fensterscheiben klirrten. Kurz danach schwebte das Schneeflöckchen von einem leichten Windstoß getragen herein. Sanft landete sie auf dem Schoß ihres Herrschers.
„Soso, Du hast das Menschenkind hergebracht. Weißt Du denn, ob es überhaupt erlaubt ist, Menschen hierher zu bringen?"
„Das weiß ich nicht, erhabener König," sagte Stellina. „Aber Alissa hat mir so leid getan. Und nur der mächtige Schneekönig kann entscheiden, wo wir Schneeflocken herunterfallen müssen. Deshalb habe ich Alissa hierher gebracht. Wenn ich einen Fehler gemacht habe“, sie schluckte ein wenig, sprach aber tapfer weiter: „dann muss ich eben zur Strafe schmelzen. Aber bitte, großer, mächtiger Schneekönig, hilf Alissa!"
Bedächtig kraulte der König seinen Eisbart, dass kleine Kristalle durch die Luft stoben.
Alissa war empört: „Stellina soll nicht schmelzen! Sie wollte mir doch nur helfen! Wenn hier irgend jemand eine Strafe verdient hat, dann ich. Aber lassen Sie Stellina in Ruhe!" Alissas Augen funkelten den Schneekönig wütend an.
Er lächelte: „Nanana, so ein kleines Mädchen will sich mit dem Schneekönig anlegen? Du hast wohl gar keine Angst vor mir, oder?"
„Nur ein kleines bisschen, weil Sie so groß sind. Aber deswegen haben Sie doch nicht das Recht, eine kleine Schneeflocke...."
„Halt, jetzt sei mal still!" unterbrach er sie. „Ich habe doch gar nichts davon gesagt, dass irgendwer bestraft werden soll. Und wenn Du die ganze Zeit soviel sprichst, kann ich nicht nachdenken. Hat Dir das bisher noch niemand gesagt?"
„Doch, meine Eltern!“ sagte Alissa kleinlaut. Aber im Innersten war sie froh, dass der Schneekönig niemanden bestrafen wollte. Deshalb holte sie erst einmal tief Luft und presste die Lippen fest zu, damit sie nicht aus Versehen wieder weiterquasselte.
Plötzlich stand der Schneekönig auf, sodass Stellina fast auf den Boden gerutscht wäre. Mit großen Schritten ging er zum Fenster und sah hinaus.

                                        * * *

Alles wird gut

Der Schneekönig drehte sich zu Alissa um:
„Ich glaube fast, ich habe einfach viel zu lange vor mich hingedöst und in meinen Garten hinausgesehen.“
Er räusperte sich kurz. „Hrrmh! Ich habe überlegt, wo ich die große Eis-Eiche hinpflanze. In die Eis-Eiche sollen natürlich auch Eis-Eichhörnchen hinein. Und Eichelhäher aus Eis.“
Er lächelte vor sich hin.
„Ähm, Majestät Exzellenz“, unterbrach ihn Alissa, „heißt das, Sie haben einfach vergessen, dass es die ganze Zeit auf uns weitergeschneit hat?“
„Natürlich nicht!“, sagte der Schneekönig streng. Aber so ganz glaubte Alissa ihm das nicht!
„Aber es ist ganz gut, dass Du gekommen bist und mich daran erinnert hast“, meinte er. Dann hob er die Arme hoch, dass die weiten Eisärmel knisterten. Aus seinem Mund drang ein machtvolles Brüllen, so laut, dass sich Alissa die Ohren zuhielt und Stellina sich verängstigt in Alissas Haare flüchtete.
Aus dem Brüllen wurde ein Säuseln, das immer leiser wurde, bis es schließlich vollends verstummte. Dann drehte er sich zu Alissa und Stellina um und sagte: „So, jetzt kannst Du wieder nach Hause zurück. Aber beeile Dich, denn bald wird es wärmer und dann schmilzt Dein fliegender Schneeteppich. Und Stellina auch!“
Alissa bekam ganz erschrockene Augen. Sie wollte natürlich sofort nach Hause zurück.
„Danke, Herr Majestät Exzellenz Schneekönig“, sagte sie und verbeugte sich. Das mit der Anrede ‚Majestät’ und der Verbeugung hatte sie in einem Buch gelesen.
Stellina zupfte sie an den Haaren: „Beeil Dich, wir müssen ganz schnell hier raus.“
Alissa rutschte vorsichtig durch den Saal zurück zur Tür und trat hinaus auf die Eingangstreppe, wo der Schneeteppich auf sie wartete. Sie mummelte sich dicht in ihren Schneemantel ein und setzte sich auf den Teppich.
„Los geht’s, Stellina!“, rief sie. Stellina und die anderen Schneeflocken sorgten für ordentlichen Wind. Der Schneeteppich hob sich, flog über den königlichen Eispark und verschwand in den Wolken.
Wie schon beim Hinflug wurde Alissa nach wenigen Augenblicken sehr müde. Sie gähnte laut und war kurz darauf eingeschlafen.
Sie wachte wieder auf, weil es plötzlich so ruhig geworden war. Gerade eben war der Schneeteppich auf dem kleinen Balkon vor ihrem Kinderzimmer gelandet. Es war wieder Nacht geworden.
Alles war noch genauso wie vorhin. Oder doch nicht?!
Von den riesigen Eiszapfen, die am Dach hingen, tropfte ein Tropfen herunter und fiel genau auf ihre Nasenspitze. Da wusste Alissa, dass es zu tauen begonnen hatte.
„Stellina, schnell, Du musst wieder nach Hause, sonst schmilzt Du!“
Die kleine Schneeflocke sah sie traurig an: „Eigentlich würde ich gerne hier bei Dir bleiben! Und dann die bunten Blumen sehen!“
Alissa schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie, „das geht nicht!“ Dann leuchteten ihre Augen auf: „Ich habe eine tolle Idee, Stellina! Im nächsten Winter kommst Du wieder. Im Sommer male ich Bilder von all den bunten Blumen und zeige sie Dir dann im Winter! Und Du nimmst mich noch einmal mit auf den fliegenden Schneeteppich. OK?“
Stellina nickte glücklich. Plötzlich musste sie niesen. Das ist für Schneeflocken ein schlechtes Zeichen. Denn dann sind sie zu nass geworden.
„Ich muss schnell los, sonst schaffe ich es nicht mehr nach Hause“, sagte sie.
Sie winkte Alissa zu, während sich die Schneeflocken von Alissas Schneemantel und vom Schneeteppich um sie sammelten und wie in einem kleinen Wirbelsturm weggeweht wurden, weiter, weiter, und weiter.
Alissa fröstelte plötzlich. Ihre Füße wurden kalt. Daher kletterte sie durch das Fenster zurück in ihr Zimmer, ging ins Bett und zog sich die Bettdecke bis über die Ohren. Dann schlief sie ein.

                                   * * *

Wieder daheim

Am nächsten Morgen wurde Alissa von ihrer Mutter geweckt. „Alissa! Alissa!“ Dann folgte eine lange Pause. „Alissa, nun steh’ doch endlich auf! Ich habe Dich schon dreimal geweckt, und Du schläfst immer wieder ein!“
Alissa streckte sich und gähnte. Ihre Mutter hatte sie ja offensichtlich gar nicht vermisst! Dabei war sie doch eine ganze Nacht und einen ganzen Tag lang weg gewesen!
„Hast Du Dich gar nicht gewundert, wo ich war?“, fragte sie, als sie zum Frühstücken nach unten in die Küche ging.
„Nein, natürlich nicht. Du warst im Bett. Wo denn sonst?“ Ihre Mutter schaute sie nur verwundert an. Da merkte Alissa, dass ihr Flug zum Schneekönig doch nicht so lange gedauert hatte. Hatte sie etwa alles nur geträumt?
Plötzlich hörten sie von draußen fröhliches Rufen:
„Es taut! Mein Gott, endlich, es taut!“
Mit vollem Mund kauend lief Alissa hinaus: endlich einmal kein neuer Schnee, sondern blauer Himmel und Sonnenschein. Und wirklich, der Schnee taute!
Ihre Mutter war mit herausgekommen und legte ihr die Hand auf die Schulter: „Komm herein, Kleines, sonst erkältest Du Dich noch - mit Hausschuhen und ohne Anorak.“
Alissa grinste. „Och, das macht mir gar nichts aus. Aber das mit der Sonne, das hab ich doch gut gemacht, oder?“
Ihre Mutter lachte: „Hast Du sie hergezaubert und die Schneeflocken weggezaubert?“
Alissa nickte. „Ja, so ungefähr!“
Dann gingen die beiden wieder ins Haus, um weiter zu frühstücken. Etwas später legte sich Alissa ihre Buntstifte zurecht und schrieb in ihren großen Wandkalender hinein:
Im Sommer Bilder für Stellina malen!
Und das tat sie dann auch.

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