18 Jahre Schriftstellerforum!
 
Suchen
Suchabfrage:
erweiterte Suche

Login

Jetzt erhältlich! Eine Anthologie von und mit unseren Usern. Jetzt bestellen! Die erste, offizielle DSFo-Anthologie! Lyrikwerkstatt Das DSFo.de DSFopedia


Deutsches Schriftstellerforum Foren-Übersicht -> Prosa -> Werkstatt
Die geschenkte Zeit


 
 
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen
 Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen  « | »  
Autor Nachricht
AlexisC
Geschlecht:weiblichGänsefüßchen


Beiträge: 17



Beitrag03.05.2009 19:30
Die geschenkte Zeit
von AlexisC
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Prolog

Ich habe mein Leben der Medizin gewidmet. Stillschweigend dem hippokratischem Eid verpflichtet, lasse ich mein gesamtes Wissen und Können den Menschen zukommen, die meiner Hilfe bedürfen.

Meinen Beruf übe ich mit Sorgfalt aus. Pflichtgefühl lenkt mich und der innere Drang, dem Wüten von Bakterien, Viren und todbringenden Zellen auf den Grund zu gehen und ihrem zerstörerischen Treiben Einhalt zu gebieten.

Ich analysiere meine Patienten, seziere ihre Krankengeschichte, durchleuchte ihre Körper mit allen technischen Hilfsmitteln, die mir zur Verfügung stehen. Und ich bin gut. Ich bin sehr gut, soweit ich das den Krankenblättern und Laborergebnissen entnehmen kann – und das ist alles, was für mich zählt. Das ist alles, worauf ich vertraue. Das – und die Ergebnisse medizinischer Forschungen, ärztlicher Fachblätter und hochdekorierter Wissenschaftler, die tagtäglich versuchen, die Natur auszutricksen und den Zerfall des Körpers aufzuhalten.

Denn die Wahrheit ist, wir stehen mit unserem medizinischen Wissen erst ganz am Anfang. Wir glauben zu begreifen, wie die moderne Heilkunst funktioniert. Wir glauben, den Kreislauf des Lebens verstanden zu haben und sind überzeugt, ihn mit künstlichen Mitteln verlängern zu können.

Wir denken, wir haben mit den Errungenschaften hochtechnisierter Medizin die Formel für die Ewigkeit entdeckt und den Schlüssel zur Unsterblichkeit gefunden.

Doch in Wirklichkeit, wissen wir gar nichts und wir werden immer wieder und auf unbarmherzige Weise daran erinnert, dass wir alle dem Willen der Natur unterworfen sind, die seit Jahrmillionen Jahren den Kreislauf von Leben und Sterben diktiert.

In meiner täglichen Arbeit in der Klinik habe ich gelernt, der Stimme meiner Patienten nicht zu intensiv zu lauschen und ihren Blick nur sekundenlang zu streifen. Ihr Leid ist für mich weniger real, wenn ich ihre Namen und ihr Schicksal nur mit Laborergebnissen und Röntgenbildern in Verbindung bringe.

Sie zu verlieren schmerzt weniger, wenn ich ihre Akten abhefte. Meine medizinischen Niederlagen zu akzeptieren ist weniger qualvoll, wenn ich meinen Abschlussbericht schreibe und mich nicht den anklagenden und tieftraurigen Blicken der Hinterbliebenen stellen muss, die – der Hoffnung beraubt – mit dem Verlust eines geliebten Menschen weiter leben müssen.

Abstand zu wahren, erscheint mir die einzige Möglichkeit, den Terror der medizinischen Grenzen ertragen zu können. Jeden Tag in den Krieg zu ziehen und selten eine Schlacht zu gewinnen, daran habe ich mich gewöhnt und in meinem Arztkittel spiegelte sich das Weiß der Kapitulation.

Eine Rüstung aus Baumwolle, die mir hilft, Distanz zu wahren zu dem, was ich nicht ändern kann und mein Herz zu schützen vor dem, was ich sonst nicht ertragen würde.


Als ich Lukas das erste Mal sah, stand ich an der U-Bahnhaltestelle vor der Klinik und alles, was ich wollte, war schlafen.

Ich hatte einen vierundzwanzig Stunden Dienst hinter mir. Meine Beine waren schwer wie Blei, mein ganzer Körper taub und mein Kopf fühlte sich an wie Watte.

Ich steuerte auf den einzigen freien Sitzplatz zu, um auf die Bahn zu warten und als ich meine Beine ausstreckte, entfloh mir ungewollt ein leises Stöhnen und ich rieb mir fahrig die Augen.

„Harten Tag gehabt?“ hörte ich eine weiche Stimme – und bis heute habe ich den Klang nicht vergessen. Melodisch tief, ein wenig rau. Die Frage nicht aus Mitleid geboren, sondern anteilnehmend gestellt.

Ich wandte meinen Kopf.
Unsere Blicke trafen sich und entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten sah ich nicht weg. Bis heute denke ich, ich war einfach zu müde und meine Reaktionsfähigkeit extrem verlangsamt. Doch tief im Herzen weiß ich, dass ich meine Schutzülle fallen lasse, sobald ich dem Krankenhaus den Rücken kehre.

Es ist, als würde ich mit dem Ende meiner Schicht von einer Welt in die andere laufen und in meiner Naivität und Ignoranz nicht damit rechnen, dass beide aufeinander prallen könnten.

Und so erwiderte ich seinen Blick furchtlos und sah in ein Augenpaar, an dem zuerst das Auffällige das Unauffällige war. Ein typisches Durchnitts-grau-blau, das man schnell wieder vergisst, weil man täglich an Hunderten solcher Augenpaare vorbei geht.

Und doch blieb ich für Sekunden an seinen hängen – warum, habe ich erst viel später verstanden, als es zu spät war. Als ich bereits gefangen war in seinem Zauber und anfing, meine eigene, ganz persönliche Schlacht zu kämpfen.

Und bis heute verfolgt mich die Frage, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn meinem Auto nicht am Tag zuvor die Reifen zerstochen worden wären. Was wäre passiert, hätte ich eine U-Bahn später genommen oder er die erste nicht verpasst?

Ich weiß es nicht und ich bin zu müde, darüber nachzudenken. Alle Gedankenspiele und alle „Was-wäre-wenns“ ändern nichts daran, dass wir an diesem Tag gemeinsam auf die U-Bahn warteten, und er fünf Stationen mit mir mitfuhr, bevor er ausstieg.

Es ändert nichts daran, dass ich mich hoffnungslos in ihn verliebte und er mir für eine kurze Zeit die Sterne vom Himmel holte.

Ich bin unendlich dankbar, dass ich ihn getroffen habe – und ich verfluche gleichzeitig den Tag, an dem er in mein Leben trat.

Nichts ist mehr wie es war und nichts wird mehr so sein wie es gewesen ist.


+ + +


tbc

Weitere Werke von AlexisC:
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Telani
Geschlecht:weiblichLeseratte

Alter: 37
Beiträge: 174



Beitrag03.05.2009 22:17

von Telani
Antworten mit Zitat

pfoah jetzt hat da noch keiner geantwortet!
Also ich würde sagen bei dir klappt das mit den kurzen Sätzen schon recht gut Alexis Wink Hast schon mehr Übung als ich.

Ich mag deinen Erzählstil weil er so schön flüssig ist. Trotzdem hab ich irgendwie das Gefühl, dass dein anderer Text Leandro und Marc mehr berührt. Nicht, dass ich diesen Text nicht auch berührend finde (zB ist der Vergleich mit dem weisen Kittel und der Kapitulation wirklich gelungen) aber da sind ein paar Formulierungen über die ich beim Lesen drüberstolpere.

Zitat:
dem Wüten von Bakterien, Viren und todbringenden Zellen auf den Grund zu gehen und ihrem zerstörerischen Treiben Einhalt zu gebieten.


Wüten und zerstörerisches Treiben in einem Satz ist meiner Meinung nach zu heftig.

Zitat:
hochdekorierter Wissenschaftler

meintest du da hochdottiert?

vorallem gegen das Ende hin wird der Text sehr dicht und nachdenklich. Da schaffst du mit deiner Sprache wirklich schöne Bilder.
Also ich werd gern deine Geschichten hier weiterverfolgen wenn dir das Recht ist,

LG Telani


_________________
Die Wirklichkeit ist ein zerbrochener Spiegel!
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Jocelyn
Bernsteinzimmer

Alter: 59
Beiträge: 2251
Wohnort: Königstein im Taunus
Das Silberne Fahrrad Ei 1



Beitrag04.05.2009 14:05

von Jocelyn
Antworten mit Zitat

Hallo Alexis,

dein Text hat mich tief berührt, ich weiß gar nichts im Moment dazu zu sagen, außer dass die Botschaft bei mir ohne Umwege angekommen ist.
Und dass ich dich oder deinen Protag rückhaltlos für deinen/seinen  Einsatz bewundere.

Mehr vielleicht später.

Caecilia


_________________
If you dig it, do it. If you really dig it, do it twice.
(Jim Croce)

Die beständigen Dinge vergeuden sich nicht, sie brauchen nichts als eine einzige, ewig gleiche Beziehung zur Welt.
(Aus: Atemschaukel von Herta Müller, Carl Hanser Verlag, München 2009, Seite 198)

"Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer."
(Voltaire)
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Einherjer
Geschlecht:männlichKlammeraffe


Beiträge: 545



Beitrag04.05.2009 15:11

von Einherjer
Antworten mit Zitat

Hallo Alexis.

Ich bin beeindruckt. Besonders zum Ende wird dein Text emotional immer dichter. Die Andeutungen erzeugen eine ungemeine emotionale Spannung.


Sehr gut.

Meine einzigen Kritikpunkte:

"[...]und ihren Blick nur sekundenlang zu streifen."
Das "sekundenLANG" stört. Du möchtest hier sicherlich beschreiben, dass der Ich-Erzähler den Patienten nur möglichst kurz in die Augen sieht. Das "LANG" erreicht aber eher das Gegenteil. Schreib lieber etwas wie "nur für wenige Sekunden zu streifen." Dir fällt bestimmte eine noch bessere Formulierung ein als mir.

Zuletzt stört mich dein Kürzel. Hoffe du bist nicht persönlich betroffen. Es gibt aber bestimmt schönere Kürzel, wenn man bedenkt, dass in den nächsten zehn Jahren etwa 30 Millionen Menschen an Tbc sterben werden.

Einen freundlichen Gruß

Einherjer
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Merlinor
Geschlecht:männlichArt & Brain

Alter: 72
Beiträge: 8672
Wohnort: Bayern
DSFo-Sponsor


Beitrag04.05.2009 23:51

von Merlinor
Antworten mit Zitat

Hallo AlexisC

Zuerst einmal muss ich Dir sagen, dass Du Schreiben kannst. Alles was ich im Folgenden sage, hat damit also nichts zu tun.
Dennoch muss ich herbe Bedenken anmelden.

Leider muss ich nämlich feststellen, dass ich mit diesem Beginn eines Romans nicht unbedingt glücklich bin.
Vermutlich liegt das daran, dass ich „Prologe“ ohnehin nicht mag ... smile

Aber hier geht es auch um Grundsätzliches: Der Einstieg in einen Roman dient dazu, den Leser zu fesseln.
Er soll, nachdem er den Klappentext gelesen hat, so schnell es geht in die Handlung geholt werden.
Warum? Weil der eventuelle Käufer im Buchladen Dein Werk sonst schon nach kurzer Zeit wieder ins Regal zurücklegen wird.
Prologe sind deshalb nicht mehr modern. Sie erfordern den eigentlich gewogenen Leser, der "seinen" Autor bereits kennnt..

Einen Prolog kann sich deshalb heutzutage ein bereits bekannter Autor leisten, dessen Publikum seine Meriten kennt und ihm auch durch einen langwierigen Einstieg folgt..

Deine Schreibe ist glatt und gut lesbar. Du kannst es also.
Aber glaubst Du im Ernst, dass sich der eventuelle Käufer im Laden, der die ersten Zeilen Deines Romans überfliegt, die Zeit nehmen wird, sich mit den grundsätzlichen philosophischen Ansichten Deines Protags bezüglich seines Berufs auseinanderzusetzen?
Dies soll die Geschichte einer – anscheinend verzweifelten – Liebe werden.
Deswegen hat der Leser im Buchladen das Teil in die Hand genommen, nachdem er vom Klappentext daraufhin angespitzt wurde.
Also erwartet er, unmittelbar in diesen Kontext eingeführt zu werden.
Die tieferen Motivationen und die Lebensphilosophie Deines Protags kannst Du im Rahmen der Handlung beständig und ausreichend darstellen.

Aber das ist sicher nur meine persönliche Meinung. Ich fürchte allerdings, dass die von diversen Verlagslektoren geteilt wird.

Kurz: Das ist sicher ansehnlich geschrieben, aber es gehört in meinen Augen deutlich gestrafft, gestrafft und gestrafft ...
Mach ein erstes Kapitel daraus, mach Deine Lektoren glücklich, zeige ihnen einen Text, den sie auch verkaufen können, denn darauf zielst Du doch ab.

Soweit meine persönliche Meinung. Ich hoffe, dass Du mir jetzt nicht böse bist. Aber etwas Besseres kann ich Dir nicht sagen.
Du schreibst gut, das ist deutlich zu erkennen. Aber um zu veröffentlichen, musst Du auch die Regeln der Verlagswelt in die Art Deines Schreibens einbeziehen.

Herzlich Very Happy  Very Happy  Very Happy

Merlinor


_________________
„Ich bin fromm geworden, weil ich zu Ende gedacht habe und nicht mehr weiter denken konnte.
Als Physiker sage ich Ihnen nach meinen Erforschungen des Atoms:
Es gibt keine Materie an sich, Geist ist der Urgrund der Materie.“

MAX PLANCK (1858-1947), Mailand, 1942
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Jocelyn
Bernsteinzimmer

Alter: 59
Beiträge: 2251
Wohnort: Königstein im Taunus
Das Silberne Fahrrad Ei 1



Beitrag06.05.2009 16:14

von Jocelyn
Antworten mit Zitat

Hallo Leute,

also das kann ich ja gar nicht so sehen!  Shocked

Zitat:
"[...]und ihren Blick nur sekundenlang zu streifen."
Das "sekundenLANG" stört. Du möchtest hier sicherlich beschreiben, dass der Ich-Erzähler den Patienten nur möglichst kurz in die Augen sieht. Das "LANG" erreicht aber eher das Gegenteil. Schreib lieber etwas wie "nur für wenige Sekunden zu streifen." Dir fällt bestimmte eine noch bessere Formulierung ein als mir.


Sekunden können so inhaltsreich sein, dass sie einen langen Nachhall in einem auslösen. Endlose Sekunden. (siehe mein letztes Gedicht...da kannst du weiter kritisieren. Wink ) Habe schon viele aufregende Sekunden erlebt, gerade wenn man in die Augen eines anderen Menschen schaut!
Einherjer, da hast du noch einiges zu entdecken!

Zitat:
In meiner täglichen Arbeit in der Klinik habe ich gelernt, der Stimme meiner Patienten nicht zu intensiv zu lauschen und ihren Blick nur sekundenlang zu streifen. Ihr Leid ist für mich weniger real, wenn ich ihre Namen und ihr Schicksal nur mit Laborergebnissen und Röntgenbildern in Verbindung bringe.


Deshalb wird AlexisC sicher trotzdem die Stimme hören, die Augen sehen, er hält dieses Erleben nur knapp, aus Schutz heraus vielleicht. Weil er soviel zu erledigen hat, dass er seinen Kopf nur fachlich belasten will.
OK, ich komme aus der Branche, habe ähnliche Arbeitsbedingungen zu tragen, bin übrigens schon im Burnout deshalb.

Und Alexis, du musst auch aufpassen, das dir das nicht noch passiert, dein Selbstschutz scheint schon dünn zu werden..... Wink



Merlinor hat Folgendes geschrieben:

Aber hier geht es auch um Grundsätzliches: Der Einstieg in einen Roman dient dazu, den Leser zu fesseln.


Ja, hallo? Ich war wie gefesselt! Nicht jeder schreibt für die breite Masse!
Zitat:
Er soll, nachdem er den Klappentext gelesen hat, so schnell es geht in die Handlung geholt werden.


Er wird hier stimmungsmäßig sofort motiviert, die Sprache allein, die so packt, spätestens ab dem Satz "Ich bin gut."

Zitat:
Und ich bin gut. Ich bin sehr gut, soweit ich das den Krankenblättern und Laborergebnissen entnehmen kann – und das ist alles, was für mich zählt. Das ist alles, worauf ich vertraue. Das – und die Ergebnisse medizinischer Forschungen, ärztlicher Fachblätter und hochdekorierter Wissenschaftler, die tagtäglich versuchen, die Natur auszutricksen und den Zerfall des Körpers aufzuhalten.

Denn die Wahrheit ist, wir stehen mit unserem medizinischen Wissen erst ganz am Anfang. Wir glauben zu begreifen, wie die moderne Heilkunst funktioniert. Wir glauben, den Kreislauf des Lebens verstanden zu haben und sind überzeugt, ihn mit künstlichen Mitteln verlängern zu können.

Wir denken, wir haben mit den Errungenschaften hochtechnisierter Medizin die Formel für die Ewigkeit entdeckt und den Schlüssel zur Unsterblichkeit gefunden.

Doch in Wirklichkeit, wissen wir gar nichts und wir werden immer wieder und auf unbarmherzige Weise daran erinnert, dass wir alle dem Willen der Natur unterworfen sind, die seit Jahrmillionen Jahren den Kreislauf von Leben und Sterben diktiert.


Wenn das nicht eines Prologs würdig sein soll, was bitte sonst, Merlinor??

Das ist Tiefe, das ist Philosophie, da werden Sinnfragen beleuchtet! Wie ich es liebe solche Bücher zu lesen! Deshalb mag ich auch Philip Roth, das geht in diese Richtung.

Zitat:
Warum? Weil der eventuelle Käufer im Buchladen Dein Werk sonst schon nach kurzer Zeit wieder ins Regal zurücklegen wird.


Hier schreibt ein Arzt, oder der Autor versetzt sich in die Arztrolle (Wie isses denn, Alexis??) also denkt er nicht zuerst ans Geld, bestimmt nicht!

Irgendwie bist du scheinbar nicht so auf meiner Wellenlänge, Merlinor!

Zitat:
Prologe sind deshalb nicht mehr modern.


Wäre für mich kein schlagendes Argument, auch das nicht offensichtlich Moderne hat Erfolg, manchmal gerade das, weil es anders ist!!!!

Lieben Gruß, Caecilia


_________________
If you dig it, do it. If you really dig it, do it twice.
(Jim Croce)

Die beständigen Dinge vergeuden sich nicht, sie brauchen nichts als eine einzige, ewig gleiche Beziehung zur Welt.
(Aus: Atemschaukel von Herta Müller, Carl Hanser Verlag, München 2009, Seite 198)

"Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer."
(Voltaire)
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Einherjer
Geschlecht:männlichKlammeraffe


Beiträge: 545



Beitrag07.05.2009 13:30

von Einherjer
Antworten mit Zitat

Hallo nochmal.

@Caecilia: Sicherlich können auch Sekunden lang sein. Hab selbst sehr lange Sekunden erlebt, an die ich mich heute noch erinnern kann. An einige erinnere ich mich gerne, andere rauben mir Nachts den Schlaf. Konntest du nicht wissen.


Ich versuch es nochmal anders zu formulieren, vielleich wird es dann verständlicher worum es mir mit meiner Kritk ging. An der genannten Textstelle scheint es dem Autor (Unterstellung) darum zu gehen, zu betonen, dass der Kontakt nur flüchtig ist und möglichst schnell vorüber gehen soll. Wie du richtig sagst zum Eigenschutz. Deshalb wird die gewollte Beschleunigung des Momentes durch den Anhang "lang" gestört.

Der Leser liest die Textpassage, kann alles hervorragend nachvollziehen fühlt mit, versteht, dass der Kontakt nur flüchtig sein soll, und hoplla steht da auf einmal "lang". Ein Reizwort. "Lang" passt nicht zur beschriebenen Situation.

Hoffe es ist deutlich geworden, was ich kritisiert habe.


Einen freundlichen Gruß

Einherjer


_________________
Stil ist die Fähigkeit, komplizierte Dinge einfach zu sagen - nicht umgekehrt (Jean Cocteau)

Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist der gleiche wie zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen. (Mark Twain)
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Jocelyn
Bernsteinzimmer

Alter: 59
Beiträge: 2251
Wohnort: Königstein im Taunus
Das Silberne Fahrrad Ei 1



Beitrag07.05.2009 15:27

von Jocelyn
Antworten mit Zitat

Zitat:
In meiner täglichen Arbeit in der Klinik habe ich gelernt, der Stimme meiner Patienten nicht zu intensiv zu lauschen und ihren Blick nur sekundenlang zu streifen. Ihr Leid ist für mich weniger real, wenn ich ihre Namen und ihr Schicksal nur mit Laborergebnissen und Röntgenbildern in Verbindung bringe.

Einherjer hat Folgendes geschrieben:

Hoffe es ist deutlich geworden, was ich kritisiert habe.


Also, ich kann halt nicht verstehen, warum du dich da jetzt so dranne festbeißt.  Rolling Eyes

Sekundenlang, oder für wenige Sekunden, eine lange, wenige kurze, ist doch egal, Ergebnis: kurz. Punkt.

Aber schön zu lesen, dass du auch die langen Sekunden kennst.
Ich denke, dass dieser beschriebene Arzt manchmal bei all seinem Wollen nicht daran vorbeikommt, eben doch lange Sekunden zu erleben, eben weil ein sensibeler Mensch daran nicht vorbeikommen kann, und dass er tiefsinnig und sensibel ist, dass zeigt ja schon seine Selbstreflexion. Letztendlich kommt auch er nicht am Erleben, an der Wirklichkeit vorbei.  Wink

Caecilia


_________________
If you dig it, do it. If you really dig it, do it twice.
(Jim Croce)

Die beständigen Dinge vergeuden sich nicht, sie brauchen nichts als eine einzige, ewig gleiche Beziehung zur Welt.
(Aus: Atemschaukel von Herta Müller, Carl Hanser Verlag, München 2009, Seite 198)

"Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer."
(Voltaire)
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
AlexisC
Geschlecht:weiblichGänsefüßchen


Beiträge: 17



Beitrag09.05.2009 09:03

von AlexisC
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo in die Runde,

ich muss mich entschuldigen - ich habe überhaupt nicht mitbekommen, dass hier eine Diskussion angefangen hat - ich glaube, ich muss mir die technischen "Tricks" des Forums hier noch einmal genauer anschauen.

Erst mal vielen Dank, dass Ihr Euch so viel Zeit genommen habt, zu antworten und mir eure Gedanken dazu mitgeteilt habt.

Vielleicht zu der grundsätzlichen Frage Prolog oder nicht Prolog: Ich persönlich liebe Prologe und ich habe in fast jeder meiner Geschichten einen Prolog.

Mich selbst ziehen Bücher in den Bann, die einen Prolog haben, weil sie dem Leser ein Versprechen oder eine Stimmung, eine Richtung vorgeben.

Das habe ich hier versucht - es hat bei einigen geklappt, bei einigen eher nicht Wink.

Vielleicht mögt Ihr die Frage noch einmal mit mir diskutieren, wenn die Story beendet ist (sie ist noch ein Werk in Arbeit...). Vielleicht ist es am Ende tatsächlich sinnvoll, keinen Prolog daraus zu machen.

Ohne zu viel von der Geschichte preisgeben zu wollen, aber ich beschreibe hier einen Arzt, der völlig gefangen ist in einer Welt, die ihm nicht mehr gefällt und unter der er leidet. Dazu werden nach und nach mehr Informationen kommen.

Dieser Arzt verliebt sich. Er verliebt sich plötzlich, ohne Vorwarnung - so wie das ja meistens ist Smile - und diese Liebe bringt sein Leben durcheinander und erschüttert ihn buchstäblich.

Ich habe vor einigen Wochen mit der Geschichte angefangen und obwohl ich von Beginn an in der Ich-Form erzählt habe, bekam ich erst beim Schreiben weiterer Kapitel den Eindruck, dass es hier fast mehr ein "Tagebuch" ist, was ich schreibe und werde sie vermutlich - je nachdem wie die Story am Ende aussieht - am Ende noch mal ein wenig umschreiben.

Damit könnte es also tatsächlich so sein, dass der Prolog kein Prolog mehr wird, sondern der erste Tagebucheintrag, den ich dann - Deinen Rat aufgreifend, Merlin - ein wenig umformulieren würde, wobei seine Beschreibung als Arzt wichtig ist, um dem Leser einen Eindruck zu geben, mit wem er es zu tun hat.

Ich werde darüber nachdenken und bin Euch extrem dankbar für Eure gedankenvollen Kommentare. Es hilft unglaublich zu wissen, welche Worte berühren, welche Emotionen ausgelöst werden - und ich hoffe, ich kann Euch mit dieser Geschichte weiter fesseln und zur Diskussion anregen Wink.

Hier kommt jedenfalls jetzt der zweite Teil.

Euch ein schönes Wochenende und viel Spaß beim Lesen !

Herzliche Grüße,
AlexisC
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
AlexisC
Geschlecht:weiblichGänsefüßchen


Beiträge: 17



Beitrag09.05.2009 09:13

von AlexisC
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Ich wollte vorher noch kurz auf zwei Sachen eingehen.

SekundenLANG - Einherjer, ich glaube, du hast Recht !
Ich möchte ausdrücken, dass er nur kurz den Blick der Patienten streift, weil ihm alles andere Angst macht und er sonst fürchtet, sich zu tief in seine Patienten hinein zu fühlen.

SekundenLANG ist tatsächlich dann missverständlich. Ich müsste vermutlich dann eher schreiben "nur für den Bruchteil einer Sekunde" - wäre das deutlicher/besser?

Ich kann das leider jetzt hier nicht mehr ändern - aber ich werde das im Original berücksichtigen.


Und Telani, Du hattest das Wort "hochdekoriert" angemerkt und mich gefragt, ob es nicht besser "hochdotiert" heißen müsste.

Das treibt mich jetzt ein bisschen um, denn ich bekomme den Eindruck, beide Wörter sind nicht ganz das, was ich meine. Hochdekoriert - mit Orden ausgezeichnet - wobei Wissenschaftler ja keine Orden bekommen, aber das ist eigentlich das, was ich meine: ausgezeichnete Wissenschaftler, Meister ihres Fachs, Koryphäen.

Hochdotiert heißt hochbezahlt - das wäre die Folge, aber nicht primär das, was ich meine.

Die Frage ist, kann ich hochdekoriert auch bei Wissenschaftlern nehmen? Nach den Erklärungen, die ich jetzt tatsächlich auch im Netz erst mal lesen musste nach der Frage Wink klingt das Wort eher nach einer militärischen Auszeichnung...

Hmmm....
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
AlexisC
Geschlecht:weiblichGänsefüßchen


Beiträge: 17



Beitrag09.05.2009 09:20
Die geschenkte Zeit (2)
von AlexisC
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Wir sprachen nicht viel während unserer ersten gemeinsamen Fahrt. Ich war zu müde und er... Er sah die meiste Zeit nach draußen. Seine Augen folgten den flackernden Oberlichtern, die an uns vorbei huschten, als die Bahn sich durch die unterirdischen Gänge schlängelte. Er wirkte konzentriert – fast schon beschwörend, so als versuchte er, die Lichtblitze nur allein durch seinen Willen zu fangen und für einen Moment fest zu halten

Ab und an trafen sich unsere Blicke – scheinbar wie zufällig glitten sie aneinander vorbei, wenn ich überdrüssig wurde, die Menschen um mich herum zu beobachten und seine Augen kurzfristig ein anderes Ziel suchten.

Ich weiß nicht, wann es passierte, aber irgendwo zwischen der zweiten und vierten Station fiel mir auf, dass seine Nase sich kräuselte, wenn er angestrengt aussah und dass er sich immer wieder von der Stirn aufwärts über seinen Kopf strich – vermutlich eine Gewohnheit, die aus einer Zeit stammte, als seine Haare noch länger gewesen waren.

Kurz vor der fünften Station fing er meinen Blick erneut ein und sah mich mit einer Intensität an, die mir normalerweise unangenehm gewesen wäre und mich veranlasst hätte, den Blick zu senken. Doch seine zuvor so unscheinbar wirkenden Augen glitzerten unnatürlich in dem fahlen Neonlicht. Seine Pupillen stachen hervor wie dunkle Stecknadelköpfe und gaben seinem Blick eine nackte, unverhüllte Tiefe, die mich unwillkürlich in den Bann zog.

Ich konnte nicht weg schauen und Bruchteile von Sekunden wurden auf einmal zu einer Ewigkeit, bevor er aufstand und mich mit einem traurigen Lächeln ansah.

„Mach's gut“, sagte er, nahm seinen Rucksack und ich sah, wie er seine Schultern anspannte, bevor er an den Ausgang trat und darauf wartete, dass sich die automatischen Türen öffneten und ihn mitsamt den anderen Fahrgästen auf den Bahnsteig spucken würden.

Ich reckte meinen Hals, um ihn noch einmal zu sehen. Ich suchte seinen Blick zwischen all den Menschen, die in Richtung Aushang hasteten – und es war nicht schwer, ihn auszumachen.

Er ging langsamer als die anderen, seine Schritte schienen gesetzter und überlegter – und als die U-Bahn losfuhr sah ich, wie er seinen Kopf drehte und in die vorbeiziehenden Fenster schaute.

Ich bin nicht sicher, ob er mich gesehen hat, aber seine Hand war – fast unbemerkt – zum Gruß erhoben.


+ + +


Ich sah ihn drei Tage später wieder. Mein Auto hatte neue Reifen und ich eine zweite Doppelschicht hinter mir, als ich langsam vom Mitarbeiter-Parkplatz des Krankenhauses fuhr und mich in den Verkehr einordnete.

An der Ampel musste ich warten und da erblickte ich ihn an der Fußgängerampel stehend. Sein Gesicht war blass und eine dunkle Sonnenbrille verdeckte seine Augen. Seine ganze Körperhaltung wirkte erschöpft und müde. Ich überlegte nicht lange.

„Harten Tag gehabt?“ rief ich ihm durch das geöffnete Beifahrerfenster zu und als er sich überrascht in meine Richtung drehte, lächelte ich ihn an.

„Ich kann dich mitnehmen. Wir haben den gleichen Weg.“

Ich sah, wie er zögerte und meine Ampel von gelb auf grün umsprang.

Ich wartete und ließ ihn nicht aus den Augen.

Hinter mir hupte das erste Auto. Ich öffnete die Beifahrertür. „Steig schon ein. Beeil dich“, rief ich ihm zu – und er kam.

„Macht es wirklich keine Umstände...?“

„Nein, nun komm schon!“

Er ließ sich wortlos in den Sitz fallen und ich fuhr mit quietschenden Reifen los, sah in den Rückspiegel und hupte.

Einfach so, weil ich mich urplötzlich unglaublich gut fühlte.

„Was hast du heute noch vor?“ fragte ich ihn und grinste ihn an. Es war ein wunderbarer Frühlingsabend. Die Luft war klar, die Sonne verabschiedete sich mit einem atemberaubenden Sonnenuntergang und es versprach eine sternenklare Nacht zu werden.

Ich fühlte mich auf einmal überhaupt nicht mehr müde. Mein Körper kribbelte und pulsierte voller Tatendrang und purer Lebensfreude, wie man sie nur empfindet, wenn ein langer Winter zu Ende gegangen ist und die ersten Sonnenstrahlen die Haut wärmen und die Lebensgeister erwecken.

Ich sah, wie er die Schultern zuckte. „Nichts“, sagte er leise und starrte aus dem Fenster. Diese Mal versuchte er, die vorbeiziehenden Häuser und Menschen mit seinen Blicken zum Stillstand zu bewegen.

Irgendetwas an ihm faszinierte mich. Ich konnte damals nicht sagen, was es war. Die seltsame Stille, die von ihm ausging vielleicht - seine Stimme in jedem Fall. Er strahlte eine Ernsthaftigkeit und Melancholie aus, die mich berührte und den Wunsch in mir erweckte, ihn zum Lachen zu bringen.

„Nichts ist nicht viel“, antwortete ich und versuchte, seinen Blick zu erhaschen. „Was ist mit Abendessen?“

Er sah mich an, den Mund leicht verzogen – zu einem echten Lächeln reichte es nicht. „Nein, danke. Ich habe keinen Hunger.“

„Dann begleite mich nur. Ich hab eine Horror-Schicht hinter mir und könnte Abwechslung gebrauchen.“

Ich biss mir auf die Lippe – plötzlich voller Angst vor dem nächsten Schritt, wie auch immer er aussehen würde. Denn die Wahrheit war, ich war unsicher. An mein letztes Date konnte ich mich nicht mehr erinnern, so lange lag das zurück und viele Freunde hatte ich nicht, die meine Fähigkeit der Konversation in der Zwischenzeit hätten ölen können.

Mein Job hatte mich über die Jahre ausgelaugt und mich langsam aber sicher meines gesamten sozialen Netzwerks beraubt. Ich ließ es geschehen, denn meistens war ich froh, wenn ich nach der Arbeit in meine Wohnung kam und mich für den Rest des Tages in meinen eigenen vier Wänden verkriechen konnte.

Doch dieses Mal war es anders und mein Herz klopfte, als ich auf seine Antwort wartete.

Ich hörte ihn leise seufzen und ein unerklärliches Gefühl der Enttäuschung durchströmte mich. Auf einmal wusste ich, wie seine Antwort lauten würde.

„Ist in Ordnung...“, sagte ich daher, bevor er in Worte fassen konnte, was ich bereits antizipierte. Ich wollte keine Ausflüchte und halbwahren Entschuldigungen hören.

Ich warf ihm einen schnellen Blick zu, bevor ich mich wieder auf den Verkehr vor mir konzentrierte. Er wirkte angespannt und irgendwie... zerrissen.

„Wo muss ich dich hinbringen?“, fragte ich sanft – auf einmal erfüllt von dem schlechten Gewissen, ihn in eine unangenehme Situation gebracht zu haben.

Mit seiner sonoren Stimme erklärte er mir den Weg und ich folgte seinen Anweisungen, bis wir vor seiner Haustür standen. Einer alten, verzierten Holztür aus dem Beginn des vorigen Jahrhunderts, liebevoll restauriert wie der Rest des alten, stattlichen Mehrfamilienhauses.

Ich hielt rechtswidrig in der Ausfahrt, unsicher, ob ich den Motor laufen lassen sollte oder nicht.

Wir sahen uns an. Dieses Mal lächelte er vorsichtig.

„Danke fürs Mitnehmen“, sagte er und stieg aus, bevor ich noch etwas erwidern konnte.

Ich zuckte nonchalant die Schultern. „Kein Problem", erwiderte ich zeitgleich mit dem Zuschlagen der Beifahrertür. „Wir haben den gleichen Weg“

Er hielt mitten in der Bewegung inne, dreht sich langsam zu mir um und schob seine Sonnenbrille auf den Kopf.

„Nein...“, sagte er einen Herzschlag später. „Das haben wir nicht.“

Mein Herz raste, als ich ihm hinterher sah und ich schluckte.

Bis heute habe ich den Bruch in seiner Stimme nicht vergessen und seine verweinten Augen folgten mir in dieser Nacht in meine Träume.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
AlexisC
Geschlecht:weiblichGänsefüßchen


Beiträge: 17



Beitrag15.05.2009 11:14

von AlexisC
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Am Ende der Woche sah ich ihn wieder. Er ging mit gesenktem Kopf in Richtung U-Bahn. Ich fuhr langsam neben ihm her, bis er mich bemerkte.

„Steig ein“, forderte ich ihn freundlich auf und dieses Mal zögerte er nicht.

Als er sich anschnallte, lächelte er mich vorsichtig an. Seine Augen waren klar, sein Blick ungetrübt. „Du gibst nicht auf, oder?“

Ich lachte leise. „Selten“, antwortete ich ihm und gab Gas.

Sein Körper wurde sekundenlang in den Sitz gepresst. Reflexartig hielt er sich am Sicherheitsgurt fest und ich nahm sofort meinen Fuß vom Gas.

„Entschuldige“, murmelte ich und grinste ihn verlegen an. „Blöde Angewohnheit... Ich müsste es besser wissen. Ich hab eine Zeit in der Notaufnahme gearbeitet. Die übelsten Fälle, waren die Opfer von Autounfällen.“

Er zuckte die Schultern. „Es gibt schlimmere Arten zu sterben“, sagte er.

Ich warf ihm einen schnellen Seitenblick zu, unsicher, was ich darauf antworten sollte. Die kühle Rationalität in seiner Stimme überraschte mich und hatte mich unverhofft aus dem Gleichgewicht gebracht.

Sein Gesicht war ausdruckslos, sein Blick wissend – und irgendwie traurig.

Ich schluckte und bremste abrupt, als das Auto vor mir zum Stehen kam. Eine seltsame Stille breitete sich zwischen uns aus – voller unausgesprochener Fragen, unterdrückter Antworten und dem seltsamen Gefühl der Sehnsucht, das sich in meinem Brustkorb ausdehnte und mich wünschen ließ, ich könnte ihn halten und die Aura der Melancholie verscheuchen, die ihn umwaberte.

Mein Herzschlag beschleunigte sich, und zum ersten Mal seit vielen Jahren spürte ich den Drang zu reden. Einfach nur zu reden – und zuzuhören, was er mir zu sagen hatte. Wer war dieser Mann, der mich vor wenigen Tagen angesprochen hatte; der meine Erschöpfung fühlte und durch einen Satz der Anteilnahme so was wie ein Freund und Verbündeter geworden war, bevor ich auch nur ein einziges Wort mit ihm gewechselt hatte?

Je länger ich neben ihm saß und ab und an verstohlene Blicke auf sein Profil warf, umso größer und übermächtiger wurde der Wunsch, mehr über ihn zu erfahren und mit ihm zu teilen, was auch immer ihn beschäftigte.  
Sein so offensichtlicher Kampf mit seinen Gedanken und Emotionen, mühsam unterdrückt und doch so spürbar aus ihm strömend, fesselten mich, weil sie ihn so lebendig... so real erschienen ließen.

Er war einfach da. Kompromisslos und unverhüllt – und darum beneidete ich ihn.

Neben ihm spürte ich auf einmal meine eigene Einsamkeit und meine Abgestumpftheit, die ich mir zwar selbst auferlegt hatte, die mir aber gleichzeitig jeglichen Kampfgeist raubte und mich innerlich in einen permanenten Zustand der Betäubung und Selbstverleugnung versetzte.

Seine Präsenz war so fühlbar, seine Wortlosigkeit so beredend – ich konnte nicht weg schauen, ich konnte ihn nicht ignorieren.

Der Drang, mich aus meiner eigenen Gefühllosigkeit zu befreien, brodelte in mir hoch wie heißes Lava kurz vor der Eruption.

Es schnürte mir buchstäblich die Luft ab und ich suchte Halt am Lenkrad, als ich langsam Gas gab und, wie an einer unsichtbaren Schnur gezogen, der Wagenkolonne vor mir folgte.

Worte taumelten in meinem Kopf. Satzfragmente drängten in mein Bewusstsein und meine Zunge spannte sich, bereit auszusprechen, was mein Gehirn befehlen würde – doch er war schneller.

„Ich habe Hunger“, sagte er und seine Stimme zerstob die Stille, die uns wie eine Nebelbank umhüllt hatte.

Ich lachte befreit auf. „Ist das die subtile Einladung zu einem Date?“ neckte ich ihn.

Er gluckste leise und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Nein“, sagte er trocken. „Das ist die Aufforderung, irgendwo zu halten, wo es was zu essen gibt... wenn... wenn du Zeit hast...“

Ich sah ihn lächelnd an. „Ich habe Zeit. Ich habe alle Zeit der Welt.“

„Gut zu wissen“, erwiderte er und zum ersten Mal schien er sich entspannt zurück zu lehnen und anstatt den vorbei fahrenden Häusern und Menschen nachzuschauen, blickte er nach vorne.

„Wohin fahren wir?“

„Ich kenne ein gutes, italienisches Restaurant. Magst du italienisches Essen?“

„Wer mag das nicht...?“

Ich bog von der Hauptverkehrsstraße ab in eine baumbesäumte Seitenstraße, die uns in die Altstadt führte. Surrend ließ ich das Fenster auf der Fahrerseite herunter und fühlte, wie die warme, blütenschwere Frühlingsluft meine Haut streifte.

Meine Sinne vibrierten und in meinem Bauch breitete sich ein warmes Glücksgefühl aus, das mich lächeln ließ und ich erlaubte meinen Gedanken, ziellos zu wandern.

Plötzlich musste ich lachen und sah ihn an.

„Das ist so verrückt. Wir gehen gemeinsam essen – und ich weiß nicht mal, wie du heißt...“

Er stimmte in mein Lachen ein und fasziniert sah ich, wie sich sein Gesicht glättete, seine Augen glitzerten und er für den Bruchteil einer Sekunde sorgenfrei und lebensfroh aussah.

Die Reinheit der Emotionen, die sich auf seinem Gesicht spiegelten, ergriffen mich erneut und die Versuchung, meine Hand auszustrecken und ihn zu berühren, war schier übermächtig.

„Mein Name ist Lukas“, sagte er mit warmer Stimme. „Und wie heißt du?“

Ich streckte ihm meine Hand entgegen. Sein Händedruck war fest, seine Haut warm und weich. Ich schluckte.

„Ich heiße Simon.“
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
AlexisC
Geschlecht:weiblichGänsefüßchen


Beiträge: 17



Beitrag21.05.2009 09:23

von AlexisC
pdf-Datei Antworten mit Zitat

An diesem Abend lernte ich, dass Lukas seine Pizza immer individuell belegen ließ – je nach Appetit und Laune. An dem Tag waren es frische Tomaten und viel Käse – was das über seine Stimmung aussagte, wusste ich damals noch nicht.

Später verriet er mir mit einem verlegenen Lächeln, dass er weniger Geschmackserlebnisse brauchte, je zufriedener er war.

Ich weiß nicht mehr, was ich mir an diesem Abend bestellt hatte, es war auch nicht wichtig, denn ich war viel zu sehr damit beschäftigt, seinen Gesten und seiner Mimik zu folgen und jede einzelne Bewegung aufzusaugen wie ein Schwamm.

Alles, was er tat und sagte schien zielgerichtet zu sein – irgendwie einem inneren Plan unterworfen. Er hielt sich nicht mit Nebensächlichkeiten auf. Während ich jedes Stück Pizza zweiunddreißig Mal kaute, biss er ein paar Mal darauf herum und schluckte es herunter.

Während ich nach Worten suchte, flossen sie förmlich aus ihm heraus, bildeten elegante, verständliche Sätze, die keinen Raum ließen für Interpretationen oder Missverständnisse.

Während ich Dinge in meinem Leben hinterfragte oder sie irgendwann einfach schlicht ausblendete, schuf er Tatsachen und stellte sich den Situationen.

Das alles entdeckte ich nicht an unserem ersten Abend, sondern es war ein Puzzle, das sich in den folgenden Wochen zusammen setzte und bis auf die eine einzige Tatsache, die er mir verschwieg, das Bild eines perfekten Mannes ergab, in den ich anfing mich zu verlieben.

Ob es ihm auch so ging, wusste ich nicht. Dass er Interesse an mir hatte, interpretierte ich voller Hoffnung in die Blicke, die er mir ab und an zuwarf und in das Lächeln, das auf seinem Gesicht erschien, wenn er mich ansah.

Später, viel später gestand er es mir, als er Nachts neben mir lag und nicht schlafen konnte.

„Ich wusste es von Anfang an...“

„Was? Was wusstest du von Anfang an?“

„Dass du es bist. Als ich dich an der Bushaltestelle hab sitzen sehen. Du sahst so müde aus, so elend – und... und dabei so... süß...“

Ich schnaubte auf und küsste seine nackte Schulter. „Als süß würde ich mich nicht gerade bezeichnen...“

„Jemand zum in die Arme nehmen...“, sagte er leise, ohne auf meinen Kommentar einzugehen.
Lächelnd rollte ich mich in seinen Körper.

„Und wie jemand, von dem man in die Arme genommen werden möchte...“, wisperte er und ich hörte die Tränen in seiner Stimme.

Ich griff hinter mich und fuhr mit meinen Fingern sanft über sein feuchtes Gesicht, ohne mich umzudrehen. Es war einer dieser zerbrechlichen Momente voller unausgesprochener Gefühle und stillem Schmerz – und dennoch so bittersüß. Es waren diese Augenblicke brutaler Unschuld, in denen liebevolle Worte, alltägliche Gesten, ein unbeschwertes Lachen oder stille Tränen plötzlich und ohne Vorwarnung die Gewalt besaßen, einen Staudamm zu brechen.

Augenblicke, die mir die Luft abschnürten, mich einen Herzschlag lang an meiner eigenen Stärke zweifeln ließen und eine Verzweiflung in mir schürten, deren Kraft zur Kontrolle zunehmend schwand.

Ich zog ihn an mich, um ihn zu fühlen, in der Hoffnung, dass seine Körperwärme die eisige Kälte der Angst in mir würde lindern können.

Wir lagen minutenlang eng umschlungen im Bett, ich in seinen Armen, unsere Beine verknotet, bevor ich mich vorsichtig umdrehte und ihn an meinen Körper bettete.

„Es war deine Stimme, Lukas...“, flüsterte ich in die Stille zwischen uns.

„Was war mit meiner Stimme?“

„Sie ist mir aufgefallen. Von Anfang an. Ich wäre dir überall hin gefolgt, nur um sie noch einmal zu hören. Bis ans Ende der Welt... und wieder zurück...“

„Ich wünschte, du könntest bis dahin mitkommen – und noch viel weiter...“

„Ich begleite dich, so lange es geht.“

„Versprochen?“

„Versprochen“
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:   
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen
Seite 1 von 1

Deutsches Schriftstellerforum Foren-Übersicht -> Prosa -> Werkstatt
Du kannst keine Beiträge in dieses Forum schreiben.
Du kannst auf Beiträge in diesem Forum nicht antworten.
Du kannst Deine Beiträge in diesem Forum nicht bearbeiten.
Du kannst Deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.
Du kannst an Umfragen in diesem Forum nicht teilnehmen.
In diesem Forum darfst Du keine Ereignisse posten
Du kannst Dateien in diesem Forum nicht posten
Du kannst Dateien in diesem Forum nicht herunterladen
 Foren-Übersicht Gehe zu:  


Ähnliche Beiträge
Thema Autor Forum Antworten Verfasst am
Keine neuen Beiträge Roter Teppich & Check-In
Hallo Welt! sagte die schreibende Tig...
von Tigerlilie
Tigerlilie Roter Teppich & Check-In 8 26.04.2024 16:33 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Agenten, Verlage und Verleger
Nur mal in die Runde gefragt
von Alfred Wallon
Alfred Wallon Agenten, Verlage und Verleger 8 26.04.2024 13:01 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Rezensionen
,,Die Ärztin“- ein Theaterstück m...
von Oneeyedpirate
Oneeyedpirate Rezensionen 0 19.04.2024 22:53 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Feedback
Zieh die Flügel aus!
von Tisssop
Tisssop Feedback 2 15.04.2024 20:39 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Rezensionen
"Die Ärztin"-ein Theaters...
von writersblockandtea
writersblockandtea Rezensionen 0 08.04.2024 13:59 Letzten Beitrag anzeigen

EmpfehlungBuchEmpfehlungBuchEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungBuchEmpfehlungEmpfehlung

von nebenfluss

von MT

von holg

von pna

von Jenni

von Lapidar

von Gefühlsgier

von Berti_Baum

von Enfant Terrible

von Mogmeier

Impressum Datenschutz Marketing AGBs Links
Du hast noch keinen Account? Klicke hier um Dich jetzt kostenlos zu registrieren!