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Formen geben, Formen nehmen: Was sich auf das Leben reimt

 
 
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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1004



Beitrag29.10.2023 13:23
Formen geben, Formen nehmen: Was sich auf das Leben reimt
von Soleatus
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo!

Wer Gedichte schreibt, wählt auf die eine oder andere Art aus den Möglichkeiten aus, die die Sprache bietet. Einmal, weil niemandem die Sprache in ihrer Gesamtheit zur Verfügung steht; dann aber auch, weil ein Gedicht um so stärker wirkt, je stärker seine Bestandteile aufeinander bezogen sind und als Teil eines Ganzen erfahrbar werden.

Ein solches (möglichst bewusstes) Auswählen hat also große Vorteile! Leider macht es aber auch viel Arbeit, und vor allem führt kein Weg an dem Umstand vorbei, dass dieses Auswählen auch sprachliche Möglichkeiten unzugänglich macht, meint: die Sprache, in der man dichtet, verarmt, und mit diesem Mangel muss man umzugehen wissen.

Das lässt sich an vielen Stellen bemerken, aber vielleicht lohnt in dieser Hinsicht ein Blick auf den Reim. "Leben" ist ein so grundsätzlicher Begriff, dass er vergleichsweise häufig in Gedichten vorkommt, und aufgrund seiner Wichtigkeit auch gerne in den Reim gestellt wird, die hervorgehobenste Stelle im Reimvers. Nun gibt es im Deutschen nicht wirklich viele auf "Leben" reimende Wörter, und die, die es gibt, lassen nur bestimmte Bezüge zu; wenn dazu kommt, dass viele davon gebraucht werden, strengt das die Sprache ziemlich an. Ein gutes Beispiel sind die Quartette eines Sonetts, in denen ja vier miteinander reimende Wörter verlangt werden! Für den Reim "-eben" sieht das dann etwa so aus:


Menschenlos

Warum ist uns so herbes Los beschieden,
Dass wir in Angst uns würgen um das Leben,
Dass wir um unser elend Selbst erbeben,
Zerstören unser Erdenbrüder Frieden!

Vom Menschen war der Mensch von je geschieden,
Weil wir an einem Wunsche alle kleben,
Dem Elend und dem Kerker zu entschweben,
Wo alle sich die Todesfesseln schmieden.

Und keiner hört der Liebe fromme Klänge!
Sieh nur der dumpfen Städte bunt Gedränge,
Da eilen sie, die fremd vorüberhasten!

Einsam ist jeder tief in seinem Trachten.
Gesellig sind sie nur, sich zu verachten,
Und an dem Mahl der Gleißnerei zu rasten.



– Habe ich gestern in Wolfgang Kirchbachs "Ausgewählten Gedichten" gelesen, und dieses Sonett ist für die Benutzung des Reims "-eben" ziemlich typisch! Da gibt es einmal die "Leben" – "(er-)beben"-Verbindung, die schrecklich naheliegende Möglichkeiten eröffnet, denen man aber besser nicht nachgibt; "kleben" hinterlässt fast immer einen leichten Geschmack von unfreiwilliger Komik, besonders in ernsten und betrachtenden Gedankengedichten; und das "(ent-)schweben" führt sehr, sehr leicht zu schrägen Bildern, wie hier zu erkennen ist. Nun ist das ganze Sonett nicht unbedingt ein Meisterwerk, aber alleine die Wirkung dieser Quartett-Reime schadet ihm schon beträchtlich. Kirchbach beginnt mit dem grundlegenden "Leben", lässt dann das naheliegende "erbeben" folgen, und dann werden die Möglichkeiten schon dünner und es stellen sich über das "kleben" und "entschweben" wenig überzeugende Formulierungen ein ...

Es lohnt sich, auf soche Effekte zu achten bei der Sonett-Lektüre; ich denke, ich werde noch einige Beispiele mehr für den "-eben"-Reim ergänzen hier im Faden, weil der Vergleich das Bild sicher zu schärfen hilft.

Gruß,

Soleatus

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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1004



Beitrag30.10.2023 11:58

von Soleatus
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo!

Als zweites versucht sich jetzt Heinrich Heine am "-eben"-Reim. "Sonette" ist nicht das erste, was den meisten einfiele bei Heines Namen; aber er hat doch einige geschrieben!


Ich möchte weinen, doch ich kann es nicht;
Ich möcht’ mich rüstig in die Höhe heben,
Doch kann ich’s nicht; am Boden muß ich kleben,
Umkrächzt, umzischt von ekelm Wurmgezücht.

Ich möchte gern mein heitres Lebenslicht,
Mein schönes Lieb, allüberall umschweben,
In ihrem selig süßen Hauche leben, –
Doch kann ich’s nicht, mein krankes Herze bricht.

Aus dem gebrochnen Herzen fühl’ ich fließen
Mein heißes Blut, ich fühle mich ermatten,
Und vor den Augen wird’s mir trüb und trüber.

Und heimlich schauernd sehn’ ich mich hinüber
Nach jenem Nebelreich, wo stille Schatten
Mit weichen Armen liebend mich umschließen.



Wieder sind es die "Innenreime" der Quartette; "-kleben", -"schweben", "leben" finden sich wie bei Kirchbach auch, dazu kommt diesmal aber "heben"!

"Ein Licht umschweben" scheint mir dabei ein wesentlich belastbareres Bild zu sein als "einem Kerker entschweben"; und auch am "Boden" klebt es sich meiner Wahrnehmung nach überzeugender als an einem "Wunsche" (wobei das sicher auch geht). "Leben" kommt nicht zuerst, sondern am Schluss, wobei das Substantiv nicht im Reim, sondern leicht versteckt im "Lebenslicht" auftritt, auf die Reimstelle aber das Verb tritt.

Insgesamt sicher ein besseres Sonett als das Kirchbachs – geschlossener, enger aufeinander bezogen, und nachvollziehbarer in der Abfolge seiner Schilderungen.

Als dritter in der Reihe folgt Johann Wolfgang Goethe:


Warnung

Am jüngsten Tag, wenn die Posaunen schallen,
Und alles aus ist mit dem Erdenleben,
Sind wir verpflichtet, Rechenschaft zu geben
Von jedem Wort, das unnütz uns entfallen.

Wie wird's nun werden mit den Worten allen,
In welchen ich so liebevoll mein Streben
Um deine Gunst dir an den Tag gegeben,
Wenn diese bloß an deinem Ohr verhallen?

Darum bedenk', o Liebchen, dein Gewissen,
Bedenk' im Ernst, wie lange du gezaudert,
Dass nicht der Welt solch Leiden widerfahre.

Werd' ich berechnen und entschuld'gen müssen,
Was alles unnütz ich vor dir geplaudert,
So wird der jüngste Tag zum vollen Jahre.



In den Quartett-Innenreimen kein "Schweben", "Kleben", "Beben", die eher schaden als nützen, stattdessen zwei bisher fehlende, aber wichtige Reimwörter mit dem "Streben" und dem "geben", wobei letzteres einfach zweimal verwendet wird; worüber die Reim- und Sonettpuristen damals sicher den Kopf schüttelten, aber derlei hat den alten Pragmatiker Goethe nie gekümmert ... ("an den Tag geben" für "offenbaren", "darlegen", "enthüllen" ist mir ein wenig fremd, scheint aber ein ganz gängiger Ausdruck zu sein, oder zumindest: gewesen zu sein.)

Das "Leben" kommt zuerst, wobei zu fragen ist, was V2 eigentlich leistet für den gesamten Text? Auf mich wirkt er ein wenig nachlässig, unernst; und vielleicht wird so der Ton gesetzt für das folgende?! Der Text wirkt sehr überzeugend, was sicher hilft, den ... nicht ganz so bedeutenden Inhalt zu rechtfertigen.

Gruß,

Soleatus

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RaiBruHerte
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 306
Wohnort: Rheinf


Beitrag30.10.2023 19:11

von RaiBruHerte
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Hallo Soleatus,
Es ist schön, wie du dich für Gedichte einsetzt. Gedichte zu Lesen ist schön, sie laut zu lesen ist schöner. Um die Hebungen und  Senkungen, Betonungen wahrzunehmen , wäre schön, wenn du und Links posten könntest, die zu vertonter Lyrik führt.
Wie zum Beispiel Lutz Görner, Lyrik für alle.
Da es dein Faden ist, wollte ich nicht direkt diesen Link hier setzen.
Zumal bei Görner ab und  zu die Mimik im Vordergrund steht.
( Darum ist nur hörbare Lyrik, manchmal angenehmer zu "konsumieren" als gefilmte )

Schöne Grüße
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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1004



Beitrag31.10.2023 17:39

von Soleatus
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Hallo Raibruherte!

Ich bin sehr dafür, den Vortrag der Gedichte nicht zu vermachlässigen (jedenfalls bei den dafür geeigneten Gedichten), und verlinke immer mal wieder Rezitationen. Lutz Görner hat ein wenig den Nachteil, dass in den "Lyrik für alle"-Folgen mehrere Gedichte gesprochen werden, und man weiß einmal nicht recht, welche das sind, ohne die Folge ganz zu schauen; und der Verweis ist auch ein wenig schwieriger.

Fäden wie dieser hier gewönnen allerdings nichts durch Verlinkungen, weil die verhandelten Fragen ja vom Vortrag weitgehend unabhängig sind – auf den Druck, den bestimmte Gestaltungsmittel auf die Sprache des Verfassers ausüben, hat der Vortrag weniger starken Einfluss. Und beim Vergleichen von Texten hat man sie dann doch besser "schwarz auf weiß" vor sich, und den Bleistift in der Hand ... Trotzdem kann man sich die bekannteren der dabei vorgestellten Texte mit Gewinn anhören, den hier etwa – Johann Wolfgang Goethe: Warnung. Ich denke also daran, das noch ein wenig mehr zu machen als bisher.

Und mal schauen: Vielleicht findet sich ja auch ein Thema, bei dem der Vortrag von Gedichten im Zentrum steht?!

Gruß,

Soleatus
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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1004



Beitrag03.11.2023 23:13

von Soleatus
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Hallo!

Emanuel Geibel fängt eines seiner Sonette mit diesen beiden Versen an:

Wie uns die Mutter auferzieht zum Leben,
Erzieht das Leben uns gemach zum Sterben;


– Und das ist ja schon etwas als Einstieg, im Besonderen das Versenden-Gegensatz-Paar "Leben" / "Sterben", wodurch sich der Reimdruck gleich noch einmal erhöht, denn so schrecklich viele Reime auf "-erben" gibt es auch nicht ...

Aber, da ja ein Reim immer auch ein Versprechen und ein Rätsel von Seiten des Gestaltenden und ein Erwarten und Vermuten auf Seiten des Hörerlesers ist – was denkt ihr: Verwendet Geibel hier das "Beben"?

Des Rätsels Lösung:

Wie uns die Mutter auferzieht zum Leben,
Erzieht das Leben uns gemach zum Sterben;
Wir sollen einst den Scheidekelch, den herben,
Zu trinken wissen sonder Graun und Beben.

Drum heischt es, was es uns so reich gegeben,
Allmählich wieder und zerschlägt's in Scherben,
Der Leib wird siech, wie sich die Locken färben,
An tausend Schranken bricht des Geistes Streben.

Und wie der Pilger, dem auf tau'gen Wegen
Das Wandern eitel Lust schien in der Frühe,
Am Abend doch sich sehnt dem Ziel entgegen:

Verlangt's auch uns zuletzt ans Ziel der Mühe,
Und alle Rast erscheint uns als ein Segen,
Ob auch im Schatten sie des Todes blühe.


Natürlich nutzt er "Beben"; das ist bei der Anwesenheit des "Sterben" fast schon eine Selbstverständlichkeit ... Und da Geibel kein wirklich großer Dichter, aber ein hervorragender Versgestalter war, ist vom angesprochenen Reimdruck nicht gar so viel zu spüren. Wenn es etwas anzumerken gäbe, dann vielleicht, dass sich das "-eben", das "-erben" und in den Terzetten das "-egen" recht ähnlich sind in den Vokalen und der Endung "-en"; wodurch das Ganze etwas verwaschen klingt. Aber nichts, was wirklich Bedeutung hätte ...

Zum Vergleich noch ein zweites Sonett Geibels, wieder mit dem Quartett-Außenreim "-eben", diesmal aber ohne "Sterben" – und ohne "Beben" ...

Das ist der Bildung Fluch, darin wir leben,
Dass ihr das Beste untergeht im Vielen;
Mit jedem Elemente will sie spielen
Und wagt sich keinem voll dahinzugeben.

Kaum winkt ihr rechts ein Kranz, darnach zu streben,
So reizt ein neuer sie, nach links zu schielen;
Von Zweck zu Zweck gelockt, von Ziel zu Zielen,
Als Falter schwärmt sie, statt als Aar zu schweben.

Getaucht in alles und von nichts durchdrungen,
Preist sie sich reich, wenn folgsam jedem Stoße
Ein Maß buntscheck'gen Wissens sie erschwungen.

Was Wunder, wenn bis heut aus ihrem Schoße
Nur Schwaches, Halbes, Einzelnes entsprungen!
Denn in sich ganz und einfach ist das Große.


Der "schwebende" Aar ist nur ein ganz, ganz klein wenig schräg in seiner Bildlichkeit; jedenfall kein Vergleich zu dem, was sonst so mit dem "schweben" angestellt wird!

Gruß,

Soleatus

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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1004



Beitrag04.11.2023 23:31

von Soleatus
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Hallo!

Noch einmal kurz zu dem Umstand, dass der Reim Versprechen und Rätsel und Erwarten und Vermuten ist, und zum Gegensatz "Leben" / "Sterben", wie er bei Geibel anzutreffen war: Man kann natürlich auch diese beiden Begriffe als zweites Reimwort verwenden; das verstärkt die Erwartung sicher noch. Hm, ich habe gerade kein Sonett im Kopf, das dieses Vorgehen in den Quartetten vorführt, von daher hier "An die Tiere" von Christian Morgenstern:

Mein Bruder, mein Geschwister Tier - komm her.
(Hat man auch dich entgeistert zur Maschine?)
Kommt her, du Katze, Vogel, wilde Biene, –
Ihr Siege nicht ersättlicher Begehr!

Aus euch ja komm ich, noch von Erde schwer,
Dass ich urewiger Kraft und Sehnsucht diene,
Noch hab ich eure Seele, eure Miene,
Nur Selbsterkenntnis ist mein schmerzlich Mehr.

Ihr fragt: "Doch wenn wir euch so viel gegeben, –
Wie seid ihr oft gar undankbare Erben!
Wir morden, ja! Doch ihr ersannt das – Töten!"


Ein etwas eigener Text, hier erst einmal bis zum ersten Terzett. Jetzt habe ich sicher schon ein Spur gelegt und es ist schwer, unvoreingenommen auf den Text zu schauen; aber ich denke, das "-geben" / "Erben" verweist, gestützt auf das "morden" und das  "Töten", schon stark auf ein kommendes "Leben" / Sterben"?! Viel weniger klar ist, wie das "Töten" ergänzt werden könnte ...

Morgensterns zweites Terzett:

Doch höret: Tod ist ja kein Raub an Leben,
Wir müssen? Nein! Wir – wollen alle sterben!
Denn endlos locken neue Morgenröten.


Erwartet–unerwartet trifft meinen ersten Eindruck ganz gut ... Na gut, das erst einmal dazu. Hier, nur zum Vergleich, ein Sonett Morgensterns mit dem "-eben"-Reim in den äußeren Quartettversen; in den Terzetten findet sich dafür ein so wunderliches Verb wie "emporfürsten"!

Nun wollen wir uns still die Hände geben
Und vorwärts gehen, fromm, fast ohne Zagen,
Und dieses größte Lebenswagnis wagen:
Zwei miteinander ganz verschlung'ne Leben.

Und wollen unermüdlich weiterweben
An den für uns nun völlig neuen Tagen
Und jeden Abend, jeden Morgen fragen,
Ob wir auch ganz  e i n  Ringen und  e i n  Streben.

Auch ganz  e i n  unersättlich Langen, Dürsten,
Im Maß des Körperlichen, das uns eigen,
Uns immer geistiger emporzufürsten:

Dass wir wie Eines Pfeiles Schaft am Schlusse,
ineinsverflochten und in einem Schusse,
ein neues Reich höhrer Geburt ersteigen.


Gruß,

Soleatus

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Skarabäus
Eselsohr


Beiträge: 227



Beitrag06.11.2023 17:37

von Skarabäus
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Hallo Soleatus,

deinen Überlegungen und mit Beispielen illustrierten Gedanken zum Leben und Sterben von Originalität in Reimgedichten folge ich sehr gerne. Du stellst Thema und Problematik wunderbar anschaulich dar.

Liebe Grüße
Skarabäus
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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1004



Beitrag07.11.2023 22:44

von Soleatus
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Hallo Skarabäus!

Freut mich, dass du hier hereingeschaut hast und etwas anfangen kannst mit den vorgestellten Gedanken und Texten.

Gruß,

Soleatus
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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1004



Beitrag07.11.2023 22:44

von Soleatus
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Hallo!

Die letzten Tage habe ich mit Hans Grasbergers "Orientalischen Sonetten" verbracht – keine große Dichtung, sicher, aber doch über 100 Sonette, die Eindrücke aus dem östlichen Mittelmeerraum schildern; und da ist natürlich auch wieder viel Futter bezüglich des "-eben"-Reims dabei. Gleich das allererste Sonett des Österreichers Grasberger hat ihn als Quartettreim:

Strom im Meer

Wir fuhren auf der großen Wasserwüste,
So weit das Auge reichte, spiegeleben;
Kein grünes Eiland, keine ferne Küste,
Sogar kein Wölklein im Vorüberschweben!

Wie nun mein Herz sein großes Sehnen büßte!
Die weite Leere macht' es zaghaft beben –
O dass mich einer von den Bergen grüßte
Der Heimat, die so stolz zum Himmel streben!

Doch horch, ist's eines Stromes Rauschen nicht?
Die träge Flut durchwühlt des Dampfers Rad
Und mächt'gem Strome gleicht der Wasserpfad.

Aufperlend kühlt der Schaum mein Angesicht –
Ich seh' aufs Wellenspiel, so brausend, schäumend,
Von deinen Wassern, grüne Heimat! träumend.


- Der alte Bekannte, das "bebende Herz"; aber auch ein neues Reimwort, (spiegel-)"eben"! Außerdem sind die Quartette nicht wie üblich abba-abba gereimt, sondern nach den ältesten Vorbildern abab-abab. Das in Verbindung mit dem auch nicht sooo häufigen Terzettreimschema cdd-cee lässt schon einmal vermuten, dass sich Grasberger einiger formaler Freiheiten bedienen wird in den weiteren Sonetten; und so ist es wirklich!

Richard

O Löwe aus des Abendlandes Norden!
Dein Brüllen macht den Orient erbeben;
Wenn drohend deine Branken sich erheben,
Zerstieben wild des Islam Kriegerhorden.

Dein Name ist ein Schreckensruf geworden
Und macht der Buben lose Zunge kleben;
Der Reiter frägt bei jähem Widerstreben
Sein feurig Ross, ob dich gewahr es worden.

O Löwenherz, mit Liedern und mit Sagen
Hat herrlich sich dein Waffenruhm umgeben,
Im Munde später Enkel noch zu leben.

Und dennoch darf ich kühn die Muse fragen:
Ob nicht der Tadel größer und gerechter
Als die Bewund'rung staunender Geschlechter?


- Aus dem Abschnitt der Kreuzfahrer-Sonette; einiges, was Grasberger da über das "heilige Land" geschrieben hat, kann man auch gut ins Heute denken, zum Beispiel den Vers "Doch habt ihr nicht gekämpft, ihr habt vernichtet". Aber zurück zum "Richard": "Branken" ist seltener als "Pranken", meint aber dasselbe. Was sehr erstaunt, ist der sechsfache "-eben"-Reim; er findet sich nicht nur in den Quartetten, sondern auch im ersten Terzett! Das ist arg gegen die Formgesetze des Sonetts gestaltet, denn die Terzette werden ja mit neuen Reimen ausgestattet, um die veränderte Blickrichtung kennzuzeichnen: nach dem Vorstellen und Ausarbeiten des verhandelten Gegenstands soll nun das Einordnen und Abwägen folgen. Aber gut – gibt es hier eben einen seltenen Anblick in Form dieses sechsfachen "-eben"! In anderen Formen klingt das aber viel weniger schräg, wie dieses abschließende Beispiel zeigen mag – Georg Philipp Schmidt von Lübeck, "Gebet":

Der du kleidest nackte Reben,
Dem die Ysop-Ranken beben
Und die Zeder wallt;
Dem die Seidenwürmer weben,
Und die hohen Adler schweben,
Und der Donner schallt;
Der du sendest Tod und Leben,
Den die Cherubim erheben,
Dem das Kindlein lallt:
Gib uns unser täglich Brot,
Gib uns Freude, gib uns Not,
Tagesschweiß und Abendrot,
Einen guten schnellen Tod!


Auf die "Reben" muss im Sonett noch gewartet werden ... Aber der Unterschied ist deutlich: Bei Schmidt sind alle sechs "-eben" im gleichen Gedichtteil verortet, folgen derselben Aufgabe; in Grasbergers Sonett nicht.

Gruß,

Soleatus

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