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Ralf Langer Klammeraffe
Alter: 57 Beiträge: 699 Wohnort: Gelsenkirchen
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23.08.2016 13:05 Tagebuch eines Ungeborenen von Ralf Langer
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Die drei Engel
1955
Zwei Männer - vielleicht Mitte zwanzig - stehen an einem Anleger im Hamburger Hafen.
Es ist früh am Morgen.Sie sind müde.
Am Abend vorher hatten sie ihren Frauen gesagt, sie gingen auf Nachtschicht.
Aber sie fuhren nach Hamburg. Da war ein Schiff, das sie nach Kanada bringen sollte.
Weg von Allem. Einen neuen Anfang wagen.
Sie sehen ihrem Schiff lange nach: Der Zug hatte Verspätung.
Dann, als das Schiff schon längst hinter den Landungsbrücken verschwunden ist,
und sich durch die letzten Kilometer des Elbstroms der Mündung zur Nordsee nähert, drehen sie sich langsam um,
und fahren zurück zur Zeche. Sie leben schweigend weiter.
Einer von ihnen wird mein Vater werden.
1963
Meine Schwester hat eine Blinddarmentzündung. Die O.P. verläuft gut.
Alles sehr schnell. Auch vor über fünfzig Jahren beinahe Routine.
Die Narbe sieht gut aus. Aber es gibt kein Erwachen: Narkosefehler.
Sie wird nur sieben Jahre alt.
Ein Kind muss her. Meine Eltern haben den Tod meiner Schwester mit einem Foto ihrer Einschulung,
in den Wohnzimmerschrank gestellt.
Es ist 1966. Ein warmer Sommerabend an der Ostsee,
und eine große rote Sonne über Jütland sind die stummen Zeugen meines Bruders.
1967
Ein Kind ist genug.
Meine Eltern schlagen sich mehr schlecht als recht durch die Tage.
Mein Bruder macht in die Windeln. Stolz der Familie.
Verhütung ist ein Fremdwort. Und so bahne ich mir den Weg.
Ein Fehler im Abzählreim fruchtbarer und unfruchtbarer Tage,
und eine Nacht ohne Mond bringen mich zur Welt.
Weitere Werke von Ralf Langer:
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menetekel Exposéadler
Alter: 104 Beiträge: 2452 Wohnort: Planet der Frühvergreisten
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31.08.2016 06:45 Re: Tagebuch eines Ungeborenen von menetekel
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Lieber Ralf,
bei der Durchsicht deines Textes stürzte zunächst der Titel auf mich ein: Den gibt es doch schon! Woher kenne ich den nur ...
Dank Google einerseits aus einem Video katholischer Abtreibungsgegner, andererseits (ähnlich) aus meinen Bücherregalen: Stern der Ungeborenen (Franz Werfel).
Bezogen auf youtube könntest du evtl. über eine Titeländerung nachdenken ...
Ralf Langer hat Folgendes geschrieben: | Die drei Engel
1955
Zwei Männer - vielleicht Mitte zwanzig - stehen an einem Anleger im Hamburger Hafen.
Es ist früh am Morgen. Sie sind müde.
Am Abend vorher hatten sie ihren Frauen gesagt, sie gingen auf Nachtschicht.
Aber sie fuhren nach Hamburg. Da war ein Schiff, das sie nach Kanada bringen sollte.
Weg von Allem. Einen neuen Anfang wagen.
Sie sehen ihrem Schiff lange nach: Der Zug hatte Verspätung.
Dann, als das Schiff schon längst hinter den Landungsbrücken verschwunden ist,
und sich durch die letzten Kilometer des Elbstroms der Mündung zur Nordsee nähert, drehen sie sich langsam um,
und fahren zurück zur Zeche. Sie leben schweigend weiter.
Einer von ihnen wird mein Vater werden.
1963
Meine Schwester hat eine Blinddarmentzündung. Die O.P. verläuft gut.
Alles sehr schnell. Auch vor über fünfzig Jahren beinahe Routine.
Die Narbe sieht gut aus. Aber es gibt kein Erwachen: Narkosefehler.
Sie wird nur sieben Jahre alt.
Ein Kind muss her. Meine Eltern haben den Tod meiner Schwester mit einem Foto ihrer Einschulung, in den Wohnzimmerschrank gestellt.
Es ist 1966. Ein warmer Sommerabend an der Ostsee,
und eine große rote Sonne über Jütland sind die stummen Zeugen meines Bruders.
1967
Ein Kind ist genug.
Meine Eltern schlagen sich mehr schlecht als recht durch die Tage.
Mein Bruder macht in die Windeln. Stolz der Familie.
Verhütung ist ein Fremdwort. Und so bahne ich mir den Weg.
Ein Fehler im Abzählreim fruchtbarer und unfruchtbarer Tage,
und eine Nacht ohne Mond bringen mich zur Welt. |
Der sachliche Ton des Textes sagt mir sehr zu, denn er ist dem Drama des unerwünschten Kindes angemessen. Gleichwohl wirkt das Ganze seltsam unfertig auf mich. In 1967 fehlt nach "Stolz der Familie" beispielsweise etwas, denn so wird der Stolz der Familie verhütet.
Nach 1966 würde ich das Wort "Geburt" einfügen. Also:
Ein warmer Sommerabend an der Ostsee und eine große rote Sonne über Jütland sind die stummen Zeugen der Geburt meines Bruders (o. ä.) meines Bruders.
Insgesamt eine interessante Idee im "richtigen" Tonfall. Der Text sollte aber grammatikalisch und interpunktös ( ) ein wenig überarbeitet werden. In der jetzigen Form fühle ich zudem die (verständliche) innere Sperre des Autors zu sehr heraus ...
Und dann ist da noch die Sache mit den Engeln ... Falls es sich dabei um Schutzengel handeln sollte, nenn sie doch einfach so. - Ihre Funktion im Text ist mir unklar. Denn der freudlos in die Welt Geworfene wird den Schutz eines Gefiederten sicherlich nicht so nachempfinden mögen.
Handelt es sich aber um den Tod eines Traumes, einer Schwester und den antizipierten eigenen verhielte es scih natürlich anders, müsste dann aber auch anders benannt werden.
Du siehst also, ich habe allerlei Kritisches vorzubringen, bin mir aber trotzdem absolut sicher, dass aus diesem Entwurf etwas wirklich Gutes werden könnte.
Herzliche Grüße
m.
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Ralf Langer Klammeraffe
Alter: 57 Beiträge: 699 Wohnort: Gelsenkirchen
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31.08.2016 14:44
von Ralf Langer
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Hallo Heidrun,
ersteinmal recht herzlichen Dank.
Hm, ich warte noch einmal etwas ab, ob sich noch andere melden.
Für mich sagt der Text in dieser Kürze das aus , was ich sagen wollte.
(die Interpunktionsverletzungen ärgern mich!)
Die drei Engel sind ja einfach nur Boten.
Es sind die drei "Dinge" die passieren mussten um den Autoren zur Welt zu bringen.
Die nicht geglückte Reise des Vaters.
Der Tod der Schwester,
und die Unaufmerksamkeit der Eltern. "Missgeschicke, Unglücke, die doch erst "meine" Geburt einleiteten.
Lg
Ralf
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hypnobader Eselsohr
Alter: 63 Beiträge: 420 Wohnort: Voralpen
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31.08.2016 15:37
von hypnobader
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Beeindruckend.
In knappen, nüchternen Worten die eigenen Wurzeln offengelegt.
Das überlege ich für mich auch mal.
Hat was episch-tragisches.
Passt
Michael
_________________ Es gilt das gebrochene Wort |
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Mara Leseratte
Beiträge: 141 Wohnort: Linz/Donau
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01.09.2016 18:32
von Mara
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Hallo Ralf,
mich hat dein Text sehr berührt. Die knappe, fast nüchterne Darstellung wider die Dramatik des Inhalts. So alltäglich und doch voller emotionaler Wucht.
Nur eine Sache: Du schreibst: "Sie wird nur sieben Jahre alt." Da würde mich folgende Formulierung emotional mehr treffen: "Sie war sieben Jahre alt." bzw. um in der richtigen Zeit zu bleiben müsste es wohl heißen: "Sie ist sieben Jahre alt."
Das "nur" braucht es nicht, denke ich.
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Mara Leseratte
Beiträge: 141 Wohnort: Linz/Donau
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01.09.2016 18:36
von Mara
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Noch etwas: Den ersten Satz mit den drei Engeln hatte ich überlesen - ich bin erst durch die Kommentare darauf gestoßen. Dann hätte ich die drei Engel mit den drei Kindern gleichgesetzt. (Habe schon gelesen, dass du da an was anderes gedacht hast).
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Ralf Langer Klammeraffe
Alter: 57 Beiträge: 699 Wohnort: Gelsenkirchen
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02.09.2016 11:34
von Ralf Langer
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Hallo Michael,
herzlichen dank:
"In knappen, nüchternen Worten die eigenen Wurzeln offengelegt."
Der Mensch ist ja immer auf der Suche nach einer "Geschichte". Nach seiner Geschichte.
Da ist der große Wunsch das die eigene Existenz mehr ist als nur Zufall.
Es freut mich, wenn es mir gelang diese Wurzeln darzulegen.
Lg
Ralf
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Ralf Langer Klammeraffe
Alter: 57 Beiträge: 699 Wohnort: Gelsenkirchen
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02.09.2016 11:36
von Ralf Langer
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Hallo Mara,
auch dir herzlichen dank für deinen Kommentar.
Den Satz: "sie wird nur sieben Jahre alt", könnte ich tatsächlich um das "nur" kürzen.
Ich werde darüber nachdenken.
Zu den drei Engeln hatte ich ja schon etwas erklärt.
Lg
Ralf
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nothingisreal Bücherwurm
Beiträge: 3994 Wohnort: unter einer Brücke
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02.09.2016 23:00
von nothingisreal
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Ich mag den Text, vor allem eben diese Sachlichkeit. Um ehrlich zu sein, ist es mir etwas zu kurz, ich hätte gerne mehr gewusst.
LG NIR
_________________ "Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten." - William Somerset Maugham |
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Ralf Langer Klammeraffe
Alter: 57 Beiträge: 699 Wohnort: Gelsenkirchen
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03.09.2016 11:04
von Ralf Langer
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Hallo NIR,
herzlichen Dank.
Du sagst: Du hättest gerne mehr gewusst
Diese sehr biografischen Geschichten benötigen so etwas wie den richtigen Abstand des Autoren zu den Ereignissen.
Ich habe mittlerweile einiges an Teilstücken meiner eigenen Historie
aufgearbeitet.
Und es besteht begründeter Anlass meinerseits, das aus den Einzelteilen meiner Existenz in der Zukunft eine Geschchte wird, die sich erzählen lässt.
LG
Ralf
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BlueNote Stimme der Vernunft
Beiträge: 7306 Wohnort: NBY
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03.09.2016 16:27
von BlueNote
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Hallo Ralph,
du schreibst
Zitat: | Diese sehr biografischen Geschichten benötigen so etwas wie den richtigen Abstand des Autoren zu den Ereignissen. |
Dass in der geschilderten Biografie (Protagonist kommt durch ein Versehen zustande), ein Konflikt liegt, lässt sich nur erahnen. Es ist ja nichts Ungewöhnliches, dass in den 60-er Jahren die Kinder kamen, wie sie kamen (und die Jahrzehnte davor sowieso). Das Kind war vielleicht kein Wunschkind, ist jetzt aber erwachsen und kann sein Leben selbst gestalten.
Leben ensteht aus Zufall - oder ist's die göttliche Fügung? Zufall, Engel, Gott, man kann es nennen wie man will. Was will man dazu noch sagen/schreiben, was von allgemeiner Gültigkeit ist? Es ist eher die Struktur, die Idee, der Titel, die mir an deinem Text gefallen. Obgleich das, was er beschreibt, für mich, der ich keine Hintergründe kenne, eher wenig relevant ist (weil das Geschilderte in einem statistischen Grundrauschen untergeht).
Na ja, insgesamt würd ich mir ja wünschen, dass du wieder längere Prosatexte schreiben würdest und sich dein Prosastil nicht zu sehr der Lyrik annähert. Denn: Prosa erreicht die Menschen, Lyrik nur eine ganz ganz kleine Minderheit.
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Ralf Langer Klammeraffe
Alter: 57 Beiträge: 699 Wohnort: Gelsenkirchen
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03.09.2016 18:38
von Ralf Langer
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Hallo,
vielleicht habe ich mich missverständlich ausgedrückt.
Der Mensch ist ja zum großen Teil, die Summe seiner Erfahrungen oder Erlebnisse,
aber, ich denke das ist noch keine Geschichte. Es bleiben Einzelheiten.
Erst wenn jemand eine Geschichte erzählt,wird aus den Zufälligkeiten, aus den Unwägbarkeiten die eigene Geschichte.
Max Frisch hat einmal Gantenbein sagen lassen:
Ein Mensch macht seine Erfahrungen. Und jetzt ist er auf der Suche nach seiner Geschichte.
Und eben diese Geschichte ist erst wirklich wenn sie "erzählt" wird.
Der Konflikt von mir ist also, das ich noch auf der Suche nach meiner Geschichte bin.
Auf der Suche nach etwas mehr als einem Lebensablauf anhand von Jahreszahlen.
Diese kurze Geschichte ist ein erster Versuch. Einiges davon, wie die Vorgeschichte meines Vaters, ´habe ich erst
auf dem Totenbett von ihm erfahren.
Meine Mutter weiß bis heute nichts davon. Und ich weiß nicht, ob mein Vater mir die Wahrheit erzählte. Er durchlebte damals ein Durchgangssyndrom und war reichlich sädiert.
Aber, ich wünschte es wäre wahr, machte es doch die Tatsache meiner Existenz sozusagen dramatischer.
P.S.
Ich wünschte mir auch manchmal, ich hätte mehr Zeit für Prosa....
Nimm aber deine Bemerkung dankend an.
Ralf
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