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Die Spelunke

 
 
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nebenfluss
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Beiträge: 5982
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Beitrag27.07.2016 23:27

von nebenfluss
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von nebenfluss
Einige Zeit später.

Es gelingt mir immer noch nicht vollständig, meine Umgebung einzuordnen und zu begreifen, was mich in ihre Mitte verschlagen hat.
Jedes Mal, wenn die Erinnerung zum Greifen nahe scheint, wenn jüngere Biografiefetzen sich zu einem schlüssigen Gedächtnis zu addieren versprechen, strahlt ein dringendes Bedürfnis in mein Bewusstsein und verursacht einen Stau im Datenbus zum Speichermodul.
Ich empfange ein Signal - pochend und tickend, vielleicht von einem Geigerzähler -, das mich drängt, mich vor eine Tür zu stellen. Es schickt mich durch unglaublich verlotterte Räume vermutlich gastronomischer Funktionalität.
Es gibt keine Türen mehr.
Jemand muss sie alle ausgehängt und in einen Keller geschleppt haben, zu dem ich die Treppe nicht finde.  
Etwas klemmt mir unter der Kehle, verstopft den Ausgang der Luftröhre - ein Schrei, der noch nicht die Stimmbänder erreicht hat. Zusätzlich werde ich endlich von Déjà-vus heimgesucht, entdecke Gegenstände und Personen mit dem Attribut des Wiedererkennens. Ein aufgeweichter Haufen Eierkartons in einer Ecke. Eine Frau in der Küche, die mit einem Schaschlick-Spieß einen halben Penis untersucht.
Hunger lässt mich in ein Schälchen mit schmuddeligen Parmesansplittern greifen, die sich aber im Abgang als Hobelspäne aus Hornhaut herausstellen. Ich kann nur hoffen, dass mir heute nacht nicht noch ein Barfüßiger über den Weg tappst, denn dann wird der Schrei sein Ziel erreichen. Ich werde den Laden zusammenbrüllen, und wer weiß, was da noch mitkommt.


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Tjana
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Alter: 63
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Wohnort: Inne Peerle


Beitrag28.07.2016 01:10

von Tjana
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Er hatte mich warten lassen, der Unterhemden-Kerl. Das macht man noch weniger mit mir, als mich prankengezwungen vor sich her durch die ganze Kneipe zu schieben. Feigling, elender. Zu seinem Glück bin ich fast nicht nachtragend, weshalb ich mich heute noch einmal in den Bus gesetzt habe. Endstation. Natürlich. Ich steige aus und bleibe mit ungebührendem Abstand vor den zugeklebten Fenstern stehen. Die Tür ist weg. Den Eingang versperrt  nun ein Typ, und nicht nur seine Klamotten sehen nach einer langen Abwesenheit von der denkenden Welt aus. Der erbärmliche Anblick lässt meinen Ärger schrumpfen. Mit der einen Hand wedele ich die Tüte mit drei frischen Brötchen, die ich eigentlich bei mir habe, um dem hauseigenen Rührei zu entgehen, vor seiner Nase hin und her, mit der anderen ziehe ich ihn in den düsteren Raum hinein. Man kann tatsächlich Gegenstände erkennen. Die Theke, vereinzelt sogar Gestalten an Tischen. Die schweren Rauchschwaden, hinter denen ich mich beim letzten Besuch zu verstecken suchte, haben sich zu einem kalt riechenden Zartgrau komprimiert. An diesem Ort scheint die Zeit still zu stehen, was mir nach erstem Erstaunen durchaus gefällt. Ich schubse den Typen zu dem Tisch, an dem der Mann mit den fragenden Augen immer noch einen Stuhl frei hält. Er, der Typ, klappt den Mund auf und wieder zu, doch ein Laut oder gar ein Wort kommt nicht heraus. „Besser, du hältst erst mal die Klappe“, sage ich, während ich einen zweiten Stuhl neben meinen frei gehaltenen und ihn dann darauf ziehe.

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Sissi Fuß
Geschlecht:weiblichEselsohr


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Wohnort: zwischen vielen Büchern


Beitrag29.07.2016 14:01

von Sissi Fuß
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Ich höre ein dumpfes Grollen, eine Art Gewitter, aber es kommt nicht von oben, sondern von  unten. Aus meinem Bauch. Ich muss wirklich unbedingt mal was essen. Ich trenne mich ungern von meinem Stuhl, an dem ich nun schon so lange festklebe, was man durchaus wörtlich nehmen kann. Niemand hält mich auf, als ich mich auf den Weg in die Küche mache, um mal nachzusehen, was da so Sache ist. Nicht viel, stelle ich fest, denn diese Küche bleibt wohl schon seit längerer Zeit kalt. Ich schaue in den Kühlschrank, in dem ein Behälter mit einer grünlichen Masse steht. Guacamole, denke ich und freue mich, aber stelle dann fest, dass sich um Rührei im fortgeschrittenen Stadium der Verschimmelung handelt. In einem der Küchenschränke steht eine Riesenmenge Dosen. Sie sind allesamt etwas verbeult und sehen aus wie vom Laster gefallen. Chili con Carne, Linseneintopf, Erbsensuppe, genug Hülsenfrüchte um mit den daraus resultierenden Flatulenzen die ganze Spelunke ins Universum zu bomben, wenn jemand unbedacht ein Feuerzeug benutzen sollte. Vielleicht landen wir dann bei Alice Coopers Bar auf den Ringen den Saturns. Möglicherweise sind wir auch alle in ein schwarzes Loch gesogen worden und befinden uns bereits dort. Vielleicht heißt Vincent in Wirklichkeit Alice oder umgekehrt? Wer weiß?

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Uwe Helmut Grave
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Beitrag29.07.2016 19:10

von Uwe Helmut Grave
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Was für ein trister Ort! Ist eigentlich noch keiner der Bewohner auf die Idee gekommen, dass man Straßen pflastern kann? Ich stapfe ein paar Schritte durch den dreckigen Matsch und sinniere: "Gibt es eigentlich auch sauberen Matsch?" Ich bin halt ein unverbesserlicher Philosoph und Schöngeist.
Vor einem schäbigen Haus bleibe ich stehen. Ein hässlicheres Gebäude habe ich noch nie zuvor gesehen, abgesehen von Erdogans Plumpsklo, das ich aber genaugenommen nur von außen kenne, weil dauernd besetzt ist.  
ZUGESCHISSENE SPELUNKE hat jemand, vielleicht ein betrunkener Gast, über die Tür des Hauses gepinselt, und ich glaube jedes Wort unbesehen.
Trotzdem verspüre ich das Bedürfnis, hineinzugehen, es ist wie ein Zwang. Soll ich? Soll ich nicht?
Ein Kann-so-Hund trottet am Eingang vorüber - die Rasse ist nicht erkennbar, er kann so oder kann so sein.
Plötzlich springt die Tür auf. Ein fettes Weib steht - nein, klemmt - im Türrahmen, atmet tief ein und wieder aus. Die Berge unter ihrem mindestens zehn Nummern zu engen T-Shirt heben und senken sich wie zwei gewaltige Vulkane kurz vor der Explosion. Sabber klebt am Shirt. Da ich nicht glaube, dass sie selbst versucht hat, sich in die Brüste zu beißen, hing wahrscheinlich bis eben noch irgendein kleines Kerlchen an ihr. Ich bezweifele, dass der Bursche das überlebt hat.
Eine hässlichere Frau habe ich noch nie zuvor gesehen, abgesehen von An... ne, das sage ich jetzt nicht, und denken tu ich's als treuer Staatsbürger schon allemal nicht.
Starker Mief dringt aus dem Inneren der Spelunke. Der Hund fällt auf der Stelle tot um, und vom Himmel rieselt es Fliegen. Irgendwo in einer Seitengasse stirbt röchelnd ein alter Mann.
"Geh da nicht rein!", krächzt er in seinen letzten Atemzügen. "Niemand weiß, was drinnen vorgeht, nicht einmal die Stammgäste, auch nicht der Wirt, der eventuell eine Wirtin ist - zudem weiß niemand so genau, ob es eine oder mehrere Spelunken gibt. Es ist alles so verworr..."
Weiter kommt er nicht. Er nippelt ab.
Mir geht es wie ihm: Ich kapiere mal wieder absolut nichts. Dabei habe ich erst neulich eine zehnseitige Gebrauchsanweisung zum korrekten Betreten zugeschissener Spelunken gelesen.
Besser, ich gehe einfach weiter und tu so, als gäbe es diese Bruchbude nicht.
"He, Alterchen, willste mich begrabschen?", säuselt mir jemand hinterher, doch ich drehe mich nicht um, aus Angst, es könnte die Brustige sein.
Erst als ich weit genug weg bin, riskiere ich einen Seitenblick. Aus einem Spelunkenfenster schaut ein stark geschminkter, bartstoppeliger Kerl und wirft mir Kusshändchen zu. Einen hässlicheren Mann habe ich noch nie zuvor gesehen, abgesehen von neulich, als ich in den Rasierspiegel blickte.
"Komm zu mir!", ruft der Typ am Fenster mit schmachtendem Tonfall, doch meine innere Stimme sagt: "Geh weiter!" Gehen? Nein, ich renne!


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nebenfluss
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Beitrag30.07.2016 01:41

von nebenfluss
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von nebenfluss
Wissen wird überschätzt. Was hilft es einem, viel zu wissen? Wird man glücklich dadurch? Wird man groß, schön und stark dadurch? Wird das Bankkonto groß, schön und stark dadurch?
Ein Beispiel.
Zeitpunkt Unwissen: Man erwacht neben einem DHL-Transporter und denkt, man ist fürchterlich arm dran, weil orientierungslos. Man kann nicht mal immer geradeaus gehen, denn in welche Richtung soll das sein: geradeaus? Außerdem riecht es, als hätte der Schwefel die Weltherrschaft an sich gerissen. Aber immerhin hat man tief und lang geschlafen.
Zeitpunkt Wissen: Man sitzt auf einem Stuhl und weiß, man sollte besser die Klappe halten, denn das wurde einem gesagt. Von einer Frau, der die Explosionslust bereits aus dem Gesicht schäumt, die wohl noch eine Rechnung offen hat hier. Apropos hier: Man weiß auch wieder genau, wo man ist. Man weiß, man ist Türsteher in einer Spelunke ohne Türen, die man so unmöglich wie irgendein anderer verlassen kann, um sich einen neuen Job zu suchen. Arbeitslos auf Lebenszeit. Man liegt nicht mehr auf dem Boden eines Lagerraums, sondern anderen auf der Tasche. Auf Lebenszeit. Auf Taschen mit Smartphones und Nagellack darin. Und es riecht immmer noch, als hätte der Schwefel die Weltherrschaft an sich gerissen.


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Tjana
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Beitrag30.07.2016 02:20

von Tjana
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Empfehlung

von Tjana
Was murmelt der Typ da vor sich hin? Er sollte doch die Klappe halten. Ist er ein Philosoph oder macht er auf  Möchtegern? Ein Blick zur Theke beruhigt mich, denn weder Vincent noch Hauke mögen Sprüche über Jobsuchende, Dauerarbeitslosigkeit oder Weltherrschaft. Obwohl – der Schwefelgedanke hätte ihnen sicher gefallen. Zu blöd, dass keiner weiß, wo die beiden  abgeblieben sind. Oder vielleicht auch gerade gut so. Nach Pranken in schlabberigen Unterhemden, die sich gegen Weltherrschaft aufbäumen, verlangt es mich im Moment gar nicht.  So wie der Typ neben mir in die Runde schaut, sehen Leute aufm Trip aus. Irgendwie glasig um die Augen und hintergründig lächelnd.  Für eine kurze  Weile wissen sie, wie die Welt funktioniert. Aber das Wissen wird überschätzt. Kaum haben sie ein paar Stunden geschlafen, verpufft es und übrig bleibt nix als Schwefelgeruch.  Jetzt fange ich auch noch an, so  rumzuschwafeln. auweia. Es muss am neuen Ambiente liegen. Diese rosa Wandfarbe macht mich ganz wuschig im Kopf.  Vielleicht wäre es doch nett, Vincent oder wenigstens Hauke am Tresen zu wissen. Die hatten so was Handfestes. Hach …

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nebenfluss
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Beitrag30.07.2016 02:45

von nebenfluss
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Rumschwafeln, rumschwefeln ... ist kein großer Unterschied.
Das Problem ist: Man muss das Wissen, auf keinen Fall mehr wissen zu wollen, auch konsequent anwenden. Aber die Sache mit dem Schwefelgeruch interessiert mich. Die Nase sagt, er ginge von Pferdefuß aus, die mit Besitzerstolz hinter einer Theke steht, die mir neu vorkommt. Aber ich traue mich noch nicht, meiner Erinnerung zu trauen. Vielleicht hatte ich während meiner Amnesie einen Schlaganfall und es ging was verloren.
Testweise führe ich etwas Smalltalk mit Heiner gegenüber, mit beiden Augen abwechselnd. Wetter scheiße, die da oben sind alle doof, so Sachen. Funktioniert einwandfrei.  
Also keine halbseitige Gesichtslähmung. Es war nur ein leichter Schlaganfall.


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Sissi Fuß
Geschlecht:weiblichEselsohr


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Beitrag03.08.2016 07:55

von Sissi Fuß
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Was ist eigentlich aus dem Koch geworden? Vielleicht hatte er einen Unfall.
Auf der Arbeitsplatte liegt so ein kleines Röllchen neben dem riesigen Buschmesser, das man hier wohl zum Gemüse schneiden verwendet hat.
Neugierig trete ich näher. Was ist das? Ein Daumen? Im gleichen Moment, als ich erkenne, was da vor mir liegt, fällt ein haariges Ungetüm vom Regal über der Arbeitsplatte. Eine riesige Ratte baut sich vor mir auf, fletscht die gelben Nagezähne und mustert mich tückisch aus rotglühenden Augen.
Sie ist so groß und auch genauso aggressiv wie der Dackel meiner Nachbarn.
Ich schnappe mir die größte Schöpfkelle und das Buschmesser und knurre: "Hau bloß ab, du Mistvieh!" Davon unbeeindruckt kommt sie näher.
Auf dem Regal über mir raschelt es wieder. Das Biest ist nicht allein. Es scheint hämisch zu grinsen, duckt sich und setzt zum Sprung an. Darauf habe ich nur gewartet, schwinge die Schöpfkelle wie einen Tennisschläger und verpasse der Ratte einen Rückhandschlag, dass sie durch die ganze Küche fliegt, an die Wand klatscht und benommen auf dem schmuddeligen Boden liegen bleibt. Das Geraschel auf dem Regal über mir wird lauter.
Der Hunger ist mir vergangen. Ungeziefergewimmel, phosphorisierender Schimmel, ein halber vertrockneter P... Ich trete den Rückzug in den Gastraum an. Das Buschmesser nehme ich vorsichtshalber mit.


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Jenni
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Beiträge: 3310

Das goldene Aufbruchstück Die lange Johanne in Gold


Beitrag16.02.2017 21:34

von Jenni
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Empfehlung

von Jenni
Plötzlich schrecke ich erschrocken aus meinen Gedanken. Mir ist, als hätte ein Geräusch die wunderbare und vollkommene Stille durchbrochen. Doch um mich herum sitzen alle wie gehabt unbeweglich an den Tischen und geben keinen Laut von sich. Eine Staubschicht hat sich auf ihnen gebildet, und in fast jedem Glas schwimmt eine Fliege auf dem schalgewordenen Bier (weiß ich natürlich nicht, ob es wirklich schal geworden ist, die liebe Perspektive, es ist jedoch eine begründete Hypothese), als übten sie Synchronschwimmen, nur eben in tot. Das Geräusch muss von draußen gekommen sein.
Ich bahne mir einen Weg zum Fenster, wofür ich den Mann mit dem Bart ein Stück beiseite schieben muss, wodurch er sich jedoch in seinem ewigen Schlaf nicht stören lässt, und schaue hinaus wische den Staub beiseite und schaue hinaus schlage ein Loch in die Scheibe, reiße das Internet von deren Außenseite ab und schaue hinaus. Tatsächlich, am Dorfbrunnen ist jemand. Mehrere Menschen, und die sehen so, wie heißt das - fröhlich aus. Unglaublich, aber: Die Sonne scheint dort. Ich vergrößere mein Guckloch und sehe nach oben. Über der Spelunke hängt eine dicke graue Gewitterwolke und genau in diesem Moment fängt sie an in dicken Tropfen auf mich herab zu tropfen. Ich ziehe den Kopf ein und schiebe den Mann mit dem Bart wieder vors Fenster, damit es nicht reinregnet.
»Ist noch Rührei da?«, frage ich niemand bestimmten und lausche meinem Echo.
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Yaouoay
Geschlecht:männlichEselsohr

Alter: 22
Beiträge: 232
Wohnort: Berlin


Beitrag16.02.2017 22:06

von Yaouoay
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Ich erschrecke.
Auf einem unbekümmerten Spaziergang beim Dorfplatz in Gedanken versunken, ist es umso überraschender, ein plötzliches Klirren zu vernehmen.
Ich fahre herum.
Und starre unverwandt auf die Wand der alten baufälligen Spelunke, um die seit Monaten jeder vernünftige Künstler des Dorfes einen weiten Bogen schlägt.
In der Wand ist ein Loch. So sieht das aus. Aber wenn man genauer hinschaut, erkennt man, dass es ein Fenster ist. Oder mal war. Es hat mittlerweile genau die gleiche Farbe wie die Wand selbst.
Zögerlich tue ich ein paar Schritte in Richtung Spelunke. Ich bin jetzt wahrscheinlich näher an ihr dran, als eine Menschenseele in letzter Zeit je gewesen ist.
Während ich langsam auf das heruntergekommene Gebäude ... Gebäude zugehe, schießen mir beunruhigt Gedanken durch den Kopf:
Erst einmal das Offensichtlichste. Jemand muss das Fenster zerschlagen haben. Von selbst wird es wohl nicht zerspringen.
Dann muss es jemand von drinnen gewesen sein, da die Scherben auf der Straße liegen.
Und das bedeutet, dass Menschen in der Spelunke sein müssen ...
Und das bedeutet, dass ...
Ich renne zu der Tür, reiße sie auf, da steht Jenni.
"Hallo", sage ich. Jenni blickt mich an. Sie ist hier die Einzige, die im Moment dazu in der Lage ist.


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In Liebe – das Leben
(Erzählung)
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nebenfluss
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Beiträge: 5982
Wohnort: mittendrin, ganz weit draußen
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Beitrag20.02.2017 02:32

von nebenfluss
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Empfehlung

von nebenfluss
Menschen mit einem 'geregelten Leben' sagen ja immer: Alkohol ist keine Lösung. Damit verbringen die ihre Zeit. Sie begreifen das Leben als ein diffuses Problem und sammeln eifrig Nicht-Lösungen. Gewalt ist keine Lösung. Nicht-Hinhören ist keine Lösung. Drogen sind keine Lösung. Braune Schuhe bringen‘s auch nicht. So verringert sich der Abstand zum Finden der Doch-Lösung: Strategien für Leute, die zum Friseur gehen. Am nächsten Morgen ein Blick in den Spiegel: Oh, auch das war keine Lösung. Versuche bis zum Finden des heiligen Grals: x - 1. Auf das Minus kommt es an. Das Minus macht gute Laune.
In der Gecko-Bar gibt es keine Spiegel, kein Sammeln von Nicht-Lösungen, und wer lange genug da ist – und das ist jeder früher oder später – hat auch das universelle Problem vergessen.
Die Scheiben der sogenannten Fenster sind von außen mit Forenbeiträgen und eidotter-verschmierten Suchanzeigen verklebt, den »Verlust« unbeaufsichtigter Gegenstände thematisierend. Auch dies sicherlich kein lösungsorientierter Ansatz in dieser miesesten Gegend der Stadt, wie gutgläubig müsste man sein, dass da jemand kommt und sagt: »Hier, dein Fahrrad zurück. Ich war mir sicher, es sei meins, aber jetzt, wo ich deinen Zettel gesehen habe, ist mir mein Irrtum aufgefallen. Nichts für ungut, war ja keine böse Absicht. Mit den Bremsen solltest du dringend was machen.«
Nein, die Front der Gecko-Bar fungiert als Klagemauer und für Soziologiestudenten als Nachschlagewerk über ein Milieu, in dem jede Unachtsamkeit sofort die kriminellen Energien im Verborgenen lauernder Subjekte freisetzt.
Von innen krallt sich eine immense Menge Staub am Glas fest, durch irgendeinen physikalischen Trick vielleicht, oder aus purer Angst vor den aggressiven bakteriellen Kulturen, die man in den schimmernden Pfützen auf dem Boden vermuten muss. Die millimeterdicke Schicht verhindert eine detaillierte Reflexion meines äußerlichen Selbst; die Silhouette erscheint mir eher fusselig als fuselig, und meine Körperhaltung scheint, nun, überaus entspannt: Monatelanger, einsamer Spirituosenmissbrauch hat mich von einem Problem erlöst, das mir gar nicht bewusst war, nämlich der kuriosen Manie, mich stolz und aufrecht durch die Gegend zu bewegen. Zu schlurfen statt zu schreiten spart wertvolle Energie. Keiner da, den es stört - und durch die Scheiben kann man, wie gesagt, schon lange nicht mehr hineinschauen.
Lächelnd erlaube ich mir nun manchmal nostalgische gedankliche Ausflüge in die Zeit vor meiner Spelunkisierung, wie ich als Start-Upper unter der Fuchtel meiner Mutter und meiner Schwester stehend durch ein Leben voller hektischer Nicht-Erfolge gehetzt wurde. Ode nein, ich selbst habe mich gehetzt, das erkenne ich nun ganz klar, der sanften Psychotherapie dieser Umgebung sei Dank. Nun spukt sogar der selige Papa Rodriguez nicht mehr durch meine Träume – nicht mal ihm fällt noch eine Nicht-Lösung mehr ein, mit deren Verifikation er mich beauftragen könnte ... Viele angenehme Tage verbrachte ich im Halbdasein des gepflegten Promillepegels, die Arme auf Pferdefuß‘ neue Theke gestützt, den Kopf darauf gebettet, bis eines Tages Einstein mit einem Vorschlaghammer anrückte und mit dem Satz „Das wird mir alles zu exklusiv hier“ in das Plexiglas sausen ließ. Beeindruckend: Er braucht seine Stimme nicht zu heben, damit sie sich durch den brachialsten Lärm durchsetzt.
Ich bin dann auf das letzte tragfähige Möbel umgezogen: die Porno-Couch, neben der in einer Batterie halbvoller Biergläser Fliegen, Brummer und Weberknechte ihre finale Lösung gefunden haben. Darüber hängt seit einigen Tagen Vinzents ganzer Stolz: ein Plakat, von ihm höchstpersönlich auf seinem Windows95-Rechner gestaltet.
 
 


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lupus
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Beitrag20.02.2017 03:12

von lupus
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Wieder ist ein Telefonat beendet. Wieder hat ein Telefonat im Streit geendet. Wieder wurde bis zum bitteren Ende telefoniert und gestritten.
Ich hab dann einfach aufgelegt. Sie hat noch einmal angerufen:
"Leg ja nie wieder einfach so auf!" Und hat aufgegt, worauf ich sie einfach anrufen musste:
"Red ja nie wieder so mit mir. Du zwingst mich ja dazu einfach auf zu legen"
Nächste Runde. Vom Hundertsten ins Tausendste, keiner weiß mehr worüber gestritten wird. Die Lautstärke definiert das Ziel. Am Ende wäre es dann doch die Zahnpastatube.
Ich geh schlafen. Immerhin: Halb zwei.
Long-distance-Beziehungen haben auch etwas Gutes: Die Zahnpastatube gehört mir allein.


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lg Wolfgang

gott ist nicht tot noch nicht aber auf seinem rückzug vom schlachtfeld des krieges den er begonnen hat spielt er verbrannte erde mit meinem leben

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"Ich bin leicht zu verführen. Da muss nur ein fremder Mann herkommen, mir eine Eiskugel kaufen und schon liebe ich ihn, da bin ich recht naiv. " (c) by Hubi
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Tjana
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Beitrag20.02.2017 15:02

von Tjana
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Weiß der Himmel, oder hier besser die Geier, was mich wieder in diese verlotterte Gegend getrieben hat. Der Busfahrer öffnet mir nur ungern die Tür an der Endstation und startet mit quietschenden Reifen durch, kaum, dass ich draußen bin. Ich bin beeindruckt, wusste nicht, dass sogar Busse nen Kickstart machen und ihre Reifen quietschen können.  Aber als ich den kleinen Saxo sehe, der schief und traurig am Straßenrand gegenüber der Kneipe wartet, kann ich ihn verstehen, den Busfahrer, nicht den Saxo. Warten ist keine Lösung. Schon mal generell nicht, aber wer darauf wartet, dass hier, wo nur das Vergessen wohnt, jemand auftaucht, der dann auch noch ganz beiläufig zwei heile Reifen bei sich hat, glaubt auch an den heiligen Gral. Obwohl – ein wenig verstehe ich auch den kleinen traurigen Saxo. Ob es weh tut, wenn einem die Reifen zerstochen werden?
Ich schweife ab. Die Kneipe, ach ja. Lange war ich nicht mehr hier. Hab gewartet, woher wüsste ich sonst, dass Warten keine Lösung ist.
Das Gebäude steht noch, die unverändert blickdicht verschmierten Fenster wecken ein Gefühl von Heimkehr. Eine neue Tür ist eingesetzt worden. Ob sie wirklich neu ist, kann ich eigentlich gar nicht erkennen, weil sie vollständig von einem Plakat bedeckt wird.
79 Monate Spehluhnke!!! Und 14 Monate Gecko-Bar!!!!!, lese ich, und in weiteren ungelenken Lettern etwas von einem Rock-Konzert.
Ich wusste gar nicht, dass Vinzent so weit zählen kann. Mir fällt seine kindlich hohe Stimme wieder ein und ich frage mich, wie sich ein Countertenor im brachialen Lärm rockender Rodriguez Brüder durchsetzen wird.
Ich öffne die Tür und taste mich in die Welt der Vergessenen hinein. Ein Bier wäre jetzt eine prima Lösung.


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Kätzchen
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Beitrag20.02.2017 15:14

von Kätzchen
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Aha, wir haben also eine Spelunke.
Als würde ein Dorfbrunnen nicht reichen.
Geht man eigentlich vom Brunnen in die Spelunke, oder umgekehrt?
Ich schaue kurz zum Brunnen zurück, wo ein paar einsame Gestalten lungern, erinnere mich aber an diese seltsamen Regeln die mir irgendein flugblattverteilender Azubi in die Hand gedrückt hat. "Schweigen is nicht gut", hat er gesagt. "Der Zwerg mags nicht wenn man schweigt. Eigentlich mag er gar nichts. Aber da läuft grad ne Aktion, irgendwas mit Neueröffnung..."
Ich hatte abgeschaltet, aber ich vermute, er erzählte noch gut eine halbe Stunde, während ich in meinem Gedankenpalast spazieren war.
War noch Milch im Kühlschrank?
Habe ich alle Fenster wegen der Katzen geschlossen?
Oh bitte Gott, lass mich nicht heimkommen und meine liebsten Flauschbälle auf dem Betonbetonboden vier Meter weiter unten finden... moment, was wollte ich gerade? Ja, richtig, diese dubiose Kneipe.
Außerdem, Himmel, es sind Katzen. Ok, eine ist dusselig. Ist schon mal aus dem vierten Stock geflogen, aber so dumm gefallen, dass sie wieder gut gefallen ist. Es hätte auch schlimm enden können. Armer Sammy, wie verstört er... moment. Irgendwas war doch gerade noch.
Ach verdammt, diese Kneipe!
Eigentlich hatte der Azubi mich schon bei "eigentlich mag der Zwerg gar nichts" - mal ehrlich, klingt doch paradisisch! Kein Smalltalk, kein Heucheln von Interesse für Wauwis, Käsekuchen oder irgendwelche Kinderbilder, auf denen das Kind geschminkt ist, oder mit Soße verkleckert.
Ich rolle mit den Augen. Wer bitte findet sowas niedlich oder sozial chick, mir Bilder von vollgesabberten Kindern zu zeigen? Ich mag ja nicht einmal meine eigene Sabber!
So, jetzt aber die Kneipe. Mittlerweile stehe ich seit zwanzig Minuten vor der Tür und es wird langsam Zeit, mal reinzugehen.
Ich öffne also die Tür, fasse direkt einen Randplatz im Eck auf und setze mich. Zeit, Leute zu beobachten!


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Ich tippe und rede schneller, als mein Hirn denken kann.
Erwachsener und unvernünftiger als je zuvor.
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nebenfluss
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Beitrag20.02.2017 19:01

von nebenfluss
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»You can check-out any time you like, but you can never leave«

Diese hübsche Umschreibung der Sogkraft einer Spelunke wirft ihre Schatten in Analogien voraus. Man nehme nur diesen Neuzugang, der es ohne weiteres schafft, mitten in einem Telefonat aufzulegen und doch das Gespräch nicht beenden kann.
Wir nennen ihn den Dauertelefonierer, eine leicht in die Irre führende Bezeichnung, ist die Dauer seiner Handygespräche doch ausgesprochen kurz, deren Häufigkeit dagegen rekordverdächtig.
Gerade steht er neben meinem Sofa und besieht das Plakat mit der Konzertankündigung.
»Comic Sans. Meine Lieblingsschrift. Aber ist der Siebenundzwanzigste nicht ein Montag?« Er zählt an den Fingern ab und nickt.
»Wäre ein Termin am Wochenende nicht sinnvoller für ein Rock-Konzert?«, fragt er, noch ganz in den Ritualen geregelter Verhältnisse verhaftet.
»Was war noch gleich der Unterschied zwischen 'unter der Woche' und 'am Wochenende'?«, frage ich zurück, als sein Smartphone klingelt.
»Ruf mich nie wieder an!«, bellt er hinein und hält das Handy sofort eine Armlänge von sich weg.
»Nur, wenn du nie wieder mitten im Gespräch auflegst!«, keift es schrill aus dem Lautsprecher.
Er legt auf und fragt, ob er hier ein Zimmer haben könne.
»Du stehst bereits drin«, erkläre ich, »gepennt wird am Rest vom Tresen oder hier auf der Couch, wenn ich gerade mal für kleine Türsteher bin. Frühstück gibt’s unter Woche zwischen nie und manchmal, am Wochenende eher selten.«
»Ah, verstehe«, erwidert er zu meiner Überraschung und stellt tatsächlich keine weiteren Fragen mehr. Er lernt schnell, oder hat sogar Vinzents Hausordnung gelesen.
Das Handy gibt eine kurze gepfiffene Melodie von sich. »Jetzt schreibt sie mir schon What's-App-Nachrichten«, stöhnt er, »einfach auflegen ist wohl auch keine Lösung.«
Das Ding ausschalten wäre eventuell eine, verkneife ich mir zu sagen. Die Spelunkisierung eines jeden genießt man am besten ohne einzugreifen. Das ist wie kostenlos ins Kino gelassen werden. Dieses ergebnisoffene Straucheln, wenn sie erstmals versuchen, vom Karussell ihrer Nicht-Lösungen zu springen. Die Verzweiflung, weil jeder Weg aus der Bar hinaus gleichzeitig ein Weg hinein ist. Die aufkeimende Hoffnung, wenn sie die komplette Aussichtslosigkeit ihrer Situation erkennen, die Metapher der zugekleisterten Fenster begreifen. Das beglückende Abwerfen jeder Verantwortung. Das feuchte Glitzern in den Augen, wenn ihnen aufgeht, dass die Gecko-Bar die einzige Lösung ist, die sie brauchen. Erhabene Momente, immer wieder auf's Neue.
Eines muss er jetzt aber doch noch wissen: wie wir hier »die Sache mit der Zahnpasta« handhaben würden? Will er mich nun verarschen, oder ist der Schwefelgestank nach wie vor so dominant, dass ihm mein Mundgeruch noch gar nicht aufgefallen ist?
»Trink erst mal was.« Ich reiche ihm eines der halbvollen Biergläser.
Angeekelt beäugt er die darin schwimmende Fliege.
»Die ist fürs Aroma. Damit das Bier nicht so schal schmeckt wie's ist.«
»Ah, verstehe.« Er nippt doch tatsächlich an dem Gesöff. »Sag mir Bescheid, wenn du mal vor die Tür musst.« Ohne weitere Umstände angelt er sich einen Barhocker, setzt sich darauf und schläft ein. Das Smartphone klingelt, doch das hört er schon nicht mehr.

Enttäuscht lasse ich mich auch wieder auf die Porno-Couch sinken. Wo bleibt mein Film? Nach dem Telefondrama hatte ich etwas mehr Aufregung erwartet.


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traumLos
Eselsohr


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Pokapro 2017


Beitrag26.03.2017 12:53

von traumLos
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Suche einen Ort, der zu mir passt. Da empfahl mir der Typ die Spelunke. Wieso das der richtige Ort wäre, fragte ich. Ich sähe so aus und wenn ich sie fände, wäre es der richtige Ort. Wieso, fragte ich, weil ich immer wieso frage. Man soll ja nie was als gegeben hinnehmen. Wieso, fragte ich also. Er drehte sich um und ging. Hey, rief ich,in welcher Richtung liegt die denn.  Er blieb kurz stehen. Rechts, links, geradeaus, über die Dächer, durch die Kanalisation. Spielt keine Rolle.

Nun stehe ich davor. Werde mir erstmal eine Zigarette drehen, mich an die verfallene Fassade lehnen und nachdenken.
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Abari
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Der bronzene Durchblick


Beitrag19.08.2017 00:26

von Abari
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Endlich! Endlich habe ich sie wiedergefunden und das ist ein Grund zu Feiern, auch wenn Feierlaune das Letzte ist, was man in der Spelunke braucht. Das Schönste ist, dass ich machen kann, was ich will. Zahlt alles der Arbeitgeber, weil ich darauf angesetzt wurde, die schlechtesten Kneipen der Welt zu finden, damit hippe Studenten aus den Metropolen hinpilgern können, wenn sie ihrer hippen Kneipen überdrüssig geworden sind: nur um mal was ganz Ekliges auf ihrer Liste zu haben, mit viel Authentizität und so. Das Äußere macht schon mal viel her.

Ich zücke mein Notizbuch und schreibe: 'Äußeres angemessen' und schieße ein Foto.

Davor rotten ein alter VW-Bulli und ein Saxo vor sich hin. Die Fenster und Wände der Kneipe sind mit lauter bedrucktem Papier verklebt, auf das einige mit Eiweiß(?!?) Schmuddelbildchen geklebt haben. Schmierereien vervollständigen das Bild der walmbedachten, niedrigen Bruchbude mit dem großen Anbau. Einfach herrlich abstoßend!

Ich trete ein. Mit Mühe kann ich meinen Brechreiz unterdrücken, so stinkt es. Am liebsten ginge ich direkt aufs Klo, um zu sehen, ob es da genauso beschissen zugeht wie hier, wo ich von einer Lache in die nächste schlittere, wobei nicht zu erkennen ist, ob es sich dabei um Blut, Wichse, Pisse, Kotze oder Alkoholrester handelt. Der Tresen starrt vor Dreck. Wohlgemut rufe ich der Dame in Scharzweiß dahinter zu: "Das Beschissenste, was Küche und Bar zu bieten hat. Ich muss meine Euphorie dämpfen!"
Verständnislos haucht sie ein "Ja..."

Glückselig über meinen Fund lasse ich mich auf einen freien Stuhl fallen und stopfe mir ein Pfeifchen. Am liebsten würde ich ein wenig Schmand vom Tisch fummeln, um mich voll und ganz einzustimmen. Als ich mit dem Fingernagel etwas abzukratzen versuche, steht ein Cowboy, den ich zuvor noch auf dem Sofa herumlungern hab sehen, neben mir und schnauzt: "EY, MANN, das kostet EXTRA."
"Kein Problem", flöte ich, "sofern Ihr hier Visa nehmt." Er guckt mich an, als hätte er gerade von mir erfahren, dass seine Mutter gestorben sei. "Es sei denn, hier wird noch was ordentliches verkauft." setze ich strahlend hinzu. Ich kann mir nicht helfen, aber in dieser Kneipe steckt eine wahre Goldgrube.

Ich lasse meinen Blick weg vom Cowboy über die Wände schweifen. Ausgeblichene Schwarzweißfotografien mir unbekannter Personen hängen da. An manchen kleben bunte Eierschalen; dort, wo das Ei aufschlug, sind die Scheiben teilweise zerbrochen. Da kommt auch schon das Bestellte, eine undefinierbare, grünliche Pampe und ein Schnapsglas mit einer Flüssigkeit, die Pisse sein könnte, dekoriert mit einer Spinne am Boden des Glases. Rein war das auch lange nicht mehr.

"Bitte..." sagt die Kellnerin, als sie mir angewidert das Zeug hinstellt.
"Warten Sie." Ich stürze den Glasinhalt hinunter und habe das Gefühl, blanken Diesel getrunken zu haben. "Ich wollte einen Seidel von dem Gelumpe, bringen Sie ihn mir bitte? Wie heißt das Zeug?"  
"Vinzents Einzigartiger", presst sie tonlos hervor, "unsre Hausmarke."
"Bravo! Bestellen Sie dem Brenner beste Grüße, er ist hervorragend."
Kopfschüttelnd steht die Kellnerin da. Wenn die wüsste...

In diesem Augenblick nehme ich hinter der Kellnerin den fixierenden Blick eines Säbelzahntigers wahr. Er sieht in mir wohl sein Abendbrot. Ich spränge am liebsten auf und würde ihn knuddeln, aber das ginge dann doch zu weit. Und meinen zahmen Panther nehme ich nicht mit in die Kneipen, die ich besuche. Das arme Tier. Ich ziehe an meiner Pfeife und muss aufstoßen; dabei schlägt spürbar eine Flamme nach unten. Ich bin des zufrieden, als mein Magen krampft. Besser habe ich es nirgendwo getroffen; dabei war ich dabei, wie in Israel vor versammeltem Publikum das Schaf zu Essen geschächtet wurde, in Dänemark Fäkalien zu Mousse au Chocolat verarbeitet, in Mexiko das Waschwasser des Kneipeninventars zu Bier gebraut, aber das hier toppt einfach alles. Und die Gäste erst! Total durch... Ich rufe zur Kellnerin, dass ich unbedingt noch einen Scotch brauche, als ich beginne, meine Ekelpampe herunter zu schlingen.

Einige blicken auf, während ich genüsslich mein Essen vertilge. Sowas ist in besten Spelunkenzeiten noch nicht da gewesen. Gut, mein Magen rebelliert. Er weigert sich vehement, strampelt, krampft, dreht sich. Aber vorerst gewinnt der Wille zur Tat. Es wäre nicht das erste Mahl, das ich wieder komplett auskotze. Ich erinnere mich beispielsweise an diese Kneipe in Texas, wo dieselbe Maispampe wie im Gefängnis ausgegeben wurde. Das war sehr interessant und auch mit viel Schnaps nicht zu bändigen... Die Kellnerin bringt den Seidel und reißt mich aus den Gedanken. Wortlos stellt sie ihn hin. Da mein Teller leer ist, setze ich an und trinke mit wenigen Schlucken aus. Die Fliege übersehe ich geflissentlich, die ihr letztes Bad in der Seiche genommen hat. Ab jetzt kann ich entspannen, denn damit ist Feierabend. Dafür ist der Scotch.


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Nihil
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Beitrag25.08.2017 23:22

von Nihil
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Hab ich etwa das Musical verpasst?

Gut.


Ich hasse Musik. Um mit Knorkator zu sprechen.

He, Barmann!
Gib mir nen Drink aus und zieh dich! #ZeigDochMaDeinZeugma


Ich bin am Boden.Musste zwei Stunden ein unfassbar schlechtes Stück ansehen. Den Trichter hab ich mitgebracht, schütt rein, was trunken macht.

Gestern war Gottkanzler Martin Chulz in Göttingen.  Leider auch Th. Oppermann. Er kündigte den Red Chancellor und hob mit Höcke'scher Intonation an: Es ist großartiges Wettter. Es ist Kanzlerwetter.

Ich kann nicht mehr. So gar nicht
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Tjana
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Beitrag27.09.2017 19:27

von Tjana
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Er beeilte sich, noch einmal hier herzukommen, an diesen beglückenden Ort ohne jegliche Verantwortung. So, wie die Leute in letzter Zeit schnell noch mal nach Kuba reisten, bevor es vorbei war mit der Authentizität. Vor zwei Wochen hatte er seine geliebte Spelunke doch tatsächlich in einer Zeitung entdeckt. Mit Fotos, die der anpreisenden Schilderung im Text laut spotteten. Dabei hatte der Autor noch nicht einmal die Metapher der zugekleisterten Fenster erkannt. Wahrscheinlich würde der Artikel trotzdem hippe Studenten aus den Metropolen reizen, diesen Ort bald aufzusuchen, um ihn mit ihrer Schnelllebigkeit, ihren ständig mit grausigem Sound rufenden Handys, die ihn vernünftige Exponentialboxen herbeiflehen ließen,  und ihrer stets lächelnden Ignoranz gegenüber der kompletten Aussichtslosigkeit ihrer Situation zu besudeln.
Der Mann musste sich beeilen.

Erleichtert stellte er fest, dass sich zumindest von außen gesehen noch nichts verändert hatte. Sogar der Bulli und der kleine, blaue Saxo standen noch dort. Beim Anblick der angerissenen Plakate, die dennoch der Fassade ihren Halt gaben, wurde ihm warm. Er schmunzelte ein leises „Hallo“ zurück, zündete sich eine Zigarette an und öffnete die Tür.
Sofort schlug ihm das Aroma der Kneipe entgegen. Er aschte zur Begrüßung auf den Boden. Es zischte leicht und sein Blick fiel auf einen jungen Typen, der mit schmerzverzerrtem Gesicht einen Notizblock gegen seinen Bauch drückte. Um einen Teil hatte er sich offenbar schon erleichtert. Der Mann machte einen großen Schritt über die frische Kotzlache hinweg und ging zum Tresen. Drei halbvolle Biergläser warteten auf ihn. Während er aus einem die tote Fliege herausfischte, sah er sich um. Auf der Couch schlief ein sehr junger Mann, den er hier noch nie gesehen hatte. Dem Bartschatten nach zu urteilen, musste er sich schon vor einiger Zeit zu den Abwerfenden gesellt haben. Und – der Mann konstatierte das zufrieden – er war offenbar kein hierher verirrter, hipper Student.  Der Mann zog einen Stuhl neben das Sofa und betrachtete das friedliche Gesicht des Schlafenden. Es wirkte gelöst im aromatisierten Schlummer. Unter den entspannten Fingern lugte ein Flyer hervor. Eine Veranstaltung in Göttingen, bei gutem Wetter. Vermutlich war der Junge daran gestrauchelt, sinnierte der Mann, vermutlich konnte er einfach nicht mehr. Aber er war hier! Er hatte es geschafft, vom Karussell seiner Verzweiflung zu springen und sich von den Zumutungen des Lebens zu spelunkiesieren.
„Willkommen im Club“, flüsterte der Mann, lehnte sich zurück in seinen eigenen Frieden und leerte das Glas in einem Zug.


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Abari
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Beitrag13.02.2018 23:21

von Abari
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Empfehlung

von Abari
Komatisiert wache ich auf. "Willkommen im Club" schallte es aus meinem Traum herüber. "Willkommen im Club..." Das antwortete mir die Fee, der ich kurz zuvor mitteilte, dass ich auch Zauberkräfte hätte. Ich könnte mit Worten Leute in vergammelte, heruntergekommene Kneipen locken.

"Meine Wünsche übrigens..." - "Willkommen im Club." Und damit endete der Traum und ich sehe mich in der vielleicht miserabelsten Kneipe der Welt erwachen.

"Zwei Schnaps, zwei Bier, zwei Jägermeister..." zitiere ich etwas, worüber ich vor langer Zeit einmal lachen musste. Aber es passt so schön. Außerdem ist mir danach.

Mir gegenüber sitzt ein vergleichsweise gepflegter Herr, der so gar nicht ins Spelunkendasein passt. "Guten Morgen" fällt aus seinem Mund und er lächelt dabei. Höflich lächle ich zurück, beziehungsweise was ich in meinem verkaterten Zustand als Lächeln bezeichnen würde, so von der Innensicht her. "Moin!" fasse ich meinen Zustand zusammen. Dabei bin ich gar kein Norddeutscher, aber manches können eben andere Deutsche besser ausdrücken; außerdem gefällt mir dieses Wort so sehr. Meine Bestellung kommt und ich bin froh, dass mich aus dem Bier kein Hai anglotzt. Ansonsten wimmelt es wie immer von Tieren darin. "Und, wie kommen Sie hierher?" frage ich und wieder fällt mir auf, wie schlecht ich im SmallTalk bin.

"Ich bin einem Artikel in der Zeitung gefolgt und wollte das alles hier erleben, bevor es überrannt ist."

Diesmal lächle ich tatsächlich. Mein Artikel ist also durchgekommen. Das bedeutet einen kleinen Geldsegen auf dem Konto, das ungefähr so gut bestallt ist, wie die Wüste Gobi mit Wasser.

"Warum lächeln Sie so freundlich? Sie haben doch noch garnichts getrunken?!?" - "Ach, ich dachte nur daran, wie gut das ist... Dann lerne ich endlich mal hier neue Leute kennen, mit den anderen haben wir es schon ausgeredt, wie eine Bekannte sagen würde."

"Mhm." lächelt der Mann mich an. Leider geht mir der Gesprächsstoff aus und ich leere in einem Zug mein erstes Bier.

"Besser?" Die Augen des Mannes funkeln. "Ja, besser. Friedrich mein Name. Und Ihrer?" Ich reiche ihm die Hand und muss aufpassen, dass ich nicht vom Sofa falle.


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nebenfluss
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Beitrag31.12.2018 01:48

von nebenfluss
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Empfehlung

von nebenfluss
Die Berührung einer zugreifenden Kleinkindhand ist unverwechselbar: sanft, warm, ein klein bisschen feucht, irgendwie unkonzentriert und unmöglich abzuweisen. Deshalb kann ich das Gefühl an meiner Nase sofort identifizieren, bevor ich die Augen öffne, und obwohl mir mein Traumbewusstsein hartnäckig eine wirre Story von wildgewordenen Wäscheklammern zu Ende erzählen will.
Meine Blase erzählt mir etwas ganz anderes und lässt mich vom Sofa aufstehen, dem etwa vierjährigen Knirps, der mich begeistert anstrahlt, über den Kopf streicheln und den Weg dorthin antreten, was man in wertigeren Etablissements den Abort nennt.
„Ach, wie süß, schaut nur, Yvonne-Jacqueline hat den Penner aufgeweckt ...“
Die Gecko-Bar ist gut besucht, und zwar nicht nur im Sinne von Masse, sondern auch von Klasse: Sehr viele ordentliche Hemden, neue Hosen, teure Schuhe und smarte Frisuren, vor allem Frauen mit einer beeindruckenden Anzahl von Säuglingen auf Armen, Schößen und in Kinderwägen.
Im Gang zum Klo versucht ein Paar im Stehen, seine Tochter zu wickeln.
„Die Porno-Couch wäre gerade frei“, versuche ich es mit Höflichkeit, aber die beiden starren mich nur misstrauisch an und zerdrücken fast das Kind zwischen sich.
Später stelle ich Pferdefuß zur Rede, die in der Küche fünf Pfannen Rührei auf dem Herd stehen hat:
„Wer sind die denn alle?“
„Das ist die Crabblegroup Nordwest“, erklärt Pferdefuß, „die halten hier ihre Jahresabschlussfeier ab. Und alle haben Rührei bestellt.“
„Aber Yvonne-Jacqueline ist gar nicht mehr im Crabble-Alter. Die kann schon laufen.“
„Yvonne-Jacqueline ist die große Schwester von Clarissa-Isabelle. Die können David und Susan ja an Silvester schlecht zu Hause lassen.“ Pferdefuß wirft eine Eierschale in meine Richtung. Sie gesellt sich auf dem Fußboden zwischen mir und dem Abfalleimer zu den anderen.
„Sie hätten sich doch einfach alle zusammen zu Hause lassen können“, entgegne ich, „oder woanders hingehen. Die Gecko-Bar ist wohl kaum ein geeigneter Ort für Babys.“
„Wie man's nimmt. Mittlerweile gibt es in der ganzen Stadt keine Gastronomie mehr, die denen mit ihren Gören Tische zur Verfügung stellt. Wir sind die letzte.“
Gastronomie? Wovon zum Teufel sprichst du? Was hat die Gecko-Bar mit Gastronomie zu tun? Oder du mit David und Susan?“
„Man muss mit der Zeit gehen.“ Pferdefuß wirft eine weitere Eierschale in meine Richtung. Sie landet im Mülleimer. „Huch, getroffen.“
„Nee, ich will die nicht hier haben. Könnten wir nicht unsere Geheimwaffe benutzen, du weißt schon ...“
Pferdefuß sieht mich vorwurfsvoll an. Natürlich weiß sie. Unsere Geheimwaffe gegen unverschämte Gäste (Bezahl-Weigerung) und freches Küchenpersonal (Bezahl-Forderung): das lebende Ketchup!
Lebendes Ketchup riecht wie normales Ketchup, möglicherweise schmeckt es sogar wie normales Ketchup. Doch niemand hat das je ausprobiert, denn der Anblick von lebendem Ketchup ist unbeschreiblich unerträglich und zum sofortigen Wahnsinn verlockend, weshalb neunzehn todesmutige Spelunker verschlissen wurden, um die aus Versehen in der Vorratskammer freigelegte Flasche komplett mit schwarzem Panzertape zu verblickdichten.
Ein paar winzige Spritzer davon auf dem Rührei der Crabblegruppler, und die Jahresabschlussfeier wäre schnell zu Ende … doch Pferdefuß hat die Spelunkenseele der Gecko-Bar an den Kommerz verkauft. Ich versuche noch halbherzig, mich wütend auf sie zu stürzen, rutsche aber auf den Eierschalen aus und schlittere in einer nicht ganz freiwilligen 180-Grad-Wende aus der Küche hinfort.


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nebenfluss
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Beitrag31.12.2018 18:49

von nebenfluss
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Offenbar bin ich im Schlaf zu einer gewissen Berühmtheit gelangt. Der Couchtyp in der Geckobar ist die Kultfigur mindestens eines trashigen Blogs über skurrile Kneipen oder Sehenswürdigkeiten. Eine Sensation, ihn ausnahmsweise in wachem, nüchternen Zustand anzutreffen. Ich werde umringt von jungen Eltern, die mich zu Autogrammen und Selfies überreden wollen. Ich will einfach nur vor die Tür. Einige folgen mir.
Draußen wird natürlich geraucht. Überrascht stelle ich fest, dass sich meine eigene Nikotinsucht während meines monatelangen Schlafs in Luft aufgelöst hat. Das Bedürfnis, vor einer Tür zu stehen, ist offenbar zäher. Grimassierende Leute an meiner Seite, ich soll in Handylinsen grinsen.
Als ich erzähle, ich sei eigentlich der Türsteher hier, soll ich mich fürs Foto im Eingang aufbauen und so tun, als ließe ich keinen mehr ein. Ich baue mich im Eingang auf und lasse keinen mehr rein. Als sie merken, dass ich es ernst meine, werden die ersten aggressiv. Da fliegt mir die Tür an den Hinterkopf. Pferdefuß tritt hinaus und überreicht mir eine einzelne Silvesterrakete, eine Packung Streichhölzer und die blickdichte Ketchupflasche, die sich erfreulich leer anfühlt. Dann scheucht sie die Gäste wie eine Grundschulklasse mit wedelnden Händen in den Innenraum: „Food! Food! Essen ist fertig!“.
Ich stecke den Böller in die Flasche und stecke die Zündschnur an. Wir treten zurück. Der Funke erreicht den Knallkörper, doch es knallt nichts, der Pappzylinder glimmt einfach nur vor sich hin und stinkt dazu.
„Mannomann, du kriegst aber auch wirklich gar nichts hin“, spottet Pferdefuß.
„Danke, ich wünsche dir auch ein frohes Neues“, antworte ich.


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