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Muttermilch!


 
 
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host
Geschlecht:männlichGänsefüßchen
H


Beiträge: 48
Wohnort: nicht zuhause


H
Beitrag03.08.2017 18:03
Muttermilch!
von host
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Neue Version »

Wenn du kommst, wenn du gehst - sterbe ich!
Bist du da, bist du hier - bist du weg!
Wie du schaust, wenn du sprichst - 's tötet mich!
Fühlst du nichts, spürst du nichts? Bin ich Dreck?

Sieh mich an! Hau schon ab! Bleib jetzt hier!
Renn nicht weg! Halt mich fest! Geh doch! Lauf!
Dreh dich um! Hörst du nicht? Hör nicht auf!
Lass mich los! Schlag schon zu! Bleib bei mir!

Will nicht mehr, eingesperrt, ausgelacht!
Kann nicht mehr, fast verreckt, weggebracht.
Hoff nichts mehr, ausgezehrt, totgemacht.
Nur noch Angst, nur noch Hass, jede Nacht!

Nur noch Angst, nur noch Hass, jede Nacht!



(Mein Einstiegsgedicht)
Grüße host

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Britta Redweik
Geschlecht:weiblichLeseratte

Alter: 34
Beiträge: 149
NaNoWriMo: 63326
Wohnort: Region Braunschweig/Wolfsburg


Beitrag03.08.2017 19:12

von Britta Redweik
Antworten mit Zitat

Hallo host,

ich versuche mich mal an einer Kritik, auch wenn ich definitiv kein Experte von Gedichten bin. Klar, zwei Halbjahre lang in der Schule hatte man sie mal, aber das ist lange her.

Ich finde die Art, wie du mit den Reimschemen spielst, ABAB, ABBA, AAAA, spannend. Inwiefern das massenmarkttauglich ist, weiß ich nicht, aber mir gefällt es.

Was ich noch nicht ganz zusammenbringen kann, ist der Titel mit dem Gedicht. Ist das Absicht? Der Titel lässt den Interpretationsrahmen sehr groß. Zwischendurch kommt der Gedanke, dass es entweder postnatale Depression oder ein verwahrlostes Kind behandelt. Beides scheint nicht völlig greifbar, nicht völlig damit übereinzustimmen. Oder wurde das verwahrloste Kind weggeholt, in nur noch eine Familie, die es genauso behandelt?

Aber das musst du mir jetzt natürlich nicht sagen, gerade, wenn der Leser sich eben seine eigenen Gedanken machen soll und das bewusst so gewollt ist. In dem Fall ist auch der Titel gut gewählt.

Einzig " 's tötet mich" holpert etwas, ist schwer auszusprechen. Würdest du den Gedankenstrich durch ein Komma ersetzen und sagen "Wie du schaust, wenn du sprichst, tötet mich" könntest du das einsparen.

Aber bis auf die Kleinigkeit gefällt es mir sehr gut. Vielen Dank dafür.
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A.F. Daring
Gänsefüßchen


Beiträge: 20
Wohnort: Deutschland


Beitrag04.08.2017 10:03

von A.F. Daring
Antworten mit Zitat

Hallo host!

Mich hat Dein Gedicht sehr berührt. Im Gegensatz zu meiner Vorposterin, finde ich den Titel genial. Das liegt daran, wie ich Dein Gedicht interpretiert habe.

Für mich, spricht hier ein Kind seine Mutter an. In einer sehr zerrissenen Art und Weise. Die Mutter gibt dem Kind ja das Leben, kann ihm das Leben aber auch zur Hölle machen.

"Muttermilch" ist für mich sozusagen die Quintessenz, denn der Säugling überlebt zuerst einmal durch die Milch, die die Mutter ihm gibt. Die "Muttermilch" selbst interpretiere ich als Stellverteter für die "Mutterliebe". Dasjenige, nach dem sich das lyrische Ich verzehrt. Leider wird es ihm nicht zuteil.

host hat Folgendes geschrieben:
Wenn du kommst, wenn du gehst - sterbe ich!


Diese Zeile spiegelt für mich wunderschön die Zerrissenheit wieder: Wenn die Mutter geht, stirbt das Kind (etweder physisch, da es nicht mehr ernährt und umsorgt wird, oder emotional/psychisch, da die Mutterliebe fehlt, oder eben beides). Andererseits, wenn die Mutter kommt, "stirbt" das hier beschriebene Kind auch, zumindest im übertragenen Sinne, da die Mutter grausam ist.

host hat Folgendes geschrieben:
Bist du da, bist du hier - bist du weg!
Wie du schaust, wenn du sprichst - 's tötet mich!
Fühlst du nichts, spürst du nichts? Bin ich Dreck?


Der Rest der ersten Strophe zeigt dies für mich ganz deutlich: Selbst wenn die Mutter anwesend ist, schaut und spricht sie in einer Weise, die dem Kind keine Liebe und Geborgenheit vermittelt, sondern im Gegensatz: Es zerstört, "tötet" das Kind in seiner herzlosen Grausamkeit.

Die letzte Zeile klagt die Mutter direkt an, verzweifelt. Es beschreibt die gefühlskalte Mutter, die keine Liebe für ihr Kind zu empfinden scheint.

Ich denke, über dieses Thema wird immer noch viel zu wenig gesprochen. Viele gehen davon aus, dass jede Mutter ihr Kind automatisch liebt. Leider ist dies nicht der Fall und es ist eine herzzerreißende Tragödie für alle Beteiligten. Dies fängst Du mit Deinem Gedicht sehr schön ein und zerreißt mir hier am frühen Morgen mein Herz.

host hat Folgendes geschrieben:
Sieh mich an! Hau schon ab! Bleib jetzt hier!
Renn nicht weg! Halt mich fest! Geh doch! Lauf!
Dreh dich um! Hörst du nicht? Hör nicht auf!
Lass mich los! Schlag schon zu! Bleib bei mir!


In der zweiten Strophe arbeitest Du noch einmal sehr schön die Zerrissenheit eines Kindes heraus, das seinerseits die Mutter liebt und sie braucht, aber andererseits durch die ständigen Misshandlungen wütend wird und die Mutter von sich wegstoßen möchte (und hier lässt Du durch das "Schlag schon zu!" den Leser wissen, dass die Misshandlungen durch die Mutter durchaus auch körperlicher Natur sind.)

Das Kind will also einerseits bei seiner Mutter sein und geliebt werden, andererseits wünscht es die Mutter verständlicherweise zum Teufel.

Durch die Dreiwortsätze kommt die Wut deutlich rüber. Ich habe fast das Gefühl, dass mich das lyrische Ich mit zornesrotem Gesicht und Tränen in den Augen anschreit.

host hat Folgendes geschrieben:
Will nicht mehr, eingesperrt, ausgelacht!
Kann nicht mehr, fast verreckt, weggebracht.
Hoff nichts mehr, ausgezehrt, totgemacht.
Nur noch Angst, nur noch Hass, jede Nacht!


In der letzten Strophe ist die Wut verpufft. Es ist nur noch Verzweiflung, Traurigkeit, Müdigkeit, Hoffnungslosigkeit übrig. Das lyrische Ich ist ausgezehrt und erschöpft. Immer noch verzweifelt, ja, aber auch so müde, nach all den Nächten voller Angst und Hass.

Mein Fazit: Ein sehr gut gemachtes Gedicht, dass mich emotional sehr anspricht. Es lässt mich traurig zurück.

Mein Kompliment!

LG
A.F.
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menetekel
Geschlecht:weiblichExposéadler

Alter: 104
Beiträge: 2452
Wohnort: Planet der Frühvergreisten


Beitrag05.08.2017 07:49
Re: Muttermilch!
von menetekel
Antworten mit Zitat

host hat Folgendes geschrieben:
Wenn du kommst, wenn du gehst - sterbe ich!
Bist du da, bist du hier - bist du weg!
Wie du schaust, wenn du sprichst - 's tötet mich!
Fühlst du nichts, spürst du nichts? Bin ich Dreck?

Sieh mich an! Hau schon ab! Bleib jetzt hier!
Renn nicht weg! Halt mich fest! Geh doch! Lauf!
Dreh dich um! Hörst du nicht? Hör nicht auf!
Lass mich los! Schlag schon zu! Bleib bei mir!

Will nicht mehr, eingesperrt, ausgelacht!
Kann nicht mehr, fast verreckt, weggebracht.
Hoff nichts mehr, ausgezehrt, totgemacht.
Nur noch Angst, nur noch Hass, jede Nacht!

Nur noch Angst, nur noch Hass, jede Nacht!



(Mein Einstiegsgedicht)
Grüße host


Hallo, Host,

nachdem ich einen Kommentar von dir gelesen hatte, war ich auf den Einstand gespannt. Ein durchaus berechtigtes Interesse, wie man sieht.

Der sorgfältig gewählte Titel, weist m.E. auf ein erworbenes Verhaltensmuster hin; es geht also nur indirekt um eine Mutter-Kind-Beziehung.
Vielmehr schilderst du ein klassisches Beziehungsdrama aus der Erwachsenenwelt, das nicht eben selten anzutreffen ist und  Leid, aber offensichtlich auch eine "süße" Qual auslöst. Es fällt jedenfalls schwer, sich davon zu lösen.
In vorbildlicher Weise passt du deine Reim- und Strophenästhetik diesem Muster an: den lebenslangen Wiederholungen, den Reflexionen und der Unfähigkeit des Ausbrechens.

Für mich ein sehr überzeugender Einstieg. smile

m.

(Das 's bei  "'s tötet" kann weg)


_________________
Alles Amok! (Anita Augustin)
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Rainer Zufall
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

Alter: 70
Beiträge: 801

Pokapro und Lezepo 2014


Beitrag05.08.2017 08:36

von Rainer Zufall
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Hallo host

mich hat dein Einstieg auch sehr überzeugt. Wie übrgens auch deine Geschichte, aber da war ich zu bequem zum Kommentieren.

Über die drei Strophen hinweg hast du den Verlauf einer Beziehung gezeigt und gesteigert hin bis zum Punkt der Selbstzerstörung.
Du hast die Eindringlichkeit dieser Klage durch die Wiederholungen und die Rhythmik toll ausgedrückt und verstärkt.
Und den Titel finde ich einfach nur gut.  

Freu mich auf Weiteres

Zufall
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Longo
Geschlecht:männlichKlammeraffe
L

Alter: 34
Beiträge: 890



L
Beitrag05.08.2017 11:18

von Longo
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Harter Tobak am Samstag Vormittag.
Aber guter, harter Tobak.

MFG Longo
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watsi
Geschlecht:weiblichGänsefüßchen

Alter: 61
Beiträge: 23
Wohnort: wo wohl


Beitrag05.08.2017 12:28
interpretation muttermilch
von watsi
Antworten mit Zitat

Hi host,

du weißt, meine erste Reaktion war "ein scheiß mieses tolles Gedicht". Jetzt probiere ich es "etwas" differenzierter Smile

Die Überschrift „Muttermilch“ suggeriert zunächst, dass da ein Gedicht über das Nährende des weiblichen Körpers folgen könnte, oder etwas, was ein Mensch tief gelernt, quasi mit der Muttermilch eingesogen hat; Ablehnung genauso wie Liebe, Distanz genauso wie Nähe, schwer zu beseitigendes Misstrauen oder tief verankertes Vertrauen.  
Muttermilch kann vieles sein: nährend, wohltemperiert, oft überfließend, tierisch und natürlich, verlängert sie die Verbindung von Mutter und Kind um ein paar Monate. Und es bedeutet beiderseitige Abhängigkeit, kann lustvoll und schmerzhaft zugleich sein, kann unter Druck setzen, kann Geschenk oder Fluch werden.
Du hast durchgehend einen gleichbleibenden Rhythmus verwendet.  Es ist ein Rhythmus, der alles an Text enthalten könnte. Hauptsache, es ist eine irgendwie geartete Bewegung drin. Das wird durch die Aufteilung der  einzelnen Zeilen deutlich suggeriert. Bewegung ist drin, es könnte aber auch ein Text mit anderen Vorzeichen reinpassen:
...Sonne scheint. Blumen blühn. Ach wie schön!
Liebst du mich, lieb ich dich, bitte sehr!
Gehn wir los, freuen uns, lachen laut.....

Ich denke du verstehst, was ich meine:
der Rhythmus bestimmt hier nicht zwingend den Inhalt.

Diesmal sind es die Satzzeichen, die es schaffen, eine Dynamik aufzuzeigen.
Und Wortgegensatzpaare, die die Gedanken hin und her jagen.

[Wenn du kommst, wenn du gehst - sterbe ich!
Bist du da, bist du hier - bist du weg!
Wie du schaust, wenn du sprichst - 's tötet mich!
Fühlst du nichts, spürst du nichts? Bin ich Dreck?]


Während in der 1. Strophe die Ausrufezeichen erst am Ende kommen und sogar Fragen noch möglich sind,

[Sieh mich an! Hau schon ab! Bleib jetzt hier!
Renn nicht weg! Halt mich fest! Geh doch! Lauf!
Dreh dich um! Hörst du nicht? Hör nicht auf!
Lass mich los! Schlag schon zu! Bleib bei mir!]


so ist die 2. Strophe schon ganz  mit Ausrufezeichen  durchsetzt, da sich hier deutlich die Dramatik steigert.

In der 1. Strophe wird konstatiert, nichts Schönes, eine verzweifelte Situation offensichtlich, bei der keine Richtung eine Lösung verspricht. Es werden zwar noch Fragen gestellt, die rein theoretisch auch eine angenehme Antwort ermöglichen, aber wer Negativfragen stellt, ist meist auch schon auf ungute Antworten festgelegt. Die Möglichkeit eines guten Ausgangs wird hier sogar schon in den Fragen selbst und abschlägig beantwortet.

Die 2. Strophe befielt nur noch, und unterstreicht dass aus keiner Richtung eine Lösung zu erwarten ist, sodass sich hier jetzt auch die Befehle ständig widersprechen und der imaginär Angesprochene, würde er den Befehlen folgen, hektisch hin und her jagen müsste.

[Will nicht mehr, eingesperrt, ausgelacht!
Kann nicht mehr, fast verreckt, weggebracht.
Hoff nichts mehr, ausgezehrt, totgemacht.
Nur noch Angst, nur noch Hass, jede Nacht!]


Die 3. Strophe dann folgerichtig auch wieder ruhiger werdend, nur noch 2 Ausrufezeichen, die sich hauptsächlich auf die jeweils letzte Bemerkung in der Zeile und deren drastischem Ausdruck beziehen und sie damit verstärken. Der Rest aber ist hauptsächlich Aufgabe, Resignation, Hoffnungslosigkeit und eine tiefe aggressive Verzweiflung.
  
Jetzt kann mensch meiner Ansicht nach verschiedene Beziehungspaare kreieren, die in dein Gedicht passen. Mutter-Kind, Partner-Partner, auch selbst-selbst-Konstellation kann ich mir hier vorstellen. Und keine der Konstellationen ist besser dran.
Mir persönlich scheint die Partner-Partner-Konstellation am plausibelsten, da meine eigene Biographie hier mit Erfahrungen aufwarten kann. In diesem Gedicht können zwei Menschen im zerrissenen Dialog stehen oder nur ein Teil eines ehemaligen Liebespaares zu Wort kommen, der das Ende der Liebe beklagt, und hin und her gerissen wird von Wünschen, nicht aufzugeben, nicht loslassen zu müssen, aber auch voller Phantasien, dass mensch nicht existieren kann, würde das Ende akzeptiert werden. Es ist eine letzte Energien mobilisierende aggressive Haltung, da diese wenigstens Bewegung verspricht, selbst wenn sie zerstörerisch, auch selbstzerstörerisch wirkt.

Wenn ich mir in diesem Stadium der Entschlüsselung des Gedichtes noch einmal diesen gewählten gleichbleibenden Rhythmus heranziehe, dann bekomme ich den Eindruck, dass dir als Autor oder Architekt des Gedichtes längst klar ist, wie es um die Protagonisten deines Gedichts bestellt ist. Gleichbleibend schlecht! Bekannt, geschluckt, gegessen. Der Rhythmus bestätigt es.


Ich finde es immer noch grandios und blöd ausweglos.....


_________________
Grüße
watsi

-------------------------------------
Schluss mit dem Gejammer!
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Abari
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Beiträge: 1838
Wohnort: ich-jetzt-hier
Der bronzene Durchblick


Beitrag05.08.2017 13:15
Re: Muttermilch!
von Abari
Antworten mit Zitat

host hat Folgendes geschrieben:
Wenn du kommst, wenn du gehst - sterbe ich!
Bist du da, bist du hier - bist du weg!
Wie du schaust, wenn du sprichst - 's tötet mich!
Fühlst du nichts, spürst du nichts? Bin ich Dreck?

Sieh mich an! Hau schon ab! Bleib jetzt hier!
Renn nicht weg! Halt mich fest! Geh doch! Lauf!
Dreh dich um! Hörst du nicht? Hör nicht auf!
Lass mich los! Schlag schon zu! Bleib bei mir!

Will nicht mehr, eingesperrt, ausgelacht!
Kann nicht mehr, fast verreckt, weggebracht.
Hoff nichts mehr, ausgezehrt, totgemacht.
Nur noch Angst, nur noch Hass, jede Nacht!

Nur noch Angst, nur noch Hass, jede Nacht!


Hallo host,

ich mag Deine Texte; so auch diesen hier. Für mich trägt der anapästische Rhythmus wesentlich zur Wirkung des Gedichtes bei, er hat so etwas tänzelnd walzerhaftes, das zu dem Umkreisen des LDu auf verschiedenen Ebenen passt. Ich gebe zu, zunächst waren mir das zu viele Ausrufezeichen (ich bin ein wenig allergisch dagegen, wenn so herumgeschrien wird in einem Text); aber mittlerweile, nach mehrmaligem Lesen, finde ich, dass sie gut und absichtsvoll gesetzt sind.

Die Sätze enden immer auf der betonten Silbe, was mir die Wirkung der Worte verstärkt. Dadurch wird der Walzer absichtsvoll unterbrochen; ich laufe innerlich mit dem LI gegen eine Wand, ein wahres Schwingen vermag nicht aufzukommen, was ich sehr kunstvoll finde.

Für mich stellt sich auch die Frage, wer das LI bzw. LDu ist. Ich kann sie nicht beantworten: Am ehesten höre ich die Stimme einer/s Pubertierenden heraus, die/der grade im Begriff ist, sich innerlich von seinen Eltern, insbesondere der Mutter (>Titel) zu lösen. Das ist eine schwierige Zeit und mMn bebildert der Text sie sehr schön.

Auch sehr gelungen finde ich, dass der Text keine "Conclusio" anbietet, obwohl ich zunächst denken könnte, sie böte sich an. Aber der Text bleibt bei der inneren Zerrissenheit stehen und wiederholt "lediglich" im letzten Vers seine Quintessenz:
Zitat:
Nur noch Angst, nur noch Hass, jede Nacht!


Sehr gern gelesen.


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Das zeigt Dir lediglich meine persönliche, höchst subjektive Meinung.
Ich mache (mir) bewusst, damit ich bewusst machen kann.

LG
Abari
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Soleatus
Reißwolf


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Beitrag06.08.2017 01:31

von Soleatus
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Hallo!

Abari,

Zitat:
Für mich trägt der anapästische Rhythmus wesentlich zur Wirkung des Gedichtes bei


hier hören wir sehr unterschiedlich: "Hoff nichts mehr, ausgezehrt, totgemacht." ist doch, wie eigentlich jeder Vers, "kretisch"?! — ◡ —, — ◡ —, — ◡ —.

Host, im wesentlichen bin ich, wie die anderen, einverstanden mit deinem Gedicht; das (sich auch aus dem Metrum speisende) sehr Mechanische der Verse, samt dem "Angeschrieenwerden" vor allem der Mittelstrophe, lassen mich trotzdem etwas auf Abstand zu ihm gehen.

Gruß,

Soleatus
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Abari
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Beiträge: 1838
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Der bronzene Durchblick


Beitrag06.08.2017 01:42

von Abari
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Hallo Soleatus,

Soleatus hat Folgendes geschrieben:

hier hören wir sehr unterschiedlich: "Hoff nichts mehr, ausgezehrt, totgemacht." ist doch, wie eigentlich jeder Vers, "kretisch"?! — ◡ —, — ◡ —, — ◡ —.


Stimmt. Ich hatte ziemlich schnell eine Melodie im Kopf. Der bin ich wohl auf den Leim gegangen. Sorry. Ich habe es mir vorgesprochen, bin aber immer zum gleichen Ergebnis gekommen. Ich werde für Zukunft achtsamer sein, was das betrifft. Obwohl selbst nach Deinem Hinweis mir der Anapäst nicht aus dem Kopf will... Vielleicht habe ich mich da verrannt? Ich weiß es nicht.


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LG
Abari
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host
Geschlecht:männlichGänsefüßchen
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Beiträge: 48
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Beitrag06.08.2017 15:51

von host
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Hallo,

Vielen Dank erst mal für euer Interesse. Lob (auch mit Kritik) baut auf und das Gefühl, verstanden zu werden, noch mehr.

Das Gedicht ist ein Experiment. Es wird allein von dreigliedrigen Versfüßen getragen. Genauer: jede Zeile besteht aus drei dreigliedrigen Füßen.
„Wenn du kommst, // wenn du gehst // - sterbe ich!“
Ich glaube, dieser Rhythmus wird selten genutzt.
Daraus ergeben sich Besonderheiten.

1)
Ich hatte mal ein Schimpfsonett schreiben wollen und bin dabei schnell auf diese Art von Versfüßen gekommen. Sie boten sich mir wie von selbst an. Gesprochen, klingt ein jeder dreigliedriger Versfuß in einer solchen 3-hebigen Folge stoßartig wie ein schneller Atemzug und fordert dann am Ende eine kleine Pause, jeder Fuß ein Tritt.
„// Dumme Sau, // feiges Schwein, // machst nur Scheiß! //“ Sie sind  interjektionsartig. So sind sie gut geeignet, heftige Gefühle zu transportieren, speziell solche, die auf ein Gegenüber gerichtet sind.
In dem Gedicht „Muttermilch“ wollte ich das nutzen, um das Muster einer gestörten  Beziehung „erfühlbar“(?) und erlebbar zu machen und habe rumprobiert.

2)
Ein klassische Sonettzeile z.B. läuft auf iambischem Füßen im Zweiertakt:
„Mir fällt es schwer, das rechte Wort zu finden!“
Das Metrum ist streng: x X x X x X x X x X
ein Rhythmusverstoß fällt auf (mehr oder weniger), wie gleich zu sehen ist:
„Ich suche, doch alle Blumen tragen nur blau.“ x X x x X x X x X x x X
(Besser vielleicht:„Ich suche, doch die Blumen tragen blau.“  x X x , X x X x X x X (?)

Mein Gedicht lässt viel mehr Betonungsfreiheiten – so mein Empfinden. Vielleicht liegt es an den kleinen inhärenten Pausen in der Zeile, vielleicht auch, weil es keine Tradition solcher Art gestylter Gedichte im Deutschen gibt, die einen „richtigen“ Takt vorgeben könnte.
Jedenfalls ist es m.E. möglich, viele der Zeilen unterschiedlich und das auch mit unterschiedlichen Impetus zu lesen:
Soleatus schlug vor, die Zeile "Hoff nichts mehr, ausgezehrt, totgemacht.“ wie folgt zu lesen:
HOFF nichts MEHR, AUSgeZEHRT, TOTgeMACHT“ (Kretikus).
Ich denke folgende Variante z.B. wäre auch möglich (Daktylus): "HOFF nichts mehr, AUSgezehrt, TOTgemacht.“

Ein anderes Beispiel:
„Wenn du kommst, wenn du gehst - sterbe ich!“ kann man lesen:
„WENN du kommst, WENN du gehst – sterbe ICH!“ (Daktylus, Anapäst) oder aber:
„Wenn DU kommst, wenn DU gehst – STERbe ich!“ (Amphibrachys, Daktylus) usf.

So kann ich meinen persönlichen Ton finden.

3.
und damit komme ich zum Inhalt.
Ihr habt alles gesagt, Psychodynamik in Mutterkind-Be ziehung, Paarbeziehung – es ist beides. So wie ja auch alte in der Kindheit geprägte Muster noch oft genug unser Leben jetzt versauen und unsere Kindheit, unsere Traumen jetzt noch in uns wirken. Vielleicht wird sich euer Lesen immer etwas  anders anhören, je nachdem auch welcher der beiden Aspekte bei euch gerade im Vordergrund steht


Liebe Grüße host
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host
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Beiträge: 48
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Beitrag06.08.2017 15:53

von host
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Hallo Britta,
 der Titel soll einen großen Interpretationsspielraum öffnen, denn es geht mir um die lebendige Beschreibung eines Beziehungsmusters, das schon frühkindlich angelegt wurde; Borderline und Narzissmus wären Stichworte.

„'s tötet mich!“ finde ich auch blöd. Aber noch mag ich es nicht ändern. Ich habe nach Lösungen gesucht, aber inzwischen ist diese Sequenz wie eine Narbe, an die ich mich gewöhnt habe.


Hallo Darling,
ich bin bass erstaunt über die Tiefe, mit der du in die „Muttermilch“ gestiegen (was für eine gewagte Metapher! - Sorry) bist und den Schmerz des Kindes nachvollziehen kannst.


Hallo menetekel und Zufall,
ich freue mich, dass euch mein Gestaltungswille so positiv aufgefallen ist. Denn ich habe lange getüftelt.


Hi longo,
„guter harter Tobak“ gefällt mir!


Liebe watsi,
über die Dynamik der Satzzeichen habe ich noch nicht nachgedacht! Ich fühle mich von dir verstanden.


Hallo Abari,
stimmt – keine „Conclusio“; ist mir gar nicht aufgefallen. Aber es passt zum Gedicht.


Hallo Soleatus,
auf formaler Ebene geht es mir genau um das Spielen mit dem Metrum.
Über das „Anschreien“ will ich noch nachdenken.  


LG host
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James Blond
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Alter: 71
Beiträge: 448
Wohnort: HAMBURG


Beitrag11.08.2017 15:15

von James Blond
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wie ich erleichtert feststellen konnte, hältst du dich nicht an das selbstauferlegte Schreibverbot. wink

1. Form gegen Inhalt

Nachdem ich dein Gedicht und die Kommentare dazu gelesen habe, wurde mir damit auch vor Augen geführt, wie der Schnitzer mit dem Daktylus zustande kam, schließlich hast du an deinem Beispiel die dreigliedrigen metrischen Varianten durchgespielt, ein lehrreiches Unterfangen, wie ich finde.

Dabei halte ich es zwar oft für reizvoll, zugleich aber auch für gefährlich, in Gedichten alternative Betonungen zuzulassen oder herauszufordern, denn die übernehmen eine sinnsteuernde Aufgabe: Die Varianten "WENN du kommst - wenn DU kommst - WENN du KOMMST - wenn du KOMMST" zielen auf ganz unterschiedliche Situationen.

Außerdem funktioniert das Spiel mit dem Kretiker nur über entsprechend eingebaute Pausen, ansonsten würden betonte Silben aufeinanderstoßen, was mich beim ersten Lesen, offen gesagt, erheblich störte, weil es gegen jede intuitive Sprachbetonung läuft.  

Wenn zwischen den Dreihebern aber schon Pausen gemacht werden müssen, warum brichst du dann die Verse nicht in kleinere Einheiten?
Der Vers funktioniert hier ja bereits nicht mehr als sinnstiftende Betonungseinheit. Und ich kann auch keine neue Funktion erkennen.
Also etwa :

Zitat:
Wenn du kommst,
wenn du gehst -
sterbe ich!

Bist du da,
bist du hier -
bist du weg!


Was ginge dadurch verloren?
Der Reim? Der kommt ohnehin bei den vielen starken Zäsuren der Verse nach meinem Empfinden nur noch schwach zur Geltung. Mein Eindruck ist, dass du hier versuchst, einen recht modernen, expressiven, "psychoaktiven" Sprechduktus in eine überkommene Form zu pressen, was beidem eigentlich nur schadet. So scheint die auf Nachdenklichkeit und eben auch Conclusio angelegte Form dem situationsgebunden Auf-der-Stelle-treten eines innerlich hin- und hergerissenen LIs wenig zu nützen. Und sein lautes Aufbegehren innerhalb der engen formalen Grenzen bekommt so etwas Seifenopernhaftes. Zu brav gebrüllt, Löwe! wink

 
1. Zur Spracherregung

Spracherzeugung ist, wie auf diesen Seiten auch in Kommentaren häufiger vorgeführt, in hohem Maße an affektive Komponenten gebunden. wink
Auf eine trockene Analyse lässt sich leichter verzichten als auf einen zornigen Ausruf. Doch nicht nur die sprachlichen Früchte des Zorns entsprechen jenem Drei-Heber. "Armer Kerl - liebes Kind - hab dich lieb - bin allein - will nach Haus" folgen beispielsweise dem gleichen Schema, auch wenn sie entschieden sanftmütigeren Ursprunges sind. Man tritt sich im Walzertakt nicht nur gegenseitig mit den Füßen, sondern dreht sich auch - hoffentlich lustvoll beschwingt - um eine gemeinsame Achse. smile

Grüße
JB


_________________

Was soll ich mit guten Freunden?
Ich bräuchte bessere Feinde!
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host
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Beiträge: 48
Wohnort: nicht zuhause


H
Beitrag21.08.2017 23:05

von host
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Hallo Mr. Blond und denen, die es sonst noch lesen mögen,

Es hat mir gefallen, dass du mich in deiner Kritik „Löwe“ genannt hast, auch wenn du in mir ein nur brav brüllendes Exemplar siehst.
Vielfach teile ich deine Beobachtungen, aber ich ziehe andere Schlüsse daraus.

Wenn ich darauf verweise, dass in meinem Gedicht nicht nur ein möglicher Versfuß denkbar ist, heißt das nicht, dass die Betonungen in diesem Gedicht beliebig seien und zur freien Verfügung ständen. Wenn das meine  Anmerkungen nahelegen sollten, habe ich ungenau formuliert. Sie sind nicht beliebig, sie müssen aber entdeckt werden.

Ich nehme die erste Strophe als Beispiel. Die erste und zweite Zeile lese ich mit folgendem Versfüßen:
Wenn du KOMMST, wenn du GEHSTSTERbe ich! 
xxX ll xxX ll Xxx
Bist du DA, bist du HIER - bist du WEG!
xxX ll xxX ll xxX
Diese Betonungen ergeben sich, wenn man sich vom Inhalt des Textes vereinnahmen lässt, wenn man zuhört. Es mag Alternativen geben, z.B:
WENN du KOMMST, WENN du GEHSTSTERbe ICH!
Die Betonungen aber z. B.
Wenn DU kommst, wenn Du gehst – SterBE ich!
Oder
BIST du da, BIST du hier, BIST du weg!
machen im Kontext m. E. eindeutig wenig Sinn.
(Nebenbei: die Häufung von einsilbigen Wörtern ermöglicht und erleichtert alternative Betonungen!)

Du bemerkst treffend, dass zwischen den drei Dreisilbern Pausen gemacht werden. Genau!
Deswegen liegt meinem Gedicht auch kein ¾ Takt, also kein Walzertakt, zugrunde , sondern ein wie auch immer geviertelter Takt, wobei der vierte Ton notwendigerweise als Pause fungiert. Die Satzzeichen nach jedem Dreisilber legen diesen Rhythmus mit dieser inkludierten Pause nahe. Du musst also nicht wider deinem kretischem Sprachgefühl lesen. Meine Idee war es, auf diesem metrischen Grundgerüst mit diesen starken Zäsuren ein stoßweises Atemholen nahezulegen, Atemlosigkeit zu simulieren und damit die Gefühlsexpression von Verzweiflung zu unterstützen.
Auf dieser Basis sind beim Lesen dann Rhythmusentscheidungen zu treffen, die die Strophen in ihrem Betonungsfluss determinieren. So kann z.b. die erste Strophe wie gesehen einmal mehr gehalten oder aber etwas expressiver gelesen werden, aber das nur in gewissen Grenzen.

Du hast m.E. nur teilweise recht mit deiner Anmerkung, dass die Zeilen aufgrund der starken Zäsuren keine sinnstiftende Funktion mehr hätten, sie mithin in jeweils drei kurzen Zeilen aufgelöst werden könnten. Ich will das nicht im einzelnen explizieren. Nur kurz:                      
In der ersten und dritten Strophe bezeichnet jede Zeile einen spezifischen Aspekt, beschreibt einen thematischen Zusammenhang, der die drei Teile einer Zeile bindet.
z.B. „Bist du da, bist du hier - bist du weg!“ 
die beiden Sequenzen zu Beginn beschreiben die physische Präsenz, die letzte das psychische Gegenwäärtigsein. Das dreimalige „Bist du“ täuscht eine gleiche Ebene an, die inhaltlich in der dritten Sequenz durchbrochen wird.
Anders bei der zweiten Strophe, hier stimme ich deiner Kritik zu.
Die Zusammenstellung der drei Sequenzen pro Zeile scheint dort fast beliebig,
Und in der Tat habe ich die einzelnen Teile beim Produktionsprozess immer wieder ausgetauscht. Inzwischen glaube ich aber, dass das Beliebige, das Zufällige in der Reihenfolge Sinn macht, weil das LI in seiner Gefühlswelt diesem Hin und Her, dem Festhalten und dem Wegstoßen hilflos ausgeliefert ist.
Dennoch will ich auch hier die Strophenbindung beibehalten. Der starke Formcharakter der Strophe scheint dem chaotische Gefühlschaos eine feste Struktur zu schenken, aber diese kann nur aufgesetzt sein. Als wollte man mit einer Sandburg die Flut aufhalten. Genau diesen Eindruck, dieses Gefühl von Verzweiflung und hilfloser Suche nach Halt will ich vermitteln und erlebbar machen.

Du schreibst ganz allgemein:
„Und sein lautes Aufbegehren [das des LI] innerhalb der engen formalen Grenzen bekommt so etwas Seifenopernhaftes.“
Ich denke, die Strophen bleibt bloße Hülle, nur leer laufender Formwille. Ja, das sehe ich auch so. Ich denke aber, dass das Aufbegehren des LIs in dieser leeren Hülle das inhärente Verzweifeln deutlicher noch spüren lässt.
Du sagst: „So scheint die auf Nachdenklichkeit und eben auch Conclusio angelegte Form dem situationsgebunden Auf-der-Stelle-treten eines innerlich hin- und hergerissenen LIs wenig zu nützen.“
Genau das wollte ich sagen, genau das gebiert seine Hoffnungslosigkeit.
"Form gegen Inhalt" kann durchaus Sinn machen!

Als letztes zu deiner Bemerkung zur Spracherregung:
watsi hatte sich schon ähnlich wie du geäußert, nämlich dass der Dreisilber nicht nur „bösen“ Affekten zuzuordnen ist, sondern gefühlsthematisch unentschieden sei. Da habt ihr vollkommen recht, ich war da wohl sehr von meinem ersten Experiment mit meinen Schimpfsonett in die Irre geleitet worden und habe vor lauter Beschimpfungen die Welt nicht mehr sehen können.


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host
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Beitrag21.08.2017 23:32

von host
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host hat Folgendes geschrieben:
Hallo Mr. Blond und denen, die es sonst noch lesen mögen,

Es hat mir gefallen, dass du mich in deiner Kritik „Löwe“ genannt hast, auch wenn du in mir ein nur brav brüllendes Exemplar siehst.
Vielfach teile ich deine Beobachtungen, aber ich ziehe andere Schlüsse daraus.

Wenn ich darauf verweise, dass in meinem Gedicht nicht nur ein möglicher Versfuß denkbar ist, heißt das nicht, dass die Betonungen in diesem Gedicht beliebig seien und zur freien Verfügung ständen. Wenn das meine  Anmerkungen nahelegen sollten, habe ich ungenau formuliert. Sie sind nicht beliebig, sie müssen aber entdeckt werden.

Ich nehme die erste Strophe als Beispiel. Die erste und zweite Zeile lese ich mit folgendem Versfüßen:
Wenn du KOMMST, wenn du GEHSTSTERbe ich! 
xxX ll xxX ll Xxx
Bist du DA, bist du HIER - bist du WEG!
xxX ll xxX ll xxX
Diese Betonungen ergeben sich, wenn man sich vom Inhalt des Textes vereinnahmen lässt, wenn man zuhört. Es mag Alternativen geben, z.B:
WENN du KOMMST, WENN du GEHSTSTERbe ICH!
Die Betonungen aber z. B.
Wenn DU kommst, wenn Du gehst – SterBE ich!
Oder
BIST du da, BIST du hier, BIST du weg!
machen im Kontext m. E. eindeutig wenig Sinn.
(Nebenbei: die Häufung von einsilbigen Wörtern ermöglicht und erleichtert alternative Betonungen!)

Du bemerkst treffend, dass zwischen den drei Dreisilbern Pausen gemacht werden. Genau!
Deswegen liegt meinem Gedicht auch kein ¾ Takt, also kein Walzertakt, zugrunde , sondern ein wie auch immer geviertelter Takt, wobei der vierte Ton notwendigerweise als Pause fungiert. Die Satzzeichen nach jedem Dreisilber legen diesen Rhythmus mit dieser inkludierten Pause nahe. Du musst also nicht wider deinem kretischem Sprachgefühl lesen. Meine Idee war es, auf diesem metrischen Grundgerüst mit diesen starken Zäsuren ein stoßweises Atemholen nahezulegen, Atemlosigkeit zu simulieren und damit die Gefühlsexpression von Verzweiflung zu unterstützen.
Auf dieser Basis sind beim Lesen dann Rhythmusentscheidungen zu treffen, die die Strophen in ihrem Betonungsfluss determinieren. So kann z.b. die erste Strophe wie gesehen einmal mehr gehalten oder aber etwas expressiver gelesen werden, aber das nur in gewissen Grenzen.

Du hast m.E. nur teilweise recht mit deiner Anmerkung, dass die Zeilen aufgrund der starken Zäsuren keine sinnstiftende Funktion mehr hätten, sie mithin in jeweils drei kurzen Zeilen aufgelöst werden könnten. Ich will das nicht im einzelnen explizieren. Nur kurz:                      
In der ersten und dritten Strophe bezeichnet jede Zeile einen spezifischen Aspekt, beschreibt einen thematischen Zusammenhang, der die drei Teile einer Zeile bindet.
z.B. „Bist du da, bist du hier - bist du weg!“ 
die beiden Sequenzen zu Beginn beschreiben die physische Präsenz, die letzte das psychische Gegenwäärtigsein. Das dreimalige „Bist du“ täuscht eine gleiche Ebene an, die inhaltlich in der dritten Sequenz durchbrochen wird.
Anders bei der zweiten Strophe, hier stimme ich deiner Kritik zu.
Die Zusammenstellung der drei Sequenzen pro Zeile scheint dort fast beliebig,
Und in der Tat habe ich die einzelnen Teile beim Produktionsprozess immer wieder ausgetauscht. Inzwischen glaube ich aber, dass das Beliebige, das Zufällige in der Reihenfolge Sinn macht, weil das LI in seiner Gefühlswelt diesem Hin und Her, dem Festhalten und dem Wegstoßen hilflos ausgeliefert ist.
Dennoch will ich auch hier die Strophenbindung beibehalten. Der starke Formcharakter der Strophe scheint dem chaotische Gefühlschaos eine feste Struktur zu schenken, aber diese kann nur aufgesetzt sein. Als wollte man mit einer Sandburg die Flut aufhalten. Genau diesen Eindruck, dieses Gefühl von Verzweiflung und hilfloser Suche nach Halt will ich vermitteln und erlebbar machen.

Du schreibst ganz allgemein:
„Und sein lautes Aufbegehren [das des LI] innerhalb der engen formalen Grenzen bekommt so etwas Seifenopernhaftes.“
Ich denke, zumindest die zweite Strophe bleibt bloße Hülle, nur leer laufender Formwille. Ja, das sehe ich auch so. Ich denke aber, dass das Aufbegehren des LIs in dieser leeren Hülle das inhärente Verzweifeln deutlicher noch spüren lässt.
Du sagst: „So scheint die auf Nachdenklichkeit und eben auch Conclusio angelegte Form dem situationsgebunden Auf-der-Stelle-treten eines innerlich hin- und hergerissenen LIs wenig zu nützen.“
Genau das wollte ich sagen, genau das gebiert seine Hoffnungslosigkeit.
"Form gegen Inhalt" kann durchaus Sinn machen!

Als letztes zu deiner Bemerkung zur Spracherregung:
watsi hatte sich schon ähnlich wie du geäußert, nämlich dass der Dreisilber nicht nur „bösen“ Affekten zuzuordnen ist, sondern gefühlsthematisch unentschieden sei. Da habt ihr vollkommen recht, ich war da wohl sehr von meinem ersten Experiment mit meinen Schimpfsonett in die Irre geleitet worden und habe vor lauter Beschimpfungen die Welt nicht mehr sehen können.


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James Blond
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Beitrag22.08.2017 14:30

von James Blond
Antworten mit Zitat

Lieber host,

vielen Dank für deine ausführliche Stellungnahme zu meinen Anmerkungen.

Die Art, wie du die Betonungen deiner Verse  vorschlägst, kann ich nachvollziehen und sie decken sich auch größtenteils mit der anapästischen und daktylischen Betonung, es muss kein Kreter sein. Dass eine Zäsur zwischen den Vers-Teilen allerdings einen 4/4 Takt entstehen lässt, würde ich bestreiten: es bleibt ein gefühlter 3/4 mit einer Pause: 1 2 3 - 1 2 3 - 1 2 3 ...

Die sinnstiftende Verseinheit kann ich nur teilweise entdecken, wie bei V1, V2, V3.
Anschließend besteht dieser Zusammenhang weniger, kehrt auch in S3 nicht  wieder, wo man die einleitenden Teile "Will nicht mehr" - "Kann nicht mehr" -"Hoff nichts mehr" und auch die nachfolgenden "eingesperrt, ausgelacht, fast verreckt, weggebracht, ausgezehrt, totgemacht"  jeweils untereinander tauschen könnte, ohne dass sich daraus ein neuer Sinn ergäbe.

Deine "Form gegen Inhalt"-Überlegungen kann ich zwar nachvollziehen, allerdings entsteht mir hier kein kontrastierender Eindruck von großer Verzweiflung und Hilflosigkeit - sondern eher von papierner, deklamatorischer Absichtslosigkeit, bestenfalls als narzisstischem Lamento. Aber ob das so beabsichtigt ist?

"Muttermilch!" spielt auf frühkindliche Beziehungsschäden an, vielleicht sogar auf "die schwarze Milch der Frühe" von Celan. Doch die Ambivalenz eines in seiner Hassliebe gebundenen LIs entfaltet sich hier nicht. Seine Rufe vernehme ich zwar, aber sie erreichen mich nicht. Was entsteht, ist der Eindruck von Gejammer.

Ich hoffe, du verzeihst mir meine Ehrlichkeit.

Grüße
JB

P.S. Mit der neuen Version ist etwas schief gegangen.


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watsi
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Beitrag22.08.2017 15:59
Inhalt?
von watsi
Antworten mit Zitat

Hi James,

harte Worte inhaltlicher Art, die du da loslässt in Richtung des LIs.
Ich denke mal, ob mensch  die Worte des Gedichts "Muttermilch" als "hilflose Verzweiflung" oder "narzisstisches Lamento", ob als "Hassliebe" oder "Gejammer" bezeichnet, dürfte sehr viel mit dem jeweils Interpretierenden und damit zu tun haben, wie mensch selbst in Beziehungen agiert.

Damit will ich sagen, dass dein Empfinden durchaus seine Berechtigung hat, nur kein absolutes Empfinden sein kann.
Mich hat das Gedicht nämlich so berührt, weil ich Verzweiflung und Hilflosigkeit, auch Aggression wahrnahm, die aber in ihrer auslaufenden Phase in Resignation und Selbsthass umschlägt.
Ich kann dir aber in deiner Einschätzung insoweit zustimmen, dass ich dem LI gerne ein Ausbrechen aus dem hilflosen um-sich-selbst-und-das-LD-Kreisen wünschen würde.


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Grüße
watsi

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IQ Dino
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I
Beitrag22.08.2017 18:31

von IQ Dino
Antworten mit Zitat

Lieber host,

als jemand, der eigentlich gar keinen Zugang zu Gedichten hat und der rettungslos bis gnadenlos pragmatisch eingestellt ist, hat mich dieses Gedicht überrascht und stumm, traurig und verstehend gemacht.

Ich fühle mich durch das Lesen geradezu in einer vergleichbaren Situation, mich hilflos und wütend im Kreise drehend. Ich hasse dieses Gefühl!

Mir sind die vielfältigen, von den Mitpostern genutzten, Analysemöglichkeiten nicht gegeben, will ich auch gar nicht, ich bleibe gerne ahnungslos, aber hiermit hast Du mich gepackt.

Übrigens. Unbedarftes Tier, das ich bin, habe ich genauso betont, wie Du es später dargestellt hast. Sonst hätte es wohl auch nicht so auf mich "gewirkt".
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James Blond
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Beitrag22.08.2017 22:14
Re: Inhalt? - Form!
von James Blond
Antworten mit Zitat

watsi hat Folgendes geschrieben:
Hi James,

harte Worte inhaltlicher Art, die du da loslässt in Richtung des LIs.
[...]

Damit will ich sagen, dass dein Empfinden durchaus seine Berechtigung hat, nur kein absolutes Empfinden sein kann.
Mich hat das Gedicht nämlich so berührt, weil ich Verzweiflung und Hilflosigkeit, auch Aggression wahrnahm,[...]


Liebe watsi,

ich denke sogar, dass es ein unberechtigtes Empfinden gar nicht geben kann, wohl aber eines, dass für andere nicht unbedingt nachvollziehbar ist.

Mir ist schon klar, dass ich mich im Widerspruch zu anderen befinde, die sich von dem Text durchaus angesprochen fühlen. Und ich bin mir auch bewusst, dass ich zur Verdeutlichung meiner Ansichten gern zur Übertreibung greife, schließlich fahre ich dabei weder einen Autor noch ein konstruiertes LI an, sondern äußere mich im Sinne eines ästhetischen Urteils zu einem Text.  

Und da bleibe ich bei meiner Ansicht, dass diese endgereimten, metrisch gebundenen Vierzeiler solchen Interjektionen nicht angemessen sind, sie auch nicht kontrastierend betonen, sondern eher karikieren. Das mag meine persönliche Ansicht sein, aber es hat nichts mit der inneren Nachvollziehbarkeit derartiger Affekte zu tun - es ist, wie gesagt ein ästhetischer Blick auf den Text, jenseits von persönlicher Betroffenheit, den ich hier zum Ausdruck bringen wollte.

Wenn man sich eingehender mit Lyrik befasst, wird man auch sehen, dass es für das innere Kreisen um ein Thema, für das stimmungsgebundene auf der Stelle treten, zum Ausdruck von Hilf- und Ausweglosigkeit geeignetere Formen gibt. Diese zu ergründen wäre vermutlich ein eigenes Thema wert.


Grüße
JB


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