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Die Farbe deiner Haare


 
 
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host
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Beiträge: 48
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H
Beitrag28.12.2017 14:50
Die Farbe deiner Haare
von host
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

[Eine "verrückte" Geschichte. Narzisstisch gestört sein ist recht anstrengend]

 

  Die Farbe deiner Haare

„Du gehst auf die Toilette! Sofort!“ Ihr Blick war starr.
Ich wollte nicht, ich musste nicht, und sollte doch. Warum? Warum ließ sie mich nicht einfach in Ruhe.
„Aber, ich habe gerade einen neuen Virenscanner geladen“, muckte ich auf, „ich mach erst mal 'ne Pause!“ 
„Du musst jetzt zur Toilette, ich bin deine Mutter! Mir machst du nichts vor!“, beharrte sie.
„Nein! Es geht jetzt nicht, ich kann nicht!“ Ich stand ruckartig auf.
Sie sah mich immer noch an. 
„Der Herr hält es nicht aus, der Herr will mal wieder wegrennen!“ Sie war eine böse Frau.
„Nein, das will ich nicht!“, schrie ich. Ich war sicher, sie wusste, dass ich sie anlog. Sie konnte Gedanken lesen. Meine Hose quietschte. Sie war immer noch nass. 

Ich liebte es, wenn die Ameisen über mich krabbelten. Von Tag zu Tag wurden sie mehr. Gerne legte ich mich auf den Teppich. Sie zogen ihre Bahn quer über meinen Bauch; einige krochen direkt auf der Haut, sie kitzelten. Dieser seltsame Geruch stieg mir wieder in die Nase; ich sollte wirklich mal die Wäsche wechseln. Aber dazu müsste ich meine Klamotten ausziehen. Das wollte ich auf keinen Fall! Ich schaute auf meinen Bauch. Wenn eine Ameise in meinem Bauchnabel baden würde, wäre ich das Zentrum der Welt.

Heute morgen hatte die Mutter mir meine Hose einfach weg genommen - während ich noch schlief! Meine schwarze Cordhose! Einfach so! 
„Sie stinkt!“, hatte sie mir erklärt, „da liegt 'ne neue, habe ich dir letzte Woche bestellt.“ 
„Die Hose ist noch gut, sie ist noch gut!“, stieß ich hervor und rannte in Panik los – zum Badezimmer; doch die Waschmaschine lief schon. Ich drückte auf „Aus“ und konnte es nicht erwarten, dass die Öffnungssperre ablief, und rüttelte an der Tür. Die Mutter kam wie ein Schatten von hinten und griff meinen Nacken.  
„Du machst meine Waschmaschine kaputt!“ Sie presste meinen Hals und schimpfte. Ihre Finger waren wie aus Draht geflochten.
Ich hielt mich an der Luke fest. Und auf einmal da durchströmte mich eine Kraft wie ein Strahl, der als Stahl aus meinen Hoden kam. Ich erhob mich wie ein Titan, schüttelte mich unwillig und die Mutter fiel von mir ab, als wäre sie ein Ungeziefer. 
„Lass das, Till!“, rief sie scharf. Sie rappelte sich auf und holte tief Luft: „Was machst du da mit deiner Mutter? Aufgeopfert habe ich mich für dich, und jetzt das!“ 
Sie erhob sich, ging zur Tür und blieb dort für einen Moment stehen. Sorgfältig richtete sie ihre Haare und glättete ihre Kittelschürze. 
„Heute mittag gibt es Gulaschsuppe!", kündigte sie beiläufig an und nickte mir zu, „die magst du doch!“
Nein, ich hasste sie.

Schnell schloss ich hinter ihr die Badezimmertür. Der Verschluss der Waschmaschine öffnete sich wie von alleine und ich zog meine Hose aus dem feuchten Wäschehaufen. Nass war sie, aber doch vertraut. Ich ließ all meine gewaltigen Kräfte spielen und wringte sie über dem Waschbecken aus. Die Hose trug sich angenehm und erfrischend. Sie kühlte und das beruhigte mich. 
„Du erkältest dich!“, rief sie mir zu.
Sie stand direkt hinter der Tür. Sie wusste, was ich tat. Sie wusste immer, was ich tat. Bestimmt machte sie für morgen neue Pläne für mich. Sie machte immer Pläne. Die Mutter verstand nicht, warum ich die Kleidung nicht wechseln wollte. Da half ihr auch kein Gedankenlesen. Immer nahm sie mir meine Sachen weg. Gestern musste ich meine Nike Airs aus der gelben Tonne retten!

Einige Ameisen, sie schwammen mit im Strom ihrer vielen unbeladenen Begleiter, trugen weiße Püppchen in ihren Kieferzangen. Diese Brut war so groß wie sie selbst. Sie schienen ihr Ziel genau zu kennen. Sie wuselten hin und her, dann verschwanden sie unter den Haarresten.

Ich ging in die Küche, die Mutter schaute nun vorwurfsvoll, sie schwieg. 
„Ich hole mir vorm Essen noch Marzipan vom Türkenkiosk. Soll ich dir die 'Brigitte' mitbringen?
Sie schaute nur kurz auf, immer noch schwieg sie.
„Der haut mir nicht ab!“, hörte ich sie denken.  Dann werde ich ihr eben nichts zum Lesen mitbringen.
„Ich geh jetzt!" Meine Stimme überschlug sich.
„Hast du dir die Zähne geputzt?“ Ich hatte gewusst, dass sie das fragen würde. „Iss wenigstens noch einen Apfel!“
Sie fasste meinen Arm. Ich machte mich ganz steif, hoffentlich vergaß sie, mir den Schal umzulegen. Aber nein, sie vergaß es nicht.

„Apfel essen, Zähne putzen, Pipi machen, viel trinken“, dachte ich oder sprach ich es aus? „Ihre Bevormundung, ihre Sprüche, unerträglich, die ewigen Vorhaltungen, das Gekeife, nicht auszuhalten, jeden Tag, immer wieder: ich könnte sie klatschen, ihr in die...!“
Eine warme Woge übersprang meinen Zorn, zog von der Kehle in meine Rachen, plätscherte wie eine Klospülung, übertünchte mein Fluchen und befriedete mein Hirn. 
„Die Farbe deines Haares schmeckt nach Flieder“, klang es in meinen Ohren; ich kannte den Text, die Melodie, hatte sie schon mal gehört. Ich ertappte mich dabei, dass ich mitsummte. Meine Kraft brummte und tönte durch meinen riesigen Körper, meine Lenden vibrierten. Ich trug die Sonnenbrille und die Mütze mit dem Gummizug, die Hände steckten in den Jackentaschen; ich war gerüstet, mühelos konnte ich nun der Welt trotzen.
„Was bin ich cool!“, entfuhr es mir.
„Verlauf dich nicht!“, rief mir die Mutter hinterher, diese blöde Kuh.

Ameisen hatten was Beruhigendes. Wenn ich mich nicht rührte und ruhig atmete, bissen sie mich nicht. Einzelne Ausreißer verliefen sich und liefen bis zu meinem Mund und meinen Augen. Trotzdem sie offen zu halten, das war mein Anliegen. Man sagte ja, sie würden auch ihre eigene Brut fressen. Ich wollte einfach nur Stille und Ruhe und Atmen und Fühlen genießen; neben mir lag Charlie, sein massiger Körper glänzte in der Sonne.

Endlich war ich draußen, unangenehm war sie, die frische Luft. Die ersten Schritte waren immer schwer. Es galt nämlich, einen guten Rhythmus zu finden, um die Plattenränder auf dem Bürgersteig nicht zu berühren und den Fuß exakt in ihre Mitte zu setzen. Ich war wirklich gut darin, ich war der Weltmeister aus Stahl; die Anstrengung ließ es in meinen Hoden kribbeln, als liefe ich barfüßig über zu heißen Sand. Da, direkt vor mir lag frischer Vogelschiss auf der Straße, und es geschah bewusst, - ich sage: bewusst - ich trat hinein. Es war meine spontane Entscheidung auf diese perverse Provokation. Auf einmal waren mir die alten Regeln egal, und lustvoll stieg ich voll auf die Ritzen, soll die Mutter mir doch nachschauen; ich fühlte mich unbesiegbar, ich war Achill, zwei Meter groß. Mir konnte keiner was. Da erblickte ich sie, diese geile Schlampe; sie kam mir entgegen, ich kannte sie: hochhackige Schuhe, kurzer Rock, wackelnder Hintern, ein Traum in Rot. Nein, als sie näher kam, sah ich es; sie trug doch wieder nur diese Flachtreter, Hosen und Mantel. Sie nickte mir zu, ich senkte den Blick und wurde rot. Sie wusste Bescheid!

Die Hände in den Taschen und Blick auf den Boden ging ich ums Eck zum Türkenkiosk. Der Laden gefiel mir, wir waren ein Team! Ich gab dem Türken das Geld und er mir das Marzipan. Er fragte nie nach, und ich musste nicht reden. Ich musste nur auf das zeigen, was ich wollte, das reichte - gut so! Doch heute grinste er mich an, auch die zwei Kunden guckten; warum? Ich ließ mir nichts anmerken. 
„Die Farbe deines Haares schmeckt nach Flieder!“, hörte ich hinter mir. Ich drehte mich, da war keiner! Waren sie jetzt unsichtbar?

Es ließ sich nicht leugnen. Die Menschen waren heute verändert, waren es überhaupt Menschen? Ich rettete mich aus dem Kiosk; ich verzichtete sogar auf das Wechselgeld. Ich sah nicht auf, aber ich wusste, alle drei grinsten mir nach. Und draußen wurde es nicht besser. Die Passanten gingen provokant direkt auf mich zu und starrten mich an, sie tuschelten hinter mir, sie zeigten auf mich, wähnten sich unbeobachtet. Aber mich konnten sie nicht täuschen; kleine schnelle Schritte, den Kopf eingezogen, den Oberkörper gekrümmt, so schützte ich mich, so eilte ich … und stolperte, da hat mir doch jemand das Bein gestellt. Ich knallte auf meine Stirn, die Hände waren in den Hosentaschen eingeklemmt. Musste ich sie jetzt wirklich aus den Taschen nehmen, um mich von diesem dreckigen Pflaster hochzustemmen. Ich hatte meine Handschuhe nicht dabei und dann fassten sie mich auch noch an, Fremde berührten mich! Ich wollte doch nicht infiziert werden! Ich atmete ein, mein Oberkörper wuchs auf das Doppelte, meine Stimme schwoll an, ich sprengte die zupackenden fremden Hände hinweg. Und dann war ich war frei; ich, Till, der Titan. 
Wer kann mir was? Ich machte mich auf den Weg. Meine Präsenz, sie war so gewaltig, dass die Entgegenkommenden zur Seite auswichen. Sollten sie doch grinsen! Ich meisterte die Situation, ich meisterte immer solche Situationen, ich war der Dominatrix. Wer will da noch behaupten, ich könnte nicht alleine leben?

Die Mutter erwartete mich schon an der Tür, „ich habe mir Sorgen gemacht!“, zischte sie.
„Ich bin ein Tiger!" Ich drückte mich schnell an ihr vorbei. Klein und drahtig wie eine abgemagerte Ratte griff sie meine Schulter. 
„Du warst immer noch nicht auf der Toilette“, sagte sie böse, „du kriegst Hodenkrebs, wenn du nicht regelmäßig aufs Klo gehst.“ Sie schob mich ins WC.
„Die Farbe deiner Haare schmeckt nach Ginster, ich liebe das Klo, da ist es finster!“, antwortete ich ihr. Ich sang es ihr kraftvoll entgegen.
Und wieder zog sie am Reißverschluss meiner Hose und griff hinein in das Zentrum meiner Macht, wohl um mein Leben zu retten, mich zu entwässern und mich zu erleichtern. 
„Meine Mutter weiß, was gut für mich ist!“, sagte ich.
Ich war so klein, so klein. Doch auf einmal, da stieg eine Energie in mir hoch, eine strahlende Kraft. Wie ein Strahl aus Stahl kam sie hervor, bemächtigte sich meiner Arme und ich streckte die Powerfaust in Richtung Decke. Gerne wollte sie von oben her mit einem Hieb ihren Kopf zerschmettern, doch ich hielt mit aller Kraft dagegen, Black Power! Ich reckte auch noch die geballte Faust, nachdem sie meinen Penis abgeschüttelt hatte und gegangen war. Dann verließ ich das Bad; ich ging nicht, ich schwebte.
„Können Götter morden!“, fragte ich mich.

„Eigentlich geht es mir nicht schlecht!“ Ich lehnte mich in meinen Schreibtischstuhl zurück.  
Die Luft löste mich, löste mich auf, die Augen fielen herab. Ruhe und Unendlichkeit, kein Flieder, kein Ginster, nicht finster – nur Stille, mein Wille. Nur - es stank gottserbärmlich. Vielleicht hatte die Mutter doch recht mit der Wäsche.
Kaum dachte ich an sie, da stand sie an der Zimmertür; es war wie immer, unerbittlich trug sie den Teller auf der Hand:
„Du musst was essen, denk an Papa!"
Die Gulaschsuppe dampfte. Sie schaute kurz zum Teppich. „Hast du Charly immer noch nicht entsorgt?“, fragte sie, „dass du nichts wegräumen kannst!“ 
Charly rührte sich nicht, ich tätschelte ihn, er zeigte kaum noch behaarte Stellen. Sie machte einen raschen Schritt und schob den Fleischberg mit ihrem Fuß unter das Bett.
Da hörte ich wieder die Stimme: „Die Farbe deiner Haare schmeckt nach Flieder!“ 

Ich strahlte sie an. Ich wusste jetzt, sie würde die Stimme nie hören kön nen, sie war nicht auserwählt. Sie war unwürdig. Ich öffnete den Mund und wartete auf den Löffel. Und dann wuchs sie hervor, die Kraft wie ein Strahl, der als Stahl aus den Lenden kam. Mir konnte keiner. Ich war Till Kill the Bill. Ihre Haare schmeckten nach Flieder.

Ich liebe Charlie.




© host

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Gast







Beitrag29.01.2018 15:47

von Gast
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Hi host,

habe gerade nicht soviel Zeit, deshalb vorab nur kurz gesagt, dass ich den Text für recht gelungen halte.

Gerne hätte ich das Bild mit den Ameisen näher am Leser.

Aber sonst vermagst Du es, mit einer ruhigen Distanz, diesen besonderen Charakter sehr gut zu beschreiben.

Man bleibt dran, man möchte erfahren, wie es weiter geht, wie es endet. Das ist gut.

Nur leider wünscht man sich dann doch ein deutlicheres Ende.
An einer Stelle sollte ausgesprochen werden, was nur angedeutet wird.

Aber ich habe das gerne gelesen,
Grüße,
M.
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Selanna
Geschlecht:weiblichReißwolf


Beiträge: 1146
Wohnort: Süddeutschland


Beitrag29.01.2018 22:41

von Selanna
Antworten mit Zitat

Hallo host,

zuerst einmal vielen Dank, Deine Kurzgeschichte habe ich so gespannt gelesen wie lange keine mehr! Hat mir wirklich Spaß gemacht lol2
Aber, es gibt ja fast immer ein Aber Wink , ich muss Monochrom recht geben, ich hätte auch gerne eine Auflösung gehabt. Ich bin kein toller Zwischen-den-Zeilen-Leser, wüsste jedoch gern, was es mit Deinem Helden auf sich hat. Deswegen rätsle ich schon seit meiner Kaffeepause herum (da hatte ich den Text gelesen). Dein Held wirkt ja sehr kindlich, da er noch bei der Mama wohnt, sich nicht recht gegen sie durchsetzen kann und die Frau Mama noch immer darauf achten muss, dass er rechtzeitig zur Toilette geht und sich frische Sachen anzieht.
Da er aber außerdem sehr Hoden-fixiert ist, schätze ich ihn doch eher pubertär/postpubertär ein. Ist Deine Figur geistig zurückgeblieben? Oder der Mutter nur in einem gespannten hörig-protestierenden Verhältnis zu eng verbunden? Geht es in Richtung Autismus? Er lässt sich lieber von Ameisen liebkosen, seine Mutter bleibt auf Distanz. Ich kanns mir nicht erklären. Wenn Till Stimmen hört, die keiner sonst hört: deutet das auf Schizophrenie hin?
Und Charlie? Ist das ein totgeliebtes Kuscheltier oder ein echter toter Hund?

Ich wäre sehr neugierig, was dahintersteckt. smile

Weitere Verständnisprobleme hatte ich mit folgenden Stellen:
Zitat:
Meine Hose quietschte. Sie war immer noch nass.

Da das direkt hinter der Aufforderung kam, er solle aufs Klo gehen, fragte ich mich, ob es fürs Klo nicht schon zu spät ist und er es einfach hat laufen lassen. Am Ende fragte ich mich, ob die nasse Hose von einem anderen Hosenwaschversuch der Mutter herrührte.

Zu den Ameisen:
Krabbeln die zur Hundeleiche? Confused

Insgesamt habe ich nichts weiter zum Anmerken oder Verbessern gefunden. Ein interessanter Text!

Liebe Grüße
Selanna


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Nur ein mittelmäßiger Mensch ist immer in Hochform. - William Somerset Maugham
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Pickman
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Beitrag02.02.2018 23:43
Re: Die Farbe deiner Haare
von Pickman
Antworten mit Zitat

Hi host,

ich habe hier wenige Geschichten gelesen, die es mit Deiner aufnehmen können. Nur an ganz wenigen Stellen am Anfang würde ich eingreifen.

host hat Folgendes geschrieben:
„Du gehst auf die Toilette! Sofort!“ Ihr Blick war starr.
Ich wollte nicht, ich musste nicht, und sollte doch. Warum? Das erste Warum ist zu viel. Der Erzähler hat sich die Frage bestimmt schon oft gestellt. Er muss sie nicht erst "finden". Warum ließ sie mich nicht einfach in Ruhe.
„Aber, ich habe gerade einen neuen Virenscanner geladen“, muckte ich auf, „ich mach erst mal 'ne Pause!“ Die Pause und der Toilettengang schließen sich nicht aus. Das ist deshalb keine guter Grund, nicht zur Toilette zu gehen. Die Mutter könnte ihn zu leicht kontern. Besser wäre der Hinweis auf etwas, das noch läuft und überwacht werden muss, zum Beispiel ein laufender Installationsvorgang.
„Du musst jetzt zur Toilette, ich bin deine Mutter! Mir machst du nichts vor!“, beharrte sie.
„Nein! Es geht jetzt nicht, ich kann nicht!“ Ich stand ruckartig auf.
Sie sah mich immer noch an. 
„Der Herr hält es nicht aus, der Herr will mal wieder wegrennen!“ Sie war eine böse Frau.
„Nein, das will ich nicht!“, schrie ich. Ich war sicher, sie wusste, dass ich sie anlog. Sie konnte Gedanken lesen. Meine Hose quietschte. Sie war immer noch nass. 

Ich liebte es, wenn die Ameisen über mich krabbelten. Von Tag zu Tag wurden sie mehr. Gerne legte ich mich auf den Teppich. Sie zogen ihre Bahn quer über meinen Bauch; einige krochen direkt auf der Haut, sie kitzelten. Dieser seltsame Geruch stieg mir wieder in die Nase; ich sollte wirklich mal die Wäsche wechseln. Aber dazu müsste ich meine Klamotten ausziehen. Das wollte ich auf keinen Fall! In der wörtlichen Rede Deiner Akteure finde ich Ausrufezeichen okay, in seinen Gedanken halte ich sie alle für überflüssig. Ich schaute auf meinen Bauch. Wenn eine Ameise in meinem Bauchnabel baden würde, wäre ich das Zentrum der Welt.

Heute morgen hatte die Mutter mir meine Hose einfach weg genommen - während ich noch schlief! Meine schwarze Cordhose! Einfach so! 
„Sie stinkt!“, hatte sie mir erklärt, „da liegt 'ne neue, habe ich dir letzte Woche bestellt.“ Mit diesem Absatz beginnst Du eine Rückblende, gut gelöst, das sperrige Plusquamperfekt nur zweimal gebracht, aber wo endet sie?
„Die Hose ist noch gut, sie ist noch gut!“, stieß ich hervor und rannte in Panik los – zum Badezimmer; doch die Waschmaschine lief schon. Ich drückte auf „Aus“ und konnte es nicht erwarten, dass die Öffnungssperre ablief, und rüttelte an der Tür. Die Mutter kam wie ein Schatten von hinten und griff meinen Nacken.  
„Du machst meine Waschmaschine kaputt!“ Sie presste meinen Hals und schimpfte. Ihre Finger waren wie aus Draht geflochten.
Ich hielt mich an der Luke fest. Und auf einmal da durchströmte mich eine Kraft wie ein Strahl, der als Stahl aus meinen Hoden kam. Ich erhob mich wie ein Titan, schüttelte mich unwillig und die Mutter fiel von mir ab, als wäre sie ein Ungeziefer. 
„Lass das, Till!“, rief sie scharf. Sie rappelte sich auf und holte tief Luft: „Was machst du da mit deiner Mutter? Aufgeopfert habe ich mich für dich, und jetzt das!“ 
Sie erhob sich, ging zur Tür und blieb dort für einen Moment stehen. Sorgfältig richtete sie ihre Haare und glättete ihre Kittelschürze. 
„Heute mittag gibt es Gulaschsuppe!", kündigte sie beiläufig an und nickte mir zu, „die magst du doch!“
Nein, ich hasste sie.

Schnell Satzanfänge mit "schnell" und "plötzlich" finde ich selbst in Kinderbüchern kaum erträglich. schloss ich hinter ihr die Badezimmertür. Der Verschluss der Waschmaschine öffnete sich wie von alleine und ich zog meine Hose aus dem feuchten Wäschehaufen. Nass war sie, aberund Redundant, den "aber" und "doch" sind Gegensatzanzeiger. doch vertraut. Ich ließ all meine gewaltigen Kräfte spielen und wringtewrang sie über dem Waschbecken aus. Die Hose trug sich angenehm und erfrischendRedundant. Die Erfrischung kommt in nächsten Satz.. Sie kühlte und das beruhigte mich. 
„Du erkältest dich!“, rief sie mir zu.


Und natürlich wüsste ich gerne, ob Selanna mit ihrer Vermutung, Charlie sei ein toter Hund, Recht hat.

Cheers

Pickman


_________________
Tempus fugit.
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host
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H


Beiträge: 48
Wohnort: nicht zuhause


H
Beitrag04.02.2018 15:42

von host
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo Pickman, Selanna und Monochrom,

es freut mich, dass die euch die Geschichte gefallen hat. Mit dieser Resonanz habe ich nicht gerechnet. Ich dachte, der Charakter des Ich-Erzählers könnte zu speziell, zu fremd sein. ich habe einige Jahre in der Psychatrie gearbeitet und je länger ich dort war, desto verständlicher wurden mir "verrückte" Verhaltensweisen der Patienten (und auch die meines Umfeldes und meine eigenen).
Tatsächlich habe ich solche Art von Mutter/Kind-Beziehung erleben können dürfen müssen.
In meiner Vorstellung ist Till schon länger aus der Pubertät, Anfang 20. Eine klinische Diagnose will ich ihm nicht zuschreiben - sie etikettiert und kann deswegen eine echte Begegnung erschweren. Vielleicht aber so viel, er ist in meinen Augen nicht schizophren (was auch immer das ist), sondern eher ein Grenzgänger. Dass die Mutter/Kind-Interaktion zutiefst gestört ist, ist ja offensichtlich. Und doch kenne ich selbst vom Ansatz her viele der beschriebenen Gedanken und Verhaltensweisen.

Hi Pickman,
deine Anmerkungen habe ich fast alle eingearbeitet
Deinen zweiten Vorschlag, von einem "laufenden Installationsvorgang" anstelle von einem abgeschlossenen Download - weil logischer - zu sprechen, habe ich nicht übernommen. Die Interaktion der beiden Protagonisten ist eben nicht logisch, die Argumente sind krumm. Wichtig sind die darunterliegenden Affekte (etwa: "lass mich in Ruhe, du Hexe!"), Argumente haben im Hinblick darauf was Zufälliges und werden zurecht gebogen.

Zitat Pikman:

Mit diesem Absatz beginnst Du eine Rückblende, gut gelöst, das sperrige Plusquamperfekt nur zweimal gebracht, aber wo endet sie?

Du hast recht, hier habe ich geschlammt. Die Rückblende geht bis zu den Nikes in der gelben Tonne. Um das besser zu verdeutlichen, musste ich meinen Geist echt noch mal anstrengen und einiges umschreiben. Ganz zufrieden bin ich noch nicht.

Du gehst auf die Toilette! Sofort!“ Ihr Blick war starr. 
Ich wollte nicht, ich musste nicht, und sollte doch. Warum ließ sie mich nicht einfach in Ruhe?
„Aber, ich habe gerade einen neuen Virenscanner geladen“, muckte ich auf, „ich mach erst mal 'ne Pause!“  
„Du musst jetzt zur Toilette, ich bin deine Mutter! Mir machst du nichts vor!“, beharrte sie. 
„Nein! Es geht jetzt nicht, ich kann nicht!“ Ich stand ruckartig auf. 
Sie sah mich immer noch an.  
„Der Herr hält es nicht aus, der Herr will mal wieder wegrennen!“ Sie war eine böse Frau. 
„Nein, das will ich nicht!“, schrie ich. Ich war sicher, sie wusste, dass ich sie anlog. Sie konnte Gedanken lesen. Meine Hose quietschte. Sie war immer noch nass. Die Mutter drehte sich, die Dielen dröhnten unter ihren kleinen Schritten.

...

Heute morgen hatte die Mutter mir meine Hose einfach weg genommen - während ich noch schlief! Meine schwarze Cordhose! Einfach so!  
„Sie stinkt!“, hatte sie mir erklärt, „da liegt 'ne neue, habe ich dir letzte Woche bestellt.“  
„Die Hose ist noch gut, sie ist noch gut!“, stieß ich hervor und rannte in Panik los – zum Badezimmer; doch die Waschmaschine lief schon. Ich drückte auf „Aus“ und konnte es nicht erwarten, dass die Öffnungssperre ablief, und rüttelte an der Tür. Die Mutter kam wie ein Schatten von hinten und griff meinen Nacken.   
„Du machst meine Waschmaschine kaputt!“ Sie presste meinen Hals und schimpfte. Ihre Finger waren wie aus Draht geflochten. 
Ich hielt mich an der Luke fest. Und auf einmal da durchströmte mich eine Kraft wie ein Strahl, der als Stahl aus meinen Hoden kam. Ich erhob mich wie ein Titan, schüttelte mich unwillig und die Mutter fiel von mir ab, als wäre sie ein Ungeziefer.  
„Lass das, Till!“, rief sie scharf. Sie rappelte sich auf und holte tief Luft: „Was machst du da mit deiner Mutter? Aufgeopfert habe ich mich für dich, und jetzt das!“  
Sie erhob sich, ging zur Tür und blieb dort für einen Moment stehen. Sorgfältig richtete sie ihre Haare und glättete ihre Kittelschürze.  
„Heute Mittag gibt es Gulaschsuppe!", kündigte sie beiläufig an und nickte mir zu, „die magst du doch!“ 
Nein, ich hasste sie. 

Ich schloss schnell  die Badezimmertür. Der Verschluss der Waschmaschine öffnete sich wie von alleine und ich zog meine Hose aus dem feuchten Wäschehaufen. Nass war sie, und doch vertraut. Ich ließ all meine gewaltigen Kräfte spielen und wrang sie über dem Waschbecken aus. Die Hose trug sich angenehm. Sie kühlte und das beruhigte mich.  
„Du erkältest dich!“, rief sie mir zu. 
Sie stand direkt hinter der Tür. Sie wusste, was ich tat. Sie wusste immer, was ich tat. Bestimmt machte sie für morgen neue Pläne für mich. Sie machte immer Pläne. Die Mutter verstand nicht, warum ich die Kleidung nicht wechseln wollte. Da half ihr auch kein Gedankenlesen. Immer nahm sie mir meine Sachen weg. Gestern musste ich meine Nike Airs aus der gelben Tonne retten! 
Ich setzte mich auf den geschlossenen Klodeckel, immer wieder drückte ich die Klospülung. Ich betrachtete meine Fingernägel und zupfte an den Wurzelhäuten. Irgendwann hörte ich ihre Schritte. Der Weg in mein Zimmer war frei. Der Morgen war gerettet.

...


Ich startete den Virenscanner und folgte ihr, geschmeidig, langsam, lässig, immer an der Wand lang, die Hände in den Taschen – Ich war Till, der Checker. Sie stand an der Mikrowelle und schaute mich vorwurfsvoll an, sie schwieg.  
„Ich hole mir vorm Essen noch Marzipan vom Türkenkiosk. Soll ich dir die 'Brigitte' mitbringen? 


(Klingt mir noch zu sehr gewollt!)



Hi Monochrom + Selanna,

ich weiß auch nicht, wer oder was Charlie ist. Dieses Ding erinnert mich an ein Element in Roman Polanskis Film "Ekel". Die Protagonistin Carole (Catherine Deneuve) trug in ihrer Handtasche versteckt einen verwesenden Hasen mit sich herum.

Meine Geschichte ist immer noch nicht fertig. Monchroms Ameisenhinweis beschäftigt mich unter anderem noch.

Vielen Dank
host
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Murmel
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Beitrag04.02.2018 18:22

von Murmel
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Ich finde, dir ist die Darstellung des Verhältnisses zweier tief Gestörter sehr gut gelungen. Ich habe den Ich-Erzähler daher auf knapp unter Zwanzig geschätzt.

Nur die Ameisen kann ich nicht richtig einordnen, ob sie ein Symbol sein sollen, aber für was? Oder ein Hinweis auf die Krankheit? Das mag daran liegen, dass sie nur anedoktisch daherkommen.

Wie die anderen wünsche ich mir am Ende ein deutlicheres Bild.
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Pickman
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Beitrag05.02.2018 05:16

von Pickman
Antworten mit Zitat

host hat Folgendes geschrieben:

Deinen zweiten Vorschlag, von einem "laufenden Installationsvorgang" anstelle von einem abgeschlossenen Download - weil logischer - zu sprechen, habe ich nicht übernommen. Die Interaktion der beiden Protagonisten ist eben nicht logisch, die Argumente sind krumm. Wichtig sind die darunterliegenden Affekte (etwa: "lass mich in Ruhe, du Hexe!"), Argumente haben im Hinblick darauf was Zufälliges und werden zurecht gebogen.


Deiner Überlegung stimme ich zu. Vielleicht jedoch lässt sich etwas finden, dass stärker darauf hinweist, dass Logik hier keine Rolle spielt.

host hat Folgendes geschrieben:
Zitat Pikman:

Mit diesem Absatz beginnst Du eine Rückblende, gut gelöst, das sperrige Plusquamperfekt nur zweimal gebracht, aber wo endet sie?

Du hast recht, hier habe ich geschlammt. Die Rückblende geht bis zu den Nikes in der gelben Tonne. Um das besser zu verdeutlichen, musste ich meinen Geist echt noch mal anstrengen und einiges umschreiben. Ganz zufrieden bin ich noch nicht.

Du gehst auf die Toilette! Sofort!“ Ihr Blick war starr. 
Ich wollte nicht, ich musste nicht, und sollte doch. Warum ließ sie mich nicht einfach in Ruhe?
„Aber, ich habe gerade einen neuen Virenscanner geladen“, muckte ich auf, „ich mach erst mal 'ne Pause!“  
„Du musst jetzt zur Toilette, ich bin deine Mutter! Mir machst du nichts vor!“, beharrte sie. 
„Nein! Es geht jetzt nicht, ich kann nicht!“ Ich stand ruckartig auf. 
Sie sah mich immer noch an.  
„Der Herr hält es nicht aus, der Herr will mal wieder wegrennen!“ Sie war eine böse Frau. 
„Nein, das will ich nicht!“, schrie ich. Ich war sicher, sie wusste, dass ich sie anlog. Sie konnte Gedanken lesen. Meine Hose quietschte. Sie war immer noch nass. Die Mutter drehte sich, die Dielen dröhnten unter ihren kleinen Schritten.

...

Heute morgen hatte die Mutter mir meine Hose einfach weg genommen - während ich noch schlief! Meine schwarze Cordhose! Einfach so!  
„Sie stinkt!“, hatte sie mir erklärt, „da liegt 'ne neue, habe ich dir letzte Woche bestellt.“  
„Die Hose ist noch gut, sie ist noch gut!“, stieß ich hervor und rannte in Panik los – zum Badezimmer; doch die Waschmaschine lief schon. Ich drückte auf „Aus“ und konnte es nicht erwarten, dass die Öffnungssperre ablief, und rüttelte an der Tür. Die Mutter kam wie ein Schatten von hinten und griff meinen Nacken.   
„Du machst meine Waschmaschine kaputt!“ Sie presste meinen Hals und schimpfte. Ihre Finger waren wie aus Draht geflochten. 
Ich hielt mich an der Luke fest. Und auf einmal da durchströmte mich eine Kraft wie ein Strahl, der als Stahl aus meinen Hoden kam. Ich erhob mich wie ein Titan, schüttelte mich unwillig und die Mutter fiel von mir ab, als wäre sie ein Ungeziefer.  
„Lass das, Till!“, rief sie scharf. Sie rappelte sich auf und holte tief Luft: „Was machst du da mit deiner Mutter? Aufgeopfert habe ich mich für dich, und jetzt das!“  
Sie erhob sich, ging zur Tür und blieb dort für einen Moment stehen. Sorgfältig richtete sie ihre Haare und glättete ihre Kittelschürze.  
„Heute Mittag gibt es Gulaschsuppe!", kündigte sie beiläufig an und nickte mir zu, „die magst du doch!“ 
Nein, ich hasste sie. 

Ich schloss schnell  die Badezimmertür. Der Verschluss der Waschmaschine öffnete sich wie von alleine und ich zog meine Hose aus dem feuchten Wäschehaufen. Nass war sie, und doch vertraut. Ich ließ all meine gewaltigen Kräfte spielen und wrang sie über dem Waschbecken aus. Die Hose trug sich angenehm. Sie kühlte und das beruhigte mich.  
„Du erkältest dich!“, rief sie mir zu. 
Sie stand direkt hinter der Tür. Sie wusste, was ich tat. Sie wusste immer, was ich tat. Bestimmt machte sie für morgen neue Pläne für mich. Sie machte immer Pläne. Die Mutter verstand nicht, warum ich die Kleidung nicht wechseln wollte. Da half ihr auch kein Gedankenlesen. Immer nahm sie mir meine Sachen weg. Gestern musste ich meine Nike Airs aus der gelben Tonne retten! 
Ich setzte mich auf den geschlossenen Klodeckel, immer wieder drückte ich die Klospülung. Ich betrachtete meine Fingernägel und zupfte an den Wurzelhäuten. Irgendwann hörte ich ihre Schritte. Der Weg in mein Zimmer war frei. Der Morgen war gerettet.

...


Ich startete den Virenscanner und folgte ihr, geschmeidig, langsam, lässig, immer an der Wand lang, die Hände in den Taschen – Ich war Till, der Checker. Sie stand an der Mikrowelle und schaute mich vorwurfsvoll an, sie schwieg.  
„Ich hole mir vorm Essen noch Marzipan vom Türkenkiosk. Soll ich dir die 'Brigitte' mitbringen? 


(Klingt mir noch zu sehr gewollt!)


Jetzt habe ich völlig den Faden verloren.

Wenn ich mir den initialen Post ansehe und Deine Auskunft, dass der Satz über die Nike Airs der letzte in der Rückblende ist, würde ich dazu raten, in den ersten Satz nach der Rückblende ein "jetzt" oder eine äquivalente Formulierung einzubauen.


_________________
Tempus fugit.
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Constantine
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Goldener Sturmschaden Weltrettung in Bronze


Beitrag07.02.2018 00:37
Re: Die Farbe deiner Haare
von Constantine
Antworten mit Zitat

Hallo host,

ich habe die anderen Kommentare nicht gelesen. Sollte etwas doppelt erscheinen, so liegt es daran, was aber auch nicht schaden kann, von verschiedenen Lesern gleiches/ähnliches Feedback zu bekommen.

Zu aller erst möchte ich dir sagen, dass mir deine Geschichte insgesamt gefallen hat und du die gegenseitige Abhängigkeit von Mutter und Sohn gut zeigst.
Es gibt für mich allerdings einige "aber", die den Lesegenuss gestört, der Geschichte nicht gut getan haben und ich bedenkenswert finde.

Den Anfang macht dein einleitender Satz:
host hat Folgendes geschrieben:
[Eine "verrückte" Geschichte. Narzisstisch gestört sein ist recht anstrengend]

Hier tätigen du als Verfasser oder der Erzähler Till eine Vorab-Bewertung, die mir den eigentlichen Zugang zur Geschichte erschwert. "Narzissmus" und "verrückt" schwebt bereits zu Beginn wie eine psychologische Wert-Schublade über der Geschichte, in die man mir die Protagonisten stecken möchte. Mir mag nicht gelingen, die narzisstische Wertung in die Geschichte zu integrieren und insofern empfinde ich den einleitenden Satz eher als irritierend, denn als sinnvoll. Nehme ich "verrückt" Synonym für "gestört", das mag zutreffen, würde es aber doch eher dem Leser überlassen, sich dahingehend selbst ein Urteil über die Geschichte bilden zu können, ohne Vorabinterpretation.

host hat Folgendes geschrieben:

Die Farbe deiner Haare

„Du gehst auf die Toilette! Sofort!“ Ihr Blick war starr.
Ich wollte nicht, ich musste nicht, und sollte doch. Warum? Warum ließ sie mich nicht einfach in Ruhe.
„Aber, ich habe gerade einen neuen Virenscanner geladen“, muckte ich auf, „ich mach erst mal 'ne Pause!“ 
„Du musst jetzt zur Toilette, ich bin deine Mutter! Mir machst du nichts vor!“, beharrte sie.
„Nein! Es geht jetzt nicht, ich kann nicht!“ Ich stand ruckartig auf.
Sie sah mich immer noch an. 
„Der Herr hält es nicht aus, der Herr will mal wieder wegrennen!“ Sie war eine böse Frau.
„Nein, das will ich nicht!“, schrie ich. Ich war sicher, sie wusste, dass ich sie anlog. Sie konnte Gedanken lesen. Meine Hose quietschte. Sie war immer noch nass. 

Der Anfang ist mir zu gewollt mysteriös, zu sehr auf nichts sagen getrimmt und im Gesamtkontext zu konstruiert und unglaubwürdig. Ich kaufe Till die Warum-Fragen nicht ab, er weiß, warum sie ihn nicht in Ruhe lässt und er weiß mMn, was Sache ist, wie sich im weiteren Verlauf der Charakterisierung Tills und des Verlaufs der Geschichte zeigt. Mit der böse betitelten Mutter wird nach Spannung gefischt, allerdings leidet für mich darunter die Glaubwürdigkeit von Till und der Anfang der Geschichte.

host hat Folgendes geschrieben:

Ich liebte es, wenn die Ameisen über mich krabbelten. Von Tag zu Tag wurden sie mehr. Gerne legte ich mich auf den Teppich. Sie zogen ihre Bahn quer über meinen Bauch; einige krochen direkt auf der Haut, sie kitzelten. Dieser seltsame Geruch stieg mir wieder in die Nase; ich sollte wirklich mal die Wäsche wechseln. Aber dazu müsste ich meine Klamotten ausziehen. Das wollte ich auf keinen Fall! Ich schaute auf meinen Bauch. Wenn eine Ameise in meinem Bauchnabel baden würde, wäre ich das Zentrum der Welt.

Die Ameisen kommen mehrfach in der Geschichte vor, aber dieses Story-Element schwebt für mich ohne Bezug über der Geschichte und über Till.
Diese Abschnitte zeigen sich mir als einer von mehreren Punkten in der Geschichte, die mir nicht passen und für mich die Geschichte unnötig überladen.

Stichwort "überladen": Ich finde, die Geschichte ist zu überladen und Till ist für mich eher eine Karikatur, ein nicht ernst zu nehmender Charakter.
Weiteres Beispiel: Seine an manchen Stellen metaphorische Sprache, z.B. wenn es um Sexualität geht, die mir auch als zu gewollt und unglaubwürdig erscheint, im Vergleich zu seinem allgemeinen Erzählduktus und seiner einfachen Sprache:
Zitat:
Und auf einmal da durchströmte mich eine Kraft wie ein Strahl, der als Stahl aus meinen Hoden kam.

Zitat:
Und wieder zog sie am Reißverschluss meiner Hose und griff hinein in das Zentrum meiner Macht, wohl um mein Leben zu retten, mich zu entwässern und mich zu erleichtern.

Zitat:
Doch auf einmal, da stieg eine Energie in mir hoch, eine strahlende Kraft. Wie ein Strahl aus Stahl kam sie hervor, bemächtigte sich meiner Arme und ich streckte die Powerfaust in Richtung Decke.

Zitat:
Die Luft löste mich, löste mich auf, die Augen fielen herab. Ruhe und Unendlichkeit, kein Flieder, kein Ginster, nicht finster – nur Stille, mein Wille. Nur - [...]

Zitat:
Und dann wuchs sie hervor, die Kraft wie ein Strahl, der als Stahl aus den Lenden kam.


Wenn ich diese Passage dann nehme:
host hat Folgendes geschrieben:
Endlich war ich draußen, unangenehm war sie, die frische Luft. Die ersten Schritte waren immer schwer. Es galt nämlich, einen guten Rhythmus zu finden, um die Plattenränder auf dem Bürgersteig nicht zu berühren und den Fuß exakt in ihre Mitte zu setzen. Ich war wirklich gut darin, ich war der Weltmeister aus Stahl; die Anstrengung ließ es in meinen Hoden kribbeln, als liefe ich barfüßig über zu heißen Sand. Da, direkt vor mir lag frischer Vogelschiss auf der Straße, und es geschah bewusst, - ich sage: bewusst - ich trat hinein. Es war meine spontane Entscheidung auf diese perverse Provokation. Auf einmal waren mir die alten Regeln egal, und lustvoll stieg ich voll auf die Ritzen, soll die Mutter mir doch nachschauen; ich fühlte mich unbesiegbar, ich war Achill, zwei Meter groß. Mir konnte keiner was. Da erblickte ich sie, diese geile Schlampe; sie kam mir entgegen, ich kannte sie: hochhackige Schuhe, kurzer Rock, wackelnder Hintern, ein Traum in Rot. Nein, als sie näher kam, sah ich es; sie trug doch wieder nur diese Flachtreter, Hosen und Mantel. Sie nickte mir zu, ich senkte den Blick und wurde rot. Sie wusste Bescheid!

Legt Till ein Verhalten, eine direkte Sprache und eine Reflexion über sich (als Mann) an den Tag, die ich mit der blumigen, oben zitierten Sprache nicht in Einklang bringen kann. Ich kann Till nicht ernst nehmen.

Weiteres Beispiel für Überladung:
Zitat:
„Die Farbe deines Haares schmeckt nach Flieder“, klang es in meinen Ohren; ich kannte den Text, die Melodie, hatte sie schon mal gehört.

Zitat:
„Die Farbe deines Haares schmeckt nach Flieder!“, hörte ich hinter mir. Ich drehte mich, da war keiner!

Zitat:
„Die Farbe deiner Haare schmeckt nach Ginster, ich liebe das Klo, da ist es finster!“, antwortete ich ihr. Ich sang es ihr kraftvoll entgegen.

Zitat:
Da hörte ich wieder die Stimme: „Die Farbe deiner Haare schmeckt nach Flieder!“

Zitat:
Ihre Haare schmeckten nach Flieder.

Der Titel und das wiederkehrende Thema des Liedtextes. All das kommt sehr unmotiviert daher, erzeugt in Till keinerlei Reflexion oder Bild, keine Angst oder sonstiges, was es damit auf sich hat. Er nimmt wahr, dass er eine Stimme hört, er wiederholt die Zeile, aber die Bedeutung dieser Zeile für ihn interessiert ihn nicht.

Weiteres Beispiel für Überladung:
Zitat:
wie ein Titan

Zitat:
ich war Achill

Zitat:
ich, Till, der Titan.

Zitat:
ich war der Dominatrix.

Zitat:
„Ich bin ein Tiger!"

Zitat:
ich ging nicht, ich schwebte. „Können Götter morden!“, fragte ich mich.

Zitat:
Ich war Till Kill the Bill.

Hier vermischen sich griechische Mythologie und Popkultur zu einem (für mch) unpassenden Cocktail. Till kommt mir wie ein Teenager vor, der mMn eher Computerspiele und amerikanische Actionfilme liebt, als ein belesener Poesie-Liebhaber oder Griechische Antike-Zitierer zu sein.
Zunächst dachte ich, die Geschichte versuche eine Referenz an Ödipus zu generieren, was ich persönlich sehr reizvoll gefunden hätte, aber für mich passen einige Elemente nicht. Hier werden mMn Bilder vermischt, die mir der Charakter Till in dieser Form (noch) nicht glaubhaft vermittelt hat.

host hat Folgendes geschrieben:

„Eigentlich geht es mir nicht schlecht!“ Ich lehnte mich in meinen Schreibtischstuhl zurück.

Für mich der zentrale Satz in der ganzen Geschichte, wo mir Till sehr authentisch erscheint und ich ihm zumindest dies glauben kann, zeigt dieser Satz, was Till von seinem Leben hält. Er empfindet einiges als unangenehm, aber insgesamt geht es ihm nicht schlecht. Ab und zu lässt er seine Mutter in der Toilette an ihn ran, danach schwebt er und fühlt sich unbesiegbar, wird gefüttert und er kann sich in seiner Fantasiewelt als Comic- und Actionheld groß reden.

host hat Folgendes geschrieben:

Die Luft löste mich, löste mich auf, die Augen fielen herab. Ruhe und Unendlichkeit, kein Flieder, kein Ginster, nicht finster – nur Stille, mein Wille. Nur - es stank gottserbärmlich. Vielleicht hatte die Mutter doch recht mit der Wäsche.
Kaum dachte ich an sie, da stand sie an der Zimmertür; es war wie immer, unerbittlich trug sie den Teller auf der Hand:
„Du musst was essen, denk an Papa!"
Die Gulaschsuppe dampfte. Sie schaute kurz zum Teppich. „Hast du Charly immer noch nicht entsorgt?“, fragte sie, „dass du nichts wegräumen kannst!“ 
Charly rührte sich nicht, ich tätschelte ihn, er zeigte kaum noch behaarte Stellen. Sie machte einen raschen Schritt und schob den Fleischberg mit ihrem Fuß unter das Bett.

Da hörte ich wieder die Stimme: „Die Farbe deiner Haare schmeckt nach Flieder!“ 

Ich strahlte sie an. Ich wusste jetzt, sie würde die Stimme nie hören kön nen, sie war nicht auserwählt. Sie war unwürdig. Ich öffnete den Mund und wartete auf den Löffel. Und dann wuchs sie hervor, die Kraft wie ein Strahl, der als Stahl aus den Lenden kam. Mir konnte keiner. Ich war Till Kill the Bill. Ihre Haare schmeckten nach Flieder.

Ich liebe Charlie.

Was mich am Ende stört:
Das eigentliche Anfangs-Thema mit der nassen Kleidung, der Hose, dieses sich körperlich Zuknöpfen und Verschließen, ist kein Thema mehr. Es wurde fallen gelassen für eine Gulaschsuppe, einer unmotivierten Erwähnung des Vaters, einem erneuten unmotiviert erwähnten Liedzitat, dem erneuten Strahl-Stahl und einem Hundekadaver, der keinerlei Rolle für die Geschichte spielt.
Sehr verwundert hat mich die Mutter, die den Kadaver noch unters Bett kickt, als ihn endlich aus dem Haus zu schaffen.
Der letzte Satz wirkt auf mich belanglos.

Wie gesagt, insgesamt eine interessante Geschichte bzw. Mutter-Sohn-Konstellation, die mir aber noch zu unausgegoren ist, viele Elemente und Anspielungen hat, die aber lose und für mich unmotiviert in der Geschichte gesetzt worden sind, so dass kein wirkliches Bild transportiert wird, kein Bezug zur Textzeile, kein Bezug zu den Ameisen, kein Bezug zur griechischen Mythologie und amerikanischen Popkultur, kein Bezug zur manchmal "lyrischen" Sprache des Protagonisten, der Aspekt der Sexualität wird recht stiefmütterlich behandelt, ohne Reflexion des Protagonisten, der für mich insgesamt leider unglaubwürdig bleibt.

Das Potential für eine tolle, tiefgründige Geschichte steckt allemal in der Story.

Soweit mein Eindruck.
Gerne gelesen.

LG
Constantine
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