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Wie viel Autory darf / soll / muss in einem Text / Werk impliziert sein?

 
 
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Charlie Brokenwood
Eselsohr


Beiträge: 208



Beitrag27.02.2024 16:30
Wie viel Autory darf / soll / muss in einem Text / Werk impliziert sein?
von Charlie Brokenwood
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Was ist "ES" in einem Text, das anspricht?

Muss es eine "Botschaft" oder eine "Aussage" sein, oder wenigstens ein Gefühl, eine Idee?

Wieviel muss Autory einbringen in den Text, damit es beim Lesy ankommt / eine Emotion erzeugt?

Erzeugt ein Text, der nur in der Absicht, für sich selbst zu stehen geschrieben wurde andere Emotionen als ein auf eine bestimmte Gruppe zugeschnittener Text (Genreliteratur)?

Kann man bewerten, ob ein Text, der nur für sich selbst steht, „wertvoller“ ist als einer, der in dem Anspruch geschrieben wurde, eine bestimmte Lesergruppe zu unterhalten?

Ausgehend vom Gedankenaustausch in einem anderen Faden, geht es hier weiter:


nebenfluss hat Folgendes geschrieben:
Die spannende Frage (die vor allem in der kurzen Blüte der 'Popliteratur' negiert wurde) wäre dann die, warum man Aussagen überhaupt in belletristischen Texten zum Ausdruck bringt, anstatt seine Meinung/Gedanken einfach 1:1 hinzuschreiben, ob man darin den sprichwörtlichen Zeigefinger hebt usw.


Dazu würden mir jetzt mal Fabeln / Gleichnisse einfallen.
Schon im antiken Griechenland haben kluge Köpfe nicht gepredigt, sondern ohne erhobenen Zeigefinger unterhalten und „die Botschaft“ nebenbei vermittelt. Sie haben das Publikum „abgeholt und mitgenommen" und ihnen damit die Möglichkeit gegeben selbst zur Erkenntnis zu kommen.

Ich meine, das ist erfolgreicher als eine Belehrung, deshalb macht es durchaus Sinn, eine Geschichte zu erzählen, die Emotionen vermittelt, weil das "die Botschaft" viel intensiver transportiert als die nackten Fakten.
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hobbes
Geschlecht:weiblichTretbootliteratin & Verkaufsgenie

Moderatorin

Beiträge: 4299

Das goldene Aufbruchstück Das goldene Gleis
Der silberne Scheinwerfer Ei 4
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Beitrag27.02.2024 17:15

von hobbes
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Vielleicht kann ich hier doch nicht mitschreiben, denn ich merke mal wieder, dass mir diese Abstraktion überhaupt nicht liegt. Ich kann das so allgemein gar nicht sagen kann, ohne Bezug auf einen Text.

So oder so finde ich nicht, dass ein Text wertvoller ist als ein anderer. Höchstens, du definierst wertvoll genauer, dann vielleicht schon Laughing
...
Nein, dann vermutlich auch nicht. Oder auch nur in Bezug auf mich selbst und in der Hinsicht, dass ich mit Text x mehr anfangen kann als mit Text y.


_________________
Don't play what's there, play what's not there.
Miles Davis
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Maunzilla
Exposéadler


Beiträge: 2840



Beitrag27.02.2024 20:08

von Maunzilla
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Prodesse et delectare nannte man das zu meiner Zeit.

_________________
"Im Internet weiß keiner, daß du eine Katze bist." =^.^=
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aliken
Leseratte


Beiträge: 149
Wohnort: Wien


Beitrag27.02.2024 20:23

von aliken
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Ich finde, ein Buch muss keine Botschaft transportieren. Viel mehr soll es zum Nachdenken anregen, viele Möglichkeiten zeigen, mit einem Problem umzugehen.

_________________
~ Alissa
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fabian
Geschlecht:männlichKlammeraffe


Beiträge: 614



Beitrag28.02.2024 00:56

von fabian
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Wenn das Problem ein Nagel ist, braucht man einen Hammer.
Oder eine Kneifzange.
Was aber braucht man, wenn der Nagel von Uecker eingeschlagen wurde??


_________________
Wer an einem aufgeräumten Schreibtisch sitzt, wer das schafft, kennt keine Gnade.
Terézia Mora im Interview mit Klaus Siblewski (in: TEXT+KRITIK 221)
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Charlie Brokenwood
Eselsohr


Beiträge: 208



Beitrag28.02.2024 06:31

von Charlie Brokenwood
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ein großes Bücherregal
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Struwwelpeter
Geschlecht:weiblichLeseratte

Alter: 30
Beiträge: 157



Beitrag28.02.2024 09:47

von Struwwelpeter
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Der Mensch ist ein Tier, das stets nach Sinn sucht. Allein dadurch entsteht schon Sinn. Die Autorin muss den vorher nicht in einem gedanklichen Aufsatz für sich dargelegt haben, um mit ihrem Text Sinn zu schaffen. Ob der Sinn bei der Leserin derselbe ist wie bei mir als Autorin, ist nicht die Hauptsache. Je nach Textsorte wäre es schon komisch, wenn meine Leser etwas ganz anderes als ich verstehen...
Und ansonsten kann mich vieles an einem Text ansprechen und berühren. Manchmal genügt eine Metapher und ich bin dem Text erlegen. Gilt insbesondere für Lyrik.
Und wer jetzt sagt, das muss keinen Sinn haben, dieses Bild, ja, aber es hat eine Bedeutung.

Genug, mehr von mir dazu nicht. :)


_________________
Ihre Locken waren Wendeltreppen in den Himmel.
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Hugin_Hrabnaz
Geschlecht:männlich(N)Ich-Erzähler

Alter: 48
Beiträge: 248
Wohnort: Ulm


Beitrag28.02.2024 15:04

von Hugin_Hrabnaz
Antworten mit Zitat

Ganz grundsätzlich würde ich sagen, dass meine Präferenz völlig genreunabhängig dahin neigt, Texte zu bevorzugen, die mir das subjektive Gefühl vermitteln, dass der Autor genau das geschrieben hat, was er schreiben wollte, ohne dabei größere und spürbare Rücksicht auf marktbezogene Zielvorgaben, insbesondere Massenkompatibilität und Mainstream, oder auf genrespezifische Standards, Empfehlungen von Schreibratgebern und dergleichen mehr zu nehmen.

Seinen Stil und seinen Inhalt an Trends, Empfehlungen, Rituale, Vorgaben, Schemata anzupassen, führt stets zu einem Malus im Bereich der Individualität und der Originalität. Zwangsläufig. Weder muss dieser unbestreitbare Effekt ein Buch objektiv oder subjektiv schlecht machen, noch muss der pure, ausgelebte Individualismus ein Buch objektiv oder subjektiv gut machen, doch bei mir selbst beobachte ich, dass generische Kunst (egal ob Bücher, Musikalben, Bilder, Skulpturen...) bei mir selten über die Wirkung "nett bis gut" oder "unterhaltsam" hinausgeht, und eine echte Begeisterung und langjährige Hingabe an einen Kunstschaffenden und sein Werk meist doch den Originalen und Individualisten vorbehalten ist. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel, sind aber wirklich entsprechend selten.

Das führt uns nun zur Frage der "Botschaft". Nun. Botschaften können vielerlei sein. Es kann um Werte, Moral, Religion, politische Überzeugung gehen, aber auch um sehr werkbezogene Botschaften. Insoweit habe ich im Bereich der musikalischen Kunst oft die Beobachtung gemacht, dass mich subjektiv die Werke extremer Künstler sehr anziehen, auch und gerade wenn ihre Überzeugung und Botschaft meinen eigenen Anschauungen widerspricht. Die politische, religiöse, individuelle Radikalität des Künstlers lässt oft einen Blick in den Abgrund zu, der einem im Bereich des generischen Kunsthandwerks oft vorenthalten bleibt, da er eben kraft möglicherweise nahezu manisch betriebener Überzeugungen ein anderes Maß der emotionalen Intensität in sein Werk einzubringen im Stande ist, als ein Künstler oder Kunsthandwerker, dessen Ziel es "nur" ist, zu unterhalten und zu erfreuen, und damit vielleicht ein wenig Geld zu verdienen. Wer "die Welt einreißen" will, arbeitet oft unmittelbarer, authentischer, emotionaler, und das kann sich auf den Leser übertragen. Da sind wir im Feld von Genie und Wahnsinn.

Ich zitiere hierzu Friedrich Nietzsche:

Jenseits von Gut und Böse hat Folgendes geschrieben:
“Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.”


Die Auseinandersetzung mit extremen Künstlern und deren starker, vehement auf den Leser einströmenden Botschaft erfordert daher in der Regel eine sehr kritische Distanz zum Schaffenden und eine gefestigte und selbstbewusste eigene Einstellung, sonst kann sie gefährlich werden. Gleichwohl bleibt sie ein Faszinosum, das ich nicht missen möchte.

Man muss indes nicht zwangsläufig von den Extrem(st)en ausgehen und jene zum Maßstab der Botschaft in der Literatur erklären. Eine Botschaft kann auch von kleinen, liebevollen Details ausgehen, von der Art und Weise, wie ein Autor seine Figuren belebt, bebildert, agieren lässt. Diese Art und Weise kann viel über sein Menschenbild erzählen, selbstverständlich ohne dass man diese Schlüsse wahrhaft verifizieren oder falsifizieren könnte. Dennoch, man hat halt oft ein subjektives Gefühl, ob ein Autor seine Figuren liebt und mit ihnen fühlt, oder ob er sie nur rein funktional nutzt, um eine Plotline schlüssig aufzufüllen. Je mehr ich den subjektiven Eindruck habe, dass eine Geschichte nicht erzählt wird, weil man gelernt hat, dass solche Figuren in derartigen Settings und mit selbigen Plots gut bei den Leuten ankommen, sondern weil der Autor sich selbst in diese Figur, dieses Setting, diese Story hinein hat ziehen lassen, also sein Werk lebt und liebt, umso eher werde ich seine Story nachfühlen können und wollen.

Damit beschließe ich dann auch meinen Beitrag zur Threadfrage mit dieser lange hergeleiteten Antwort:

Es soll im Idealfall möglichst alles an einem Buch der Autor sein. Seine Sprache, sein Schreibstil, seine stilistischen Marotten, und zuvorderst sein inneres Bedürfnis, diese Geschichte erzählen zu wollen und das genau so zu tun, wie er es für richtig hält. Das heißt noch lange nicht, dass mir das Ergebnis subjektiv gefällt, aber das ist für mich der entscheidende Ansatz, um ein großes Werk zu schreiben, selbst wenn man selbst am Ende vielleicht der einzige sein könnte, der die Größe darin erkennen mag.

Besonders extrem formuliert wurde dies von Arthur Schopenhauer:

Ueber Schriftstellerei und Stil hat Folgendes geschrieben:

Zuvörderst giebt es zweierlei Schriftsteller: solche, die der Sache wegen, und solche, die des Schreibens wegen schreiben. Jene haben Gedanken gehabt, oder Erfahrungen gemacht, die ihnen mittheilenswerth scheinen; Diese brauchen Geld, und deshalb schreiben sie, für Geld. Sie denken zum Behuf des Schreibens. Man erkennt sie daran, daß sie ihre Gedanken möglichst lang ausspinnen und auch halbwahre, schiefe, forcirte und schwankende Gedanken ausführen, auch meistens das Helldunkel lieben, um zu scheinen was sie nicht sind; weshalb ihrem Schreiben Bestimmtheit und volle Deutlichkeit abgeht. Man kann daher bald merken, daß sie um Papier zu füllen schreiben: bei unsern besten Schriftstellern kann man es mitunter: z.B. stellenweise in Lessings Dramaturgie. Sobald man es merkt, soll man das Buch wegwerfen: denn die Zeit ist edel. – Honorar und Verbot des Nachdrucks sind im Grunde der Verderb der Litteratur. Schreibenswerthes schreibt nur wer ganz allein der Sache wegen schreibt. Welch ein unschätzbarer Gewinn würde es seyn, wenn, in allen Fächern einer Litteratur, nur wenige, aber vortreffliche Bücher existirten. Dahin aber kann es nie kommen, so lange Honorar zu verdienen ist.


Ich bin ganz ausdrücklich nicht seiner Meinung in jenem Punkte, dass man der Unterhaltung und des Geldes wegen geschaffene Werke "gleich wegwerfen" solle, denn auch sie können unterhalten und daher dem Leser eine Freude sein. Und ich bin mir auch sehr sicher, dass der geschätzte Herr Schopenhauer selbst möglicherweise das meiste von dem, was ich gerne lese oder versuche zu schreiben, für "wegwerfenswert" gehalten hätte.

Dennoch bin ich bei ihm, dass jene Dinge, die voll und ganz der Sache wegen gewirkt wurden, aus der Überzeugung des Wirkenden heraus, es sind, die den größeren Nachhall, die tiefere Berührtheit, die intensivere Bindung erzeugen. Aber natürlich auch die größere Ablehnung, die schärferen Widerworte, die tiefere Abscheu. Sie bewegen die Welt, zum Guten wie zum Bösen.

Disclaimer:
Da der Thread unter "Philosophie des Schreibens" steht, hoffe ich, dass die Ausführungen als gerade noch im Rahmen des Tolerablen angesehen werden und nicht als Schwurbelei. Sie sind ehrlich gemeint und der Sache wegen geschrieben.
 Wink
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nebenfluss
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Beitrag29.02.2024 16:59
Re: Wie viel Autory darf / soll / muss in einem Text / Werk impliziert sein?
von nebenfluss
Antworten mit Zitat

Charlie Brokenwood hat Folgendes geschrieben:
Was ist "ES" in einem Text, das anspricht?

Muss es eine "Botschaft" oder eine "Aussage" sein, oder wenigstens ein Gefühl, eine Idee?

Ich werde mich hier auf die Botschaft konzentrieren, denn das ansprechende Literatur (wie das Leben) nicht völlig gefühls- und ideenlos denkbar ist, dürfte weitgehend Konsens sein. Und Aussagen enthält ein Text in aller Regel auch, wobei es sich dabei nicht um Aussagen des Autors, sondern die eines fiktiven Erzählers oder sonstiger fiktiver Figuren handeln kann.
Was wir aus der Theorie kennen, ist die Prämisse, eine These, die sich im Verlauf des Textes beweisen soll.

Die Prämisse von "Romeo und Julia" könnte man so benennen:
Verbotene Liebe führt ins Unglück.

Nun kann man sich im Kontext der Fadeneröffnung fragen: Warum überhaupt sollte ein Autory diese Prämisse für ein zu verfassendes Werk wählen?
Mit fallen aus dem Stegreif drei Möglichkeiten ein:
1. Autor möchte Wirklichkeit abbilden - glaubt also, dass die Prämisse der gelebten Wirklichkeit entspricht (was nicht bedeutet, dass er sie für moralisch geboten hält)
2. Autor möchte den Leser erziehen - hält also die Prämisse für moralisch geboten (was nicht bedeutet, dass sie der gelebten Wirklichkeit entspricht)
3. Ihm sind Wirklichkeit und Volkspädagogik wumpe - er wählt die Prämisse aus dem pragmatischen Grund, dass sie sich sehr gut für einen dramatischen Plot eignet.

Diesen drei Möglichkeiten lassen sich dann analoge Lesyschaften gegenüberstellen:

1. Leser glaubt, der Autor wisse über das Thema Bescheid - er möchte sich bilden, etwas über die Welt/die Wirklichkeit erfahren.
2. Leser hält Autor für eine moralische Instanz - er möchte diesbezüglich unterwiesen werden.
3. Leser möchte einfach nur eine spannende (unterhaltsame, ergreifende ...) Geschichte lesen.

So vorsätzlich schematisch (und zwangsläufig vereinfacht) dargestellt, ergeben sich neun Kombinationen, von denen aber nur drei als Übereinstimmung (Zielgruppenerreichung) einzustufen wären.

Mehr geht gerade aus Zeitgründen nicht.


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nebenfluss
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Beitrag01.03.2024 13:19

von nebenfluss
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Hallo Rüdiger,
Hugin_Hrabnaz hat Folgendes geschrieben:

Disclaimer:
Da der Thread unter "Philosophie des Schreibens" steht, hoffe ich, dass die Ausführungen als gerade noch im Rahmen des Tolerablen angesehen werden und nicht als Schwurbelei. Sie sind ehrlich gemeint und der Sache wegen geschrieben.
 Wink

Ich habe das nicht als Schwurbelei empfunden - im Gegenteil, ich finde das alles sehr klar und interesseweckend formuliert und würde dem auch größtenteils zustimmen.
Du hast mich auch zum Nachdenken über "Extreme" gebracht. Vielleicht müsste man den Begriff noch genauer fassen, aber prinzipiell möchte ich auch dem eigentlich zustimmen, denn ohne das radikale Experiment, den Stil- oder Tabubruch etc., würde sich wahrscheinlich wenig bewegen und entwickeln in der literarischen Landschaft. Was sich eventuell auch auf andere Landschaften übertragen ließe, die musikalische sowieso, vielleicht auch die politische: Die Ränder setzen die Mitte unter Druck, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie letztlich ein Stück weit zu integrieren.
Und doch kann ich mit dem, was mir heute an Extremen geboten wird, immer weniger anfangen - was aber auch, so ungern ich mir das eingestehe, schlicht ein Nebeneffekt des Älterwerdens sein könnte.

Danke für das Schopenhauer-Zitat. Wenn es einen Grund zum Lesen solcher klassischen Texte gibt, dann vielleicht den, dass sie oft mutiger und meinungsstärker sind als vieles, was sich heute zu solchen Thematiken findet. Insofern bestätigt sich das Zitat selbst.


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Hugin_Hrabnaz
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Beitrag01.03.2024 14:44

von Hugin_Hrabnaz
Antworten mit Zitat

nebenfluss hat Folgendes geschrieben:

Ich habe das nicht als Schwurbelei empfunden - im Gegenteil, ich finde das alles sehr klar und interesseweckend formuliert und würde dem auch größtenteils zustimmen.
Du hast mich auch zum Nachdenken über "Extreme" gebracht. Vielleicht müsste man den Begriff noch genauer fassen, aber prinzipiell müsste ich auch dem eigentlich zustimmen, denn ohne das radikale Experiment, den Stil- oder Tabubruch etc., würde sich wahrscheinlich wenig bewegen und entwickeln in der literarischen Landschaft. Was sich eventuell auch auf andere Landschaften übertragen ließe, die musikalische sowieso, vielleicht auch die politische: Die Ränder setzen die Mitte unter Druck, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie letztlich ein Stück weit zu integrieren.
Und doch kann ich mit dem, was mir heute an Extremen geboten wird, immer weniger anfangen - was aber auch, so ungern ich mir das eingestehe, schlicht ein Nebeneffekt des Älterwerdens sein könnte.

Danke für das Schopenhauer-Zitat. Wenn es einen Grund zum Lesen solcher klassischen Texte gibt, dann vielleicht den, dass sie oft mutiger und meinungsstärker sind als vieles, was sich heute zu solchen Thematiken findet. Insofern bestätigt sich das Zitat selbst.


Grüß dich,

vielen Dank für die Rückmeldung. Es freut mich, dass meine Ausführungen dein Interesse geweckt haben.

Zu den "Extremen" möchte ich noch ein wenig ausführen. Zuvorderst meinte ich den Begriff sehr offen im Sinne von "extremen Persönlichkeiten". Diese müssen keine politischen oder religiösen Extremisten sein, sondern können auch einfach eine besondere Radikalität oder Kompromisslosigkeit im Hinblick auf ihre Kunst vertreten, oder einfach ein besonders großes Maß an Hingabe an ihr Werk und ihre Schöpfung.

Den meisten extremen Kunstschaffenden ist jedoch gemein, dass sie einer inneren Vision, einer sie antreibenden Motivation folgen, die über den trivialen Impetus des Unterhaltens und des Gelesenwerdens oder des Geldverdienens hinaus gehen. Das ist eben der Punkt, an dem erst das Unerhörte und das Ungefilterte seinen Raum bekommt, und an dem das literarische Oeuvre sich in unbeschrittene Gefilde fortentwickeln kann, denn wer nicht zuvorderst seine eigene Vision umsetzen, sondern eine Zielgruppe bedienen möchte, der wird stets in weiten Teilen seines Werkes den Gewohnheiten des Lesers und damit der bereits vorbestehenden Formensprache und definierten Inhaltsmustern verhaftet sein müssen.

Schlagen wir dann doch noch den Bogen zu den nicht nur Extremen, sondern zu den Extremisten politischer oder religiöser Couleur, dann bin ich am Ende natürlich bei dir, auch ich kann mit ihren Inhalten oft nur wenig anfangen. Zum Glück. Gleichwohl kann ihr Wirken im Bereich der Kunst und Kultur geeignet sein, Horizonte zu erweitern, weil ihr radikaler Impetus dazu neigen kann, die Formensprache in einer Weise zu nutzen, die sich für den Leser/Hörer/Betrachter anders anfühlt, als er es gewohnt ist.

Wie schon gesagt habe ich damit im Bereich der Musik mehr Erfahrung als im Bereich der Literatur, dass es beim Lesen der Texte und beim Hören der Musik eine intensivere Gänsehaut verursachen kann, wenn man weiß, dass der Autor die Geschichte nicht nur erfunden hat, sondern erlebt hat; dass er seine Botschaft nicht nur dem Protagonisten oder Antagonisten in den Mund legt, sondern sie selbst vertritt. Man stelle sich vor, nicht Thomas Harris hätte "The Silence of the Lambs" geschrieben, sondern Hannibal Lecter selbst. Das würde das Buch sicherlich nicht zwangsläufig "besser" machen, aber es würde beim Lesen eine völlig andere Perspektive ermöglichen und - zum Guten wie zum Bösen - beim Leser eine völlig andere Reaktion auslösen.

Dass dieses Gedankenspiel natürlich seine Schattenseiten hat, ist völlig klar. Literatur, Musik, bildende Kunst von extremen Persönlichkeiten kann natürlich in ungefilterter Form bei labilen, manipulierbaren, unerfahrenen Konsumenten auch desaströse Nebeneffekte haben (Radikalisierung, Enthemmung, Indentifikation mit Tätern etc...), weshalb es sicher wichtig ist, im Privaten wie auch in der Kunstrezeption behutsam und kritisch mit solchen Werken zu sein, und solcherlei Exponate nicht unkritisch zu feiern oder weiterzuempfehlen.

Dennoch denke ich, dass es a) besser ist, wenn extreme Menschen ihre extremen Neigungen in die Kunst fließen lassen, anstatt andere darunter leiden zu lassen, und dass es b) eben auch die Kunst und Kultur durch das Aufbrechen von Gewohntem und durch das Eröffnen bizarrer, fremder Perspektiven auf einer Ebene bereichern kann, die ein "normal" sozialisierter Kunstschaffender nur schwerlich betreten kann. Und sei es nur, dass hierdurch der Krimi- und Thrillerautor lernt, wie er die Täterperspektive in der Fiktion besser beleuchten und authentischer wirken lassen kann.

Damit zurück zu Schopenhauer:

Sicher kein Verbrecher, kein politisch radikaler Agitator, doch in seiner Position gleichwohl kompromisslos vehement und extrem im Anspruch. Wie du selbst sagst: Das Zitat bestätigt sich selbst, weil es nach 173 Jahren noch Einfluss und Relevanz hat. Man muss seiner Schlussfolgerung keineswegs zustimmen, dass man alles andere wegwerfen kann, was nicht allein der Sache an sich dient, doch der Analyse selbst lässt sich kaum ernsthaft widersprechen. Er hat diesen Absatz der Sache wegen geschrieben, weil er von dieser Position voll und ganz überzeugt war, und es scherte ihn nicht wie viele Kollegen und wie viele Verleger und Leser er damit brüskierte. Deswegen ist dieser kleine Ratgeber in allerlei Punkten auch heute noch zitierwürdig und es kann lehrreich sein, dessen Hauptargumente zu kennen. Das heißt nicht, dass man ihnen zwingend nacheifern muss, aber über sie zu reflektieren kann definitiv nicht schaden.

Liebe Grüße,
Rüdiger.
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