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Skaldendichtung und Stabreim

 
 
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Hugin_Hrabnaz
Geschlecht:männlich(N)Ich-Erzähler

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Beiträge: 248
Wohnort: Ulm


Beitrag04.01.2024 11:54
Skaldendichtung und Stabreim
von Hugin_Hrabnaz
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo liebe Lyriker,

an dieser Stelle hätte ich einige Fragen zur Skaldendichtung bzw. zum germanischen Stabreim im Allgemeinen.

Ich habe im Einstand ein kleines Gedicht gepostet, das auf Stabreimen basiert, und ganz generell kann ich sagen, dass ich die meisten meiner Gedichte und Liedtexte eher mit Stabreimen gestalte als mit moderneren Reimformen, was schlicht daran liegen dürfte, dass mir zum einen keine Versdichtung mehr am Herzen liegt, als die ältere Edda, und zum anderen, dass sehr vieles, von dem, was ich bearbeite, in einem altgermanischen, altnordischen Setting stattfindet.

Nun aber zu den Punkten, die mit Vertiefung zu tun haben, und mich deshalb in diesen Thread führen:

Am ehesten orientiere ich meine Gedichte an eddisch-skaldischen Versmaßen wie dem Fornyrðislag oder dem Ljóðaháttr, das Dróttkvætt ist mir am Ende zu komplex, da ja alle Silbenzahlen und vieles mehr vorgeben sind. Eher höhere Mathematik als Lyrik.

Ja, dabei ist das Problem natürlich, dass die Vorbilder dieser Form der Lyrik aus althochdeutschen und altnordischen Quellen kommen, und in der aktuellen Lyrik vornehmlich noch auf Island und den Färöern praktiziert werden. Da Isländisch und Färingisch verhältnismäßig viel näher am Altnordischen sind, als Neuhochdeutsch am Althochdeutsch, stelle ich immer wieder fest, dass die skaldischen Versmaße nur sehr schwer stringent in der neuhochdeutschen Sprache umsetzbar sind, weil diese für denselben Aussagegehalt in der Regel deutlich mehr Silben benötigt als das Althochdeutsche, das Altnordische oder das Protogermanische, und vor allem auch mehr (zusätzliche) Pronomina nutzt.

Daher mal ganz pauschal in die Runde die folgenden Fragen:

1.
Befasst sich hier jemand näher mit germanischer Stabreimdichtung.

2.
Falls ja: Versucht ihr euch hierbei auch an den klassischen skaldischen Versmaßen?

3.
Wenn ja, an welchen bevorzugt, und wie gut klappt es?

4.
Falls nein: Habt ihr ein alternatives System, das im Ausdruck und im lyrischen Fluss diesem skaldischen, bardischen Gefühl nahe kommt, welches beim Rezitieren altgermanischer Quellen entsteht?


Vielen Dank im Voraus für euer Feedback!
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Hugin_Hrabnaz
Geschlecht:männlich(N)Ich-Erzähler

Alter: 48
Beiträge: 248
Wohnort: Ulm


Beitrag04.01.2024 12:30

von Hugin_Hrabnaz
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Liebe Moderatoren:

Bitte gerne in die Rubrik "Fragen und Diskussionen" verschieben, wenn das hier falsch ist, da ja (jedenfalls noch) kein Ratgeber oder Tutorial.

Das habe ich ob der Vielzahl der Unterrubriken leider falsch untergebracht. Sorry für die Umstände!
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stuffi
Geschlecht:männlichGänsefüßchen

Alter: 38
Beiträge: 26
Wohnort: München, Bonn


Beitrag04.01.2024 13:11

von stuffi
Antworten mit Zitat

Der Stabreim ist ja erstmal nichts weiter als eine Alliteration, also weder modern noch unmodern. Der Effekt, den du erzielen möchtest, würde sich also eher auf Alliteration plus Versmaß beziehen. Da kennst du dich in Skaldendichtung besser aus als ich.

Bei deinem Einstandsgedicht ist mir allerdings aufgefallen (mit meinem eher modern geprägten Blick), dass du zwischen Jambus und Trochäus etwas unmotiviert wechselst und die Verse auch mal auf weibliche Kadenz enden lässt, obwohl sie meist auf männliche enden. Ist das so gewollt oder vielleicht der Quell deines Gefühls nicht so ganz an dein gewünschtes Ziel heranzukommen? Oder sehe ich einfach nicht das Versmaß, das du angewandt hast, weil mir der Blick dafür fehlt?
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Hugin_Hrabnaz
Geschlecht:männlich(N)Ich-Erzähler

Alter: 48
Beiträge: 248
Wohnort: Ulm


Beitrag04.01.2024 13:55

von Hugin_Hrabnaz
pdf-Datei Antworten mit Zitat

stuffi hat Folgendes geschrieben:
Der Stabreim ist ja erstmal nichts weiter als eine Alliteration, also weder modern noch unmodern. Der Effekt, den du erzielen möchtest, würde sich also eher auf Alliteration plus Versmaß beziehen. Da kennst du dich in Skaldendichtung besser aus als ich.

Bei deinem Einstandsgedicht ist mir allerdings aufgefallen (mit meinem eher modern geprägten Blick), dass du zwischen Jambus und Trochäus etwas unmotiviert wechselst und die Verse auch mal auf weibliche Kadenz enden lässt, obwohl sie meist auf männliche enden. Ist das so gewollt oder vielleicht der Quell deines Gefühls nicht so ganz an dein gewünschtes Ziel heranzukommen? Oder sehe ich einfach nicht das Versmaß, das du angewandt hast, weil mir der Blick dafür fehlt?


Das Versmaß versucht den Regeln der eddischen Dichtung, speziell dem Altredeton zu folgen. Die Betonungen sind also immer auf den Stäben, und im Idealfall endet jeder Halbvers auf einen jambischen Versschluss (das wäre der Dróttkvætt-Stil), der allerdings wie oben beschrieben mit der heutigen Sprache schwer stringent durchzuhalten ist. Die weibliche Kadenz als Verschluss ist also tatsächlich skaldischer Stil, da nur jede zweite Zeile mit einer männlichen Kadenz zu schließen ist, wenn ich das richtig rezipiert habe. Auf einer männlichen Kadenz endet es im Regelfall dann, wenn das letzte Wort eines Halbverses ein einsilbiges stabendes Wort ist.

Ich habe im Einstand mal ein MP3 mit einer Rezitation von "Der Alb" hochgeladen, damit du, wenn du magst, das Versmaß prüfen kannst.

Danke fürs Feedback!

EDIT:
Es wurden klarstellend zwei Stellen editiert, bei denen ich männlich und weiblich verwechselt habe.
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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1002



Beitrag04.01.2024 14:08

von Soleatus
Antworten mit Zitat

Hallo Hugin!

Ich habe mich vor einigen Jahren da einmal gründlicher eingelesen und vor allem auch geschaut, wie das 19. Jahrhundert (und da vor allem Wilhelm Jordan) die nötige Anpassung der alten Maße ans Neuhochdeutsche in Angriff genommen hat; da war schon vieles Vernünftige dabei, und ergänzt um ein paar eigene Gedanken habe ich dann auch mit Vergnügen eigene Texte geschrieben. Inzwischen mache ich das weniger, was einfach daran liegt, dass ein Publikum fehlt für diese Art von Gestaltung. Gedichte sind heute häufiger als nicht "stumm", sie werden über das Auge aufgenommen, nicht über das Ohr – schon der gewöhnliche Endreim unterliegt oft lediglich einer Blickkontrolle. Und wenn dann noch ein klangliches Ordnungs- und Gestaltungsprinzip verwendet wird, zu dem der Leser keinen Bezug hat, wirkt die Gestaltung oft willkürlich und abweisend (jedenfalls den Rückmeldungen nach, die ich so bekommen habe) – Stabreime mit unterschiedlichen Vokalen zum Beispiel werden gar nicht bemerkt. In Vortragssituationen sah das schon anders aus; aber die meisten Gedichte werden ja (noch?!) geschrieben und gelesen, nicht gesprochen und gehört.

Zum "Alb" schreibe ich bei Gelegenheit im Faden etwas; in Bezug auf Stuffis Anmerkung hier nur, dass ich den Text auch als deutlich zu alternierend empfunden habe, ein Eindruck, den jetzt deine Lesung noch einmal verstärkt hat.

Gruß,

Soleatus
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Hugin_Hrabnaz
Geschlecht:männlich(N)Ich-Erzähler

Alter: 48
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Wohnort: Ulm


Beitrag14.02.2024 18:57

von Hugin_Hrabnaz
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo zusammen.

Der Thread wurde von der Moderation nicht verschoben, also möchte ich ihn zur Vertiefung der Eingangsthematik nochmals anpacken. Wenn er wo anders besser passt, gilt noch immer: Gerne verschieben!

Aktuell arbeite ich mich tiefer in die Techniken der Verfasser der Germanischen Langzeile, und der skaldischen Ansätze des Fornyrðislag, des Ljóðaháttr und vor allem des Galdralag ein. Letzteres ist ein in der eddischen Dichtung beliebtes altnordisches Versmaß, das eine recht typische germanische Langzeile mit Anvers und Abvers enthält, die je jeweils eine betonte stabende Silbe haben, und diese mit einer Vollzeile kombiniert, die in sich stabt und (ggf. leicht modifiziert) wiederholt werden kann. Die Vollzeile hat, soweit ich das verifizieren konnte, vorzugsweise (jedoch nicht ausnahmslos) einen trochäischen Verschluss am Ende.

In der Regel besteht eine Strophe aus sieben Zeilen, nach folgendem Schema:

Strophe:

Langzeile 1, Anvers,
Langzeile 1, Abvers,
Vollzeile 1
Vollzeile 2 (MOD 1)
Langzeile 2, Anvers,
Langzeile 2, Abvers,
Vollzeile 3

Die Silbenzahl pro Zeile ist freigestellt, in der Regel nicht mehr als acht und nicht weniger als drei Silben. Es dürfen auch nichtstabende Silben betont sein (wie im Regelfall die zweite Hebung in An- und Abvers der Langzeile), oder nicht betonte Silben staben, das aber im Sinne eines "Bonus", das Wichtige ist, dass die notwendigen Stäbe gesetzt sind. Ähnlich ist es mit koinzidierenden Binnen- oder Endreimen. Sie sind nicht per se "unzulässig", und kommen mehr oder minder zufällig auch ansatzweise vor, doch sie sind nicht die charakteristischen Merkmale der Versform.

Beispiel aus Hávamál 1:

    Gáttir allar,
    áðr gangi fram,
    um skoðask skyli,
    um skyggnast skyli,
    því at óvíst er at vita,
    hvar óvinir
    sitja á fleti fyrir.

Dieses und ähnliche Versmaße versuche ich für Gedichte und Lieder im Rahmen meines Buchprojekts auf die neuhochdeutsche Sprache zu übertragen bzw. auf dieselbe anzuwenden. Das ist naturgemäß eine gewisse Herausforderung, weil die moderne Sprache silbenreicher und füllwortreicher bzw. hilfsverbreicher ist als das Altnordische und das Althochdeutsche oder Protogermanische, wodurch es zur schwierigen Übung wird, die Stringenz und Prägnanz des Versmaßes mit der erforderlichen Klarheit der Sprache zu vereinen.

Ziel ist es, den altertümlichen Flow der Strophen, die charakteristische Rhythmik zu erhalten, aber gleichwohl den Inhalt in der neuhochdeutschen Sprache verständlich zu präsentieren. Das Maß der Klarheit des Inhalts muss dabei nicht prosaische Dimensionen erreichen. Eine gewisse Mystik und momentane Undurchdringlichkeit darf schon da sein, doch zumindest für den Leser der Bücher und Geschichten, mit einer ansatzweise vorhandenen Backgroundinformation sollten sich die Bezüge dann doch erschließen.

Lediglich zur Veranschaulichung des Vorhabens poste ich hierzu kurz ein Beispiel, an dem ich gerade arbeite. Es ist noch nicht reif für den lyrischen Einstand #2 oder die Werkstatt, daher ist es nicht nötig, zum jetzigen Zeitpunkt auf die inhaltlichen Details oder die sprachliche Ausgefeiltheit einzugehen, mich interessieren mehr grundsätzliche Fragen betreffend den handwerklichen Ansatz und die beabsichtigte Wirkung.

Hier also der Textauszug:

Still harrt die Maid,
am Seegestade dorten,
zu mustern die Male,
zu meiden die Mahre,
ihr Antlitz über der Lache,
die Allvaters Blick füllte,
um die Runen zu raten.

Wie gesagt, es geht mir weniger um das konkrete Werk, als vielmehr um den grundsätzlichen konzeptionellen Ansatz, um die Frage der Übertragbarkeit der alten Form auf moderne Sprache, und dazu würden mich eure Gedanken interessieren.

Wie würdet ihr grundsätzlich an das Projekts herangehen, neuhochdeutsche Lyrik in einem altgermanischen Versmaß zu präsentieren?

Klarstellender Hinweis:
Die feste Metrik der nordischen Dichtung wurde im althochdeutschen Äquivalent nicht so stringent eingehalten (vgl. etwa Merseburg II).
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Soleatus
Reißwolf


Beiträge: 1002



Beitrag16.02.2024 13:14

von Soleatus
Antworten mit Zitat

Hallo Hugin!

Ich habe das ja schon gemacht und bin beim "altgermanischen Versmaß" genauso vorgegangen wie bei allen anderen auch:

1) So viel lesen wie es geht, einmal die eigentlichen Texte, wenn möglich im Original, sonst in kommentierter Übersetzung; dann aber auch Sekundäres, gerne aus dem 19. Jahrhundert. Und schließlich alles, was in der Neuzeit an stabreimenden Texten entstanden ist, also zum Beispiel Jordans "Nibelunge" oder, für alle Herr-Der-Ringe-Fans sicher naheliegender: alles, was Tolkien auf dem Gebiet geschaffen hat (ist ja teilweise sogar übersetzt worden).

2) Sobald halbwegs Klarheit besteht über die Bestandteile der Form: Nachdenken über ihre Funktion im Gesamtrahmen, und dann schon die Übertragung auf die heutige Situation: Was wird unbedingt gebraucht, die Form einem heutigen Leserhörer vermitteln zu können? Was ist ein "Kann, aber muss nicht"? Was schadete eher? Was ist nicht mehr leistbar im heutigen Neuhochdeutsch? Ist es ersetzbar, wenn ja, wie? Dann schließlich die "nicht-metrische Gestaltung"– wie sieht es zum Beispiel mit denn Kenningar aus? Welche Art von Kenning ist heute möglich, welche zumutbar?!

3) Und dann schreiben, schreiben, schreiben, bis eine grundlegende Vertrautheit entstanden ist und sich geklärt hat, welche der zuvor getroffenen Annahmen denn im tatsächlichen Schaffen Bestand haben und welche nur in Gedanken sinnvoll waren, nicht aber beim wirklichen Gestalten.

4) Am Ende kann es losgehen mit dem eigentlichen Vorhaben, wobei dessen Natur natürlich die Schritte davor beeinflusst: Wenn man zum Beispiel eine kleine Verserzählung in einen Roman einfügt, der ohnehin "nordischen Inhalts" ist und mit entsprechenden Lesern rechnet, sind die Voraussetzungen andere, als wenn man zeitkritische Stabreimdichtung für ein allgemeines Publikum schreiben möchte.

Der zeitaufwändigste Teil ist 3), der anstrengenste sicher 2), weil da ja Enscheidungen getroffen werden müssen auf dünner Erfahrungsgrundlage, die dann durch "Versuch un Irrtum" überprüft werden müssen ... Ein Beispiel könnte ich geben anhand deines:

Still harrt die Maid,
am Seegestade dorten,


– "St" stabt bei den Alten nicht auf "s", und das habe ich für mich auch übernommen, weil mir die Laute einfach nicht ähnlich genug sind. Wenn du jetzt sagst, ich mache es trotzdem, nähme ich das so an, empfände es aber als recht harten Eingriff; und auch in Hinblick auf die heutigen Leserhörer, die den Versbau ja erst erkennen und annehmen müssen, scheint mir da Klarheit die bessere Lösung?

– Die stabenden Silben sind in den alten Texten ja allermeist sinntragende Wörter, von daher fällt mir bei "still", "harrt", "Maid" auf, dass die schwächste Silbe stabt, das Adjektiv / Adverb; auch da wäre mein Gedanke dann, dass man diese Entscheidung treffen kann, und sie mich auch nicht übermäßig stört.

– Dann: Es gibt drei Sinnsilben, was ja die "Zweigipfligkeit" des Halbverses verundeutlicht. Das ist dann wieder kitzliger meiner Wahrnehmung nach, weil für mich in der gereihten Langzeile (allerdings nicht unbedingt in der Strophe, oder besser: da habe ich nie gründlich drüber nachgedacht) gerade die Zweigipfligkeit der Halbverse der Kern der Form ist, die dann der Stabreim noch stärker hör- und fühlbar macht.

Vielleicht lohnte es sich, eine kleine Leseliste anzulegen?! Ich kann mir vorstellen, dass ich demnächst gerne wieder einmal in ein Buch zum Thema (gerade ist die Zeit leider knapp) schaue; und vielleicht mag sich ja auch jemand diesen Versen zuwenden, der sie bisher noch nicht so richtig angeschaut hat!

Gruß,

Soleatus
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Hugin_Hrabnaz
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Wohnort: Ulm


Beitrag16.02.2024 17:45

von Hugin_Hrabnaz
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Hallo Soleatus,

danke dir für dein Feedback und deine Bemühungen.

Das ist wirklich sehr hilfreich und detailliert.

Soleatus hat Folgendes geschrieben:

1) So viel lesen wie es geht, einmal die eigentlichen Texte, wenn möglich im Original, sonst in kommentierter Übersetzung; dann aber auch Sekundäres, gerne aus dem 19. Jahrhundert. Und schließlich alles, was in der Neuzeit an stabreimenden Texten entstanden ist, also zum Beispiel Jordans "Nibelunge" oder, für alle Herr-Der-Ringe-Fans sicher naheliegender: alles, was Tolkien auf dem Gebiet geschaffen hat (ist ja teilweise sogar übersetzt worden).

Ich lese gerne die altnordischen Originale im Codex Regius, Sekundärliteratur von Snorri et al. oder isländische und norwegische Übersetzungen, oder Karl Simrock für die deutsche Version. Tolkien eh. Aber auch viele Sachen aus neopaganen Umfeldern und Texte aus Pagan/Viking-Metal/Folk-Musik. Sicherlich ein wichtiger Ansatz, sich an die Systemik zu gewöhnen.

Zitat:

2) Sobald halbwegs Klarheit besteht über die Bestandteile der Form: Nachdenken über ihre Funktion im Gesamtrahmen, und dann schon die Übertragung auf die heutige Situation: Was wird unbedingt gebraucht, die Form einem heutigen Leserhörer vermitteln zu können? Was ist ein "Kann, aber muss nicht"? Was schadete eher? Was ist nicht mehr leistbar im heutigen Neuhochdeutsch? Ist es ersetzbar, wenn ja, wie? Dann schließlich die "nicht-metrische Gestaltung"– wie sieht es zum Beispiel mit denn Kenningar aus? Welche Art von Kenning ist heute möglich, welche zumutbar?!

Auch hier bin ich bei dir. Es gibt sicherlich Kenningar, die auch den meisten Menschen mit sowohl sprachhistorischen als auch neopaganen Interessen nicht ohne Weiteres nachvollziehbar sind. Dafür gibt es Fügungen, die als neologische Kenningar taugen, weil sie ein moderner Leser versteht, ein damaliger Leser jedoch nicht verstanden hätte. Lässt sich dann nur kontextabhängig am Einzelfall bewerten.

Zitat:

3) Und dann schreiben, schreiben, schreiben, bis eine grundlegende Vertrautheit entstanden ist und sich geklärt hat, welche der zuvor getroffenen Annahmen denn im tatsächlichen Schaffen Bestand haben und welche nur in Gedanken sinnvoll waren, nicht aber beim wirklichen Gestalten.

Absolut. Gefühl entsteht nur duch Übung. Und durch Reflexion. Letzterer vor allem soll der Thread dienen.

Zitat:

4) Am Ende kann es losgehen mit dem eigentlichen Vorhaben, wobei dessen Natur natürlich die Schritte davor beeinflusst: Wenn man zum Beispiel eine kleine Verserzählung in einen Roman einfügt, der ohnehin "nordischen Inhalts" ist und mit entsprechenden Lesern rechnet, sind die Voraussetzungen andere, als wenn man zeitkritische Stabreimdichtung für ein allgemeines Publikum schreiben möchte.

Auch sinnig. Bei mir ist klar, dass die Primärzielgruppe von allem, was ich so mache, zumindest ein gewisses Grundinteresse an heidnisch-germanischem Kontext mitbringt, und zum Großteil auch mit eddischen Inhalten, Überlieferungen und Sprachformen vertraut ist oder zumindest an ihnen interessiert. Wollte ich zeitkritische Inhalte in alte Formen fassen, was auch ein spannender Ansatz ist, wären die Anforderungen sicherlich anders gelagert.


Zitat:

Der zeitaufwändigste Teil ist 3), der anstrengenste sicher 2), weil da ja Enscheidungen getroffen werden müssen auf dünner Erfahrungsgrundlage, die dann durch "Versuch un Irrtum" überprüft werden müssen ... Ein Beispiel könnte ich geben anhand deines:

Still harrt die Maid,
am Seegestade dorten,


– "St" stabt bei den Alten nicht auf "s", und das habe ich für mich auch übernommen, weil mir die Laute einfach nicht ähnlich genug sind. Wenn du jetzt sagst, ich mache es trotzdem, nähme ich das so an, empfände es aber als recht harten Eingriff; und auch in Hinblick auf die heutigen Leserhörer, die den Versbau ja erst erkennen und annehmen müssen, scheint mir da Klarheit die bessere Lösung?

Das ist völlig richtig. Außer vielleicht, man spräche das "st" so aus, wie Altkanzler Schmidt im norddeutschen Platt, dann würde es eher staben, aber im Standarddeutsch stabt es nicht, weil der stimmlose alveolare Frikativ [ s ] eben nicht dem ​stimmlosen postalveolaren Frikativ [ ʃ ​] entspricht, der ja sowohl im Protogermanischen als auch im Altnordischen ganz fehlt. Das hatte ich sogar beim Verfassen ganz kurz im Hinterkopf, es dann aber tatsächlich vergessen anzugleichen. Gerade im germanischen Bereich ist es sicher besonders grundlegend wichtig, phonemgetreu zu arbeiten, da das gemeingermanische Futhark ja auch eine phonemgetreue Buchstabenschrift ist. Die nordischen Futharke waren da zwar deutlich "liberaler" und ordneten einer Rune mehrere Phoneme zu, weshalb in eddischen Versen gerne gerade im Vokalbereich auch mal "O" mit "Á" staben kann, aber durch das Fehlen des [ ʃ ​]-Lautes wird es mit dem neuhochdeutschen "st" und "sp" tatsächlich immer hakelig.

So oder so, ja, ich bin bei dir: "S" und "SCH" sollten nicht staben.



Zitat:

– Die stabenden Silben sind in den alten Texten ja allermeist sinntragende Wörter, von daher fällt mir bei "still", "harrt", "Maid" auf, dass die schwächste Silbe stabt, das Adjektiv / Adverb; auch da wäre mein Gedanke dann, dass man diese Entscheidung treffen kann, und sie mich auch nicht übermäßig stört.

Okay. Auch das huschte mir immer wieder durch den Kopf, und ich teile die Ansicht, dass idealerweise die Nomina von Anvers und Abvers der Langzeile staben, wobei das tatsächlich relativ schwer stringent umzusetzen ist, nach heutigen Sprachgewohnheiten. Vor allem des bestimmten Artikels wegen, der im Protogermanischen, Althochdeutschen, Altnordischen meist wegfällt. Mit etwas Hirnschmalz sicherlich möglich, indes.



Zitat:

– Dann: Es gibt drei Sinnsilben, was ja die "Zweigipfligkeit" des Halbverses verundeutlicht. Das ist dann wieder kitzliger meiner Wahrnehmung nach, weil für mich in der gereihten Langzeile (allerdings nicht unbedingt in der Strophe, oder besser: da habe ich nie gründlich drüber nachgedacht) gerade die Zweigipfligkeit der Halbverse der Kern der Form ist, die dann der Stabreim noch stärker hör- und fühlbar macht.

In der Tat knifflig. Bei der Vollzeile klappt das ganz gut, bei der Langzeile deucht es komplexer, wegen des gewohnten S-P-O-Schemas, das gefühlt wenigstens in den Anvers drängt. Aber ja, die Referenzstrophe aus Hávamál ist durchgängig zweigipflig gestaltet, mein Versuch hat zumindest im 1. Anvers drei Gipfel, was untypisch ist.


Unter Berücksichtigung deiner Anmerkungen wäre es vielleicht so stimmiger:


Es harrt am Gestade,
sorglos die Hagre,
zu mustern die Male,
zu meiden die Mahre,
im Antlitz des Spiegels,
des Allvaters Kunde,
zu raunen, zu raten.

Damit hätten wir

a) die Phonem-Dissonanz in der ersten Langzeile beseitigt,
b) alle 7 Zeilen auf eine Zweihebigkeit ("Unterstrich") umgestellt und
c) die Stäbe ("Fettdruck") nach einem klassischen Galder-Schema verteilt.

Inhaltliche Anmerkungen:

(1)
"Die Hagre" ist in der Geschichte, zu welcher der Vers gehört, eine Art Kenning bzw. Heiti für die Protagonistin, eine junge Frau, zur Wintersonnwend geboren, die von ihren Mentoren (einem Goden und einer Seidhr-Frau) abgeleitet von protogermanisch "Hagra Swestera" also sinngemäß "jüngere/hagere/kleine/schmächtige Schwester" genannt wird.

(2)
Sie sinniert an einem See über die Wunden, die sie erlitten hat, und über die Visionen/Albträume ("die Mahre"), die sie plagen; ist dabei aber sorglos dergestalt, dass sie nicht ahnt, dass der See ein Portal nach Albenheim (also "zu den Mahren" in Person) sein kann.

(3)
Der See wiederum ist auch Sinnbild für Mimirs Brunn, der widerum mit der Allsichtigkeit des Allvaters im Zusammenhang steht, und andeuten, dass die Hagra Swestera über ihre Bestimmung sinniert (zu raunen, zu raten). Twist ist am Ende, dass sie möglicherweise eine seherische Gabe haben soll, die sie jedoch erst entdecken und entwickeln wird müssen, was am Ende irgendwann den Bogen zur eddischen Völsuspá und dem Dialog zwischen Odin und der Völva über Ragnarök schlagen soll.

Das nur als Background, um zu verstehen, wohin die Story will, und welchen zweck die Versdichtung bebildern soll.


Zitat:

Vielleicht lohnte es sich, eine kleine Leseliste anzulegen?! Ich kann mir vorstellen, dass ich demnächst gerne wieder einmal in ein Buch zum Thema (gerade ist die Zeit leider knapp) schaue; und vielleicht mag sich ja auch jemand diesen Versen zuwenden, der sie bisher noch nicht so richtig angeschaut hat!

Gruß,

Soleatus

Tolle Idee, wobei ich halt vor allem Primärliteratur habe und kenne, und deren Übersetzungen, recht wenig Sekundärliteratur. Aber ich schaue auch mal, was sich findet.


Nochmals tausend Dank. Es macht sehr viel Freude deine Anmerkungen zu lesen, vor allem, weil du dich eben selbst intensiv mit derartiger Lyrik befasst hast. Diese Chance hat man recht selten.

Liebe Grüße,
Hugin.
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Soleatus
Reißwolf


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Beitrag17.02.2024 23:26

von Soleatus
Antworten mit Zitat

Hallo Hugin!

Ich habe einfach einmal einen Faden für die Literatur aufgemacht, siehe: Lesenswertes zur germanischen Verskunst. Wenn du etwas gefunden hast, kannst du es ja dort reinpacken?!

Ansonsten lasse ich mich da langsam wieder reintreiben ... Hast du eine Meinung zu diesem Video?

Ljóðaháttr and Galdralag

In Bezug auf das Galdralag werden da einige zusätzliche Freiheiten beschrieben; machen die Sinn?!

Zu allem anderen, falls ich jemals wieder Zeit für irgendetwas haben sollte .... (In den Trash habe ich schnell noch eine Kleinigkeit eingestellt aus der Zeit, als ich mich eingeschrieben habe: Sommergedanken. Unter deinem Text in der Werkstatt melde ich mich Anfang der Woche!)

Gruß,

Soleatus
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Hugin_Hrabnaz
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Beitrag18.02.2024 21:02

von Hugin_Hrabnaz
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Auch hier nochmal vielen Dank für den Quellenthread, Soleatus.

Schön, dass du dich dem Thema wieder etwas mehr annähern magst. Man findet nicht leicht jemanden, der dieses Interesse teilt.

Oh, du verlinkst als Video auch Dr. Jackson Crawford. Dieses Video hatte ich zuvor noch nicht gesehen, aber ich werde es mir heute Abend noch anschauen. Crawfords Videos an sich sind aber ein langjähriger Begleiter meiner Recherchen zu allerlei Themen im Zusammenhang mit Skandinavistik und Altgermanistik. Habe sehr viele seiner YT-Videos gesehen und fand die meisten davon spannend, unterhaltsam und lehrreich. Daher habe ich ihn auch im Quellenthread verlinkt.

EDIT:
Zum Video, das einen zweiten Teil hat, in welchem er sich an einer Übertragung der Ljóðaháttr-Metrik ins moderne Englisch versucht, denke ich, dass er die Regeln an sich gut wiedergibt und auch schön an Beispielen aufzeigt. Das hat meines Erachtens schon Hand und Fuß, weil er wohl auch die Arbeit von Seiichi Suzuki dazu studiert haben dürfte. Die Übertragung in (sehr) modernes Englisch in Teil 2b seines Videos ist dann allerdings teils sehr frei. Das ist vielleicht nötig, um die in die Systematik gepressten Inhalte für moderne Ohren halbwegs begreifbar und verstehbar zu machen, auf der anderen Seite, würde ich persönlich schon eine etwas näher am überlieferten Schema liegende Modernisierung versuchen wollen.

Hier Teil 2b des Videos:
https://www.youtube.com/watch?v=xW1fZxkuj5M

Zu den Sommergedanken auch später noch was.

Gruß,
Hugin.
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