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Ankunft am Heiligen Abend


 
 
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HansGlogger
Geschlecht:männlichKlammeraffe
H

Alter: 65
Beiträge: 615
Wohnort: Bayern


H
Beitrag30.12.2023 13:43
Ankunft am Heiligen Abend
von HansGlogger
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Eine verspätete Weihnachtsgeschichte ist wie ein Stollen zu Neujahr. Ich weiß.
Ich wiederhole sie hier, weil im Adventskalender negative Kritik nicht geäussert werden sollte und ich auch offene Rückmeldungen möchte. Und ich möchte sie in meinem Profil haben.
Was ist nicht auslösen will, ist eine Neuauflage des berühmt-berüchtigten Götterthreads.


Ankunft am Heiligen Abend

Heiligabend gegen achtzehn Uhr klingelt es an der Haustüre. Ich öffne, vor mir steht ein Paar, die Frau sehr jung, mit Kopftuch und hochschwanger, der Mann, etwas älter, trägt einen Vollbart mit ersten grauen Spitzen.
»Wir sitzen hier in der Stadt fest und finden kein Hotel mehr. Können Sie uns helfen?«, fragt sie. Ich biete an, sie mit dem Auto heimzufahren ¬  geht nicht, sie wohnen Hunderte von Kilometern entfernt, sagen sie. Bahnhof? Die Lokführer streiken, kein Zug fährt mehr.

»Wie sind Sie denn hier gelandet?«, frage ich.
»Wir hatten einen Termin beim Finanzamt. Mein Verlobter besitzt eine Zimmerei, schon seit Generationen in der Familie, und wir wollen sie dieses Jahr, noch vor der Hochzeit, in eine GmbH umwandeln. Das Finanzamt hat uns zu den Unterschriften persönlich einbestellt. Dummerweise ist der Firmensitz immer noch hier und mein Verlobter und ich mussten in die Stadt seiner Vorväter zurückkehren. Als wir endlich fertig waren, kam die Nachricht vom spontanen Streik. Alle Hotels sind ausgebucht oder wegen Personalmangels geschlossen«, erklärt sie weiter.
»Dann kommen Sie erst mal rein«, antworte ich, »Sie können ja versuchen, Freunde oder Verwandte in der Nähe anzurufen.« Meine Frau bittet sie an den Tisch, vollbesetzt mit den Familien unserer Kinder, und bietet ihnen Essen an, das sie gerne annehmen.
»Wir kennen niemand hier. Können wir vielleicht bei Ihnen über die Nacht bleiben?«, fragt die Fremde schüchtern.

Wir haben absolut keinen Platz, alle Räume sind mit den Besuchern belegt. Aber da ist das Gartenhaus.
»Dieses Jahr habe ich einen alten Stall meiner Oma umgebaut. Da steht ein breites Bett. Ich habe Strom und Wasser rüber gelegt, Heizung gibt es und ein kleines Bad ist auch eingerichtet. Früher war es ein Stall für Hühner und Ziegen, jetzt ist es ein richtiges Gästehaus. Das könnte ich Ihnen anbieten. Das Motorrad meiner Oma steht noch dort, das schieben wir raus«, antworte ich. Die beiden strahlen mich an.

»Vielen tausend Dank für Ihre Gastfreundschaft. Wir heißen übrigens Maria und Josef«, erwidern sie.
»Alles andere hätte mich auch gewundert«, gebe ich zurück.
Sie essen mit uns, reden nicht viel und betrachten lächelnd die Enkel, die jauchzend Geschenke auspacken.
Nach dem Familienmahl löschen wir das Licht und singen im Kerzenschein „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Draußen schweben riesige Schneeflocken langsam zu Boden.
»Schnee an Weihnachten. Das ist ein Wunder«, sage ich in die andächtige Stille hinein.
»Es wird ein weiteres geschehen, noch in dieser Nacht, ein unendlich größeres«, antwortet Maria leise.
Die Kinder schlafen nach und nach, ermattet von Freude, auf dem Teppich ein. Der Hund schnarcht schon länger mit vollem Bauch vor sich hin. Die beiden stehen auf, bedanken sich mehrmals und bitten mich, ihnen ihre Unterkunft zu zeigen.

Es fällt kein Schnee mehr, am klaren Himmel sehen wir einen außergewöhnlich hellen Stern, der direkt über der Hütte leuchtet. Ich deute stumm auf ihn.
»Eine scheinbare Vereinigung von Jupiter und Saturn, eine Konjunktion. Sie kommt selten vor, alle zwanzig Jahre im Durchschnitt. Etwa alle vierhundert Jahre geschieht dies dreimal in einem einzigen Jahr. Wir hatten eine dreifache Konjunktion um das Jahr eins herum«, erklärt Josef.
Ich betrachte fast ehrfürchtig den Stern.
»Dieses Jahr übrigens auch«, sagt Maria.
Josef und ich schieben das Motorrad aus dem Stall. Lachend zeige ich auf eine alte Futterkrippe für die Ziegen.
»Die Krippe wäre da, mit Heu und Windeln kann ich leider nicht dienen.«
»Windeln wird er nicht benötigen«, antwortet Maria schmunzelnd.
»Sie haben ein Handy. Rufen Sie mich jederzeit an, wenn Sie etwas brauchen«, sage ich zum Abschied und gebe ihnen meine Visitenkarte.
Das Telefon lege ich neben das Bett, stelle es auf laut und schaue noch kurz im Internet, was als Ersthelfer bei einer plötzlichen Geburt zu tun wäre, bis der Rettungswagen eintrifft. Doch nachts bleibt es völlig ruhig.

Früh am nächsten Morgen lasse ich den Hund in den Garten, damit er sein Geschäft verrichte. Er hebt das Bein, wittert Richtung Hütte, rennt hin, bellt und kratzt aufgeregt an der Türe. Nach mehrmaligem Rufen trottet er zu mir zurück. Er will nicht ins Haus, sondern stößt mich immer wieder mit der Schnauze an. Schließlich zerre ich ihn in das Wohnzimmer. Dort kratzt er winselnd an der Terrassentür. Nach einer Viertelstunde gebe ich seinem Drängen nach. Er stürmt zur Hüttentür und kratzt wieder an ihr. Ich klopfe behutsam an. Eine Männerstimme fordert mich zum Eintreten auf. Drei Personen sitzen am Campingtisch in der Mitte des Raumes: Maria, Josef und ein Unbekannter, Anfang dreißig, lange Haare, Vollbart. Er trägt eine Art Tunika aus Wolle, die von einem Ledergürtel zusammengehalten wird, darunter ein Gewand aus Leinen. In der Mitte des Tisches steht eine große Holzplatte voller orientalischer Köstlichkeiten. Daneben ein Korb mit Fladenbrot und ein Tonkrug. Marias Umstandskleid hängt lose an ihrem Bauch. Ich schaue, ob auf dem Bett ein Kissen liegt, das sie vielleicht darunter trug. Nichts. Vielleicht ein Luftballon? Schnell trete ich einen Schritt zurück und stehe zum Rückzug bereit an der Türe. Der Hund drängelt an mir vorbei zum Fremden, stößt ihn mit der Schnauze an, bis er ihn streichelt. Dann lässt er sich zu seinen Füßen nieder. Noch nie habe ich das bei ihm gesehen, sonst ist er gegen Fremde immer zurückhaltend und misstrauisch.

»Wer sind Sie, bitte? Und wo ist das Kind?«, frage ich.
»Es ist kompliziert. Er gehört aber zu uns«, sagt Maria.
»Sehr kompliziert! Das mit dem Kind auch«, ergänzt Josef.
Der Unbekannte steht auf und hebt beide Arme wie zum Segen.
»Fürchte dich nicht! Ich verkünde dir eine große Freude, ich bin gekommen, der Welt Frieden zu bringen«, begrüßt er mich.
Haben die was geraucht? Tief ziehe ich die Luft ein, rieche den Duft der Speisen und meine, den wohlbekannten Geruch frischen Heus wahrzunehmen, der auch vom Gewand des Fremden ausgehen könnte.
»Lasse dich nieder, iss und trinke mit uns«, lädt er mich ein. Maria leert den Krug bis zur Neige in den Becher auf dem freien Platz am Tisch.

»Wir haben keinen Wein mehr!«, sagt sie und reicht dem Vollbärtigen den Tonkrug. Der füllt ihn am Wasserhahn auf.
»Eigentlich muss ich gleich zurück. Meine Familie wartet.«
»So nimm einen Bissen Brot und trink einen Becher Wein. Du wirst erzählen können, dass du bei unserem ersten Morgenmahl dabei warst«, erwidert er. Ich setze mich auf den freien Stuhl, reiße ein Stück Fladenbrot ab und trinke aus dem einfachen Tonbecher den besten Wein, den ich je gekostet habe.
»Wenn ich euch zum Bahnhof oder sonst wohin bringen soll, gebt mir bitte Bescheid!«, sage ich.
»Danke. Wir haben schon ein Taxi bestellt«, erwidert Maria.
»Fahren die Züge wieder?«
»Unser Weg führt zum Flughafen«, antwortet sie.
»Wohin geht denn die Reise?«

»Nach New York zur UNO. Heute noch werde ich die Weltherrschaft übernehmen und meiner Herrschaft wird kein Ende sein. Heute noch werden alle Kriege enden. Heute noch werden Hunger oder Durst für immer vorbei sein«, antwortet der Unbekannte.
»Dein Wort in Gottes Ohr!«, erwidere ich trocken.
»Der war gut!«, rufen Maria und Josef und lachen laut.
»Na hoffentlich wird er bei der Ankunft nicht sofort verhaftet. Die verstehen dort keinen Spaß«, sage ich.
»Das wird nicht geschehen. Warte nur! Heute Abend werden Internet, TV-Sender und Radiostationen unter der Flut der Meldungen aus aller Welt zusammenbrechen. Sehen und hören werden ihn trotzdem alle. Und nun gehe hin in Frieden«, antwortet Josef. Ich stehe auf und rufe den Hund, der hebt nur kurz den Kopf.
»Lass ihn hier bis wir aufbrechen!«, sagt der Fremde.

Eine Stunde später fährt das Taxi vor. Maria und Josef gehen voran. Mit einfachen Ledersandalen an den nackten Füßen stakst der Fremde hinter ihnen durch den Schnee, wie ein Storch, der den Zug seiner Artgenossen in den Süden verpasst hat.
Weltfriede und genug Nahrung für alle. Das wäre ein guter Anfang vom Ende der Menschheitsgeschichte. Möget Ihr Erfolg haben, rufe ich ihnen in Gedanken nach.

Anmerkungen
Hier einige Bibelstellen und andere Texte, auf die die Geschichte Bezug nimmt. Die Quelle ist teilweise Wikipedia.
Zum ersten Teil bis zum morgendlichen Treffen in der Hütte.
Weihnachtsevangelium nach Lukas
„Es geschah aber in jenen Tagen, dass Kaiser Augustus den Befehl erließ, den ganzen Erdkreis in Steuerlisten einzutragen. Diese Aufzeichnung war die erste; damals war Quirinius Statthalter von Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete. Es geschah, als sie dort waren, da erfüllten sich die Tage, dass sie gebären sollte, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.“  Lk- 2,1–7
Zimmerei
Josef war nach dem biblischen Bericht Zimmermann
Zum Titel und dem zweiten Teil
Advent (lateinisch adventus „Ankunft“), eigentlich adventus Domini (lat. für Ankunft des Herrn), bezeichnet die Jahreszeit, in der die Christenheit sich auf das Fest der Geburt Jesu Christi, Weihnachten, vorbereitet. Zugleich erinnert der Advent daran, dass Christen das zweite Kommen Jesu Christi erwarten sollen.
Begrüßung des „Fremden“ nach Lk- 2,8–14
8 In dieser Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde. 9 Da trat ein Engel des Herrn zu ihnen und die Herrlichkeit des Herrn umstrahlte sie und sie fürchteten sich sehr. 10 Der Engel sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll. … 13 Und plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach: 14 Ehre sei Gott in der Höhe / und Friede auf Erden / den Menschen seines Wohlgefallens.
Weihnachtsstern
https://de.wikipedia.org/wiki/Stern_von_Betlehem#Konjunktionstheorien
Wasser zu Wein
Die Hochzeit zu Kana ist die erste Wundererzählung aus dem Neuen Testament. Sie berichtet davon, wie Jesus von Nazaret auf Bitte Marias hin als Gast einer Hochzeitsfeier Wasser in Wein verwandelte (Joh 2,1–12 EU).



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Wenn keiner ja sagt, sollt ihr's sagen.
Wenn keiner nein sagt, sagt doch nein.
Wenn alle zweifeln, wagt zu glauben.
Wenn alle mittun, steht allein.
Lothar Zenetti, Was keiner wagt
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