Einstand: Vaters Befreiung

[abentroth]

Vaters Befreiung

Er wartete, bis Vater das Haus verlassen hatte und oben das Wasser nicht mehr lief. Dann stieg er die Stufen hinauf, vorbei an den Bildern der Eltern vor der Kirche, von ihm mit der Schultüte im Arm, von Vaters erstem Wagen, von Mutter am Strand im Jahr vor ihrem Tod.
   Jede Stufe nahm er ein wenig schneller, rannte, oben angekommen, den Flur entlang zum Bad, trat ein und drückte Großmutters Kopf unter Wasser.
   Er war schnell, aber ihr blieb noch Zeit für einen Blick voll kalter Wut, ehe ihr Gesicht unter dem Badeschaum verschwand. Sie zappelte, jedoch nur schwach und nicht lange. Er hielt sie ohne Mühe unten, bis das Wasser kälter wurde und die Bläschen im Schaum zu platzen begannen.
   Es roch nach Fichtennadeln, er erinnert sich genau.

Die Tage danach war er voller Erwartung. Er dachte oft an den Blick, den ihm Großmutter im Bad noch hatte zuwerfen können: kein Erschrecken, keine Angst. Nur Wut. Mit ihrem Zorn hatte sie seinen Vater beherrscht. Er war froh, dass sie fort war. Doch es änderte sich nichts.
   Vater bereitete die Beerdigung vor. Oft stand er mit Dokumenten in der Hand im Wohnzimmer oder in der Küche und fragte Großmutter um Rat. Sie antwortete nicht, natürlich nicht, und dann seufzte er und legte die Papiere zur Seite.
   An ihrem Grab weinte Vater und legte eine weiße Rose auf ihren Sarg, trank viel zu viel beim Beerdigungskaffee und erhängte sich eine Woche später in der Garage. Sie nahmen ihn ab, betteten ihn auf eine Bahre und legten ein Laken über ihn. Er sah zufrieden aus, als sein Gesicht unter dem Stoff verschwand.
   Sie trugen ihn hinaus, und er blieb neben ihm.
   "Du hättest so frei sein können", flüsterte er.
   Ein frischer Wind kam auf. Es roch nach Frühlingsblüten, er erinnert sich genau.

[Pickman]

Wow! Kein Wort zu viel, keines zu wenig und jedes einzelne perfekt gewählt.

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einen Text im Einstand oder woanders im Forum gesehen hätte, bei dem ich nichts zu nörgeln fand.

[Dyrnberg]

Sehr, sehr stark, meinem Empfinden nach. Gerade der erste Absatz ist wunderbar komponiert.

[abentroth]

@Pickman, @Dyrnberg - lieben Dank für Eure Zeit und das positive Feedback!

Gruß,
abentroth

[schollek]

Sehe ich, leider, anders.
2.Satz ab..... vorbei überflüssig.
Wer empfindet kalte Wut, nicht Todesangst, wenn er unter Wasser gedrückt, ermordet wird? Wenn doch, braucht es eine Begründung.
Mit ihrem Zorn....... ab da
Für den Leser völlig unverständlich.
Jetzt bin ich aus dem Text raus.

Nichts für ungut, nur meine 2 Groschen
,

[Ralphie]

Warum keine Namen?

"Er" könnte auch der weibliche Vorkoster sein. Aber okay, Ernest Hemingway hat seinen "Alten Mann und das Meer" auch mit "Er" angefangen.

[Günter Wendt]

Ein sehr dichter und erschreckend ehrlicher Text.
Klingt für mich nach Weltliteratur.
Manchmal wundere ich mich, wieviele Talente hier im Forum verschwendet werden. Leute, macht mehr aus euch! Traut euch. Lasst euch nicht von Kritik plattwalzen.

[abentroth]

[abentroth]

[Ralphie]

O.k.

[abentroth]

[Fistandantilus]

[Günter Wendt]

[abentroth]

[abentroth]

[Günter Wendt]

[nebenfluss]

[Haro]

Hallo abentroth!

Beim erten Lesen dachte ich noch, es ruppelt an manchen Stellen, aber beim zweiten und dritten Lesen fand ich es dann doch passend.
Man muss sich auf den Text einlassen, dann kann er seine Wirkung entfalten.
Also mir gefällt er.

Viele Grüße
Haro

[Günter Wendt]

[abentroth]

@nebenfluss, @Haro

Danke für Eure Lesezeit und Euere Kommentare!

Gruß,
abentroth

[Günter Wendt]

[Arminius]

Ich kann Scholleks Kritik nicht nachvollziehen.
Warten (statisch), hinaufsteigen (Bewegung beginnt verhalten), Temposteigerung bis zum Rennen - das passt.
Die chronologische Bildfolge bis "Tod" - das passt.
Warum passt es? Weil es die völlig unerwartete, unvermittelte und erschreckende Tat im dritten Satz genial vorbereitet. Ich finde beim schlechtesten Willen keinen kritikwürdigen Punkt.

Über die Wut bin ich zuerst auch gestolpert. Doch wenn man sich die unerhörte Schnelligkeit des Geschehens vergegenwärtigt, macht es durchaus Sinn: der Enkel stürmt überraschend ins Bad (eklatante Missachtung der Privatsphäre), die Oma, die wahrscheinlich eine tiefe Abneigung gegen ihn hegt, erkennt ihn. Die erste Reaktion kann nur Wut sein, denn sie wird kaum geahnt oder gar gewusst haben, was er mit ihr vorhat. Für alles andere fehlt ihr schlicht die Zeit. Ein rascher Schritt, ein zu allem entschlossener Griff - zack, erledigt. Da bleibt keine Zeit für Stimmungswechsel.
So sehe ich das.
Gefällt mir ausgesprochen gut!