Tretbootliteratur - Deutsches Schriftstellerforum

Toter Mann / Ganzkörperschwebe

Sie schwimmt auf den See hinaus, mit kräftigen Zügen. Lässt das Toben und Kreischen hinter sich und das aufgewühlte Wasser. Draußen ist der See ruhig. Kein Wind, keine Wellen.
Auf dem Rücken treibend sieht sie in den Himmel hinauf. Dort ziehen die Toten an ihr vorbei. Einer nach dem anderen. Die meisten kennt sie nicht, hat sie noch nie gesehen. Die Toten ziehen an ihr vorüber in einer langen Reihe, einem endlosen Marsch. Es scheint verdammt viele von ihnen zu geben.
Nie hält mal einer an, immerzu sind sie in Bewegung, als hätten sie ein gemeinsames Ziel. Sie hätte gedacht, wenn man tot ist, dann war es das. Dann ist das Rennen endlich vorbei und es gibt nichts mehr zu tun. Am Ziel angekommen.
Wo geht ihr hin?, hat sie einmal gefragt. Aber wenn sie Fragen stellt, verschwinden die Toten. Wenn sie Fragen stellt, kommt sie aus dem Gleichgewicht, muss mit Armen und Beinen rudern, um sich über Wasser zu halten.
Daher behält sie ihre Fragen lieber für sich. Zum Beispiel die nach der Ordnung. Ob es eine gibt, ob die Toten in bestimmte Gruppen eingeteilt sind. Vielleicht gibt es einen Einweiser. Die Verkehrstoten, jetzt bitte die Verkehrstoten! Noch jemand an Krebs verstorben, bitte jetzt einreihen!

„Ich sehe die Toten vorüber ziehen“, hat sie zu ihrer Therapeutin gesagt.
„Ahja“, hat diese geantwortet. Keine Therapiestunde ohne dieses Ahja. Es gab schon sehr viele Therapiestunden. Mittlerweile weiß sie manchmal schon vorher, welche Frage die Therapeutin als nächstes stellt. Manchmal antwortet sie auf diese ungestellte Frage.
„Nein“, sagt sie. „Meine Mutter war bisher nicht dabei.“
„Ahja.“

Niemand sonst scheint die Toten zu sehen. Vielleicht muss man dazu allein sein, auf dem Rücken liegen, sich auflösen. Die anderen, die allein auf dem See sind, konzentrieren sich aufs Schwimmen. Bewegung, etwas für die Gesundheit tun, für den nächsten Triathlon trainieren. Immer einen Grund, immer etwas vor Augen haben. Und die wenigen, die sich ebenfalls treiben lassen, tun es auf ihrer Luftmatratze. Vielleicht mögen die Toten keine Luftmatratzen.

„Die Toten scheinen ein Ziel zu haben“, hat sie zu ihrer Therapeutin gesagt.
„Ahja. Was glauben Sie, könnte das sein?“
Woher soll sie das wissen, sie hat es noch nicht einmal im Leben geschafft, ein Ziel zu haben. Vielleicht ist das der Himmel: endlich ein Ziel.
Irgendwas hat sie antworten müssen, mit der Therapeutin ist nicht gut schweigen.
„Ein neues Leben?“, hat sie geantwortet. „Wiedergeburt?“
Oh Gott, hat sie gedacht und den Kopf geschüttelt. Alles, nur das nicht. So hat sie sich den Himmel nicht vorgestellt. Dass es einfach wieder von vorn losgeht.