was ein mensch braucht

[christof]

Die Wahrheit ist, dass ich mich erinnern kann, als wäre es gestern gewesen. Und es erfolgt nicht die leiseste Erschütterung. Alles bleibt wie es ist. Ich dachte immer, ich würde ersaufen, wenn es beginnt. Stattdessen wundere ich mich.

Es müssen jetzt eineinhalb Jahrzehnte her sein, da ich die Eingangshalle des Internats betrat und mich fragte, wie es sich anfühlen mochte, kein Anfänger mehr zu sein. Ich hatte mich zum Herbstsemester des Jahrganges 1992 in die Dantoner Universität eingeschrieben. Die Semesterferien waren vorüber und die Studenten kehrten in die Stadt zurück. Meine Füße trugen mich zu einer Glasscheibe, hinter der ein Mädchen und zwei Kerle saßen. Als ich mich erkundigte, ob ich bei ihnen wegen des Zimmers richtig sei, schien ich zu stören und war froh, dass sie überhaupt reagierten.

“Name”, sagte das Mädchen.

“Konstantin Simon Morgan”, antwortete ich und hörte, wie sie in etwas blätterte. Darauf verschwand sie hinter einem Schrank. Als sie zurückkehrte, blinkte in ihrer Hand ein Schlüssel. Sie ließ ein abgegriffenes Buch vor mir aufs Bord fallen, legte den Finger auf eine Stelle und sagte:

“Unterschreiben.” Dabei sah sie durch mich hindurch und schob mit ihrer Zunge einen Kaugummi zwischen die Lippen. Ich unterschrieb unmittelbar neben ihrem Fingernagel. Sie warf mir den Schlüssel zu und ich einen Blick auf die eingefrästen Zahlen.

-Ich bin 9-3-7-, dachte ich und lief zu den Aufzügen. Ich wiederholte die Ziffern in Gedanken und überlegte, ob sie mir etwas sagten. Manchmal taten Zahlen das, womit ich nicht sagen will, dass ich ein Hellseher wäre. Es war eher wie ein altes Spiel. Ich spürte den kantigen Schlüssel zwischen meinen Fingern und wunderte mich, wie einfach es gewesen war. Dieses kleine Ding war ja nicht alles. Es hing ein Raum daran. Ein Raum für mich.

Bei allem was ich in der Folge tat, kam ich mir vor, als würde ich mich verlaufen, bei jedem Schritt ein Stück weiter. Mich umgab ein Wald von fremden Gerüchen, dass ich dazu überging, flach durch den Mund zu atmen. Ob ich in den Lift trat, mit seinem schräg und etwas tiefer hängendem Fußboden, dessen Dekor längst unzählige Sohlen in aller Herren Ländern getragen hatten, ob ich die Brandlöcher von Zigaretten an den Wänden besah, verziert mit darüber gekritzelten Schamhaaren und von Phalli bedrängt (bis dahin war mir verborgen geblieben, welch vielfältige Darstellungsvarianten sich diesem Thema boten), oder ob ich später durch den lichtlosen Korridor lief, überall hatte ich das Empfinden in einer fremden Intimsphäre zu schwimmen, wie ein verirrter Keim.

Als ich plötzlich vor einer Tür mit meiner Nummer stand, war ich bestürzt eine Spur vorzufinden, die ich selbst gelegt hatte, in diesem Buch, dessen Seiten meine Unterschrift bargen, hier, wo ich verkehrt sein musste. Ich stand vor einem neuen Teil meiner selbst, als hätte dieser sich aufgetan wie ein verborgener Schlund. Es kam mir so unwirklich vor, dass ich mich wunderte, tatsächlich das kalte Metall eines Knaufs zwischen den Fingern zu spüren, als ich die Tür öffnete.

[Ralphie]

Ausgezeichnet.  

[Gast]

Kann mich nur anschließen. Sehr dichte Atmosphäre. Durch die ersten Sätze erwartet man nun eine Katastrophe.

[christof]

Vielen Dank für Euer Interesse. Freu' mich sehr, kanns eigentlich kaum fassen.
Viele Grüße
Christof

[Rizzo]

'Tschuldigung, bin ich vielleicht zu doof, zu jung um das zu verstehen oder kommt ncoh was?

[Kleka]

Ich find`s auch gut, aber Mensch wird im Titel auc großgeschrieben^^
Fällt immer nur andern auf, nie dem Autor^^ kenn ich...

[Pausback]

Mir gefällt dein Text auch sehr gut. Nur du hast recht viele Schachtelseätze drin, die den Lesefluß ein wenig hemmen. Verkürz die ein bisschen, dann isses top

Mfg

Pausback

[christof]

Hallo Rizzo, es ist ein Auszug aus dem ersten Kapitel eines Romans (473 Seiten) es kommt also noch was. Wollte keinen mit allzugroßen Textblöcken abschrecken.

Hallo Kleka, ich weiß, das mit dem großgeschriebenen Menschen. War nur so eine typographische Marotte. Aber trotzdem, ich kenne das auch. Ist manchmal nicht einfach jemanden zum gegenlesen zu finden.

Hallo Pausback, werde daran arbeiten.

Danke für Eure Anregungen
beste Grüße Christof

[Brynhilda]

Lieber Christof!

Ich lese selten in der Belletristik mit, weil eher die Lyrik mein Bereich ist.
Das ist ein Fehler, wie ich wieder einmal sehe, weil ich auf diese Weise beinahe diesen Text nicht gelesen hätte.
Und das, auch wenn es mir nicht bewußt gewesen wäre, wäre ein großer Verlust gewesen für mich.

Ich kann eigentlich nur Ralphie zitieren: