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Catalano
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Alter: 40
Beiträge: 136



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Beitrag17.05.2015 19:29

von Catalano
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@sohndeslupus

danke für deine Antwort. Die ist sehr wichtig gewesen für mich, denn du hast Recht: der Teil hier:

Zitat:
Wer weiß, vielleicht kann ich diese idiotische Sache unter falschen Namen irgendwann mal als Buch veröffentlichen? Nur eine kleine Auflage, mehr will ich gar nicht. Aber ich denke nicht, dass es dazu kommen wird, um die Wahrheit zu sagen.


ist vollkommener Schwachsinn, wie ich selbst feststelle.

Allgemein gefällt mir diese Einleitung nicht. Sie stammt nicht aus meiner Leidenschaft, sondern ist notgedrungen konstruiert. Ich glaube, so kann man nicht schreiben. Daher werde ich mir was anderes ausdenken.

Danke dir.
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Catalano
Geschlecht:männlichLeseratte
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Alter: 40
Beiträge: 136



C
Beitrag17.05.2015 19:32

von Catalano
Antworten mit Zitat

Habe aber heute in der Zwischenzeit eine andere Kurzgeschichte geschrieben, die ich hier reinpacken werde.

Die Lasagne aus der Hölle

Es war kein guter Tag für Pino Contaldo. Zu erst hatte er sich beim Stutzen seines schwarzen Schnurrbartes mit dem Rasierapparat in die Lippe geschnitten. „Aiiai, porca miseria!“ hatte er unter Schmerzen gekreischt.
Dann stieg er auf die Waage und stellte mit Bedauern fest, dass er fetter geworden war.
Als er dann die Tür seines Restaurants „Cavallino“ aufschloss und seinen geliebten Laden betrat, fiel sein Blick auf den Haufen mit Briefen und Prospekten am Boden, die durch den Türschlitz geworfen wurden. Dabei hatte Pino extra einen Aufkleber mit der Aufschrift „Bitte keine Werbung und Prospekte“ an seine Tür geklebt.
Das Öffnen der Post glich wieder mal einem Spießrutenlauf. Rechnungen und Mahnungen ohne Ende. Aber so gut Pino Contaldo auch kochen konnte (er war ein wahrer Zauberer in der Küche), blieben seine Gäste seit Monaten aus.
Grund dafür war der Immobilienmakler Joffrey Smith. Ein aalglatter und ebenso schleimig böser Mistkerl, der das Restaurant in Bestlage unbedingt für seine Kunden, eine chinesische Großfamilie, gewinnen wollte. Und zwar mit allen Mitteln. Zunächst hetzte er Pino Contaldo das Gesundheitsamt auf den Hals, weil sich die Nachbarskatze an den Mülltonnen neben dem „Cavallino“ zu schaffen machte. Doch die Kontrolleure fanden ein astrein gepflegtes Restaurant vor.
Dann verbreitete Smith unter seinen Kunden und den Anwohnern der Strasse das Gerücht, dass das Gesundheitsamt das „Cavallino“ schließen lassen werde, weil Gäste angeblich Katzenhaare und Mäusekot in ihrem Essen gefunden hätten. Smith wurde nicht mal rot beim Auftischen seiner Lügen. Im Gegenteil, er grinste Contaldo jeden Tag ins Gesicht und grüßte ihn sogar, wenn er aus seinem BMW stieg und in sein Maklerbüro auf der anderen Straßenseite ging. Und nicht nur das. Smith besuchte sogar fast jeden Tag selbst das „Cavallino“, um dort sein Mittagessen einzunehmen. Dabei bildete er nach dem Essen mit Zeigefinger und Daumen immer ein O und lobte den dicklichen Italiener für seine Kochkünste.
Pino, der trotz des sagenumwobenen, italienischen Temperaments ein stets freundlicher und gutmütiger Mann war, behandelte Smith immer mit dem gebührenden Respekt und der Gastfreundschaft, die er jedem Kunden angedeihen ließ. Doch unter der Oberfläche pulsierte ein gewaltiger Lavastrom, und Pino war der rauchende Vulkan. Wäre diese Metapher real gewesen, dann wären Rauchwolken aus den Nasenlöchern über dem Schnurrbart bei jedem Atemzug entwichen, wie bei einem wütenden, spanischen Kampfstier an einem Wintermorgen.
Aber Pino Contaldo war kein Spanier, und erst recht kein Stier. Er war ein hart arbeitender Italiener, dessen Existenz von einem Haifisch im Anzug langsam zerstört wurde, dessen jahrelange, treue Kundschaft ihn wegen ein paar Lügenmärchen hängen ließ. „O dio, wie soll es nur weitergehen?“, ging ihm durch den Kopf, als er Nächte lang schlaflos im Bett lag, aufstand, und sich zum Trost seine selbst gemachten Leckerein reinstopfte.

Allerdings war Pino Contaldo auch ein Geschäftsmann. Und dazu gehörte es auch, sich den Schädel zu zermatern, wie man einen schlechten Ruf wieder loswird. Eine Aktion musste her. Eine Art von Werbung, die die eingeschlafene, und inzwischen misstrauische Kundschaft wieder zum Leben erweckte.
Eines Morgens wachte der fette Italiener mit einem Geistesblitz auf, saß senkrecht im Bett und rieb sich grinsend die Hände. Doch der Tag begann wie immer mit einer Reihe von Ärgernissen. Der Schnitt in die Oberlippe, die Mahnungen und Rechnungen in seinem Laden. Die Werbeprospekte. Diese verdammten Werbeprospekte. Ihr steht auf Werbung? Heute bekommt ihr Werbung, dachte er sich.
Nach einigen Stunden stellte er eine mannshohe Werbetafel auf, auf die er mit Filzstiften eine Lasagne gemalt hatte. Seine Zeichenkünste waren mit seinen Kochkünsten nicht vergleichbar, das Bild wirkte, als hätte es ein Fünfjähriger gezeichnet. Aber es erweckte Eindruck. Und darunter schrieb er mit einem schwarzen Edding: DIE BESTE LASAGNE DER WELT- HEUTE GRATIS.

Obwohl Pino nicht wusste, wie viele, und ob überhaupt Gäste auf seine Aktion anspringen würden, begann er schon früh morgens zu kochen. Eine gute Tomatensoße braucht Zeit, um den vollen Geschmack zu entfachen. Er würfelte Zwiebeln, Sellerie und Möhren, so viel, dass seine Hände schmerzten. Beim Schneiden einer Knoblauchzehe verletzte er sich sogar und schrie laut aus: „Ai, figlio di puttana!“
Aber er arbeitete wie von Sinnen. Auf drei riesige Töpfe verteilt, briet er Gemüse und feinstes Hackfleisch an. Abgelöscht mit dem besten  Barolo und aufgefüllt mit den schmackhaftesten Tomaten schmorte die Soße stundenlang vor sich hin. Die Schweißperlen tropften Pino von der Stirn in den wabernden Sud, was ihm egal war. Er war wütend.
Sollte diese Aktion daneben gehen, sollte die treulose Stammkundschaft nur herkommen, weil es eine Gratis-Lasagne gab, dann hätten die Leute es nicht anders verdient, Pinos Schweiß zu fressen. Oh ja. Schweiß und Blut. Pino presste seinen Daumen, den er sich beim Hacken einer Knoblauchzehe geschnitten hatte, so fest gegen den Stiel des Holzlöffels, dass feinste Blutstropfen in die Tomatensoße fielen. Zwischen seinen dicken Backen machte sich ein wahnsinniges Grinsen breit, während er da stand und rührte, und rührte, und rührte. Die Soße pulsierte und blubberte vor sich hin, kleine Blasen bildeten sich an der Oberfläche und platzten, Dampf stieg dämonisch empor und vernebelte die Küche. Die drei großen Kochtöpfe waren nun viel mehr drei rauchende Vulkane, in denen rote, heiße Lava waberte. Für Pino war Kochen immer eine Form der Kunst. Eine Pizza, oder frisch gemachte Pasta, war nicht nur Essen für ihn, sondern ein Gemälde, ein Kunstobjekt.
Doch diese Tomatensoße nach Bolognese Art, scharf gewürzt nach sizilianischer Machart, war mehr als nur ein Kunstobjekt. Von ihr hing Pino Contaldos Zukunft ab. Und sie lebte. Ja, sie lebte durch seinen Schweiß und sein Blut. Er hatte ein dampfendes Kind des Zorns erschaffen. Das spürte er. Das schmeckte er.
„Kurz vor zwölf, ich sollte den Laden aufschließen. Gleich kommt dieser testa di cazzo Smith. Hoffentlich bestellt er meine Lasagna und verbrennt sich die verlogene Zunge daran. Hahahaha.“
Pino ließ seinen Blick durch die Küche schweifen. Die selbst gemachten Lasagneplatten waren bereits vorbereitet. Die Butter- und Mehlschwitze für die Bèchamel ebenfalls. Und als er durch sein kleines, rustikales Restaurant ging, das mit Bildern, bemalten Tellern und anderen Artefakten seiner sizilianischen Heimat dekoriert war, kontrollierte er noch einmal alles nach seiner Richtigkeit. Immerhin musste er hier alleine kochen, alleine kellnern und alleine saubermachen, seitdem er sich keine Aushilfen mehr leisten konnte. Aber alles war nach seiner Zufriedenheit und er öffnete das Cavallino.

Da stand er, ein kleiner, aber breiter Mann, der in seiner weißen Kochjacke und der frischen Kochschürze aussah, wie Super Mario in einer Zwangsjacke. Und er machte große Augen vor Erstaunen, denn Frau Marshall und ihre Gehilfin von der Schneiderei am Ende der Strasse eilten auf ihn zu. Die beiden Damen waren zwei der verlorenen Herde von Stammkunden, die sich nach Joffrey Smiths Lügenattacken nicht mehr blicken ließen. Aber jetzt kamen sie angetorkelt, auf ihren Stöckelschuhen, lächelnd und hungrig, wie zwei falsche Schlangen auf Jagd nach einfacher Beute. In dem Fall eine Gratis Lasagne. Sie grüßten Contaldo freundlich, wurden nicht mal rot vor Scham, sondern ließen sich von dem stets netten Italiener wie damals immer zu einem Tisch begleiten, wo sie natürlich zwei Portionen Lasagne und einen halbtrockenen Rotwein bestellten. Pino Contaldo lächelte. Nein, er grinste bis über beide Ohren, aber seine Augen blieben zwei blitzende Schlitze: „Ich freue mich, Sie wieder zu sehen, meine Damen. Nach all der Zeit…“ Die beiden Frauen, besonders Frau Marshall, blickten in dem Moment verschämt auf die cremefarbene Tischdecke. „…heute serviere ich ihnen die beste Lasagna der Welt. Und der Vino ist auch gratis.“
Die beiden blonden Planschkühe in ihren Stöckelschuhen bedankten sich und bedienten sich an dem duftenden, frischen Brot, das als Appetitanreger auf dem Tisch stand, während Pino Contaldo in die Küche verschwand. Frau Marschall stellte dabei fest, dass der Mann für seinen enormen Körperumfang erstaunlich leichtfüßig war.
Die zwei Lasagnen waren schnell geschichtet, ein Kinderspiel für Pino Contaldo. Doch als er die beiden Nudelspezialitäten in den vor geheizten Ofen schob und zusah, wie der Käse an der Oberfläche blubberte und sich bräunte, ertönte ein jämmerliches Raunen aus dem Küchengerät. Pino schob seine buschigen, schwarzen Augenbrauen hoch, bis sie den Rand seiner Kochmütze berührten, und machte ein erstauntes Gesicht. Dann wieder, dieses entsetzliche Raunen, dass sich anhörte, als würden Menschen in einem Fluss von Lava ertrinken und verbrennen. Danach war es wieder still. Wahrscheinlich ist der Ofen defekt, porca miseria. Das fehlt mir jetzt noch, dachte er sich.
Doch der Ofen funktionierte tadellos.

Nach einigen Minuten schwenkte Pino mit seinem breiten Rücken die Tür zum Gastraum auf und eilte mit den beiden Pastagerichten und einer Flasche Rotwein zu den zwei Frauen. Erneut machte er große Augen und blieb kurz mit offenem Mund stehen, als er sah, dass in der Zwischenzeit mehrere Gäste an den Tischen saßen. Da war das Ehepaar Kaspernik, die früher immer mindestens dreimal die Woche zum Mittagessen kamen. An einem der Einzeltische saß Patrick von der Tankstelle, wie früher üblich in seinem leicht dreckigen
T-Shirt mit der Esso Aufschrift drauf. Und es strömten weitere bekannte Gesichter ins Cavallino. Die Tür öffnete sich fast im Minutentakt.
Eine seltsame Mischung an Gefühlen machte sich in Pinos Herzen breit. Seit Monaten war sein Restaurant nicht mehr so voll, es war wie ein Neustart in eine bessere Zukunft. Von nun an würde es wieder bergauf gehen, vermittelte ihm der Eindruck. Doch dazu kam die Gewissheit, dass all die Leute, denen er stets gastfreundlich gedient hatte, ihn hängen gelassen hatten. Ja, sie ließen ihn fallen, wegen einigen Lügenmärchen. Wegen einem Besuch des Gesundheitsamtes, das keine Mängel fand. Wegen dieser verfluchten schwarzen Katze, die versuchte, ein paar Leckerbissen aus den Mülltonnen neben dem Restaurant zu ergattern. Und jetzt waren diese verfressen Zombies nur hier, weil es Gratis-Lasagne gab. Wenn es etwas umsonst zu fressen gibt, dann drängen sich die Leute wie die Schweine an einem Futtertrog.
Und sie wurden nicht mal rot vor Scham.
Und wie sah es aus, wenn es keine Gratis-Lasagne mehr geben würde? Würden diese treulosen, verfressenen Schweine dann trotzdem wiederkommen? Diese Frage blieb Pino im Kopf, während er die beiden Schlangen von der Schneiderei und die restlichen Leute bediente.

Als Pino seine Gäste mit weiteren Lasagnen und Wein versorgte, und sein Schädel von den schrecklichen Geräuschen aus dem Ofen zu explodieren drohte, kam ein weiteres, verfressenes Schwein in seinen Laden. Nein, es war doch kein Schwein, sondern vielmehr ein Hai im Anzug und Krawatte. Oder noch besser gesagt: ein schleimiger Aal. Ja, so sah Joffrey Smith für Pino aus. Wie ein menschlicher Aal, der Stromschläge verpasste, wenn man ihm in die Quere kam. Aber diesmal war Smith in Begleitung einer jungen, hübschen asiatischen Dame.
Als Pino ihn sah, wurde er von Smith überschwänglich begrüßt, als wären sie dicke Freunde, die sich nach langer Zeit wieder sahen.
„Contaldo, mein Bester. Wie geht es Ihnen? Wie es scheint, laufen die Geschäfte gut, nicht war?“ Smith sah sich dabei grinsend im Restaurant um und deutete auf die vielen Gäste, die genüsslich ihre Lasagnen aßen. Contaldo nickte nur. Seine Augen wanderten wie Ping Pong Bälle zwischen Smith und der gelangweilt dreinblickenden, wunderschönen Asiatin hin und her. Eher wie Tennisbälle waren ihre kleinen, aber festen Brüste, die in einem seidig grünen Kleid eingepackt waren.
Smith sprach weiter: „Ich habe Ihre Werbetafel gesehen und dachte mir: WOW, der Mann versteht was von Marketing. Hahaha. Gratis Essen ausgeben ist sicher ein gutes Konzept, um Geld zu verdienen. Ihr selbst gemaltes Bild an der Werbetafel ist auch richtig super, Contaldo. Sie sind ein wahrer Künstler, hahaha.“
Der Schleimbolzen lachte verachtend. Er machte sich über Pinos Filzstiftzeichnung lustig. Er zog Pinos Aktion zur Kundenrückgewinnung durch den Dreck. Und er besaß auch noch die Frechheit, dieses chinesische Mädel mitzubringen. Pino wusste genau, dass diese Dame zu der chinesischen Großfamilie gehören musste, die seinen Laden unbedingt haben wollte, ohne einen Cent dafür zu bezahlen. Damit sie aus dem Cavallino eine chinesische Fressbude machen konnten, in dem die Leute sich an „All you can eat“ Buffets Glutamat ohne ende reinschaufeln würden. Warum hatte Smith diese Frau mitgebracht? Sollte sie Pino bezirzen, oder verunsichern? Oder wollte sie sich nur vorab den Laden von Innen ansehen, um mit Joffrey Smith schon mal Pläne für einen Umbau zu besprechen? Oder war das einfach nur seine Geliebte, mit der er ab und zu bumste? Was auch immer. Pino Contaldo ließ sich nicht aus der Reserve locken. Er zwar ein gutmütiger Mensch, aber die Wut über seine Mitmenschen brodelte unaufhörlich in ihm. Schweiß trat unter seiner Kochmütze hervor und lief ihm über die Stirn, glitzerte in seinen buschigen Augenbrauen und seinem Super Mario Bart. Ein gequältes Lächeln zuckte zwischen seinen roten, dicken Backen.
Smith sah, dass Pino nicht zu einem Smalltalk bereit war und machte es kurz: „Zweimal Lasagne und eine Flasche Barolo. Ich bin schon richtig gespannt, ob es sich wirklich um die beste Lasagne der Welt handelt.“
Smith und seine stumme hübsche Begleiterin setzten sich an einen Tisch in der Ecke des Restaurants.
Pino sah der Chinesin nach und stellte fest, dass sie erstaunlich schlank war und einen hübschen, knackigen Po unter dem grünen Kleid verbarg. Dann machte er sich an die Arbeit.

Kelle um Kelle verteilte er die blubbernde Soße über Schichten seiner frischen Pastaplatten. Zwischendurch die cremige Bèchamel, deren reines Weiß beinahe göttlich war und wunderbar nach Muskatnuss duftete.
Und dann überlegte er, ob er es wagen sollte, Smith eine Extraportion Chili unterzumengen. Aber der würde dann im Restaurant nur eine Szene machen und für weiteres Unheil sorgen. Also entschied sich Pino dafür, Smith eine Extraladung Knoblauch unterzumengen. Damit seine chinesische Gespielin angewidert vor Gestank umfällt, wenn die beiden es miteinander treiben würden.
Die Vorstellung gefiel Pino Contaldo und er lachte. Er schwitzte und lachte alleine in seiner Küche vor sich hin, während er die beiden Gerichte im Ofen betrachtete und wieder dieses entsetzliche Raunen hörte, diesmal stärker, als zu vor. Aber er lachte noch lauter, wie von Sinnen. Einige seiner Gäste konnten das tenorartige Gelächter hören und schauten überrascht zur Küchentür. Aber sie kümmerten sich nicht weiter darum und stopften weiter ihre Gratis-Lasagnen in sich hinein, denn die schmeckte erstaunlich himmlisch, oder teuflisch gut. Wie man will. Soßen kullerten an Kinnladen herunter, Schmatzen übertönte die leisen, klassischen Klänge, die aus den Lautsprechern kamen. Schnaufen und Grunzen, und sogar Rülpser füllten den Gastraum. Smith und seine Begleiterin schauten sich angeekelt um und waren entsetzt zu sehen, dass die feinen Leute ihre Pasta tatsächlich wie Schweine in sich hineinschaufelten. Selbst die herausgeputzten Planschkühe von der Schneiderei Marshall stopften mit verschmierten Mündern wortlos ihre Mahlzeit in sich hinein. Smith wurde übel, als er sah, dass Tomatensoße von Frau Marshalls Nasenspitze herunter tropfte und sie sich nicht dadurch stören ließ. Patrick von der Tankstelle rülpste alle paar Minuten leise vor sich hin.

Und als sich Joffrey Smith gerade dazu entschied, zusammen mit seiner schockierten Begleiterin diesen Schweinestall zu verlassen, fiel ein gewaltiger Schatten auf sie. Der kleine, aber massige Körper von Pino Contaldo stand wie ein weißer Felsen vor ihrem Tisch und hielt mit den bloßen Händen zwei riesige, dampfende Auflaufformen. Eine in normaler Größe, „für die schlanke Dame“, wie er sagte. Und eine extra große Lasagne für Smith, „seinem Lieblingsgast“.
Contaldo legte den beiden die Auflaufformen mit den wabernden Köstlichkeiten vor, wobei er Smiths Hand streifte. Er zog seine Hand zurück und verzerrte sein Gesicht vor Schmerzen. Die Auflaufformen waren brennend heiß. Verunsichert starrte er auf Contaldos Hände, die diese glühend heißen Auflaufformen vor kurzem noch getragen hatten. Sie waren krebsrot.
Dann richtete er seinen Blick zu Contaldos Gesicht auf, aus dessen Augenhöhlen zwei wahnsinnig funkelnde Sterne leuchteten. Seine Backen waren immer noch glühend rot, aber der Rest seines Gesichtes war inzwischen blass mit violetten Augenrändern und von glänzenden Schweißperlen übersät. Der dicke Italiener glich nunmehr einem Zombie mit einem irren Grinsen im Gesicht. „Buon appetito“ wünschte Contaldo seinen beiden, verhassten Lieblingsgästen und stand weiter mit auf dem Rücken verschränkten Armen vor ihnen. Scheinbar wollte er nicht eher gehen, bevor Smith einen Happen der Lasagne probiert hatte.
Aus Smiths Visage war sämtliche Arroganz verschwunden. Stattdessen wirkte er nun wie ein unsicherer Schuljunge. Auch die hübsche Chinesin saß starr wie eine Schaufensterpuppe vor ihrer dampfenden Lasagne und betrachtete sie, als würde es sich um einen sezierten Frosch handeln. Irgendwas stimmte nicht, das spürten Smith und seine Begleiterin. Die anderen Restaurantbesucher schmatzten und rülpsten immer noch wortlos vor sich hin. Aber der betörende Duft des wabernden Käses, der blubbernden Tomatensoße und der al dente gegarten Pasta stieg Smith in die Nase. Smith bemühte sich um ein Lächeln, das unsicher und gequält aussah. Er nahm die Gabel in die Hand, sah noch einmal zu Contaldo hoch, der inzwischen wie Super Mario als Zombie aussah, und bekam zu hören: „Dai, mangia. Es wird Sie umhauen, Signore Smith.“
Smith schluckte laut, seine Kehle war furztrocken. Contaldo hatte scheinbar die Flasche Wein vergessen, und auch sonst keine Getränke serviert. Aber Smith hatte inzwischen gar nicht mehr den Mut, Contaldo um irgendetwas zu bitten. Er nahm die Gabel, stach in die goldgelbe Kruste seiner Lasagne und fuhr vor schreck zusammen, als ein unmenschliches Raunen von der Nudelspezialität ausging. Selbst Pino Contaldo zuckte zurück und die Chinesin schreckte so stark auf, dass sie ein leeres Weinglas vom Tisch schlug.
Dann ertönte es wieder: Rooooaaaarrrrrrrr       Roooaaaaarrrrrrrr

Joffrey Smith sprang vom Tisch auf und brachte seinen Stuhl zu fall. Dabei ließ er die brüllende Lasagne nicht aus den Augen, als wäre sie ein gefährliches Tier. Er wurde wütend: „Verdammt, was ist das für eine Scheiße, Contaldo? Was ist da in der verfluchten Lasagne drin?!“
Aber Contaldo reagierte gar nicht auf Smith und wich einige Schritte zurück. Mit blankem Entsetzen im Gesicht redete er wie von Sinnen: „O dio mio, o dio mio, sie lebt. Sie lebt. Sie lebt.“
Jetzt hörten auch die anderen Gäste auf, wie die Schweine zu fressen und starrten mit verschmierten Mäulern zu dem Tumult, der sich dort abspielte. Sie sahen aus, als wären sie gerade aus einer Trance erwacht.
„Was zum Teufel soll das heißen, sie lebt? Sie sind doch irre, Mann! Das ist doch sicher nur eines Ihrer Tricks. Ich schwöre es Ihnen, Contaldo, das ist Ihr Ende. Ich werde das Gesundheitsamt…“, doch dann wurde er unterbrochen. Seine zunächst stumme Begleiterin kreischte laut auf und drängte sich an die Wand hinter ihr: „Joffrey! Da! Sieh mal!“

Alle starrten gebannt auf den Tisch, wo die extra große Lasagne für Smith sich selbstständig machte und mit raupenhaften Bewegungen ihre Auflaufform verließ. Sie kroch schmatzend über die helle Tischdecke und zog eine rote, dampfende Spur Tomatensoße hinter sich her. Dann raunte sie wieder und ihr käsiger Rücken blubberte immer noch. Smith, die Chinesin und Pino wichen vor dem Tisch zurück, die anderen Gäste hingegen näherten sich, um mit offenen Mündern dieses Spektakel zu betrachten. „O dio mio, o dio mio, sie lebt, ich wusste es, sie lebt“, murmelte Contaldo vor sich hin und zerknitterte dabei nervös seine Kochmütze, die er sich fest an die Brust hielt.
Als die Lasagne bereits den Tischrand erreichte hatte, blieb sie dort reglos liegen. Alle im Raum glotzten mit aufgerissenen Augen und verschmierten Lippen auf das Geschehen, aber keiner sagte etwas. Nur die klassische Musik säuselte weiter leise aus den Lautsprechern. Keiner wagte es, sich zu rühren.
Smith, der sich mit seinen Händen an der antiken Kommode hinter ihm festkrallte, keuchte vor Angst. Er lockerte seine Krawatte, um besser Luft zu bekommen. Und plötzlich machte es Flapp.  

Die Lasagne sprang blitz schnell vom Tisch auf und landete auf Smiths Gesicht, der nach hinten taumelte, die Kommode umwarf, versuchte, sich dieses Ding vom Gesicht zu reißen und erstickte Schreie ausstieß. Jetzt durchbrach Panik und Geschrei die Stille, die Leute rannten sich gegenseitig über den Haufen, stolperten über Stühle und Tische und versuchten sich raus zudrängen. Die Chinesin stand kerzengerade an der Wand und schrie sich die Seele aus dem Leib, war aber unfähig, sich zu bewegen. Die Angst lähmte sie.
Pino wurde von irgendeinem Gast zu Boden gerissen und saß wie ein dicker, lethargischer Klops auf dem Boden, angelehnt an der Theke des Restaurants. Immer noch seine Kochmütze an die Brust gepresst, den Tränen nahe, zitternd vor Angst. Er sah sich um und hörte seine Gäste schreien und kreischen. Er sah, wie die alte Frau Kaspernik auf dem Boden lag und sich der Absatz von Frau Marshalls Schuh in ihre Wange bohrte, als diese versuchte, über die alte Frau hinweg zu laufen. Weit kam Frau Marshall aber nicht. Sie wurde von Rüdiger Albrecht, einem dicken großen Mann, an der Tür zerquetscht, als die beiden versuchten, sich gleichzeitig nach draußen zu drängen. Man konnte Frau Marshalls Rippen brechen hören.
Smith stieß entsetzliche Schreie aus, fiel zu Boden, riss Fetzen aus dem Käserücken der Lasagne aus, die sich an seinem Gesicht festgesetzt hatte, wie ein großer, gold gelb gebackener Blutegel. Die Lasagne pulsierte, wie der Hinterleib eines großen Insekts. Und sie wuchs. Sie wurde immer größer und umschlang bald den gesamten Kopf von Smith, der allmählich verstummte, aber immer noch zappelte. Man konnte ein Knacken hören, als würde man eine Kokosnuss zerdrücken. An seinem Hals lief eine Mischung aus Tomatensoße, geschmolzener Gehirnmasse und Blut hinab. Bald zuckte Smiths Körper nur noch, auf dem Boden liegend. „Genau, wie ein Aal“, ging Pino bei dem Anblick durch den Kopf, und er fing an zu heulen.
Einige schafften es, das Cavallino zu verlassen. Einige andere lagen auf dem Boden und kreischten vor Schmerzen. Herr Kaspernik kniete neben seiner Frau nieder und heulte entsetzlich, als er den zerquetschten Schädel seiner Frau betrachtete, an dem nur noch einige blutige Haarbüschel an Knochenstücken und Hautfetzen klebten. Daneben lagen eine rosa Masse und die beiden, ausgepressten Augäpfel.
Von Smith war mittlerweile nur noch sein dampfender Designeranzug und ein paar Hautfetzen übrig, die unter einer nun menschengroßen Lasagne lagen. Dieses Ding hatte Smith absorbiert, ihn aufgefressen und ausgelutscht. „Träume ich? Ist das ein Albtraum? O dio, bitte lasse mich aufwachen, ja?“
Doch Pino träumte nicht. Es war real. Aus irgendeinem Grund hatte er etwas erschaffen, dass genährt durch seine Wut, seinem Blut und Schweiß zu einem Monster wurde. Und als sein Baby des Grauens langsam auf ihn zu kroch, wie eine überdimensionale Raupe, war er überzeugt davon, dass er nun der Nächste sein würde. Pino zog seine Beine dicht an seinen Körper, heulte und flehte um Gnade. Er flehte eine verrückt gewordene Lasagne um Gnade an. Bei dem Gedanken musste er sogar kichern. Und als die riesigen, matschigen Nudelplatten  bereits seine Füße berührten, hielt die Lasagne an. Sie raunte leise, wie ein Löwenbaby. Sie streichelte ihren Schöpfer am Fuß und hinterließ einen dampfenden Soßenfleck auf seinem Schuh. Contaldo zitterte wie ein Fettberg unter Strom. Doch die Lasagne ließ von ihm ab und kroch auf die Chinesin zu, die sich immer noch kreischend an die Wand presste.
„Laufen Sie weg! Laufen Sie doch weg, signora!“, schrie Pino in Richtung der Frau. Doch sie war zur schreienden Eisstatue erstarrt. Die Killer-Lasagne kroch mit platschenden Geräuschen auf sie zu. Zunächst sehr gemächlich und schwerfällig. Doch sie war zu blitzschnellen Attacken in der Lage. Und so schnellte der riesige Teppich aus dampfenden Käse los, richtete sich auf und stürzte sich mit lautem Gebrüll auf die hübsche Asiatin, die sich vor Entsetzen die Hände vor die Augen hielt. Es blubberte und rumorte, wie in einem riesigen Magen. Die kreischenden Schreie der Frau wurden zu einem Mäusequieken, bevor sie letztendlich ersticken. Die Lasagne schien die Frau regelrecht aufzusaugen. Wieder das abscheuliche Geräusch berstender Knochen, das Platzen irgendwelcher Organe und ihr zappelndes, schlankes Bein, das in einem schwarzen High Heel endete. Erschüttert sah Contaldo zu, wie sich die Lasagne, sein wild gewordenes Baby, die Frau einverleibte. Selbst das grüne Kleidchen wurde aufgesaugt und Pino konnte kurz einen Blick auf die Strapse der jungen Chinesin erhaschen, bevor das Bein an der Hüfte abriss. „Nein, nicht doch die schöne Frau. Smith, okay, der war nichts wert. Aber nicht doch die schöne Frau, o dio mio“, dachte er sich unter Tränen.
Die Monsterlasagne stieß auf, rülpste so laut, dass der Boden erbebte, und kotzte einige Kleidungsstücke und undefinierbare Überreste seiner menschlichen Nahrung aus. Sie war jetzt noch größer geworden und ihr starker Duft vermischte sich mit dem ekelhaften Gestank frisch geschlachteter Menschen. Dann kroch sie weiter zur Tür, genehmigte sich die tote Frau Kaspernik als Zwischenmahlzeit, die inzwischen von ihrem trauernden Mann achtlos zurückgelassen wurde, und verschwand an die frische Luft des sonnigen Nachmittages. Pino Contaldo sah ihr hinterher, seine Tränen waren bereits getrocknet, sein Gesicht erstarrt vor Wahnsinn und Angst. Er rollte sich zusammen, wie ein Igel, ließ sich auf die Seite fallen und lachte irre vor sich hin. Er lachte und lachte und seine Augen starrten ins Leere. So fand die Spezialeinheit der Polizei ihn auch vor, als sie das Restaurant  später stürmte. Letztendlich konnte er sein Restaurant doch an den Nagel hängen.

Am Abend war bereits die ganze Stadt evakuiert. In den Strassen schwebte der grässliche Gestank von heißem Fleisch, Knoblauch und Küche. Überall lagen Kleidungsstücke und abgetrennte Gliedmaßen in Lachen von Blut und Tomatensoße. Spezialeinheiten der Polizei und Panzer des Militärs patrouillierten durch die Stadt und hielten Ausschau nach Überlebenden und Schaulustigen, die sich geweigert hatten, evakuiert zu werden. Doch das wahre Spektakel spielte sich im Zentrum ab, direkt neben dem Rathaus der Stadt. Der heiße Dampf stieg in riesigen Schwaden zum Himmel empor und konnte sogar von den benachbarten Ortschaften in vielen Kilometern Entfernung noch gesehen werden. In diese Nachbarsstädte wurde der Geruch der monströsen Lasagne in verschwächter Form hinüber geweht, weshalb die Menschen dort ihre Nasen in die Luft hoben und den köstlichen, Appetit erregenden Duft in sich aufnahmen.
Doch die Streitkräfte vor Ort mussten Gasmasken tragen, um den beißenden Gestank und den heißen Dampf nicht in die Atemwege zu bekommen. Sie sahen sich einem fetttriefenden, käsigen, etwa zwanzig Meter großen Ungeheuer gegenüber, das sich über das Rathaus legte, als wolle es das Gebäude verschlucken. Gewehrkugeln und Panzerfaustraketen wurden von dem gold gelben Panzer der Kreatur einfach verschluckt. Die Menschen hatten keine Ahnung, dass es sich bei der gewaltigen Masse um eine Lasagne handelte. Jeder der Polizisten und Soldaten hatte seine jeweils eigene Erklärung. Für den Einen war das eindeutig ein Monster aus dem All, für den Anderen entsprang das Ungetüm dem Meer. Und wieder ein Anderer dachte vielleicht an eine Strafe Gottes. Panzergeschosse hatten keine Wirkung, selbst die Gewehrsalven der angeforderten Kriegshubschrauber konnten die Lasagne nicht aufhalten. Sie zerdrückte unter ihrem Gewicht Stein für Stein das Rathaus, aus dem die Schreie einiger Bürger kamen.
Einer der Polizisten verlor sogar fast den Verstand, als er in dem knusprigen Käsepanzer die Umrisse menschlicher Schädel erkannte. Einige von ihnen bewegten sich noch. Sie waren lebendig verschluckt worden und garten nun langsam in der Hitze des Ungeheuers. Der junge Polizist ließ sein Gewehr fallen und flüchtete, während seine Kollegen weiter vergeblich auf das Monster feuerten.

Die Einsatzleiter und Kommandanten der Streitkräfte befahlen ihren Mannschaften, die noch bei Verstand geblieben waren, oder nicht verschluckt wurden, den Rückzug. Einige Soldaten wiesen darauf hin, dass sich in dem Rathaus noch Überlebende befanden. Doch die Einsatzleiter erwiderten: „Das ist ein Befehl von ganz oben. Gleich geht es hier richtig zur Sache, Leute. Also, Abzug!“

Und noch bevor sich auch die Streitkräfte gänzlich aus der Stadt zurückzogen, tauchte ein Jagdgeschwader mit tosenden Düsentriebwerken am Himmel auf. Dutzende Raketen veranstalteten ein tödliches Feuerwerk und legten das Stadtzentrum in Schutt und Asche. In einer schwarzen Rauchwolke bäumte sich die Lasagne aus der Hölle mit lautem Gebrüll ein letztes Mal auf. Bürger, die am Stadtrand in Notlagern untergebracht waren rückten eng zusammen, klammerten sich voller Schrecken aneinander fest. Selbst die mit Gasmasken und Gewehren ausgestatteten Soldaten und Polizisten hielten sich wie kleine Schulmädchen aneinander fest, während sie aus sicherer Entfernung zusahen, wie sich die  Zwanzigmeter Lasagne aufplusterte. Sie wurde immer dicker, blähte sich auf wie ein Ballon, bis sie die doppelte Größe erreicht hatte. Dann ließ sie einen letzten, abscheulich lauten Rülpser los und explodierte. Eine feine Wolke aus Käsestaub, Soße, Blut und menschlichen Überresten breitete sich zu einem Kilometer großen Pilz aus, der die Sonne verdunkelte. Und die Menge jubelte, während Pino Contaldo katatonisch in der Psychiatrie im Nachbarsort saß und grinsend an die Wand starrte.
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Catalano
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Beitrag25.05.2015 21:53

von Catalano
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Obama und die (Wand)er-ratte

Ashanti Clarks eilt den meterlangen Flur der großen Villa in Colorado entlang und trifft zu ihrer Erleichterung auf Robby Giuliani, den Chef des privaten Sicherheitsdienstes. Robby legt ein lüsternes Grinsen auf, als er die hübsche schwarze Haushälterin mit den prallen, auf- und abspringenden Brüsten sieht. Sie fällt ihm in die Arme und presst ihren Kopf an seine starke Brust, während er seine Hände in ihren ausladenden Hintern gräbt. Dann schreckt sie zurück, schaut sich um und sagt: „Rob, es darf uns keiner sehen!“
Aber Robby Giuliani lächelt nur und steckt seine Hände dahin, wo sie keinen Schaden anrichten können: in seine Hosentaschen.
„Ashanti, mach dir keine Sorgen. Obama hat die beste Zeit bereits hinter sich. Keine Sau wird sich daran stören, wenn wir beide ein wenig Spaß miteinander haben. Und jetzt sag mir, warum du hier so panisch durch`s Haus läufst. Hat er wieder seine Meise?“
Ashanti nickt und vergießt einige Tränen aus ihren schimmernden, colafarbenen Augen. Schwarzer Liedschatten läuft ihr wie Tusche über die Wangen.
„Er hat…er hat die Zigarrenschachtel gegen die Wand geschmettert, die Putin ihn geschickt hatte. Dann schrie er, dass Er ihn in Ruhe lassen sollte. Und dann schickte er mich weg. Rob, ich habe Angst vor Obama. Der Mann ist nicht normal. War er zu seiner Amtszeit auch so? Oder liegt es vielleicht daran, dass Michelle und die Kinder ihn verlassen haben? Und wen meint er mit Er?“
Robby ist zwar ein alter Lüstling, aber er mag dieses Haushaltsmädchen sehr. Mehr, als rein sexuell. Er kann es sich durchaus vorstellen, auf seine alten Tage eine feste Beziehung mit Ashanti einzugehen. Also sieht er sich um, nimmt sie bei der Hand und führt sie in die Küche des Anwesens. Dort schenkt er ihr und sich selbst ein Glas Hennessy ein und erzählt ihr die ganze Sache.

„Was ich dir jetzt sage, bleibt unter uns. Und wenn du meinst, damit zu den Medien gehen zu müssen, wird irgendwann ein Wagen neben dir halten, und dich verschwinden lassen. Okay?“
Ashanti nickt und schaut wie ein sexy „Naivchen“ aus ihrer schwarz weißen Haushälterinnen Uniform. Robby lässt seinen Blick noch mal zu ihrem Ausschnitt wandern und
erzählt weiter: „Also, als der kleine Barack Obama etwa zehn Jahre alt war und mit seiner Mutter und Stiefvater auf Jakarta lebte, bekam er einen kleinen Hund geschenkt. Das war irgend so ein kleiner Mischling, den er Eugen nannte. Und wie du weißt, liebt Obama Hunde.
Jedenfalls, war Eugen ein Kläffer. Er kläffte so oft, dass Obamas indonesischer Stiefvater bald die Schnauze voll von dem Hund hatte und ihn weggeben wollte.
Tja, der kleine Scheißer Barack war damit natürlich nicht einverstanden, und er versteckte den Hund eines Tages in einem Schacht des Hauses, damit sein Stiefvater ihn nicht finden konnte. Als der junge Barack Obama den Hund nach einer Stunde wieder rausholen wollte, war er weg. Eugen war einfach verschwunden. Obama krabbelte mit dem Oberkörper in den Schacht hinein und sah in der hintersten Ecke einen weiteren, kleinen Schacht. Eugen war durch diesen dunklen, kleinen Tunnel verschwunden.
Der Junge machte sich große Vorwürfe und vertraute sich seiner Mutter an. Er bettelte sie förmlich an, den Hund irgendwie zu befreien. Aber das war unmöglich. Das ganze Haus war mit Schächten durchzogen, die zur besseren Belüftung dienten. Auf Jakarta ist es nämlich sehr heiß, weißt du?“
Ashanti nickt und nimmt einen Schluck Hennessy. Ihre Tränen sind getrocknet, ihr Gesichtsausdruck weißt aber eine Mischung aus Faszination und Entsetzen auf.
Robby Giuliani gönnt sich selbst einen Schluck Cognac und wischt seiner Geliebten mit dem Daumen einen Tropfen der Spirituose von der Unterlippe. Dann erzählt er weiter:
„Jedenfalls war es so, dass der kleine Herr Obama in den folgenden Tagen den Hund in den Zwischenwänden hörte. Er hörte ihn kläffen, quieken und hecheln. Er hörte, wie sein vierbeiniger Freund von Innen an den Wänden kratzte und ein entsetzliches Winseln absonderte. Er hörte, wie Eugen in den Schächten herumlief, und seine Krallen auf dem Beton klickten. Das ging immer so weiter, Tagein, Tagaus. Es trieb ihn fast in den Wahnsinn.
Ob seine Familie das Selbe gehört hat, weiß ich nicht. Aber es würde mich sehr wundern, wenn nicht. Obamas Mutter redete ihrem Sohn immer ein, dass es sich wahrscheinlich um eine, oder mehrere Ratten handelte, die dort in den Zwischenwänden rum liefen. Sie war der Meinung, dass es vollkommen unmöglich sei, dass der Hund auch noch nach Wochen am Leben war. Aber Obama kam mit dem Unheil nicht mehr zurecht und zerbrach beinahe an seinen Schuldgefühlen. Seine Mutter beschloss, dass es besser wäre, den Jungen zu seinen Großeltern nach Hawaii zu schicken. Und so geschah es auch.“

Ashanti sitzt da, mit ihren dunklen, schönen Augen und mit offenem Mund. Sie kippt hastig den letzten Rest Cognac hinunter und fragt: „Und dann? Was ist dann passiert?“
Robby der Sicherheitschef lacht auf und steckt seine Hände wieder in die Hosentaschen. Er ergötzt sich gerade zu an der erquickenden Naivität und Faszination der hübschen, jungen Frau. Dann sagt er: „Ich mach`s kurz, Baby. In Hawaii ging der Albtraum weiter. Auch im Haus seiner Großeltern streifte Eugen wie eine Ratte durch die Zwischenwände. Und so ging es auch in sämtlichen anderen Häusern weiter, in denen Obama lebte, und arbeitete.
Sogar im weißen Haus.“
„Sogar im weißen Haus?“, fragte die Haushälterin verdutzt.
„Ja, sogar im weißen Haus. Irgendwann in seiner Jugend hatte Obama die ganze Sache verdrängt. Immer, wenn er Eugen winseln und quieken hörte, zwang er sich selbst, nicht hin zu hören. Und eine lange Zeit lang verschwand Eugen sogar aus den Zwischenwänden seiner Häuser. Es gab eine Zeit, in der Eugen jahrelang nichts von sich hören ließ. Da blühte Obama erst so richtig auf.
Aber es fing wieder an, als er Präsident wurde. Beziehungsweise, kurz danach. Und da wurde es schlimmer, denn je.
Einmal, da hatte er die Zwischenwände des weißen Hauses komplett mit Rattengift auslegen lassen. Er hat sogar die Wände seines Büros aufreißen lassen, wo Eugen ihm am meisten auf den Geist ging. Aber gefunden wurde nie etwas. Und die meisten Leute, die mit Obama zu tun hatten, wussten nichts von seiner Gemütslast. Ansonsten hieß es immer nur: Ratten. Wir haben ein Rattenproblem.
Tja, und heute, wo Obama im Ruhestand ist, ist es am schlimmsten. Eugen ist auch hier in Colorado. Er ist Eugen.“
Ein grobes, trockenes Schlucken zwängt sich durch Ashantis Hals. Für einen Augenblick sieht sie Robby an, als würde sie ihm das Märchen nicht abkaufen.
„Soll das ein Witz sein, Rob? So dumm bin ich nicht, auch, wenn ich nur ne verdammte Haushälterin bin. Oder glaubst du, dass wir Schwarzen alle dämlich sind?“
Rob entgegnet ihr mit einem Grinsen: „Nur ne verdammte Haushälterin? Du bist die Haushälterin des Ex Präsidenten, wenn ich bitten darf. Und auf den Mist mit dem „Schwarzengesabbel“ gehe ich gar nicht erst ein.“
Ashanti lächelt verschmitzt und sieht Robby aus zwei mandelförmigen Schlitzen an. Dann will sie ihn fragen, woher er die ganze Geschichte angeblich kennt. Aber ihr ist bewusst, dass Robby Giuliani seit vielen Jahren Obamas vertrauenswürdigster Sicherheitsinspektor ist. Die beiden hegen eine freundschaftliche Beziehung.
Und als ein Kratzen aus dem Lüftungsschacht der Küche ertönt und Ashanti ihren Blick dorthin richtet, nimmt Robby ihren Kopf und drückt ihn fest an seine Schulter. Sie soll nicht sehen, was er sieht. Und er sieht, mit einem Lächeln im Gesicht, die zwei glänzenden Hundeaugen, die zwischen den Gittern des Lüftungsschachtes hinab blicken.
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Catalano
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Beitrag03.06.2015 19:12

von Catalano
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Die Simpsons

„Mum, ist alles okay mit dir?“, fragt die achtjährige Lisa behutsam, als sie ihre Mutter schluchzend am Küchentisch vorfindet. Sie hat ihre Stirn in die Hände gestemmt und vergießt bitterliche Tränen, während sie sich weiter zusammenkauert, um ihr Gesicht vor ihrer Tochter zu verbergen.
Zumindest Lisa gegenüber möchte Marge immer die anständige, starke Frau und Mutter sein, die ihrer Familie gegenüber treu, loyal und ehrlich ist. Lisa ist ein gutes Mädchen, auch wenn sie mit ihrem Idealismus manchmal nervt und scheinbar alles daran setzt, nicht in ihre Fußstapfen zu treten. Aber insgesamt ist sie ein Kind, auf das Marge stolz sein kann. Intelligent und gutherzig.
Wie um alles in der Welt sollte sie ihrer kleinen Tochter erklären, wie es zu Dem gekommen ist, was sich in ihrem Gesicht befindet, ohne sie anzulügen? Ihren vermaledeiten Sohn Bart, der ganz seinem verkommenen Vater ähnelt, kann sie anlügen, auch wenn es weh tut. Sie kann es, weil sie dem Irrglauben erliegt, dass er mit Wahrheiten nicht umgehen kann.
Aber ihre Tochter anzulügen würde Marge zerreißen. Lisa hat es schlichtweg nicht verdient, angelogen zu werden, als wäre sie die Dämliche in der Familie, denen man einen vom Pferd erzählen kann. Nein, damit würde sie Lisa und ihre Intelligenz beleidigen, damit würde Marge Das in den Dreck ziehen, worauf sie stolz ist. Ihre kleine, neunmalkluge, und irgendwie frühreife Tochter.
Marge sieht sie an und vergießt ganze Rinnsale an salzigen Tränen, die ihre Wangen hinunter laufen. Die stumpfe Nachmittagssonne schimmert durch die halb zugezogenen, verbleichten Gardinen mit den Maiskolbenaufdrucken hindurch und taucht Marges linke Gesichthälfte in einen matten, staubigen Glanz.
Lisas Augen werden groß und feucht, ihre Kinnlade sackt ab und sie nähert sich ihrer Mutter mit einem Entsetzen im Gesicht, das Marge wieder aufheulen lässt, wie eine geknüppelte Babyrobbe.

„Mum, Mum, dein Auge…“, sagt sie mit einem Unglauben, der jedem normalen Menschen das Herz zerreißen würde.
Das linke Auge ihrer Mutter ist nichts weiter, als ein großes, violettes Geschwür, ähnlich einer riesigen Traube, die man in der Hand zusammendrückt. Das andere Auge ist blutunterlaufen und auf dem Jochbein heben sich bläuliche Flecken ab.
„Was…was ist passiert, Mum? Sag es mir“, fordert Lisa.
Aber ihre Mutter kann es nicht sagen. Jedenfalls, nicht sofort. Es würde die Familie Simpson zerreißen.
„Ach Lisa…“, und Marge nimmt ihre geliebte Tochter in die Arme und drückt sie fester, als Lisa lieb ist, an ihre Brust. Das krause, blaue Haar ihrer Mutter streift Lisa an der Schläfe und sie nimmt dessen Geruch auf. Es duftet süß nach Kokosnuss- und Vanilleshampoo.
Marge ahnt hinter ihren Tränen nicht, dass sie ihrer Tochter mit diesem Verhalten Angst macht, dass ihre Tochter trotz ihrer Intelligenz nur ein Kind ist, das verzweifelt nach einer Erklärung für dieses Schreckensszenario verlangt.
Doch die knallharte Wahrheit lässt nicht lange auf sich warten und kommt in Gestalt eines finster dreinblickenden Jungens mit Stachelhaaren durch die Küchentür. Es ist Lisas Bruder Bart, der zum Kühlschrank geht und sich eine Buzz Cola herausnimmt.
Er marschiert mit einem arroganten, verächtlichen Gesichtsausdruck an seiner Schwester und Mutter vorbei, die sich in den Armen liegen und sich langsam  wieder lösen, als Bart die Kühlschranktür wieder schließt.
Seine Ignoranz lässt Lisa fragend aufsehen, während die gemeinsame Mutter wieder ihr Gesicht abwendet, ihren Ellenbogen auf den Küchentisch stemmt, ihre Stirn in die Handfläche stützt  und in Scham ertrinkt.
„Bart! Was ist hier los? Mum, sag mir endlich, was los ist!“, herrscht Lisa zuerst ihren Bruder, dann ihre Mutter an, doch Marge reagiert nicht.
Bart hingegen nippt mit einer erschreckenden Form von quälender Ignoranz an seiner Cola und steckt sich lässig die rechte Hand in die Tasche seiner blauen Shorts. Er blickt aus vorwurfsvollen Schlitzen zu seiner Mutter, die nun keines ihrer Kinder mehr ansieht. Sie befürchtet schon, was jetzt passieren wird.
Dann sieht er seine kleine Schwester an, und sagt ihr, was sie nicht hören, aber wissen will: „Homer hat ihr aufs Maul gehauen. Und weißt du warum?“
„Bart! Nicht!“, raunt Marge ihren Sohn herrschend und flehend zugleich an, wendet dann ihren Blick aber wieder ab und versteckt ihr Gesicht in den Handflächen, als sie sieht, mit welcher Wut ihr Sohn sie anstarrt. Jetzt wird ihr klar, dass Bart sehr wohl mit Wahrheiten umgehen kann, auf seine ganz eigene, erschreckende Art und Weise.
Lisa lässt  voller Schrecken und Unglauben ihren Blick zu ihrer Mutter, und dann wieder zu ihrem Bruder schweifen: „Warum? Warum hat Dad das getan?“
Bart grinst, aber seine hasserfüllten Augen sind feucht von Tränen.
„Lisa, es ist so: Dad hat Mum bei einer flotten Nummer mit Jimbo erwischt.“
Lisas Augen werden noch größer und ihr Mund offener, als sie das hört.
„Unsere ach so tolle Mutter hat es hier in dieser Küche mit Jimbo getrieben. So sieht es aus. Da!“, er deutet mit seiner Dose Buzz zu dem grünen, altmodischen Gasherd.
„Da hat sie sich von Jimbo poppen lassen, von hinten. Von Jimbo, der gerade mal ein paar Jährchen älter ist, als ich. Kannst du dir das vorstellen? Verstehst du, warum Homer ihr eine gedonnert hat?“
Lisa wirkt, wie ein ausgetrockneter Geist. Sie schluckt, aber ihr Hals fühlt sich an, als währe er mit Schmirgelpapier ausgekleidet. Sie wendet sich kreidebleich zu ihrer Mutter und ist im Begriff, sie zu fragen, ob Bart die Wahrheit sagt. Aber das heftig, wieder einsetzende Schluchzen ihrer Mutter sagt alles.
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Catalano
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Beitrag21.06.2015 21:07

von Catalano
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Der Gasmann

Lucas und Emilia unterschrieben den Mietvertrag für das Häuschen im Marderstedter Wald und konnten die Freude in ihren Herzen kaum in Zaum halten. Endlich hatten sie es geschafft, die verhasste Großstadt hinter sich zu lassen und ein bezahlbares, kleines Häuschen im Umland zu mieten, wo sie sich Abseits von lärmenden Nachbarn inmitten eines kleinen Nadelwäldchens entspannen konnten.  
„In den nächsten Tagen wird sich der Gasmann bei ihnen melden, um den Tank zu füllen“, sagte die Verwalterin des Häuschens und legte ein breites Lächeln auf.
„Ich wünsche ihnen alles Gute und viel Freude in ihrem neuen Heim.“
Das junge Pärchen bedankte sich, führte die Verwalterin zur Tür hinaus und fiel sich in die Arme. Es war das erste Mal, dass sie in einem freistehenden Haus mit Garten wohnten. Bislang zogen sie von Wohnung zu Wohnung, in denen sie sich wie Sardinen in einer Büchse vorkamen und sich psychopathischen Nachbarn gegenüber sahen, die ihnen das Leben schwer machten.
Aber all das war nun vorbei. Sie würden in diesem Haus leben und glücklich sein; ein Haus mit niedlichen drei kleinen Zimmern, einem wunderschönen Garten, in dem Joey der Mischling toben, bellen und sogar pinkeln konnte, und einem Kamin.
„Ein Kamin, wie geil ist das?“, sagte Emilia und sprang vor Freude in die Luft.

Die Tage vergingen und die Arbeitswege waren für beide lang. Vierzig Kilometer bis zur Stadt, die an guten Tagen ohne Stau in knappen fünfundzwanzig Minuten zu bewältigen waren, an schlechten aber bis zu einer Stunde in Anspruch nahmen. Aber diesen Preis zahlten sie gerne für die Idylle, in der sie nun lebten. Lucas fand in der Ruhe des Landlebens endlich den Schlaf, den er vermisste. Emilia blühte auf, wenn sie sich auf die Wiese in den Garten legen konnte und die Vögel zwitschern hörte, ohne von kreischenden Automotoren und schreienden Kindern genervt zu werden. Von quasselnden Nachbarn keine Spur. Die nächsten wohnten in fünf Kilometern Entfernung.
Und auch Joey schien seine alte Angewohnheit abgelegt zu haben, Türen zu zerkratzen und das Sofa zu rammeln, wenn er alleine war.
Abends saßen alle drei vor den lodernden Flammen des Kamins und genossen die Ruhe, ohne den Fernseher einzuschalten. Das war eine große Entwicklung für das junge Pärchen.

Nach einigen Wochen der Ruhe und Zufriedenheit kamen beide von der Arbeit nach Hause und bemerkten ein Chaos in ihrem Häuschen, das ihnen die Kehle zuschnürte.
Die dekorativen Vasen und das Haustelefon lagen verstreut auf dem Boden. Unterlagen und die Computermaus wurden scheinbar vom PC Tisch geworfen. Die Rollos in der offenen Küche lagen auf dem Boden und waren zerrissen. Und Joey saß nicht wie gewöhnlich auf dem Sofa, oder in seinem Körbchen, sondern auf der fünften Stufe der Wendeltreppe, die in das kleine Schlafzimmer hinaufführte. Er klemmte sein Schwänzchen zwischen die Beine und glotzte seine Besitzer aus schuldbewussten Kulleraugen an.
„Kein Einbrecher. Das war Joey“, stellte Lucas fest, als er den großen Fleck Ejakulat auf dem Sofa sah.
Die Haustür war zwei Mal herum abgeschlossen, so, wie Lucas und Emilia sie morgens verlassen hatten. Und das Schloss hatte Lucas beim Einzug ausgewechselt. Alle Fenster waren geschlossen und an dem Haustelefon und dem Rollo befanden sich die Abdrücke spitzer Zähne.
„Es war ganz sicher Joey. Warum zum Teufel hat er das getan?“, fragte Lucas seine Freundin, die nur geschockt und traurig das Chaos betrachtete, was der kleine Rüde hinterlassen hatte.
„Wir dürfen ihn nicht mehr so lange alleine lassen, Lucas.“
„Aber er konnte bisher immer alleine bleiben. Die paar Stunden sind doch kein Problem“, sagte Lucas und betrachtete den kleinen Dackelmischling, der sich auf der Treppenstufe zu einer erbärmlichen, zitternden Schlange zusammengekauert hatte.
„Irgendwas muss ihm Angst eingejagt haben“, fügte er hinzu.

Nachdem das Paar alles wieder an Ort und Stelle räumte, ging Emilia vor die Tür, um in den Briefkasten zu schauen. Sie kam mit einer  gelben Karte wieder, die sie Lucas vorlegte.
Auf ihr war in grober Handschrift geschrieben:
Geehrte Mieter, war heute um 13 Uhr da. Leider war niemand anwesend. Bitte halten Sie sich für nächste Woche bereit, um den Vertrag für das Gas abzuschließen.

„Der Gasmann war da. Wahrscheinlich ist Joey deswegen so ausgeflippt“, stellte Emilia fest.
Lucas betrachtete den gelben Zettel mit der krakeligen Handschrift und schüttelte den Kopf.
„Was ist das für eine Firma, die so einen lausigen Zettel hinterlässt? Keine Telefonnummer, keine Firmenanschrift, keine genaue Uhrzeit, wann der Typ denn kommt. Was soll das? Und überhaupt: wozu brauchen wir Gas? Die Verwalterin hat uns doch gesagt, dass der Kamin für den Winter vollkommen ausreicht. Holz haben wir auch genug im Schuppen.“
Emilia gab ihrem Freund Recht und beide planten, dass einer der beiden für kommende Woche frei nehmen sollte, um die Sache zu klären.
Da Emilia ihre Zeit im Büro frei einteilen konnte, nahm sie sich die nächste Woche frei, um  den Gasmann zu empfangen, wann immer er auch kommen mochte.
Jene Woche verging und es tauchte niemand auf.
Ein Anruf bei der Verwalterin des Hauses brachte keine Lösung. Sie sagte, dass der Gasmann ein wenig schludrig mit seinen Terminen sei und sie selbst weder Anschrift, noch Telefonnummer der Gasfirma hatte, was Lucas sehr stutzig machte.
„Die Olle ist auch etwas seltsam, findest du nicht auch?“, fragte er Emilia, die desinteressiert mit den Schultern zuckte. Sie genoss das neue Leben in Marderstedt in vollen Zügen und hatte keine Lust, ihren Kopf mit negativen Gedanken zu füllen.
„Hast du nicht bemerkt, wie nervös sie zur Seite schaute, als sie sagte, dass der Gasmann in den nächsten Tagen kommen würde? Und überhaupt: findest du es nicht seltsam, dass sie keine Kontaktdaten von dieser Gasfirma hat? Sie vermietet immerhin sämtliche Häuser hier im Wald. Na ja, zumindest das hier und die zwei anderen in zehn Kilometern Umkreis.“
Doch Emilia wusste nichts dazu zusagen. Ihr Gespür für drohende Gefahren ging gegen Null und es war ihr einfach zu müßig, sich unnötige, belastende Gedanken zu machen.

Zwei weitere Wochen vergingen, ohne dass sich ein Gasmann meldete, oder Joey die Wohnung zerlegte. Der Sommer neigte sich dem Ende zu und auch Lucas entspannte sich wieder. Nachdem sie ihre verdienten Feierabenden hatten, grillten sie im Garten, machten noch spät nachts lange Spaziergänge mit Joey um den See im Wald, ohne Angst haben zu müssen, von jemanden überfallen zu werden, und genossen den Kamin, oder legten sich in den Garten, von wo aus sie die Sterne beobachteten und die Grillen zirpen hörten.
Dann näherte sich der Herbst und Lucas nahm sich eine Woche Urlaub.
Morgens um fünf fuhr er Emilia zur Arbeit in die Stadt, ging mit Joey dort in dem Park spazieren, in dem sie damals immer mit ihm Gassi gingen, und fuhr nach Hause, wo er den Geräteschuppen aufräumte, Laub und Nadeln der Bäume rechte, und seinem Hobby des Comiczeichnens nachging.
Die absolute Ruhe, die er empfand, wurde an einem Mittwoch jäh zerstört.
Lucas saß am PC und kolorierte gerade die letzte Seite seines Action Comics Loadrunner, in dem ein biomechanischer Roboter gegen einen Mutanten Namens Crom kämpfte.
Während Lucas gerade den Kopf von Crom in Farbe setzte, klopfte jemand penetrant an die Tür. Lucas fuhr vor Schreck zusammen und sah zu den kleinen, gläsernen Rechtecken der Haustür hinaus, wo er nichts weiter sah, als den vom Glas verzerrten Fußweg, der durch seinen Vorgarten führte.
Er unterdrückte den Reiz, die Tür zu öffnen und „wer ist da?“, zu rufen.
Dann polterte es an den Glastüren, die von der Küche in den Garten führten. Lucas wirbelte herum und eilte dorthin, sah aber nichts, außer den Nadelbäumen, die sich sanft im Wind hin und her wiegten.
Inzwischen lief auch Joey wie ein aufgescheuchter Hahn durch das Wohnzimmer, machte sich steif und knurrte das Fenster über den Kamin an.
„Fein, ganz fein“, flüsterte Lucas seinem Hund zu und nährte sich dem heruntergelassenen Rollo des Fensters, wobei sein Herz ihm zwischen der Poritze zu pochen schien.
Er rückte das Rollo zur Seite und blickte in den Garten hinaus, wo die Sonne durch die kahlen Bäume auf den blauen Gastank schien, den das Pärchen seit dem Einzug nie beachtet hatte.
Nichts Ungewöhnliches war zu sehen, aber Lucas Herz schlug wie ein Dampfhammer in seiner Brust.
„Irgendwas stimmt hier nicht, ich muss die Bullen rufen“, sagte er sich. Geprägt durch die absonderlichsten Vorkommnisse in der Stadt, wo Nachbarn sich gegenseitig die Rübe einschlugen, oder Einbrecher am laufenden Band sogar am helllichten Tage ihre Arbeit vollzogen, zögerte Lucas nicht, die Ordnungshüter zu alarmieren.
Aber anders, als in der Stadt, dauerte es fast eine drei viertel Stunde, bis ein Streifenwagen mit knirschendem Geräusch den Schotterweg zu seinem Haus hinauffuhr und vor dem Häuschen parkte. Lucas sah durch die kleinen Glasrechtecke die schwarzen Uniformen der Polizisten und öffnete die Tür.
Ein großer, glatzköpfiger Polizist stand neben seinem kleinen Kollegen, der einen markanten Schnauzer trug und finster dreinblickte. Lucas bat sie herein, wobei der Große sich bücken musste, um seine Birne nicht an der Türzarge zu stoßen.
„Soeben hat jemand hier an der Tür geklopft. Aber nicht normal, sondern aggressiv. Als ich dann zur Tür ging, war da niemand. Stattdessen muss Derjenige ums Haus gerannt sein, in meinen Garten, weil er plötzlich gegen meine Hintertür polterte. Wissen Sie, meine Freundin und ich sind erst vor einigen Monaten hier eingezogen und kennen hier niemanden, der was von uns wollen würde“, teilte Lucas den Beamten mit.
Der Große von beiden sah sich um und betrachtete den kleinen Joey, der brav in seinem Körbchen lag, als wäre nichts gewesen.
Der Kleinere der beiden sah Lucas skeptisch an, zog eine Augenbraue hoch und hielt ihm eine kleine, rote Karte hin: „Die hier klemmte an Ihrer Haustür.“
Lucas nahm die Karte in die Hand, wendete seinen Blick von dem verächtlichen Grinsen des Polizisten ab und las:

Geehrter Mieter. Um 11:30 Uhr war ich wegen dem Gasvertrag bei Ihnen. Leider waren sie wieder einmal nicht anzutreffen. Auf mein Klopfen wurde nicht reagiert! Bitte halten sie sich nächste Woche für den Vertragsabschluss bereit. Eine erneute, vergebliche Anfahrt meinerseits, werde ich Ihnen in Rechnung stellen!

Lucas packte die Wut. Er verstand nicht, warum dieser ominöse Gasmann solch abstruse Geschäftsmethoden anwendete, geschweige denn, warum er ums Haus streifte und gegen die Fenster und Türen polterte. Noch weniger leuchtete ihm ein, warum keine Kontaktdaten hinterlassen wurden. Und das alles sagte er den Polizisten.
Doch der arrogante Schnauzbartträger belächelte ihn nur und sagte: „So ist das nun mal, auf dem Land.“
Der große Glatzkopf betrachtete währenddessen den PC Monitor, auf dem der heran gezoomte Metallschädel des Superschurken Crom halb koloriert zu sehen war.
Er richtete seinen Blick auf Lucas und sagte: „Sie sollten vielleicht mal Pause machen und sich nicht so viel mit solchen Fantasterein beschäftigen.“ Dabei deutete er auf den Monitor.
„Beim nächsten Mal, fragen sie durch die Tür hindurch, wer da ist, anstatt sofort bei der Polizei anzurufen. Okay? Schönen Tag noch.“
Lucas brachte keinen Ton mehr heraus, als die beiden Polizisten sein Haus verließen.
Zu seiner Angst und dem Unverständnis gesellte sich nun auch Wut, weshalb er sich an den Computer setzte und das tat, was er schon vor einiger Zeit hätte tun sollen. Er recherchierte im Internet nach sämtlichen privaten Gasversorgern für die Region um Marderstedt.
Die nächste Firma, die in Frage kam, lag im zwanzig Kilometer entfernten Rodenburg und besaß eine Webseite mit allen möglichen Kontaktdaten, so, wie es sein sollte. Sie hieß Drachenfeuer GmbH.
Lucas rief dort an und fragte, ob das Unternehmen auch sein Haus versorgte. Aber die Antwort war schlicht Nein. Und nicht nur das. Die Dame am Telefon servierte Lucas die frohe Kunde, dass Drachenfeuer GmbH aber alle anderen Häuser in Marderstedt mit Gas versorgte. Nur nicht das am Tennisplatz 1, wo er und Emilia wohnten. Sie sagte, dass das Haus schon seit zehn Jahren von einem anderen Gasversorger bedient wurde. Von wem, wusste sie nicht.
Lucas bedankte sich und legte auf. Sämtliche Energie schien seinen Kopf in Richtung Beine verlassen zu haben, und mit ihr die seidene Hoffnung, dass alles nur ein großes Missverständnis war und sie den Gasmann einfach nur verpasst hatten; dass Lucas einfach nicht schnell genug zur Tür ging, um ihm zu öffnen; dass der Gasmann ein ganz normaler Gaslieferant war, der das Haus am Tennisplatz schon seit zehn Jahren versorgte und nur seinen Job machen wollte.
Die unheimliche Gewissheit drängte sich Lucas auf, dass hier etwas ganz gewaltig nicht stimmte.
Er öffnete wieder das Zeichenprogramm seines Computers und betrachtete seinen Superschurken Crom,- ein böser Mutant mit einem Schädel aus Metall, der seine Opfer mit Rohren aussaugte, die aus seinem Körper wuchsen. Lucas hatte keine Lust mehr, sein Comic weiter zu kolorieren.

Der erste Schnee fiel und hüllte das kleine Wäldchen mitsamt den umliegenden Äckern in ein weißes, prachtvolles Gewand, inmitten dessen das kleine Häuschen wie die Miniatur in einer Schneekugel wirkte. Das Zwitschern der Vögel, das Zirpen der Grillen und der Wind, der über die Dachziegel brauste, waren verstummt, und die absolute Stille dämpfte auch das Gemüt des jungen Paares.
In dieser Zeit lernte Emilia den lauten Verkehr und das Gewusel der Stadt wieder zu schätzen und war jedes Mal heimlich froh, wenn sie zur Arbeit ging. Manchmal nahm sie sich etwas früher frei, um mit ihren Freundinnen in der Stadt ein paar Cocktails zu trinken, oder durch die Einkaufszentren zu schlendern. Ihrem Freund sagte sie nichts von ihren kleinen Unternehmungen, wenn sie sich von ihm um zirka sechzehn Uhr von der Arbeit abholen ließ, nachdem er selbst Feierabend machte. Lucas hatte sich verändert und schien seit ihrem Einzug in das neue Haus ständig gereizter zu sein. Seit der Sache mit dem Gasmann und dem Notruf der Polizei, war Lucas der Meinung, dass die Leute auf dem Land allesamt genauso verrückt waren, wie das Gesindel in der Stadt. Verrückt und irgendwie verschworen.
Und obwohl von dem Gasmann seither nie wieder was zu hören war, (in der folgenden Woche nach dem letzten Vorfall nahm sich Lucas tatsächlich wieder frei, und es tauchte niemand auf), fühlte sich Lucas ständig beobachtet, und irgendwie bedroht. Emilia saß abends  nur noch alleine vor dem Kamin und wärmte sich an ihm, während Lucas darüber fluchte, was für eine winddurchlässige Bruchbude sie dort gemietet hatten. Manchmal saß er vor dem Computer und zeichnete an seinen Comics, beugte sich aber alle zehn Minuten zum Flur, um aus den kleinen Glasfenstern der Haustür in die Nacht zu schauen. Und wenn er abends noch etwas Holzhacken ging, sah Emilia ihn mit dem Beil durch den dunklen Garten streifen und  zwischen den Nadelbäumen und hinter den Geräteschuppen schauen, als könnte dort jemand lauern.
Die Wochenenden veränderten sich. Wo sie beide sich für gewöhnlich einen Schluck Martini, oder Wein gönnten, und dazu Filme sahen, oder sich vor den Kamin kuschelten, trank Emilia fortan gar nichts mehr, während Lucas sich mehrere Gläser Whisky reinkippte und anfing, zu streiten. Seiner Meinung nach war es ein großer Fehler, so weit aufs Land gezogen zu sein. Die Spritkosten für den langen Arbeitsweg machten sich bemerkbar, und es gefiel ihm nicht, dass Joey stundenlang in vierzig Kilometern Entfernung mutterseelenallein bleiben musste.
„Stell dir mal vor, jemand bricht hier ein. Was dann mit Joey passiert, kannst du dir ja denken“, sagte er.
„Hier bricht schon keiner ein, Luc. Wir wohnen hier am Arsch der Welt“, entgegnete Emilia mit ihrer typischen Gedankenlosigkeit, die Lucas immer mehr zur Weißglut brachte.
„Soso. Du meinst, hier bricht keiner ein? Diese ganzen Zigeunerbanden und Junkies aus der Stadt fahren gerne mal ins Umland, um genau solche Buden, wie diese hier, auszunehmen. Das kriegt doch hier keine Sau mit. Und hast du mal im Dorfkern diese Skinheads gesehen? Denen traue ich auch einiges zu.“
Außerdem war Lucas der Meinung, dass Emilia die treibende Kraft zu dieser Schnapsidee war.
Als sie noch in ihrem Schuhkarton von Wohnung in der Stadt wohnten, und Lucas mitten in der Nacht gegen die Wände schlug und Flüche ausspuckte, weil der Nachbar seine Musik aufdrehte und wie ein besoffener Hafensänger rumjodelte, war es Emilia gewesen, die sich in den Kopf gesetzt hatte, aufs Land zu ziehen. Dass er selber ihr damals freudig zustimmte und davon schwärmte, wie toll das werden würde, verdrängte Lucas.
Was ihm aber nie wieder aus dem Kopf ging, was er Emilia fortan ständig vorhielt, war der Satz der Verwalterin, als diese sah, wie Emilia sich bei der Hausbesichtigung vor Freude nicht mehr einkriegen konnte: „Da leuchten ihre Augen“, sagte Frau Hermann damals vergnügt und selbstzufrieden, als Emilia über beide Ohren strahlte und sich wie ein verträumtes Gör im Kreise drehte, während Lucas sich zusammenriss und ein gezwungenes Lächeln zur Schau stellte. Es war keineswegs so, dass ihm das Haus nicht gefallen hätte, aber er war skeptisch. Er ließ vor wichtigen Entscheidungen grundsätzlich ein bis zwei Tage verstreichen, bevor er sich entschied.
Aber an dem Tag „leuchteten Emilias Augen“ und sie drehte sich wie eine Eisprinzessin in dem leeren Wohnzimmer, was Lucas hinter seinem Lächeln zum brodeln brachte. Die ach so vergnügte, nette Frau Hermann, mit ihren dünnen, kurzen roten Haaren, die ihr wie bei einem Brandopfer vom Schädel abstanden, erstickte etwaige Einwände von Lucas im Keim und sie unterschrieben den Mietvertrag sofort.
Und genau das warf Lucas seiner Freundin nun vor, dass ihre Augen leuchteten. Dass sie sich wie ein unvernünftiges Kind verhielt und sich von ihren naiven Gefühlen mitreißen ließ.
Und als er an den Wochenenden, und an seinen neuerdings häufiger stattfindenden freien Tagen öfters angetrunken war, gab er ihr die Schuld für all diese Sachen.
„Das kommt dabei heraus, wenn Weiber im Spiel sind. Weiber. Nichts als Blödsinn im Kopf“, sagte er ihr eines Abends, als sie stumm in die Glotze sah und er vor seinem Comic saß, das irgendwie nie voran kam, obwohl er ständig daran arbeitete.
Was ihm aber am meisten die Wut durch die Adern schießen ließ, waren nicht die „leuchtenden Augen“, oder die Fehlentscheidung, dort hingezogen zu sein. Oh nein. Es war die schlichte Tatsache, dass er Angst hatte, sich selbst paranoid vorkam, während seine liebe Freundin die Ruhe in Person blieb und sich scheinbar null Gedanken über die Vorkommnisse mit dem Gasmann machte. Sie machte sich scheinbar auch keine Gedanken um Joey, der stundenlang alleine bleiben musste. Er war immerhin und im Grunde genommen Emilias Hund. Sie hatte ihn damals mit in die Beziehung gebracht, als Lucas sie vor fünf Jahren kennen lernte. Sie sagte auch nichts dazu, dass Lucas sich häufiger krankmeldete und seinen Job schwänzte. Sie ließ sich einfach morgens um halb sechs von ihm zur Arbeit fahren, schwieg dabei, und ließ sich am Abend wieder abholen. Seltsamerweise immer etwas später als gewöhnlich, wie Lucas auffiel.
Und was zunächst nur ein vager Verdacht war, entwickelte sich nach und nach zur vermeintlichen Gewissheit, die Lucas den Rest gab: Emilia hatte die Schnauze voll von ihm. Die Schnauze voll von seiner neuen, verschrobenen Art, von dem Häuschen im Wald, das ihre Augen damals zum leuchten brachte. Sie würde sich trennen und Lucas hier in diesem Hinterwald zurück lassen, wo er einsam und allein frieren und seine Comics am PC zeichnen würde, während er die ganze Zeit Angst hätte, dass jemand ihn überfallen und mit seinem eigenen Beil erschlagen würde. Vielleicht der Gasmann, der scheinbar ziemlich irre war, auch, wenn Emilia das nicht begreifen wollte. Vielleicht die arbeitslosen Skindheads, die täglich im Dorfkern von Marderstedt vor dem ARIEL Discounter saßen und sich mit Bier abfüllten. Hatten diese Typen ihm nicht sogar mal etwas nachgerufen, als er ausnahmsweise mal bei ARIEL Eier kaufte, weil er sie beim Einkaufen in der Stadt vergessen hatte? Was riefen sie ihm nach? Meinten sie ihn überhaupt?
Die Fragen und Sorgen ratterten gemächlich wie Züge durch Lucas Kopf, der nichts weiter mehr war, als ein Bahnhof der Angst. Eine Kathedrale der aufkeimenden Paranoia.
Die Frage war doch: ob seine Paranoia berechtigt war. Und wenn sie es war, dann hätte er allen Grund dazu, verschroben zu werden und wütend zu sein.

Zu Weihnachten war Emilia immer noch da. Sie nahm ihre kleinen, strammen Beine nicht in die Hand und lief hinfort. Das lag vielleicht daran, dass Lucas sich etwas entspannte, weil die stillen, schneebedeckten Wochen ohne weitere Vorkommnisse abliefen. Das Paar machte wieder weite Spaziergänge durch das Wäldchen, in dessen Mitte sich der zugefrorene Waldsee befand, der ruhig und glitzernd da lag, wie eine silberne Scheibe unter einem blendend weißen Himmel.
Während Joey sich wie eine ausgeflippte Bestie aufführte, Schnee fraß und seine kleinen Kaninchenfußabdrücke im Selbigen hinterließ, konnte Lucas das Haus seines nächstens Nachbarn über die angrenzenden Felder hinweg erkennen. Es war so weit weg, dass es wie ein Fliegenschiss in der Landschaft aussah.
Wenn uns was im Haus passiert, wird es keiner mitkriegen, dachte er sich.
Dann betrachtete er Emilia, die mit Joey Stöckchen spielte und unbeschwert darüber lachte, wie ihr kleiner Hund in der dicken Schneedecke versank, wenn er loszulaufen versuchte.
Sie hatte ihr albernes, weißes Stirnband über die Ohren gezogen und ihre Augen leuchteten wieder. Braun wie ein Glas eiskaltes Malzbier vor einer Lichtquelle. Doch diesmal trieb das Leuchten ihrer Augen Lucas nicht zur Weißglut. Es rührte ihn.
War es nicht gerade diese unbeschwerte, niedliche Art an ihr gewesen, die ihm damals gefiel, als er sich in sie verliebte?
Sicher, Emilia hatte auch eine attraktive Figur mit betörend dunkler Haut und strammen Brüsten zu bieten. Aber es war ihre Leichtigkeit, ihre Gedankenlosigkeit, ihre Süße, die ihm dieses angenehme Kribbeln  im Bauch bescherte.
Lucas liebte seine Freundin. Das wurde ihm an dem eisigen Nachmittag am See bewusst,- nachdem er sich bildlich vorstellte, wie eine Gruppe von Skinheads, oder eine Einbrecherbande aus der Stadt in ihr Häuschen eindrang und sie alle abmetzeln würde.
Er liebte sie und würde sie nicht gehen lassen. Sie, und den kleinen süßen Kobold, der Joey hieß.
Stattdessen würde er die Zügel in die Hand nehmen und das tun, was er für richtig hielt: zurück in die Stadt ziehen.

2

Eisiger Winter, heißer Frühling. So winddurchlässig und ungemütlich das Häuschen am Tennisplatz 1 im Winter auch war, so gut eignete es sich in der warmen Jahreszeit, um Spaß zu haben.
Lucas und Emilia liefen bereits in T Shirts durchs Haus, und Schweiß lag auf seiner Stirn, als er in Haus und Garten Schokoladenostereier und kleine Geschenke versteckte. Es waren genau diese kindischen Albernheiten, die das Paar zusammenhielten und von negativen Gedanken ablenkten.
Während Emilia im Wohnzimmer saß, Cola trank und in einer Frauenzeitschrift las, versteckte Lucas gerade ein Bruno Banani Parfüm im hohen Gras neben dem Gastank, der immer noch nutzlos da stand.
Als er das Päckchen neben der Bodenverankerung des Tanks im Gras platzierte, fiel ihm ein braunes Ding auf, das dort lag.
Lucas sah es an und hielt es für einen Hundeleckerli, machte sich aber keine weiteren Gedanken darum. Zu unscheinbar war dieser kleine, braune Brocken.

Nach der Erkenntnis am See, die er im Winter hatte, riss sich Lucas zusammen und verdrängte sämtliche Ängste, die in seinen Kopf umher schwirrten, wie Ekel erregende Motten. Man könnte sagen, dass er ein Anti-Motten-Spray für seine Gedanken benutzt hatte.
Stattdessen unterrichtete er Emilia von dem Vorhaben, wieder in die Stadt zu ziehen. Dass sie dem zustimmte, überraschte ihn nicht.
Abgesehen von einigen Bruchbuden in den übelsten Straßen der Stadt, war es schwer, eine vernünftige Wohnung dort auf die Schnelle zu finden. So kam es auch, dass sie zu Ostern immer noch in ihrem Häuschen in Marderstedt wohnten.
Nachdem Lucas sich wieder einfühlsam und heiter zeigte, reagierte Emilia auch mit Verständnis dafür, dass er sich eine Auszeit über drei Wochen von seinem Job nahm. Dafür opferte er seinen gesamten Resturlaub und die angesammelten Überstunden, die, hätte er sie sich ausbezahlen lassen, gutes Geld eingebracht hätten.
„Damit ich spontan in die Stadt fahren und Wohnungen besichtigen kann. Außerdem ist Joey dann nicht die ganze Zeit alleine“, sagte er Emilia, als er ihr die frohe Botschaft verkündete.
Sie lächelte nur verhalten und nickte, obwohl sie genau wusste, dass Lucas Arbeitsunlust andere Gründe hatte.
Zwar erhellte der Frühling seine Laune (scheinbar), aber die halbe Flasche Whisky am Abend behielt er bei. Manchmal roch Emilia den Alkoholatem noch, wenn Lucas sie um halb sechs am morgen die vierzig Kilometer zur Arbeit fuhr, aber sie sagte nichts. Sie war einfach nur froh, dass die Streitereien aufhörten.
Und manchmal war Lucas wieder ganz der Alte. Dann machte er seiner Freundin kleine Freuden, in dem er ihr kleine Briefchen mit lustigen Zeichnungen in die Handtasche steckte, oder eben halt Ostereier aus Schokolade und kleine Geschenke versteckte, die sie suchen sollte, wie an jenem Ostern.
Er kam vom Garten in die Küche und tanzte wie ein Clown, wirbelte umher und zog Emilia an den Händen vom Sofa hoch.
„Frohe Ostern, mein Schatz. Überall um uns herum befinden sich Überraschungen, die es zu finden gilt. Jedes Versteck ausgeklügelter, als das andere. Ob du sie jemals finden wirst?“, sagte Lucas und mimte dabei einen verrückten Professor.
Da hat Emilia schon die ersten zwei Überraschungen entdeckt- ein Schokoladenei hinter der Kaffeemaschine und eine Packung Haargummis auf dem Küchenregal. Beide fingen an zu lachen.
Nach einigen Minuten hatte sie fast alle Geschenke gefunden und war nun im Garten angelangt. Während sie neugierig hinter den Geräteschuppen, zwischen die Bäumchen und Hecken und in den Stapel mit Brennholz schaute, betrachtete Lucas den blauen Himmel und konnte nicht fassen, wie viel Kraft die Sonne bereits im April hatte. Sie trieb ihm den Schweiß auf die Stirn.
Dann ein Schrei. Lucas fuhr zusammen und sah zum Gastank. Emilia hatte das Parfüm gefunden und sprang vor Freude auf und ab. Das Bruno Banani war das teuerste Geschenk von allen. Die anderen Sachen waren nur kleine Aufmerksamkeiten, zum Spaß.
„Danke, mein Schatz“, sagte sie Lucas und umarmte ihn. „Du bist echt verrückt.“
„Gefällt dir das?“
Emilia nickte und betrachtete ihr rosa Päckchen mit dem Parfüm dort drin. Lucas sah sie an und bemerkte, dass Emilias Lächeln irgendwie verlegen war. Auch fehlte das Leuchten in ihren Augen. So richtig entspannt, wie es früher zwischen den beiden war, würde es wahrscheinlich nicht mehr so schnell werden, befürchtete Lucas.       
Und dann entdeckte Emilia etwas im Gras und hob es auf.
„Was ist das denn?“, sagte sie und hielt dabei den kleinen, braunen Brocken zwischen ihren Fingern, der Lucas schon vorher beiläufig aufgefallen war.
„Sieht aus, wie ein Leckerli, oder Hundefutter, oder?“, sagte er.
„Ja schon. Aber so welche kaufen wir für Joey nicht. Wie kommt der hier her?“, sagte Emilia und drehte den kleinen Brocken zwischen ihren Fingern herum. Dabei fiel Lucas etwas an dem Leckerli auf, das seine ganze, wieder gewonnene Heiterkeit hinfort fegte, wie die Druckwelle einer Bombe.
„Gib mal her! Da steckt was drin!“
Emilia gab ihm den Brocken und sah sofort selbst, dass eine stecknadelgroße Metallspitze an der Seite heraus stach.
Lucas griff dieses Stück Metall mit den Nägeln seines Daumens und Zeigefingers, und zog eine etwa Ein Zentimeter lange, gebogene Nadel aus dem Leckerli. Es war kein richtiger Angelhaken, kam dem aber recht nahe. Er hielt die Nadel hoch vor seine und Emilias Augen, und das Paar betrachtete fassungslos, wie sie im Schein der schadenfrohen Aprilsonne funkelte.
„Joey! Joey! Rein mit dir, sofort!“
Lucas scheuchte den kleinen Mischling mit den Füßen ins Haus, der das Ganze für ein Spiel hielt und mit dem Schwänzchen wedelte. Nachdem Lucas ihn ins Haus kickte und die Glastür zumachte, stand Joey da, hechelte und glotzte voller Erwartungen aus seinen treudoofen Augen, als würde etwas Spaßiges anstehen.
Aber Lucas war ganz und gar nicht zum Spaßen zu mute. Sein Kopf verwandelte sich in eine rote Tomate und die Adern an seiner Stirn traten hervor, die Emilia immer signalisierten, dass ihr Freund kurz davor war, zu explodieren.
Sie hingegen begann zu zittern und spürte, wie die Schockblässe sich über ihr Gesicht breit machte. Sie sah, dass Lucas wie von der Tarantel gestochen den Garten nach weiteren Nadelködern absuchte und tat es ihm mit Wackelpuddingbeinen gleich.

„Ich wusste, dass hier etwas nicht stimmt! Diese beschissenen Rednecks! Diese verdammten Nazis! Diese kranken Wichser sind doch überall gleich, wo immer man auch hinzieht! Scheiße! Ich wusste, dass wir hier Probleme haben würden. Aber nein: deine Augen mussten ja leuchten!“
Emilia wusste nicht, was sie schlimmer finden sollte. Lucas Tobsuchtsanfall und seine erneuten Vorwürfe, nachdem sie und er insgesamt zehn mit gebogenen Nadeln gespickte Hundeleckerlis im Garten fanden, oder die Tatsache, dass Lucas Recht hatte und hier jemand ein gewaltig mieses Spiel trieb.

Die gefährlichen Köder, die nun wie Beweismittel auf dem kleinen Wohnzimmertisch lagen, lagen vorher überall im Garten verstreut. Und sie wussten nicht, wie lange sie schon dort waren.
Hatte Joey vielleicht schon eins dieser Dinger gefressen? Würde er in den nächsten Stunden seine drollige Art verlieren und nicht mehr wie ein ferngesteuertes RC Auto durch die Gegend flitzen, sondern stattdessen apathisch werden und anfangen, Blut zu würgen?
Diese Gedanken ließen Emilia erschaudern und brachten sie zum weinen.
Lucas, der nun gegen die Wände boxte und wie ein wildes Tier im Käfig auf und ab lief, machte die Sache nicht besser.
„Diese Schlampe! Sie war das! Sie, oder irgendjemand, den sie kennt! Ich wusste von Anfang an, dass sie ne verdammte falsche Schlange ist. Diese abgefuckte Hure!“, schrie Lucas aus und kickte gegen die Glasvitrine mit den Modellautos, die Emilia ihm nach und nach geschenkt hatte. Glassplitter  und Autoteile flogen durch die Luft und das berstende Geräusch ließ Emilia noch heftiger schluchzen. Joey tapste auf sie zu und sie nahm ihn auf den Schoß, damit er sich nicht die Pfoten an den Glassplittern verletzte. Sie drückte ihren Hund fest an sich, als wäre er der letzte Anker der Normalität in dieser kranken, schrecklichen Situation.
Sie drückte ihn so fest, dass seine Glubschaugen aus den Höhlen traten, während er immer noch unablässig mit dem Schwanz wedelte und ihre Tränen abschleckte.
„Wenigstens hat er keins davon gefressen. Hoffe ich zu mindest. Und wenn doch, bring ich denjenigen um, der dafür verantwortlich ist. Das schwör ich dir, Em!“, sagte Lucas und dämpfte dabei seinen Ton. Es tat ihm weh, dass seine Freundin derart herzzerreißend heulte. Aber es brachte ihn gleichzeitig weiter von hundertachtzig auf dreihundertsechzig.
Und er behielt diese Wut gerne bei, bevor sie abklingen und den Weg für die Angst frei machen würde.
Er nahm das Haustelefon und rief die Polizei. Zum zweiten Mal seit ihrem Leben auf dem Land, wo es doch im Allgemeinen so viel stiller und ruhiger war, als in der Stadt.
Dabei hoffte er, dass nicht wieder der gigantische Glatzkopf mit seinem kleinen Schnauzbartkollegen auftauchen würde. Doch seine Hoffnung erstickte im Keim, als er wenig später die Tür öffnete.

Die beiden Polizisten standen im Wohnzimmer und beäugten Lucas mit Blicken, die auszusagen schienen: Was ist denn nun schon wieder los? Wieder mal ein Anfall von Paranoia? Oder hast du deiner Freundin eine gedonnert, du kleiner Choleriker?
Lucas zeigte den Beamten die Hundeleckerlis, die mit Nadeln gespickt waren. Der große Glatzkopf nahm einen der Brocken in die Hand und betrachtete ihn, während Schnauzbart die zertrümmerte Vitrine und die am Boden liegenden Modellautos in Augenschein nahm.
„Haben sie hier mit Irgendjemanden Probleme?“, fragte der Glatzkopf das Paar.
„Nein! Wir kennen hier in Marderstedt immer noch niemanden. Der nächste Nachbar wohnt in einigen Kilometern Entfernung, den haben wir nie gesehen. Und ansonsten…haben wir hier mit niemanden etwas am Hut. Die Einzige, die wir kennen, ist die Verwalterin, Frau Hermann. Aber mit der hatten wir nie Probleme. Trotzdem kam sie mir irgendwie…“, bevor Lucas seinen Satz beenden konnte, unterbrach der Polizist ihn.
„Okay, wir wollen hier nicht spekulieren. Es kann auch einfach sein, dass sich hier jemand einen üblen Scherz erlaubt hat. Eventuell war das auch ein Hundehasser, oder so was. Wir können eine Anzeige aufnehmen, aber das wird ihnen beiden nicht viel bringen. Wichtig ist, dass sie die Sache nicht allzu persönlich nehmen.“
Lucas sah seine immer noch heulende Freundin an und fing an zu grinsen. Es war ein Grinsen, der Emilia den Atem stocken und die beiden Polizisten achtsam werden ließ.
„Ist das ein Witz? Nicht persönlich nehmen? Natürlich nehme ich diese Scheiße persönlich! Jemand wollte unseren Hund töten! Und dann noch die Sache mit diesem Gasm…“
Der Glatzkopf hielt ihm die riesige Hand vor das Gesicht und sagte „Stopp!“
Seine Hängebacken verzogen sich zu einer ungemütlichen Steinmiene.
„Wie ich schon sagte: Spekulieren bringt nichts! Und die eine Sache muss mit der Anderen nichts zu tun haben. Wir bringen das hier jetzt zur Anzeige, okay. Aber fangen Sie nicht an, Dinge miteinander zu vermischen! Sie scheinen mir sowieso ziemlich angespannt zu sein. Also, einigen wir uns jetzt darauf, dass wir diese Sache hier zur Anzeige bringen?“
Lucas Adern an Kopf und Hals waren fingerdick und pulsierten. Emilia hörte ihn laut atmen und schnauben, als wollte er wie ein wütender Kampfstier auf die Polizisten zustürmen und sie angreifen. Aber er nickte und riss sich wieder zusammen. Dann starrte er mit seinem hochroten Gesicht und einem angedeuteten, falschen Grinsen in eine Ecke des Raumes und stimmte zu, die Sache zur Anzeige zu bringen. Emilia hasste es, wenn ihr Freund so aussah. Und in den letzten Monaten musste sie diese Fratze eines Wahnsinnigen schon öfter ertragen, als in den ganzen Jahren zuvor, in denen sie zusammen waren.
Die Polizisten gingen in den Garten, um nach weiteren Nadelködern zu suchen, falls das noch nicht alle waren, die Lucas und Emilia gefunden hatten. Nach etwa drei Minuten verloren sie scheinbar die Lust zu dieser speziellen Ostereisuche und kamen wieder ins Haus, um sich von dem Paar zu verabschieden.
„Wir werden die Sache wie gesagt zur Anzeige bringen. Ob da Was bei rauskommt, ist ne andere Sache. An ihrer stelle würde ich den Hund vorerst nicht mehr allein in den Garten lassen.“
Lucas und Emilia nickten.
Dann zeigte der Schnauzbartträger mit seinem Kugelschreiber auf die zerstörte Vitrine, die nun nichts weiter war, als ein Teppich aus Glassplittern.
„Kommt es häufiger zu solchen Sachen bei Ihnen?“, fragte er und sah dabei vor allem Emilia an, die mit aufgequollenen Augen und Joey auf dem Schoß da saß und den Kopf schüttelte, aber nichts sagte. Verdammt, selbst auf Lucas wirkte sie, wie ein verängstigtes Reh, das von seinem tyrannischen Partner womöglich auch noch geprügelt wird. Und als der Polizist mit dem absurden Schnauzbart, der ihn an einen Besen erinnerte, ihn ansah, wusste er, worauf dieser hinaus wollte.
Lucas sagte: „Keine Sorge. Zwischen mir und meiner Freundin ist alles okay. Ich habe die Vitrine in der Hektik des Geschehens umgeworfen. Dass ich aber angespannt und gereizt bin, kann man doch wohl nach den ganzen Ereignissen hier nachvollziehen, oder?“
Jetzt mischte sich der große Polizist wieder ein, der scheinbar von beiden das Sagen hatte: „Nachvollziehen können wir es. Aber dennoch: bewahren Sie einen kühlen Kopf! Es bringt nichts, sich aufzuregen und womöglich noch irgendwelche Dummheiten zu machen. Haben wir uns da verstanden?“
Lucas nickte nur und wusste, dass er in Zukunft nie wieder bei der Polizei anrufen würde. Zumindest nicht in Marderstedt. Ignorante Polizeibeamte waren nichts Neues für ihn. Aber diese beiden Kerle waren in ihrer abweisenden Art und Verständnislosigkeit unübertroffen.
Womöglich stecken die mit der rothaarigen Schlampe unter einer Decke, schwirrte ihm plötzlich durch den hitzigen Kopf.  

Nachdem die Polizisten von Dannen zogen, sammelte Emilia die Überreste der Vitrine ein. Die paar Modellautos, die unversehrt geblieben waren, stellte sie zur Seite. Die völlig Zerstörten hingegen schmiss sie in den großen Müllbeutel, ohne Lucas zu fragen, ob er sie behalten wollte. Lucas konnte nichts dafür, dass sie in so eine schreckliche Lage geraten waren und die Gewissheit, dass irgendjemand es auf das nette junge Paar aus der Stadt abgesehen hatte, raubte Emilia den Atem. Aber sie ertrug Lucas Wutausbrüche nicht mehr. Und langsam erreichten auch seine Vorwürfe ihren Verstand und verankerten sich dort als kleine Parasiten, die ihr ständig zu sagen schienen: „Du bist Schuld! Du bist Schuld! Du bist Schuld! Und zwar an Allem!“
So ein Osterfest hatte sie sich ganz bestimmt nicht vorgestellt.
Als sie Lucas Lieblingsauto in die Mülltüte werfen wollte, das Modell einer alten Mercedes S Klasse, das nun zertrümmerte Plastikfensterchen und abgebrochene Räder hatte, hielt sie Inne und fragte ihn, ob er es noch behalten wollte.
Doch anstatt zu antworten, murmelte er irgendetwas vor sich her, während er seine Jacke anzog und die Autoschlüssel suchte.
„Was hast du vor, Luc?“, fragte sie ihn.
„Was ich vor habe? Zu dieser Schlampe Hermann hinfahren und sie zur Rede stellen!“
Emilia verstand nicht, warum Lucas die Verwalterin so verdächtigte. Die Frau war damals so nett und freundlich, als sie ihnen das Haus zeigte. Und sie hatten mit ihr seit dem Einzug nichts mehr zu tun.
„Über die Feiertage ist sie sowieso nicht im Büro. Und warum eigentlich, bist du so der Meinung, dass sie hinter den Ködern steckt? Es kann doch tatsächlich sein, dass hier einfach irgendein Spinner in Marderstedt rum läuft und diese Dinger auslegt. Und zwar nicht nur bei uns“, versuchte Emilia ihren Freund zu beruhigen.
Aber der grinste nur noch wahnsinniger und sagte: „Du hast Recht! Die dumme Fotze ist bestimmt nicht im Büro. Ich werde sie anrufen.“
Emilia schossen wieder die Tränen in die Augen und ihr war da nach zumute, einfach auf den Boden voller Glassplitter zu kotzen.
Nachdem sich nur die Mailbox von Frau Hermann meldete, trampelte Lucas wie ein Wirbelsturm an ihr vorbei, trat dabei sogar einen noch heilen VW Käfer zu Schrott, und schlug die Haustür hinter sich zu. Emilia brach in Tränen aus und ließ sich auf den Boden voller Glas sinken. Sie krümmte sich zusammen und schrie so laut, dass Lucas es sogar noch im Auto hörte, als er gerade die Einfahrt verließ.

Die sieben Kilometer bis zum Dorfkern dauerten nur ein paar Minuten und der alte Audi ächzte unter dem Bleifuß seines vor Wut brodelnden Fahrers. Als Lucas vor dem Maklerbüro mit der Aufschrift HERMANN IMMOBILIEN UND HAUSVERWALTUNG stand, zuckte er vor dem Spiegelbild seines eigenen Gesichtes in der Glastür zurück. Es war das Gesicht eines paranoiden Wahnsinnigen, der möglicherweise in seiner Verzweiflung Schaden anrichten könnte und zu letzt womöglich in der Psychiatrie, oder im Knast landen würde.
Nach dem er aber in den dunklen Tiefen des Büros die Bewegungen einer geisterhaften, langen Gestalt sah, verdrängte er seine Gedanken und er klopfte an die geschlossene Tür.
Nach dem ersten Klopfen konnte er das hagere Gesicht der Gestalt erkennen, das zur Tür blickte und für ein paar Sekunden erstarrte. Durch die Spiegelung der Sonne im Glas konnte Lucas nicht genau erkennen, welchen Ausdruck das Gesicht hatte- es schien sowohl zu grinsen, als auch verschreckt zu sein.
Als Lucas weitere Male gegen die Scheibe klopfte, eilte die schemenhafte Silhouette aus der dunklen Tiefe zur Tür und nahm Gestalt an- wie ein Hai, der aus den Tiefen des Meeres aufsteigt und dann sein hässliches Gesicht aus dem Wasser hält.
Frau Hermann, eine alte, groß gewachsene dünne Frau mit Sommersprossen in ihrem eingefallenen Gesicht, stand vor ihm und hielt sich erschrocken an ihrem grünen Seidenschal fest. Mit ihren abstehenden, roten Haaren, die nichts weiter waren, als Büschel dünner Spinnweben, wirkte sie auf Lucas wie ein Brandopfer, oder ein gemeiner Truthahn.
Durch ihre pastellfarbenen Seidengewänder, die sie scheinbar immer trug, wirkte sie wie ein Relikt aus der Hippiezeit. Lucas empfand schon damals bei der Hausbegehung tiefe Verachtung für diese Frau, obwohl sie doch so nett und freundlich gewirkt hatte.
„Herr Debur, da haben Sie mich aber erschreckt. Ich war nur ganz zufällig im Büro, da haben Sie ja Glück, dass sie mich antreffen. Was kann ich für Sie tun? Ist irgendetwas passiert?“, fragte die Verwalterin mit sorgvollem Gesicht.
Lucas versuchte sich zusammen zu reißen, aber es gelang ihm nicht. Er stand immer noch angespannt da, wie ein kampfbereiter Hahn und es fehlte nicht mehr viel, da wäre Dampf aus seinen Ohren geschossen.
„Frau Hermann, kann es sein, dass Sie genau wissen, warum ich hier bin?“
„Herr Debur, ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Ist etwas mit dem Haus? Sie sind ja ganz aufgelöst. Kommen Sie doch erstmal rein und trinken Sie et…“
Bevor sie aussprechen konnte, hob Lucas seinen Zeigefinger und hielt ihn ihr drohend vor das Gesicht. Er wusste, dass er nur einen Telefonanruf weit davon entfernt war, von Meister Proper und seinem Kollegen mit dem Besen im Gesicht festgenommen zu werden. Zumindest mit auf die Wache hätten sie ihn genommen. Aber das war ihm jetzt egal.
„Jemand hat mit Nadeln gespicktes Hundefutter bei uns im Garten verteilt! Bei uns im Garten, verdammt noch mal! Jemand wollte unseren Hund umbringen, verstehen Sie das!?“
Die Verwalterin hielt sich die dürren Finger vor den zum O geformten Mund mit den schmalen Lippen und riss ihre tiefblauen Augen auf.
„Oh Gott, das ist ja…furchtbar. Herr Debur, ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Dann fasste sie den aufgebrachten jungen Mann vor ihr mit mütterlicher Fürsorge an die Schulter. „Kommen Sie doch erst einmal ins Büro. Ich werde Ihnen etwas zu Trin…“
„Fassen Sie mich nicht an!“, schrie Lucas sie an und schlug mit seinem Handrücken ihre mit Sommersprossen besprenkelte Hand weg. Die Verwalterin zuckte zurück und ihre Augen traten vor Angst aus den Höhlen.
„Wissen Sie was, Frau Hermann? Ich glaube, dass Sie genau wissen, wer diese scheiß Köder in meinen Garten gelegt hat. Ist doch seltsam: Wir ziehen hier her, in dieses gottverlassene Kabuff, haben hier mit niemanden etwas zu tun, keine Nachbarn, kein Ärger mit Irgendwem. Und dann passiert so was. Die einzige Person, die wir hier kennen, mit der wir etwas zu tun hatten, sind Sie, Frau Hermann!“
„Aber,…aber, Herr Debur, was wollen Sie damit sagen?“
Lucas Gesicht wechselte zwischen wahnsinnigem Grinsen und von Wut verzerrter Fratze hin und her, wie eine defekte Glühbirne, die sich nicht entscheiden kann, ob sie Licht, oder Dunkelheit machen will.
„Und na klar, zufällig sind Sie dann am Ostersonntag hier im Büro, was für ein Zufall. Und nicht nur das. Was ist mit diesem beschissenen Gasmann? Dieser kranke Typ, der bei uns aufkreuzt und gegen meine Fenster poltert, und dann spurlos verschwindet und seine dämlichen Zettel hinterlässt. Na? Was ist mit Dem?“, fragte Lucas die Verwalterin und schien dabei von seiner feuchten Aussprache keine Notiz zu nehmen. Er war sonst immer selber Derjenige, der sich über die feuchte Aussprachen anderer Leute mokierte. Aber jetzt war er nicht mehr er selbst, und das spürte er im Hintergrund seines vor Zorn vernebelten Verstandes.   
Er kam sich vor, wie ein paranoider Wahnsinniger mit Wahnvorstellungen,- nur, dass er genau wusste, was er tat und was er erlebte.
Frau Hermann, die Verwalterin, trat Stück für Stück zurück und schob langsam die gläserne Bürotür zwischen sich und ihrem irre gewordenen Mieter. Für einen kurzen Moment erkannte Lucas echte Panik in ihren Augen, aber kurz darauf war er wieder der Meinung, dass diese hässliche Frau, die gut die Rolle einer Hexe in einem Theaterstück hätte übernehmen können, ein Schauspiel ablieferte.
„Herr Debur, ich weiß immer noch nicht, was Sie von mir wollen, oder was Sie von mir denken. Ich habe mit diesen Hundeködern nichts zu tun!
Und was den Gasmann anbelangt: haben Sie mit ihm denn noch kein Vertrag abgeschlossen? Er ist zwar etwas schusselig, aber in der ganzen Zeit, wo Sie und Ihre Partnerin dort wohnen, hätte er sich doch…“
Wieder ließ Lucas sie nicht aussprechen und trat näher an die Glastür. Nur noch ein Schritt und er hätte seinen Fuß zwischen Tür und Angel gehabt.
„Gegenfrage: Wer zum Teufel ist dieser Gasmann? Wo wohnt er? Wo hat er seinen Firmensitz? Verdammt noch mal! Sie müssen ihn doch kennen! Gibt’s Den überhaupt?“
In Lucas aufgeheizten Kopf machte sich die vage Hoffnung breit, dass seine Hausverwalterin so echt war, wie die warme Aprilluft, die ihn zum schwitzen brachte; und er hoffte, dass er jetzt endlich einige Infos zu diesem ominösen Gasanbieter bekommen würde; dass sich alles als ein riesiges Missverständnis entpuppen würde; dass dieser Gasmann nur ein verschrobener, schludriger Hinterwaldunternehmer wäre; dass die Nadelköder tatsächlich nichts damit zu tun haben würden; dass auch andere Hundebesitzer in Marderstedt diese mörderischen Leckerbissen zu Ostern geschenkt bekommen hätten.
Aber dann legte Frau Hermann ein Verhalten an den Tag, das sämtliche kleine Hoffnungen vernichtete und ihn dazu verdammte, ein unglaubwürdiger, paranoider Choleriker zu sein, wenn er anderen davon erzählte: Sie musste anfangen zu lachen.

Frau Hermann konnte es sich nicht verkneifen und presste ihren Seidenschal vor das Gesicht, um ihr gehässiges Lachen im Keim zu ersticken. Dann riss sie sich wieder zusammen und verzerrte ihr knöchernes Gesicht zu einer Fratze voll tiefer Bestürzung.
Obwohl Lucas sich ausgemalt hatte, dass diese Frau ein falsches Spiel trieb, entsetzte ihn ihr Verhalten. Sie wechselten praktisch die Rollen: jetzt war er der Schockierte, der zwei Schritte zurück tat, und sie war die Irre.
Er konnte es kaum fassen, dass er Recht mit seinem Gefühl hatte und diese Verwalterin eine kranke, bösartige Frau war, die sich hinter ihrem Job als erfolgreiche Immobilienmaklerin und Verwalterin versteckte, die nach außen hin als gutmütige Esoterikerin, oder Alt Hippie auftrat.
Vielleicht war diese Frau wirklich eine Hexe? Oder einfach nur pervers!
Frau Hermann hielt die Tür nun nur noch einen Spalt geöffnet und reckte ihr skelettartiges Gesicht mit den roten Haarbüscheln heraus. Sie hatte wieder die Rolle der entrüsteten, ahnungslosen Frau angenommen.
„Herr Debur, ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir wollen. Gehen Sie jetzt…HILFE! HILFE! HILFE! POLIZEI, HILFE!“
Lucas trat noch mal einige Schritte zurück und das Entsetzen über das Verhalten dieser Frau verdrängte seine Wut für einen kurzen Moment. Er verstand nicht, worauf sie mit ihren Hilferufen hinaus wollte.
Dann hörte er das ruckartige Quietschen von Gummi auf Asphalt und drehte sich um zur Strasse. Der bereits vertraute Streifenwagen hielt dort und am Steuer war Kommissar Schnauzbart. Der Polizist starrte Lucas durch das geöffnete Fenster an, als konnte er es nicht erwarten, dem Jüngling aus der Stadt den Hals umzudrehen.
Der Streifenwagen fuhr auf den Parkplatz des Immobilienbüros, hielt genau hinter Lucas schäbigen Audi und der Polizist sprang förmlich heraus. Er war zwar klein, aber sein Gesicht mit dem satten Schnauzbart und dem schwarzgrauen Bürstenhaarschnitt wirkte kantig und eisern. Die Unterarme dieses kleinen Mannes strotzten vor hervortretenden Adern und kleinen, aber harten Muskeln.
„Was ist denn hier wieder los?“, fragte er, als er strammen Schrittes auf Lucas zuging.
Nun riss die Verwalterin die Glastür komplett auf und trat heraus. Wieder hatte sie ihren grünen Seidenschal an den Mund gepresst und mühsam erzeugte Tränen quollen aus ihren Augen.
Sie sah den Polizisten an und sagte mit tränenschwangerer Stimme: „Der junge Mann bedroht mich! Er hat mir gedroht, mich umzubringen!“
Lucas schüttelte den Kopf mit weit aufgerissenen Augen und hob die Hände vor seine Brust, als wollte er sich bei einem Überfall ergeben. Dazu stammelte er: „Nein! Nein! Das …stimmt nicht! Ich habe niemanden bedroht…Nein!“
„Haben wir immer noch nicht genug von den Sperenzchen, Herr Debur?“, fragte der Polizist. Aber seine Frage war eigentlich mehr eine Feststellung und er schob Lucas mit seiner Hand einige Schritte zurück, weg von der Glastür des Immobilienbüros.
„Sie verstehen nicht! Ich wollte mit der Verwalterin über die Köder in meinem Garten sprechen. Dann fing sie an zu lachen. Sie lachte mich aus! Verstehen Sie das? Diese Frau steckt hinter dieser Sache. Entweder war sie es selbst, oder sie kennt denjenigen, der es…“
„Oh Gott, oh Gott!“, schrie die Verwalterin. „Womit habe ich das verdient, mit solchen wirren Dingen beschuldigt zu werden? Dieser Mann ist verrückt. Verrückt!“, sagte sie noch und begann, in theatralisches Geheule auszubrechen.
„Die Freundin und der Hund tun mir am meisten Leid!“, fügte sie hinzu, während sie in den Sturzbächen ihrer Tränen in die Hocke ging.
Kommissar Schnauzbart sah sie verdutzt an, richtete dann seinen Blick auf Lucas und drückte ihn in Richtung des Streifenwagens.
„Sie werden jetzt erstmal mit auf die Wache kommen. Irgendwann reicht es auch mit Ihren Querelen!“, sagte er.
Lucas Herz sprang im Dreieck und er ließ sich nur widerwillig von dem Polizisten zu dem Wagen drängen. Sein Verstand schien sich in eine explosive, verworrene Mixtur verwandelt zu haben, die er kaum noch selbst beherrschen konnte. Es fehlte nicht mehr viel, und er hätte den etwa halben Kopf kleineren Polizisten umgerannt und die Verwalterin in Stücke gerissen. Aber, da er nicht so verrückt war, wie die anderen ihn, und er sich selbst mittlerweile,  einschätzten, ließ er nun sämtlichen Protest bleiben und stieg sogar freiwillig in den Streifenwagen ein. Später, auf der Wache, würde sich noch genug Gelegenheit ergeben, diesen Rauhaardackelgesichtigen Beamten vernünftig von der Sache zu erzählen. Die Polizei würde Ermittlungen betreiben und herausfinden, dass Frau Hermann eine Geisteskranke war, die entweder allein, oder in Verbindung mit einem Handlanger mit Nadeln gespickte Hundeleckerlis verteilte und sich als den Gasmann ausgab, den es nicht gab. Der ganze Spuck würde dann ein Ende nehmen.
Lucas saß in dem Wagen auf der Rückbank und sah den schnauzbärtigen Polizisten mit Frau Hermann sprechen. Sie fuchtelte wild mit den Armen, schaute aber nicht zu ihm rüber. Stattdessen gingen die beiden in das Büro und verbrachten dort etwa fünfzehn Minuten, wie Lucas an der Digitaluhr im Armaturenbrett des Streifenwagens sah.
Er war überrascht, dass er eine seltsame Ruhe verspürte, seitdem er auf dem Rücksitz Platz genommen hatte. Die ganze Situation und sein eigenes, groteskes Verhalten ekelten ihn hintergründig an, aber das war ein gutes Zeichen. Das Zeichen, dass er nicht verrückt war, sondern diese rothaarige Hexe dort drin in dem Maklerbüro. Als Lucas an ihre abstehenden, dünnen roten Haarbüschel dachte, wurde ihm schlecht.
Als er an Emilia dachte, die da allein in dem Haus mit zu Grunde liegenden Nerven hockte und nicht wusste, was Lucas erlebte, übergab er sich in trockenem Würgereiz, ohne wirklich zu kotzen. Er hatte an dem Tag nichts gegessen.

3
Emilia

Das monotone Geräusch des Staubsaugers tat ihren Kopfschmerzen gut. Während das Gerät sein lautes Säuseln abgab, schienen die Gedanken betäubt zu sein. Sie kamen sogar auf andere Pfade. Vielleicht war das der Grund, warum sie fast täglich nach der Arbeit so gerne saubermachte und staubsaugte.
Die meisten Splitter der Vitrine waren beseitigt, und Joey konnte wieder ungestört umher trollen, wie er es gerne wollte. Aber er lag nur erschöpft in seinem Körbchen, zusammengekringelt zu einer Fellschlange, und seufzte.
„Den hier hab ich ihn damals geschenkt“, flüsterte sie, als sie das Modell der S Klasse betrachtete. Obwohl es genauso zerstört war, wie einige andere Modellautos, warf sie es nicht weg.
„Er hatte sich damals so gefreut, wie ein kleiner, großer Junge“, sagte sie zu sich selbst und musste lächeln, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Sie war gerade im Begriff, den Miniatur Mercedes auf den Schreibtisch zu legen, als sie daran dachte, was ihr aufgebrachter Freund gerade machen würde. Doch sie wollte es gar nicht wissen und schmiss den zerstörten Wagen in die Mülltüte voller Überreste der Vitrine und Automodelle.
Emilias Herz war zum zerreißen gespannt. Aber nicht vor Neugier, oder Vorfreude, sondern vor Angst, Wut und Verwirrung.
Sie blickte auf den Tisch mit den eingesammelten Nadelködern, von denen die Polizisten nur etwa drei als Beweismittel mitnahmen. Ihr Blick wanderte auf Joey, der sie mit großen, braunen Murmeln ansah und das Schwänzchen zucken ließ, als wollte er sich freuen, und es dann doch aufgab.
Sie sah an die Holz vertäfelte Decke des Wohnzimmers und empfand sie als hässlich. Hässlicher, als je zu vor. Dieses ganze Haus war hässlich und widerlich und brachte nur das Schlechteste in ihr und vor allem in ihrem Freund zum Vorschein. Das Hässliche in Lucas, das in der Zeit in der Stadt langsam zum Vorschein kam und nun hier seinen Höhepunkt hatte. Selbstverständlich hatte sie Verständnis für seine Wut, für sein irres Verhalten, nach Allem, was heute passiert war.
Aber konnte sie damit auf Dauer damit leben? Konnte sie mit einem Mann zusammen sein,  der mehr in die schrecklichen Dinge des Lebens hinein interpretierte, als nötig war? Ein Mann, der ihr immer wieder die Schuld für solche Dinge geben würde, nur, weil sie so ruhig und harmoniebedürftig war?   
„Nein!“, schrie Emilia und brach wieder in Geheule aus, obwohl sie dachte, dass sie bereits so viel geweint hätte, dass sämtliche Tränen versiegt wären.

POCK, POCK, POCK

Joey streckte seinen kleinen Kopf aus dem Körbchen und fing an zu knurren. Emilias Herz stand für einen kurzen Moment still und sie erstarrte, wie eine kniende Eisstatue mit einer Mülltüte in einer, und einem Handbesen in der anderen Hand.
„Lucas!“, rief sie aus und reckte sich zur Haustür.
Doch hinter den kleinen, gläsernen Rechtecken in der Haustür war nichts zu sehen, außer dem Grau des Schotterwegs und dem Grün der Fichten und Tannen.
POCK, POCK,…POCK, machte es an der Hintertür. Dann ein POCK an dem Fenster über dem Kamin und wieder ein POCK, POCK an der Außenwand des Hauses, bis es wieder an der Haustür ertönte.
Emilia war gerade noch in der Lage, aufzustehen und sich zitternd gegen die Wohnzimmerwand zu pressen, von wo aus sie sämtliche Fenster sehen konnte. Sowohl die Fenster -besser gesagt die Hintertür zum Garten- in der Küche, als auch die Kleinen in der Haustür und das, über dem Kamin.
Im grellen Schein der Außerwelt war nichts zu sehen.
Joey stemmte sich aus dem Körbchen und rannte auf seinen Stummelbeinen umher und bellte. Stocksteif, wie ein Plüschtier von Steiff.
„Hier her! Komm her, Joey!“, flüsterte Emilia ihn mit zittriger Stimme zu, und er kam. Er hopste ihr auf den Arm und kraxelte wie ein Leguan um ihre Schultern herum, während er knurrte.
Der Atem blieb Emilia in der Kehle stecken und ihre Beine verwandelten sich zu Schläuchen voll Wasser. Dann wieder  ein POCK.
POCK, POCK, POCK, POCK, POCK, einmal rund ums Haus und wieder von vorn. Noch nie hatte sie sich sehnlichster gewünscht, dass Lucas jetzt bei ihr wäre.

Das einzige Fenster, von wo aus sie nicht die Außenwelt sehen konnte, war das über dem Kamin. Das Rollo an diesem Fenster war Tag und Nacht heruntergelassen, seitdem sie in dieses Haus einzogen. Sie ließen es damals so, weil Emilia an einem Abend vor dem Kamin sagte, dass sie es gruselig finden würde, wenn es hochgezogen wäre.
Damals war es nur eine alberne Vorstellung, dass ein Fremder vor diesem Fenster stehen und heimlich herein glotzen konnte.
Aber jetzt war es bittere Realität.
„Lucas, wo bist du?“, flüsterte sie ihrem Mischling ins Ohr, der immer noch stetig vor sich hin grummelte, wie ein Gewitter.
Nachdem sie ein paar Minuten dort stand, mit dem Hund auf dem Arm und mit schlotternden Knien, und es kein weiteres POCK mehr gab, und auch keine Schatten an den anderen Fenstern zu sehen waren, schlich sie sich langsam zu dem Fenster über den Kamin. Sie wagte es kaum, die Lammelen des Rollos mit Daumen und Zeigefinger auseinander zudrücken, aber sie tat es trotzdem. Joeys Grummeln wurde stärker und erschreckte Emilia umso mehr.
Sie presste zwei der Lamellen auf Augenhöhe auseinander, schärfte ihren Blick, hielt den Atem an, und sah nichts.
Nichts, außer dem hellblauen, verwitterten Gastank, der nutzlos inmitten von hoch gewachsenen Grasbüscheln stand. Die Sonne und das dumpfe Zwitschern der Vögel tauchten die Außenwelt in den gleichen, wattebauschähnlichen Zustand, der sich auch in Emilias Inneren befand. Ihre Kopfschmerzen pulsierten hintergründig, ihre Angst versiegte vorerst in einem ausgetrockneten Boden voller Resignation und Schwäche.
Aber Joey grummelte stärker, als zu vor.
Er knurrte das Fenster und den dahinter liegenden Gastank an, der sich etwa zwei Meter vor dem Fenster befand. Und je mehr Joey knurrte, desto mehr keimte ein Pflänzchen der Angst wieder in Emilias ausgedörrten Boden der Gefühle auf. Und dieses Pflänzchen wuchs schnell, als Joey anfing, zu bellen und zu keifen.
Emilias Atem schien auszusetzen und ihr Herz schlug heftig in der Brust, so sehr, dass ihr Schlüsselbein bebte. Ihr weit aufgerissenes Auge starrte zwischen den Lammellen hindurch.
Sie sah zu, wie sich eine Gestalt hinter dem Gastank erhob. Zu erst nur ein schwarzer Kopf, dessen seltsame Metallschnallen an den Schläfen und der Stirn im Sonnenschein funkelten. Dann ein Gesicht, das aus zwei großen, schwarzen Gläsern und einer Art Gasmaske bestand und ausdruckslos zum Fenster stierte. Ein langer, in Leder eingepackter Hals, der zu lang für den eines Menschen zu sein schien. Und schließlich zwei weit ausgestreckte, dünne Arme, genauso in Leder gehüllt und mit seltsamen Metallschnallen verziert. Aus dem dünnen Körper der Kreatur ragten schwarze Schläuche heraus, die sich wie dicke Würmer zu bewegen schienen. Die Sonne funkelte in dem seltsam schillernden Rumpf der Gestalt, die sich nun bis zu den Hüften hinter dem Gastank erhoben hatte.
„Nein! Nein! Das kann nicht sein, das kann nicht sein!“, flüsterte Emilia ihrem Hund ins aufgestellte Ohr und ließ die Lammelen los, um seine Schnauze mit der Hand zu packen. „Pssss, pssssssssssss!“, zischte sie ihren Hund an. Zwar konnte sie jetzt nicht mehr sehen, was die Gestalt als nächstes machte, aber Joeys Knurren musste gestoppt werden. Das Viech da draußen durfte um keinen Preis der Welt auch nur einen Mucks hören. Sie schlich mit Joey auf dem Arm, und ihrer Hand auf seiner Schnauze, zur Wendeltreppe, die nach oben zu dem kleinen Schlafzimmer führte, das seit ihren Einzug immer noch spartanisch eingerichtet war. Außer einem Doppeltbett und einem kleinen Kleiderschrank stand nichts dort drin. Vielmehr hätte durch die Schrägen des Daches auch gar nicht in das kleine Zimmer gepasst. Sie tapste auf ihren Zehspitzen zu dem kleinen Fensterchen an der Wand, von wo aus man in den Garten und zu dem Gastank blicken konnte. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie das Gefühl hatte, jederzeit in Ohnmacht fallen zu müssen. Sie ging in die Hocke, presste ihren Rücken gegen die Wand unter dem Fenster, und begann ersticktes Schluchzen von sich zu geben. Sie presste Joeys kleines Köpfchen gegen ihren Mund, um nicht los zu schreien. Der arme Kerl zitterte am ganzen Leib, genau, wie sein Frauchen. Ein kleines vibrierendes Fellbündel, das sein Leben für Emilia opfern würde, wenn sie ihn losgelassen würde.
Emilia rang um Fassung und atmete in tiefen Zügen ein und aus, als würde sie ein Baby auf die Welt bringen. Dann drehte sie sich um und streckte langsam ihren Kopf zum Fenster hoch, um in den Garten zu blicken. Sie rechnete fest damit, dass die ominöse Gestalt ihre schwarzen Locken am Fenster erkennen und durchs Glas preschen würde, um Emilia und Joey zu packen und sie umzubringen. Noch nie hatte sie so viel Angst, wie heute.
Als dann ihre braunen Augen über die Fensterbank direkt in den Garten unten blickten, sah sie nichts. Der Rasen und die Bäume des angrenzenden Waldes leuchteten prachtvoll im Schein der friedlichen Sonne, die in jenem Moment vielen Familien sicher ein schönes Osterfest bescherte. Der Gastank mit seiner verwitterten, babyblauen Lackierung stand einsam und verlassen inmitten des Grüns, wie ein außerirdisches Objekt, das da nicht hingehörte. Von dem unheimlichen Besucher war nichts zusehen.
Gleich werde ich unten eine Scheibe bersten hören und dann kommt das Ding ins Haus. Es wird uns töten.
Das war für Emilia so sicher, dass sie nur da hockte und darauf wartete.
Oh Gott, lass das nur ein Albtraum sein, ja? Bitte Gott, lass das ein Albtraum sein!
Sie hörte nichts als ihren eigenen, schweren Atem. Joey hatte sich inzwischen wieder etwas beruhigt und winselte nicht mehr, leckte seinem Frauchen stattdessen die Tränen von der Wange ab. Dass sie aber nichts hörte, hieß nicht, dass der Besucher verschwunden war, und das wusste sie. Und als sie darüber nachdachte, wer, oder was dieses Ding sein konnte, kam ihr wieder Lucas in den Sinn und sie wünschte sich so sehr, dass er jetzt bei ihr wäre. Sie schämte sich für ihre Gefühle, die sie ihrem Freund in der letzten Zeit entgegengebracht hatte, dass sie ihn für paranoid und irre hielt, und, dass ihm nicht vertraute, als er der Meinung war, dass irgendetwas nicht stimmen würde.
Und dann kam ihr wieder das Wesen in den Sinn, das vermutlich da draußen irgendwo ums Haus schlich, um sie zu holen. Dabei kam ihr eine Erkenntnis, die sie nicht begreifen konnte und ihre schamhaften Gefühle gegenüber Lucas mit einem Mal beiseite wischte.
Dieses Ding da draußen hatte verdammt viel Ähnlichkeit mit…

4

Lucas rutschte nervös auf dem Stuhl rum und ließ seine Fingerknöchel knacken. Er saß auf heißen Kohlen und wusste nicht, was er als nächstes tun sollte. Sofort wegziehen, das war klar. Aber wohin, ohne neue Wohnung? Und selbst wenn sie wegziehen würden, bliebe immer noch die Frage offen, warum diese Frau Hermann ihnen das alles antat. Und diese offene Frage würde Lucas ganzes Leben beherrschen, das wusste er.
„Hörn Sie auf damit!“, raunte Kommissar Schnauzbart ihn über den Schreibtisch hinweg an.
„Womit?“
„Mit den Knöcheln zu knacken!“, sagte er und richtete seine Aufmerksamkeit wieder dem Protokoll zu, das er handschriftlich verfasste. Er hatte sich eine Lesebrille ganz vorne auf die Nasenspitze gesetzt und wirkte mit seinem Schnauzbart nun wie ein superintelligentes Walross.
Lucas ließ seinen Blick über den gegenüberliegenden Schreibtisch schweifen, dessen PC Monitor ausgeschaltet, dessen Bürostuhl brav herangerückt und dessen Arbeitsfläche fein aufgeräumt war. Das einzig Dekorative an diesem verlassenen Arbeitsplatz war eine kitschige, pastellgrüne Delfinfigur aus Keramik, die neben dem Monitor stand. Zuerst war Lucas davon überzeugt, dass für gewöhnlich der große, glatzköpfige Kollege von Kommissar Walross dort seinen Platz hatte, aber diese billige Delfinfigur passte nicht dazu. Hier muss eine Frau sitzen, dachte sich Lucas. Der Delfin erinnerte ihn an Esoterik und den bunten Gewändern, die die Verwalterin Frau Hermann immer trug. Er hasste diesen Delfin.
„Also Herr Debur“, unterbrach der Polizist die Stille im Raum.
„Damit ich das richtig verstehe: was genau hat Sie nun dazu veranlasst, die Frau Ingrid Hermann mit den Nadelködern in Verbindung zu bringen?“
Lucas grinste vor Verzweiflung. „Wie ich schon tausend Mal sagte, haben
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Catalano
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Beitrag21.06.2015 21:10

von Catalano
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um den Finger wickelte!“
Der Polizist sah nachdenklich auf sein Protokoll und nickte. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde er Lucas Aussage tatsächlich glauben schenken. Dann griff er sich an den Kinn, verschränkte die Arme und sah zur Decke hinauf, als suchte er dort nach einer passenden Antwort.
„Wissen Sie, Herr Debur, normalerweise würde ich jetzt den Richter anrufen und ihm die Sache vorlegen. Der würde mir dann einen Beschluss geben, Sie in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Da würden Sie dann untersucht werden, und wahrscheinlich für ein paar Wochen da behalten werden.“
Lucas Herz stolperte und ihm wurde wieder kurzzeitig übel.
„ABER! Aber, das tue ich nicht. Ich rufe den Richter nicht an, denn Sie scheinen mir nicht wie jemand, der Wahnvorstellungen hat.“
„Hab ich auch nicht, ganz sicher nicht!“, unterbrach Lucas mit aufgerissenen Augen den Polizisten.
„Lassen Sie mich ausreden, Herr Debur. Ich bin immer noch guter Hoffnung, dass alles ein Missverständnis ist und das Eine nichts mit dem Anderen zutun hat. Hier in der Gegend gab es schon öfter Fälle von Giftködern, Würstchen mit Glasscherben drin und so weiter. Hundehasser gibt es überall. Und dass Sie die Verwalterin verdächtigen, kann ich sogar nach Ihren Erläuterungen ein klein wenig verstehen. Aber verdammt noch mal, lassen Sie sich nie wieder zu so einem Blödsinn hinreißen, dort hin zu fahren und den wilden Affen zu spielen. Sie wissen letztendlich überhaupt nicht, ob diese Frau etwas mit den Ködern zu tun hat, oder, ob sie bezüglich des Gasanbieters die Wahrheit sagt. Das ganze klingt sowieso ein ziemlich grotesk. Finden Sie nicht auch?“, sagte der Polizist und sah Lucas dabei tief in die Augen.
„Ja, Sie haben Recht. Das klingt alles grotesk. Aber Sie waren ja auch eben nicht dabei, als die Frau anfing, in Gelächter auszubrechen. Ich schwöre Ihnen, dass ich keine Wahnvorstellungen habe. Es war wirklich so gewesen.“
„Das kann ich nicht beurteilen. Vielleicht hatte es auch ganz andere Gründe, dass die Dame so gelacht hat, das hat nichts zu heißen. Ich mache Ihnen jetzt ein Angebot: Ich belass es bei einer Verwarnung, sofern Sie mir versichern, nicht wieder auszuflippen. Weder vor dem Büro der Frau Hermann, noch zu Hause, einverstanden?“
Lucas spürte, wie eine kleine Last von seinem Herzen fiel und seine zugeschnürte Kehle sich wieder öffnete.
„Ja, ich habe verstanden. Ich werde sowieso meine Koffer packen und mit meiner Freundin hier schnellstens wegziehen, auch, wenn ich noch nicht weiß, wohin.“
„Machen Sie das. Ich muss mir nur ein paar Daten aufschreiben, und dann entlasse ich Sie nach Hause.“
Der Polizist verwandelte sich wieder in Professor Walross und kritzelte auf seinem Protokoll rum, während Lucas durchatmete und seinen Blick wieder schweifen ließ. Dabei fiel ihm wieder der kitschige Keramikdelfin ins Auge.
„Ist Ihr Kollege heute nicht im Dienst?“, fragte Lucas vorsichtig.
Schnauzbart sah über die Gläser seiner Brille hinweg zu ihm und sagte: „Ähm…das geht Sie zwar gar nichts an, aber nein, er ist nicht im Dienst. Hat zwei Wochen Urlaub.“
Lucas nickte nur und versuchte, seinen Mund zu halten. Obwohl er erleichtert war, dass er nicht in die Klapse musste, oder eine Anzeige erhielt, stand er dennoch unter Spannung. Eine unangenehme Spannung, die in den letzten Jahren in der Stadt langsam aufkeimte und nun in Marderstedt förmlich explodierte.
Die anderen Menschen haben mich mit ihrem Wahnsinn infiziert. Jetzt weiß ich auch, warum es Menschen gibt, die zu Amokläufern werden.
Das Telefon auf dem Schreibtisch des Polizisten läutete in einer grellen Melodie und ließ Lucas vor Schreck zusammenfahren. Kommissar-Professor-Schnauzbart-Walross nahm den Hörer ab, meldete sich aber mit den Namen „Müller“. Dann hörte er, was die Stimme am anderen Ende der Leitung zu sagen hatte. Die Stimme war laut und Lucas konnte sie selbst aus den drei Metern Entfernung durch den Hörer hören, aber nur sporadisch. Er gab sich eher damit zufrieden, das Mienenspiel des Schnauzbartpolizisten zu beobachten. Und was er da in dem Gesicht mit den stahlblauen Augen sah, gefiel ihm nicht.
Der Polizist machte ein Gesicht, als wäre er gleichzeitig überrascht und verunsichert, gleichzeitig wütend und ängstlich. Er musste Lucas immer wieder ansehen, bemühte sich aber sichtlich, den Blickkontakt zu vermeiden. Lucas wusste sofort, dass irgendetwas nicht stimmte (dass irgendwelche Dinge nicht stimmten, konnte er inzwischen durch seine Erlebnisse förmlich riechen, wie ein Hund eine versteckte Wurst riechen würde), und sein Herz begann wieder in seiner Brust Ping Pong zu spielen.
„Habe verstanden, mache mich gleich auf den Weg“, sagte der Polizist und legte den Hörer mit einem lauten Seufzer ab. Dann sah er das blasse Gesicht von Lucas an und teilte ihm mit, dass das die Notrufzentrale war, die ein Notruf vom Tennisplatz 1 erhalten hatte. Er hob die Hände und machte beschwichtigende Gesten, als er sah, dass Lucas Augen fast aus den Höhlen traten und sein Mund sich zu einem stummen Schrei öffnete. Er fand, dass Lucas Debur mit seinem blassen Gesicht und den tiefen, schwarzen Augenringen aussah, wie ein Pandabär mit blank liegenden Nerven.
„Was ist passiert?!“
„Immer mit der Ruhe, Herr Debur, okay? Ich weiß noch nichts Genaues. Ihre Freundin hat bei der Notrufzentrale angerufen und geäußert, dass sie von einem maskierten Mann bedroht wird, der ums Haus schleicht. Es ist aber noch nichts passiert! Okay? Ich werde mich jetzt auf den Weg machen und mir die Sache angucken. Sie bleiben hier!“
Lucas sprang auf und seine Adern traten wieder an Hals und Stirn hervor und auf seiner blassen Haut erschienen rote Flecken. Er sah nun wahnsinniger aus, denn je. Aber wahnsinnig vor Angst um seine Freundin.
„Ich wusste es, ich wusste es, ich wusste es! Und ich werde einen Dreck tun, und hier bleiben, ich komme mit Ihnen! Na los, worauf warten Sie?“, schrie er durch das Büro, aber der Polizist winkte ab und schüttelte den Kopf, während er die Wagenschlüssel nahm und irgendetwas an seinen Gürtel steckte. Es sah aus wie ein Pistolenmagazin.
„Sie werden hier bleiben und sich nicht von der Stelle rühren, sonst…ach, wissen Sie was? Ich werde sie in die Ausnüchterungszelle einsperren, damit Sie keinen Scheiß bauen. Und das dauert kostbare Minuten, also…“, doch diesmal war es Lucas, der sich erlaubte, den Polizisten zu unterbrechen. Er senkte seine Stimme und sprach eindringlich: „Es geht um meine Freundin! Bitte, lassen Sie mich mit kommen.“
Der Polizist ließ das erste Mal so etwas wie Verständnis in seinen sonst so kalten Augen aufblitzen und senkte resigniert den Kopf.
„Boah, Leute, Leute. Was ist da nur bei Ihnen los, Herr Debur? Wenn das wieder ein Fehlalarm sein sollte, dann…ach, was soll`s. Gehen wir.“
„Danke.“

Die Fahrt zum Waldsee erledigten Lucas und der Polizist in der gleichen kurzen Zeit, wie Lucas auch für den Weg zum Maklerbüro gebraucht hatte. Sein Herz sprang ihm vor Angst fast durch den Hals aus dem Mund heraus, aber er verspürte auch so etwas wie Hoffnung und Freude.
Bitte lieber Gott, lass Emilia wohlauf sein und uns diesen kranken Menschen erwischen, der uns das Leben schwer macht. Lass ihn bitte nicht entkommen, lieber Gott, lass ihn bitte noch da sein und lass ihn eine logische Erklärung für seinen Wahnsinn parat haben, bitte!
Kurz dachte Lucas darüber nach, sein Handy zu nehmen und Emilia anzurufen. Als er dann aber seine Hosentasche abtastete, fiel ihm ein, dass er es im Auto gelassen hatte, das immer noch vor dem Maklerbüro im Dorfkern stand.
Der Polizist fuhr in halsbrecherischem Tempo die Landstrasse entlang und sprach per Funk mit seinen Kollegen, die aus Richtung Rodenburg dazu stoßen würden. Bedauerlicherweise mussten Lucas und Kommissar Müller vernehmen, dass die Kollegen noch fast zwanzig Kilometer entfernt waren.
Die beiden machten ein zerknirschtes Gesicht, als sie das hörten und auf den Schotterweg abbogen, der rechts von der Landstrasse abging und zum Waldsee führte. Der Streifenwagen polterte über die kleinen Kiesel hinweg und wirbelte hinter sich Staubwölkchen auf.
Als sie einen weiteren, abgehenden Schotterweg befuhren, an dessen Ecke ein Straßenschild mit dem Namen Tennisplatz stand, verlangsamte Müller den Wagen und meldete über Funk, dass er nun gleich vor Ort sei. Die laute Stimme aus der Notrufzentrale bestätigte mit einem „Verstanden“.
Es waren nur noch ein paar Meter bis zum Häuschen, dessen rotes Ziegelmauerwerk man bereits zwischen den Tannen erkennen konnte. Es stand weder ein Auto, noch ein sonstiges Fluchtmittel vor dem Haus, und Lucas ahnte, dass dieser Maskierte Typ, wer immer er auch sein mochte, über den Acker gekommen sein musste, der am Wald und seinem Garten angrenzte. Sollte es so sein, würde der Typ nicht weit kommen, sollte er versuchen, zu flüchten. Vorausgesetzt, dass es ein Typ ist, und nicht jemand anderes, den er verdächtigte.
„Sie bleiben aber diesmal wirklich hier! Hier im Auto, und rühren sich unter keinen Umständen vom Fleck, verstanden?“, sagte der Polizist, dessen Anspannung Lucas nun deutlich erkennen konnte. Er nickte nur.
Noch einmal meldete sich der laute Kerl aus Notrufzentrale über Funk. Er sagte: „Die Frau Emilia Okura hat seit etwa einer Minute nichts mehr von sich hören lassen. Zu letzt befand sie sich laut ihrer Auskunft versteckt in der oberen Etage und dann konnte man eben Schreie hören, bevor die Leitung unterbrochen wurde. Warten Sie auf das Eintreffen der Kollegen aus Rodenburg!“
„Verstanden“, sagte Kommissar Müller und packte Lucas geistesgegenwärtig am Arm, um ihn daran zu hindern, die Beifahrertür zu öffnen und zum Haus zu rennen. Aber Lucas konnte sich losreißen und sprang aus den Wagen.
„Verdammt! Nicht! Bleiben Sie hier!“, schrie Müller ihm nach. Aber Lucas hörte nicht drauf und rannte wie ein tollwütiges Wiesel auf die Haustür und kramte dabei in seinen Hosentaschen. Glücklicherweise hatte er den Schlüsselbund mit dem Haustürschlüssel nicht in seinem Audi gelassen und er schloss auf.
„Verdammte Scheiße, warum muss mir so etwas ausgerechnet am Ostern passieren?“, murmelte Müller durch seinen Schnauzbart und rannte mit gezückter Waffe auf Lucas zu. Bevor Lucas ins Haus stürmen konnte, packte Müller ihn mit seinem Stahlseilarm am Kragen seiner Jacke und riss ihn nach hinten. Lucas war nur einen halben Kopf größer, als der Polizist, aber deutlich schwerer. Trotzdem flog er wie ein Sack Kartoffeln durch die Luft und landete auf dem Schotterweg. Sein Steißbein schmerzte höllisch.
„Polizei!“, rief Müller aus und trat in den Flur des kleinen Häuschens, aus dessen Inneres nur Stille entwich. Kein Hilferuf, kein Geheul von Emilia, kein Kläffen von Joey. Diese Stille machte Lucas Angst und trieb ihn die Tränen in die Augen, während er auf seinen vier Buchstaben im Dreck saß. Er sah den Polizisten mit vorgehaltener Waffe nach links in den Wohnbereich verschwinden.
Nach einigen Sekunden, in denen Lucas die Vögel zwitschern hörte und die Sonnenstrahlen durch die Wipfel der Bäume scheinen sah, als wenn das ein ganz normaler, schöner Tag wäre, rief Müller aus dem Inneren des Hauses: „Her Debur! Herr Debur! Kommen Sie her, schnell!“
Lucas stand auf, hechtete nach vorne, legte sich der Länge nach hin, rappelte sich wieder auf und rannte ins Haus. Dort stolperte er beinahe über die am Boden liegende Mülltüte und trampelte auf sein geliebtes Modell einer Mercedes S Klasse, das Emilia ihm einst geschenkt hatte. Dann sah er den Polizisten neben dem Kamin hocken, vor ihm ein scheinbar lebloser Körper, dessen zwei schöne Beine in enger Jeanshose sich nicht bewegten. Lucas fing an zu weinen und hatte das Gefühl, als würde er sich vor Angst und Trauer in Luft auflösen müssen, um die Qual zu überstehen, die ihn erwartete.
„Nein!“, schrie er. Aber der Polizist redete mit seiner vermeintlich ermorderten Freundin, legte seinen Kopf zur Seite und sprach in das Funkgerät, das an seiner Schulter klemmte: „Brauchen einen Krankenwagen zum Tennisplatz 1. Wiederhole: Brauchen dringend einen Krankenwagen zum Tennisplatz 1. Leicht verletzte Per…“
Aus dem Funkgerät kam: „Krankenwagen ist schon unterwegs, ist in ein paar Minuten da.“
Dann drehte sich Müller zu Lucas um und winkte ihn heran. Lucas zögerte einen Moment. Er war fest darauf eingestellt, die kalte Leiche seiner geliebten Freundin identifizieren zu müssen und sich danach vielleicht selbst einen Strick zu nehmen. Aber Müller forderte ihn auf, heran  zu treten, und Lucas tat, wie ihm geheißen.
Als er sich näherte und über die Schulter des Polizisten sah, erblickte er das blasse, aber trotzdem wunderschöne Gesicht von Emilia. Ein zartes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, als sie Lucas sah. Ihre colafarbenen Augen glänzten und ihre schwarze Lockenpracht lag wie ein Fächer auf dem Teppichboden ausgebreitet. Sie bewegte sich nur zaghaft, aber schien unversehrt. Zumindest solange, bis Lucas die rotblauen Würgemale an ihrem eleganten Hals auffielen. Er konnte sogar deutlich die Abdrücke von großen, dicken Fingern und den Daumen erkennen, die bis an ihr feines Kinn reichten.
Lucas hockte sich neben den Polizisten, der etwas Platz machte, und streichelte über ihre glatte Stirn. Seine Tränen tropften auf ihre Wange und vermischten sich dort mit ihren.
Es lag keine Furcht in Emilias Augen, und das machte Lucas wieder Angst. Er hatte das Gefühl, als sei Emilia von einem Auto angefahren worden und würde nun dahinscheiden. Als ob sie sich mit ihrem Tod arrangiert hätte und die kommende Ruhe herzlich begrüßen würde, nachdem sie ihrem Schatz noch ein paar letzte Worte der Liebe mitteilen würde.
Aber sie sagte mit gedämpfter, kratziger Stimme: „Alles okay, Luc. Mir geht es gut. Er hat mich gewürgt, aber er ist abgehauen, als er den Türschlüssel klimpern hörte.“
Lucas Augen ließen eine wahre Sturzflut an Tränen nieder, die über sein erleichtertes Lächeln flossen und auf Emilias Gesicht tropften. Er hielt ihre Hand mit seinen beiden Händen und küsste diese. Ihre zarten Finger streichelten ihm über die Lippen.
„Wer, Schatz? Wer hat dir das angetan?“, fragte Lucas sie verzweifelt.
„Der Gasmann“, sagte Emilia und deutete auf die offene Hintertür in der Küche.
Müller stützte sich an Lucas Schulter ab, sprang auf, und lief mit seiner erhobenen Waffe hinaus in den Garten. Lucas wollte es ihm gleich tun, aber Emilia drückte seine Hand fest an sich und sagte: „Es tut mir leid, Schatz. Tut mir leid, dass ich dir nicht glauben wollte. Bitte, lass die Polizei das machen. Er ist gefährlich, Luc. Geh nicht da raus!“
Lucas senkte seinen Kopf und küsste wieder ihre Hand, als ihm nicht einfiel, was er darauf antworten sollte. Er streifte mit seinen Fingerkuppen über ihre Würgemale am Hals und kniff vor Schmerz und Wut die Augen zu. Emilia sah wieder seine hervortretenden Adern an der Stirn und konnte seinen Zorn wie eine physische Energie durch die Haut seiner Handfläche strömen spüren.
Emilia richtete ihren Oberkörper auf, keuchte und umarmte Lucas. Er presste sie fest an sich und heulte Rotz und Wasser in ihre immer noch duftenden haare hinein. Dann bemerkte er, dass etwas fehlte und wagte es nur mit brüchiger Stimme zu fragen, was mit Joey passiert war.
„Ihm geht’s gut. Ich habe ihn oben im Schlafzimmer eingesperrt“, sagte Emilia.
Ein weiterer Brocken fiel von der steinernen Last ab, die auf seinem Herzen ruhte.
Dann hörte er Schritte hinter sich und ein weiterer Brocken löste sich, als zwei weitere Polizeibeamte, gefolgt von Sanitätern das Haus betraten.
„Alles wird gut, mein Mäuschen, alles wird gut“, flüsterte er Emilia ins Ohr und sprang auf. Sie versuchte nach ihm zu greifen, aber er entschwand bereits zur offenen Hintertür. Lucas hörte sie noch irgendetwas schreien, konnte es aber nicht richtig hören.
Es klang in etwa wie: „Der Gasmann ist dumm“, oder: „Der Gasmann ist schon“, oder irgend so was. Aber Lucas lief weiter. Seine Tränen trockneten durch die laue Frühlingsluft, die ihm beim Laufen um die blassen Wangen strömte. Seine Muskeln waren gespannt, wie aufgeladene Gewitterwolken, die bald ihr Donnerwetter loslassen würden. Gott stehe Dem bei, der den Preis für Lucas aufgestaute Wut hätte zahlen müssen.
Er sprang über den kleinen Gitterzaun und drängte sich zwischen die ausladenden Äste der Nadelbäume hindurch, die wie kratzende Arme nach ihm zu greifen schienen. Als er hindurch geschlüpft war, eröffnete sich ein großes, immer noch kahles Ackerfeld, und er musste seine Augen mit der flachen Hand vor der Sonne abschirmen, um etwas sehen zu können.
Am Ende des Feldes konnte er die Landstraße erkennen, die zu dem Waldsee und seinem Haus führte. Links und Rechts sah er nur die Bäume des kleinen Wäldchens. Von Polizist Müller und dem Gasmann war nichts zu sehen.
Lucas trat in die staubige Erde und erzeugte ein Wölkchen. „Verdammt! Scheiße!“, brüllte er mit geschwollener Brust.
Dann konnte er das leise Rufen einer Stimme hören.
„Stehen bleiben!“, kam aus einiger Entfernung.
Lucas schirmte wieder seine Stirn mit der Hand ab und erblickte an der linken Seite des Feldes in einiger Entfernung eine lange, schlaksige Gestalt, die aus dem Dickicht des Waldes empor gelaufen kam. Seltsame, schlangenartige Dinger baumelten am Körper der laufenden Gestalt umher.
In einigen Metern Abstand sprang eine kleinere Gestalt zwischen den Bäumen hervor und rannte hinter der größeren her. Es war Kommissar Schnauzbart, der seine kurzen Beine beschleunigte und immer zu rief: „Stehen Bleiben!“
„Warum schießt er nicht?“, ging Lucas durch den Kopf. Doch er konnte erkennen, dass Müllers auf und ab schwingende Fäuste leer waren.
Er hat seine Knarre verloren, der Dummkopf.
Und obwohl die lange Gestalt, die offensichtlich eine Maske am Gesicht und im Sonnenlicht reflektierende Metallteile an ihrem Körper trug, deutlich geschwächt schien und nur noch müde Schritte machte, holte Kommissar Schnauzbart kaum auf. Seine Beine waren kurz und er taumelt selbst vor Erschöpfung beim laufen.
Auch Lucas Beine waren kurz, aber mit den schrecklichen Energiereserven seines Zorns gefüllt. Die ganze Scheiße, die er und Emilia in den letzten Jahren, und vor allem, in den letzten Monaten, ertragen mussten, drängte ihn dazu, wie ein brüllender Berserker los zu laufen. Er fühlte sich wie ein Torpedo mit Peilsender, der auf den Gasmann ausgerichtet war und ihn in Stücke reißen würde, koste es, was es wolle.
Selbst die erschütternde Erkenntnis, dass dieser Gasmann eine Schreckensgestalt war, wie sie Lucas nur in seinen kühnsten Fantasien erzeugen konnte, hielt ihn nicht auf, wie ein Wildschwein in die lange Gestalt zu krachen, die wie ein Alien aus einem Horrorfilm aussah. Das Wesen prallte auf den trockenen Acker und stieß ein lautes, allzu menschliches Seufzen aus. Lucas rappelte sich auf, sprang mit seinem Knie auf den in Leder eingepackten Kiefer der maskierten Gestalt und begann, wie ein wild gewordener Schimpanse auf sie einzuschlagen.
Das Wesen unter ihm zappelte und strampelte mit den dürren, langen Armen, traf mit den Fäusten auch ein paar Mal Lucas Gesicht, aber sie schienen gegen Stein zu schlagen.
Es klatschte und knallte, als Lucas seinerseits seine Fäuste gegen das maskierte Gesicht der Gestalt schlug, und selbst der heran eilende Kommissar Müller konnte dieses Klatschen nicht unterbinden, als er versuchte, den wütenden jungen Mann von dem großen, maskierten Kerl herunter zu ziehen. Oder war es gar kein Kerl?
„Es reicht! Es reicht!“, schrie Müller, aber Lucas schlug wie von Sinnen auf den Gasmann ein.
Erst, als die zwei anderen Beamten über das Feld gelaufen kamen und ihrem Marderstedter Kollegen halfen, ihn von dem nun nicht mehr zappelnden Übeltäter herunter zu ziehen und ihn am Boden zu fixieren, hörte der Tumult auf.
Kommissar Müller hatte Rotz in seinem Bart und jappte nach Luft, während er die Hände in seine stechenden Seiten stemmte. Dennoch brachte er noch den Atem auf, seine Kollegen aus Rodenburg anzuweisen, Lucas los zu lassen und die Handschellen für einen Anderen parat zu halten, der es mehr verdient hatte.
Für einen kurzen Augenblick hielten alle Inne. Müller schnappte immer noch nach Luft und stützte sich nach vorne gebeugt an seinen Knien ab. Die beiden anderen, jungen Polizisten standen schwer atmend da und betrachteten den maskierten, großen Körper, der ächzend auf dem Boden lag und seinen Kopf im Dreck hin und her drehte. Sie staunten sichtlich über die Aufmachung, die an ein Halloween Kostüm erinnerte.
Die auf dem Rücken liegende Gestalt war nicht nur maskiert, sondern besaß zahlreiche Metallschnallen am Kopf, die aussahen, als hätten sie ihr Vorleben an verschiedenen Gürteln und Taschen gefristet. Auf dem Gesicht befand sich eine Gasmaske, die weniger wie eine echte aussah, sondern mehr, wie ein Gimmick, das man sich im Internet bestellen konnte. Über den langen Oberkörper war eine Art Kettenhemd gespannt, das im Sonnenlicht funkelte. Bizarre und gleichzeitig alberne Plastikrohre, wie sie Müller von den Kabelschächten in der Wache kannte, waren an diesem Kettenhemd angebracht. Und als Müller dann an der Lederhose und den schwarzen Stiefeln runter sah, überkam ihn eine grausige Gewissheit.

Lucas saß wieder auf seinen vier Buchstaben und ihn überkam eine ganz andere, grausige Erkenntnis. Was hatte Emilia ihm hinterher gerufen? „Der Gasmann ist…“
„Der Gasmann ist Crom!“, sagte er voller Entsetzen.
Zwar nicht ganz wie Crom, aber ziemlich ähnlich. Auf jeden Fall, soll das Crom sein.

Müller hatte ausgeatmet und beugte sich zu dem Kopf des Gasmannes runter. Er kramte grob am Kiefer des Verdächtigen rum, um die Maske greifen und abziehen zu können. Lucas sah das Gesicht des Polizisten und bemerkte, wie wütend er auf einmal zu sein schien. Kommissar Walross und er hatten also scheinbar ein gemeinsames Anliegen, in diesem Fall. Nur, wo Lucas erwartete, das Gesicht von Frau Hermann unter der Maske zu erblicken (obwohl er es aufgrund des kräftigen Körperbaus nicht wirklich für möglich hielt), erwartete Kommissar Müller etwas ganz anderes, nachdem er die Polizeistiefel erkannte, die vor einigen Jahren ausgemustert wurden. Mit einem fürchterlichen RATSCH riss er dem ominösen Gasmann die Maske vom Gesicht, was sich anhörte, als würde er ihm direkt die Haut vom Schädel reißen.
Und das Gesicht, das da zum Vorschein kam, war kein geringeres als das seines glatzköpfigen Kollegen.
„Thomas,…“, flüsterte Kommissar Müller durch seinen verrotzten Bart hindurch. Dabei schüttelte er den Kopf, als wollte er den Anblick nicht wahrhaben.
Die schwitzende Glatze des großen Polizeihauptkommissars, der nun in diesem lächerlichen Aufzug im Dreck lag, glänzte wie eine polierte Bowlingkugel im Schein der Aprilsonne. Seine breite Nase und die spröden Lippen waren rot vor Blut.
„Christian…Christian, mein Freund. Es tut mir leid, ich wollte das alles nicht“, stöhnte er, als würde er im Sterben liegen.
Lucas beobachtete die verdutzten, jungen Polizisten, die ihn inzwischen losgelassen hatten, und sah dann Kommissar Müller an, der voller Unglaube mit seinen Händen durch seinen Bürstenhaarschnitt fuhr und immer wieder den Kopf schüttelte. Dann dachte er an Emilias Würgemale am Hals, sprang auf und stürzte sich wieder auf den Gasmann, der sich nun als der große, Glatzköpfige Polizist entpuppte. Er konnte noch zwei saftige Schläge auf dessen riesigen, glatten Schädel landen und wurde dann von Müller und seinen Kollegen runter gezogen.
Lucas schrie: „Warum? Warum haben Sie uns das angetan? Was wollen Sie von uns?“
„Es tut mir leid! Okay? Es tut mir leid. Ich wurde angestiftet!“, schrie der Polizist mit einer nasalen Stimme.
Nun wurde auch Müller richtig sauer und kniete sich neben seinen Kollegen, um ihn an den Hals zu packen.
„Was heißt, du wurdest angestiftet, Thomas? Rück raus mit der Sprache, sonst kann ich für nichts garantieren! Im Knast landest du so, oder so, mein Freundchen!“
Der Glatzkopf schnaufte und eine kleine Blutblase blies sich an seinem rechten Nasenloch auf, und platzte, wie eine Seifenblase. Dann begann er zu reden, und was er sagte, stellte alle Beteiligten außer ihm vor ein größeres Rätsel, als das, wovor sie jetzt ohnehin schon standen.
„Ingrid ist Schuld. Sie wollte das alles so. Ich schäme mich jetzt, das zu sagen, aber: ich bin verliebt in diese Frau. Verdammt verliebt. Wenn sie nur keine solche Hexe wäre.“
„Was meinst du damit? Spuck es aus und rede nicht in Rätseln, du Schwein!“, schrie Müller ihn an, ohne seinen Griff vom Hals seines Kollegen zu lösen. Lucas hörte gebannt zu, genau, wie die beiden milchgesichtigen Polizisten hinter ihm.
„Ingrid Hermann ist eine Hexe! Sie hat mich verzaubert! Verdammt noch mal. Sie hat mich mit dem Sex verzaubert, den sie mir gibt. Sie wollte, dass ich für sie diese Dinge tue, damit ich in ihrer ewigen Liebe abtauchen kann, wie ein Delfin im weiten Ozean. Ich weiß, ich höre mich verrückt an, aber der Sex! Er ist so wundervoll mit dieser Frau, dass ich nicht anders konnte, als ihr zu gehorchen! Ich schäme mich dafür, aber ich stehe auch dazu.“
Lucas dachte an die hässliche Delfinkeramik, die er auf dem Schreibtisch im Büro der Wache gesehen hatte. Wenigstens das passte zusammen in dieser irren Geschichte. Aber warum zum Geier…
„Warum sehen Sie aus, wie meine Comicfigur Crom?“, wollte Lucas wissen.
Der Gasmann-Polizisten-Glatzkopf richtete seinen Schädel auf und sah Lucas mit einem schuldbewussten, leichten Lächeln an.
„Die Figur habe ich heimlich von deinem Monitor fotografiert, als du uns das erste Mal gerufen hattest. Ich dachte, es wäre eine ganz gute Idee, den Gasmann so erscheinen zu lassen, wie deine eigene Schreckensfigur. Damit du auch ja wahnsinnig wirst und an deinen Verstand zweifelst. Du, und deine Freundin. Für meine tolle Idee bekam ich von Ingrid Extrasex, und sie versprach mir, mich mit ewigem Leben zu beglücken. Im Übrigen war es Ingrid selbst, die damals bei dir an der Tür klopfte.“
Lucas wurde wieder schlecht, als er das hörte. Er stand von dem staubigen Boden auf, schüttelte sich die Hose ab und sagte: „Sie sind krank, Mann! Absolut krank! Allein die Tatsache, dass Sie mit dieser verschrumpelten Oma bumsen, ist absurd. Dass Sie dem Unsinn glauben, den diese Frau verzapft, ist widerlich. Aber sagen Sie mir bitte: Warum das Ganze? Warum will uns diese alte Hexe so fertig machen? Ich verstehe das nicht.“
Der Gasmann lachte und fing an zu husten. Nachdem sein Hustenanfall abgeklungen war, sah er alle Gesichter der Reihe nach an, die ebenfalls neugierig aus ihren Wäschen glotzten, und meinte: „Sie lebt von der Energie, die sie Leuten wie dir und deiner Freundin aussaugt. Das macht sie stark. Und wenn sie sich stark fühlt, bekomme ich guten Sex.
Sie wollte, dass euer Hund stirbt. Damit sie von der Trauer zehren könnte, die ihr verspüren würdet. Anderer Menschen Leid ist ihr Glück. Begreift ihr alle jetzt, worum es dieser Frau geht? Und wäre der Sex mit ihr nicht so gut, dann hätte ich mich von der Geisteskrankheit dieser Frau doch nie anstecken lassen.“
Der Gasmann drehte sich zu Kommissar Müller um, der fassungslos da stand und diesen Menschen betrachtete, der einst sein Kollege gewesen war.
„Christian, es tut mir leid. Ich muss dir sagen, dass ich sexsüchtig bin. Und ich bin verrückt nach dieser Frau, obwohl ich weiß, dass sie krank im Kopf ist“, sagte der am Boden liegende Glatzkopf.
„Du bist auch krank, Thomas. Kein normaler Mensch würde so etwas abziehen, wie du. Bitte, sprich mich nie wieder mit meinem Vornamen an!“, sagte Kommissar Müller angewidert und enttäuscht.
Er packte den vermeintlichen Gasmann am Kragen, zog ihn hoch auf die Beine, drehte ihn um, und legte ihm Handschellen an. Der Glatzkopf leistete keine Gegenwehr, sondern starrte resigniert auf den Ackerboden. Dann nahmen die beiden jungen Polizisten ihn entgegen und führten ihn in Richtung des Hauses ab.
Müller sah seinem zukünftigen Ex Kollegen nach und raufte sich die Haare. Dann sagte er: „Mein Gott. Mein Gott noch mal. Ich fass es nicht. Herr Debur, es tut mir leid für Sie und Ihre Freundin. Ich kenne Thomas jetzt seit über zwanzig Jahren. Seit zehn Jahren sind wir zusammen im Dienst. Ich hätte niemals gedacht, dass…dass…“
Aber Kommissar Müller fiel nichts weiter ein. Lucas sah ihn an und bemerkte, dass sein steinernes Gesicht sich zu einer traurigen, bemitleidenswerten Miene verändert hatte. Lucas selbst raufte sich die Haare und befürchtete trotz der Auflösung des Falles, dass er seinen Verstand verlieren könnte. Es ging ihm immer noch nicht in den Kopf, warum diese Hexe Frau Hermann ihm und Emilia derart antun wollte. Er fragte sich, ob es anderen, vorherigen Mietern des Hauses ebenso ergangen war, und ob diese Frau schon vorher ähnliche Dinge abgezogen hatte.

5

Der nächste April war nicht mehr so sonnig und warm, wie der letzte. Emilia stand mit Joey auf dem Arm am Fenster und genoss das betörende Prasseln der Regentropfen an der Scheibe. Von hier aus konnte sie nicht mehr in den Garten mit dem hässlichen Gastank sehen – stattdessen erblickte sie graue und rote Wohnblöcke, die sich wie quaderförmige Berge um einen Park und zwei Supermärkte auftürmten. Trotz des Regens wuselten überall Leute herum, einige mit Regenschirmen, andere mit leeren Einkaufstüten über dem Kopf. Sie liefen aus den Supermärkten  hinaus zu ihren Autos, stiegen in den Bus ein und aus, der an der Kreuzung hielt, fuhren auf ihren Fahrrädern und Mopeds umher durch die Nässe und taten ihr Tagwerk.
Lucas befand sich in der Küche, die zwar klein war, aber eine brand neue Küchenzeile mit Herd und Schränken von der Mietbaugesellschaft verpasst bekommen hatte. Er pfiff vergnügt die Titelmelodie von den Simpsons vor sich her, während er das Essen machte. Emilia bemerkte, dass sie die ganze Zeit ein Lächeln im Gesicht hatte.
Nachdem die beiden vor fast einem Jahr dieses schreckliche Erlebnis hatten, zogen sie sofort in ein günstiges Hotel in der Stadt, in dem sie ein Dauerapartment mieteten. Das war zwar etwas teuerer, als die Miete für das Haus in Marderstedt, aber das Geld sparten sie wieder bei den geringeren Spritkosten ein. In dem netten, kleinen Hotel wohnten sie fast drei Monate lang und lebten von Emilias Gehalt, weil Lucas sich eine unbezahlte Auszeit nahm und am Ende von seiner Firma gekündigt wurde. Das machte den beiden nichts, er würde schon bald einen neuen Job finden, sobald er das Chaos in seinem Kopf geordnet hätte. Emilias Gedankenlosigkeit und Verdrängungstaktik machte sich in dem Fall bezahlt. Sie kam mit den Horrorerlebnissen besser zurecht, als ihr Freund. Und seine Entspannung, die nach und nach wieder einsetzte, tat auch ihr gut.
Dann fanden sie diese neue Wohnung, in der sie nun lebten und zur Ruhe kamen.
Die Anspannung lebte für kurze Zeit wieder auf, als die beiden zu einer Aussage von der Polizei Rodenburg eingeladen wurden, und ein paar Monate später, als sie als Zeugen vor Gericht erscheinen mussten. Auf eine Klage hatten beide verzichtet, da ihr Anwalt ihnen mitteilte, dass Frau Hermann und ihr Geliebter Thomas Korschowitz beide auf unbestimmte Zeit in die Psychiatrie eingeliefert wurden. Die Diagnose bei Frau Hermann lautete Schizophrenie, die von dem Expolizisten wusste der Anwalt aber nicht. Auf jeden Fall hätte eine Anklage keinen Sinn gemacht, da Hermann und ihr Lakai unzurechnungsfähig waren.
Beide wurden zu einer Therapie verdonnert. Lucas musste vor Gericht lachen, als Frau Hermann ihr reumütiges Schauspiel abzog und sich bei ihm entschuldigte. Sie sagte, dass der heilige Delfin sie zu so etwas veranlasst hatte.
Nach der Verhandlung wechselten sie auch mit Kommissar Müller einige Worte, der ihnen mitteilte, dass seine Ermittlungen ergeben hätten, dass Hermann bereits mit den vorherigen  Mietern Ähnliches abgezogen hatte. Sie besaßen eine Katze und fanden eines Tagen ebenfalls Köder im Garten, allerdings mit Rattengift gefüllt.
Das war zwar traurig, aber es verschaffte Lucas eine riesengroße Erleichterung. Jetzt hatte er nicht mehr das Gefühl, dass es etwas persönliches war; dass es nicht an ihm, oder Emilia lag, dass die Menschen so scheußlich zu ihnen waren.

Das Essen war fertig und Emilia deckte den kleinen Glastisch, an dem sie sich immer verrenken mussten, um ihre Mahlzeiten einzunehmen. Aber das war es wert. Die kurze Auszeit, in der sie genug Platz für einen ordentlichen Esstisch hatten, vermissten sie nicht.
Sie setzten sich mit zwei dampfenden Tellern Spaghetti Carbonara vor den Fernseher, schalteten die Simpsons ein und genossen ihr Essen.
Der Fernseher war auf Zimmerlautstärke, keiner von beiden redete während des Essens.
Dann BUMM, BUMM, BUMM.
Beide schreckten auf und sahen sich an.
BUMM, BUMM, BUMM, BUMM, ließ die Wände vibrieren. Dann Getrampel aus der Wohnung über ihnen.
Lucas schob seinen Teller weg und seine Miene verfinsterte sich. Emilias Appetit ging auch flöten.
Es war scheinbar ihr Schicksal, unter Wahnsinnigen zu leben.
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Catalano
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Beitrag24.06.2015 20:03

von Catalano
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Wetterplan

„Noch ein Stück Zitronentorte?“, fragte Louise von Memmingen.
„Aber gewiss doch, Tante“, sagte Rüdiger.
Louise winkte mit ihrer weiß behandschuhten Hand dem Butler, der sofort seine steife Haltung aufgab und auf die prachtvolle Wiese hinaus eilte, um der Hausherrin und ihrem Neffen zwei weitere Stücke der Torte aufzutun.
„Sonst noch ein Wunsch, Frau von Memmingen?“, fragte er, aber sie winkte ab. Der Butler zog sich wieder zu seiner Stelle am Hinterausgang des Herrenhauses zurück und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.
„Es ist immer wieder entzückend, die Wochenenden bei dir zu verbringen, Tante“, sagte Rüdiger und ließ seinen Blick über den weitläufigen Garten schweifen, der ihn immer wieder an einen Golfplatz erinnerte. Zahlreiche Beete mit Blumen in allen Farben des Regenbogens gaben ihren süßlichen Duft ab, der in einer lauen Brise zu ihnen herüber wehte. Das Wasser des Sees, der sich zu ihrer Rechten befand, glitzerte in der Sonne wie ein wundersamer Teppich aus Silber. Sogar zwei Schwäne befanden sich in ihm, die scheinbar in tiefster Zuneigung zu einander dicht an dicht ihre Bahnen durch das Nass zogen.
Das gesamte Anwesen war eingezäunt durch einen Wald, dessen Bäume in sämtlichen Grüntönen von Kraft und Leben zeugten. Ihre Wipfel wiegten sich seicht im Wind hin und her, als würden sie sanft von der Luft gestreichelt werden, die von den stahlblauen Bergen hinabgeweht wurde.
Vögel zwitscherten, Bienen summten und der blaue Himmel war mit kleinen, wattebauschartigen Wölkchen bespickt, die die Sonne zu verdunkeln nicht in der Lage waren.
Rüdiger lockerte seine Krawatte mit dem Adlerabzeichen seines Internats ein wenig und lehnte sich in den Gartenstuhl zurück, während er die schmackhafte Torte genoss.
Sowohl er, als auch seine Tante spreizten vornehm ihre kleinen Finger ab, während sie die Gabel zum Mund führten. Er betrachtete Tante Louise von der Seite, bewunderte ihr schillerndes, türkises Seidenkleid und den cremefarbenen Hut, der ihre inzwischen weißen Haare bedeckte. „Eine Dame von Welt“, ging ihm durch den Kopf, als er sich über das theatralische Aussehen seiner Tante bewusst wurde.
„Rüdiger, mein Junge. Ich bin stolz auf dich. Wie ich gehört habe, ist dein Verhalten im Internat tadellos und deine Leistungen sind hervorragend. Ich denke daher, es ist an der Zeit, dein vortreffliches Benehmen mit einer kleinen Aufmerksamkeit zu honorieren“, sagte Louise von Memmingen mit einem verschmitzten Lächeln. Wie bereits zuvor, aß sie auch diesmal nur zwei Häppchen des Stücks Zitronentorte und legte den Teller auf das kleine Tischchen ab, das sich zwischen ihr und ihrem Neffen befand. Rüdiger tat es ihr gleich und legte auch sein Stück Torte ab. Es gehörte zur Etikette, nicht mehr zu Essen, als die Hausherrin. Dann faltete er vornehm seine Hände auf dem Schoß und sah seine Tante interessiert an.
„Um was für eine Aufmerksamkeit handelt es sich, Tante?“
„Nun, Rüdiger. Seitdem dein Onkel Hubertus von uns gegangen ist, – seine Seele möge in Frieden ruhen – liegt seine geliebte Segelyacht nutzlos im Hafen. Ich denke, es ist an der Zeit, dass die alte Lady wieder in die Hände eines Mannes kommt, der ihrer würdig ist, so, wie es mein treuer Gatte war. Und du Rüdiger, bist genau der Richtige dafür. Morgen werde ich Alfred damit beauftragen, die Yacht auf deinen Namen zu überschreiben“, sagte Louise.
Rüdigers Augen strahlten heller, als die Sonne, und für einen kurzen Moment hätte seine jugendliche Impulsivität dafür gesorgt, dass er voll freudiger Erregung seine Tante umarmt und auf die Wange geküsst hätte. Aber dann erinnerte er sich, in welcher Umgebung er sich befand, und kühlte seine Emotionen ab, um sie angemessen artikulieren zu können.
„Vielen Dank, Tante. Ich weiß diese überaus große Überraschung sehr zu schätzen und versichere dir hiermit, dass ich auf die alte Lady genauso Acht geben werde, wie Onkel Hubertus es zu seinen Lebzeiten getan hatte. Gestattest du mir, dir meine Freude mit einem Kuss auf die Wange zu verdeutlichen?“
Louise von Memmingen sah ihren Neffen aus dem Augenwinkel an, lächelte ihr vornehmes, verschmitztes Feine-Dame-Lächeln und nickte. Rüdiger beugte sich zu seiner Tante rüber, berührte sie zaghaft mit den Händen an den Unterarmen und gab ihr einen feinen Kuss, ohne dabei tatsächlich ihre Wange zu berühren.
Nachdem er sich setzte, griff sie zu einer der unbenutzten Stoffservietten auf dem Tischchen, die das Wappen der Familie von Memmingen trug (ein Ritterschild mit einem fauchenden Löwen), und tupfte sich die Wange ab, die von den Lippen ihres Neffen nie berührt wurde.
Butler Alfred zog seine buschige, rechte Augenbraue hoch, als er das Schauspiel aus der Entfernung beobachtete, blieb aber ansonsten weiter stehen, wie ein steinerner Basilisk.
Louise und Rüdiger von Memmingen legten ihre Köpfe zurück und genossen weiter die Stille dieses traumhaften Sommertages, der ausnahmsweise angenehm mild, anstatt brütend heiß war.
Alfred sah zum Himmel hinauf (wobei er nur seine Augen, und nicht den ganzen Kopf bewegte), und lächelte, als eine der Wolken es schaffte, die Sonne zu verbergen und ihr die ohnehin schon seltsam moderate Kraft nahm.
Das Schwanenpärchen, das gerade noch eng beisammen durch das funkelnde Wasser glitt, trennte sich vorübergehend und beide Vögel drifteten in verschiedene Richtungen ab.
Die Baumwipfel wiegten sich nun stärker im Strom des Windes, der von den Bergen herkam und langsam, aber merklich an Fahrt gewann.
Louise zog ihren theatralischen Hut tiefer ins Gesicht, um zu verhindern, dass die kräftige Brise ihn mit sich fort trug. Sie sah weiter in das Tal hinab, das zwischen dem gelichteten Wald sichtbar war und den Blick bis auf die Küste preisgab.
Dann sagte sie, ohne ihren Neffen anzusehen: „Einen kleinen Tadel habe ich dennoch zu äußern, Rüdiger.“
Rüdigers entspanntes Lächeln wich einem aufmerksamen Gesichtsausdruck.
„Ja, Tante?“
„Nun, in unserer Gesellschaft gibt es gewisse Regeln, die unser Ansehen wahren sollen, wie du bereits sicherlich gelernt hast, oder?“, sagte sie – immer noch ohne sich ihm zuzuwenden.
„Ja, Tante. Ich höre.“
„Tu mir und dir den Gefallen, und nimm bitte dieses fürchterliche Ding vom Ohr ab.“
Für einen Augenblick wusste Rüdiger nicht, was seine Tante damit meinte. Er griff sich nachdenklich an sein Ohr und ertastete mit seinen Fingern den Brillantohrring, den er sich vor vier Wochen stechen ließ. Sämtliche Gelassenheit entwich seinem Gesicht und machte Platz für eine Miene des Unverständnisses.
„Aber Tante, alle Jungen im Internat tragen einen Ohrring, oder anderen Körperschmuck. Das ist modern, Tante.“
Louise machte eine wegwerfende Geste und blickte abweisend zu den Baumwipfeln hoch, die nun immer stärker im Wind schwankten.
„Modern? Das ist modern? Ohrringe sind etwas für Damen und Mädchen und es schickt sich nicht für einen jungen Mann, so etwas zu tragen. Vielleicht in der Welt des gemeinen Pöbels, in der deine Mutter lebte, aber nicht in unserer Liga. Du nimmst diesen Ohrring ab und damit ist die Angelegenheit erledigt!“
Rüdiger schaute auf den Rasen, als wollte er dort nach einer passenden Antwort suchen, die er im Angesicht seines Unverständnisses nicht fand. Ein seltsames Gefühl machte sich in seiner Brust breit, das unangenehm in seinem Herzen kribbelte. Es war das erste Mal, das er eine Schelte von seiner Tante erhielt. Von Onkel Hubertus bekam er damals ständig welche, bevor er den Großteil seiner Jugend im Internat verbrachte. Aber da war er noch zu jung, als dass es ihn viel ausgemacht hätte. Aber jetzt, wo er das gesetzliche Erwachsenenalter erreicht hatte und den Stolz eines Mannes verspürte, der zur Elite der menschlichen Gesellschaft und zu einer angesehenen Adelsfamilie gehörte, traf es ihn schmerzlich, getadelt zu werden. Er lockerte seine Krawatte noch ein wenig mehr und sah seine Tante eindringlich an.
„Gemeiner Pöbel? Etikette hin, oder her. Segelyacht hin, oder her. Aber ich muss dir jetzt sagen, dass ich deine Meinung nicht teile, Tante. Und wie du über meine Mutter denkst, kann ich nicht gutheißen, auch wenn ich sie nie kennen gelernt habe. Du sprichst, wie die Queen von England, dabei bist du selbst doch nur…“, dann verstummte Rüdiger und ballte seine Fäuste, als wollte er die Wut in ihnen bündeln, die sich in seinem Kopf plötzlich angestaut hat.

Louise riss die Augen auf und presste ihre schmalen Lippen zu einem Schlitz zusammen. Auch ihre zarten Hände in den weißen Handschuhen ballten sich zu Fäustchen und sie wirkte auf Alfred, der die Szene von seinem Platz aus aufmerksam beobachtete, als hätte sie einen Herzanfall.
Aber es war nur ein Anfall von Empörung und Wut, und vielleicht auch Furcht, wie Rüdiger in den blauen Augen seiner Tante zu erkennen glaubte.
„Was bin ich dabei selbst nur? Was wolltest du sagen, Rüdiger? Na los, rück raus, mit der Sprache. Was bin ich dabei selbst nur?“, fauchte sie in einer Welle des Entsetzens ihren Neffen an, dessen glitzernder Brillant am Ohr sie zusätzlich zur Weißglut trieb.
Rüdigers Gesicht wandelte sich zu einer bösartigen Grimasse, die einerseits grinste, andererseits zu weinen schien.
Dann sagte er seiner Tante voll schrecklicher Genugtuung: „Du bist doch selbst nur eine einfache Frau aus dem gemeinen Pöbel. Nennen wir es beim Namen: eine Frau aus dem Dreck! Die anderen im Internat haben es mir erzählt, Tantchen. Deren Familien wissen alles über dich und Mama!“
Louise klammerte sich an den Lehnen ihres Gartenstuhls fest und machte ein Gesicht, als ob sie gerade die vergessene Wahrheit über ihr eigenes Leben zu hören bekam. Dabei hatte sie sie nie vergessen, nur verdrängt. Sie schüttelte unaufhörlich den Kopf und bekam keinen Ton raus, während ihr Neffe weiter erzählte.
„Du und Mama, ihr wart arbeitslos und teiltet euch eine schäbige Wohnung. Während Mama sich aber um Arbeit bemühte und sich von Job zu Job hangelte, hattest DU nichts anderes zu tun, als dich an Männer ranzuschmeißen, als dein Quarkhintern noch prall und ansehnlich war. Und dann hast du auf einer Gala Onkel Hubertus kennen gelernt und ihn mit deinem Wackelhintern in Verzückung gebracht. Nur deshalb bist du jetzt reich. Aber ich sag dir was, Tantchen: sowohl ich, als auch du, wir sind keine echten Blaublütler! Wir sind asoziales Pack, wie das, aus der Stadt. Da kannst du noch so gerne geschwollen herumschwafeln und deinen kleinen Finger beim Teetrinken und Kuchenessen abspreizen. Du bist eine asoziale Hexe!“

Das inzwischen enorme Rauschen des Windes ließ keinen Platz mehr für Vogelgezwitscher und Bienengesumme. Die beiden Schwäne waren auf dem See nicht mehr zu sehen, als wären sie von der aufgewühlten Wasseroberfläche verschluckt worden.
Louises Gesicht war inzwischen nichts weiter, als ein Vulkan, der vor sich her bebte und schließlich explodierte. Ihr feines Alte-Dame-Gesicht verwandelte sich zu einer Fratze der Wut. Eine aufkommende Windböe fegte ihren Hut vom Kopf und ließ ihre weißen Haare wie Spinnweben wild umher flattern.
Die plötzliche Aufsässigkeit ihres Neffen war für sie neu und schockierend, gleichzeitig aber, wie ein längst erwarteter, unerwünschter Gast, der ihr die Erinnerungen an eine verhasste Vergangenheit bescherte.
Sie schrie ihren Neffen an und bemerkte dabei nur hintergründig, dass sie wieder die junge Frau war, die im Elendsviertel der Stadt aufwuchs: „Halt deinen Mund! Halt deine verfluchte Klappe! Du hast keine Ahnung, wovon du da redest! Deine Mutter war eine Schlampe, okay? Sie war eine gutmütige, dümmliche Schlampe, die sich auf Männer einließ, ohne ihren Vorteil daraus zu ziehen. Ich ließ mich auf  Männer ein, weil ich genau wusste, was ich wollte.     
Und wenn ich dafür meinen Arsch einsetzen musste, was soll`s ? Wenigstens hatte ich einen guten Arsch, und der kann sich in meinem Alter immer noch sehen lassen. Deine Mutter hingegen war eine hässliche, kleine Made, die nichts hatte. Deshalb bist du nach ihrem Tod auch bei mir aufgewachsen. Du solltest dankbar sein und mir die Füße lecken. Aber stattdessen scheinst du mir doch nur ganz nach deiner Mutter gekommen zu sein. Du kleiner Hurensohn. Mit deinem Ohrring siehst du aus, wie ne Schwuchtel, mein Lieber Neffe!“

Rüdigers Blut pulsierte hinter seinen ungläubig aufgerissenen Augen. Auch für ihn war es das erste Mal, dass er seine Tante so Reden hörte, wie er selbst immer in seinen eigenen Gedanken geredet hatte. Ihm kam die erschütternde Erleuchtung, dass sie beide aus einem Holz geschnitzt waren. Das Holz eines verdorbenen, von Würmern zerfressenen, morschen Baumes, der nichts Wertvolles an sich hatte.
Der Zorn über seine selbstverleumderische Tante und ihre Aussagen über seine Mutter, ließen ihn blitzschnell aus seinem Gartenstuhl hochschnellen und seinen Finger drohend vor ihr empörtes Gesicht halten.
„Du Fotze! Du dreckige, stinkende Fotze! Wag es nicht, meine Mutter und mich zu beleidigen, oder ich gehe zu Onkel Hubertus Grab, reiß ihm die vergammelten Fetzen seines Schwanzes ab, und steck sie dir in deinen Hals. Hast du mich verstanden? Und die Yacht schieb ich dir in deinen fetten Quarkarsch, du dämliche Hure!“

Aus dem aufkommenden Wind wurde nun ein leichter, aber intensiver Sturm, der die Bäume und Blumen zum Tanzen brachte und das Wasser des Sees in raue Wellen aufwog. Selbst Butler Alfreds graue Haare flogen wild umher, während seine schwarze Stoffhose an seinen Beinen flatterte.
„Du widerwärtiger kleiner Bastard!“, schrie Louise und beugte sich nach vorne, um mit ihrer Hand in seinen Schritt zu fassen und seinen kleinen Hodensack zu quetschen. Rüdiger schrie auf und sah blitzende Sterne vor seinen Augen. Seine Tante packte seine Eier durch die dünne Stoffhose seiner Uniform so fest, dass er glaubte, in Zukunft als Kastrierter umher wandern zu müssen.
Als er den Schmerz nicht mehr aushielt, beugte er sich nach vorne und packte mit beiden Händen seine Tante an ihrem faltigen, dünnen Hals. Er drückte so fest zu, wie er konnte, und ihre Augen wirkten wie zwei Golfbälle, die aus den Höhlen zu quellen drohten. Seine Daumen bohrten sich tiefer in ihre Kehle, bis ein seltsames Reißen zu spüren war. Ihre rechte Hand zermalmte gleichzeitig zwei knorpelartige Bällchen, bis sie sich anfühlten, wie ein Paar zersplitterte Pfirsichkerne in einem Beutel.
Der Schmerz ließ Rüdigers Herzschlag in Explosionsgefahr hochschnellen, bevor der Druck nachließ und die Lebensgeister aus dem Gesicht seiner Tante entwichen. Ihr Gesicht vereiste zu einer grotesken Fratze des Hasses; die blauen Augen mit geplatzten Äderchen weit aufgerissen; der Mund mit den Schmalen Lippen zu einem Stummen Schrei weit geöffnet; die Zunge vom Blut aus ihrer Kehle rot gefärbt. Dennoch presste Rüdiger weiterhin seine Daumen in ihren Hals und konnte bereits das knöcherne Genick an seinen Kuppen spüren.

Alfred der Butler beobachtete die Situation aus der Ferne und es sah für ihn aus, als würde Herr Rüdiger von Memmingen über seine Tante herfallen, um ihr einen leidenschaftlichen Zungenkuss zu verpassen. In Angesicht dieser vermeintlichen Annahme, lächelte Alfred verlegen und senkte seinen Blick. In die erotischen Neigungen seiner Herrschaften wollte er sich nicht einmischen, auch, wenn er es besser wusste.
Rüdiger ließ seine Tante los, fasste sich in den Schritt und trat einige Schritte zurück, um zu betrachteten, was er angerichtet hatte.
„Scheiße, Mann. Verfluchte Scheiße!“, murmelte er vor sich her, als ihm bewusst wurde, dass er seine Tante umgebracht hatte. Doch noch viel mehr fluchte er, als er die zerquetschten Überreste seiner Eier wie gallertartige Murmeln in seinem pochenden Sack spürte.
Er sah sich Hilfe suchend um, zu allen Ecken des Gartens, außer zu der Hintertür des Hauses. Dann schaute er in den Himmel, als könnte er von dort oben Hilfe erwarten. Aber alles was er dort sah, waren aufgezogene, düstere Wolken, die anfingen, zu grummeln. Regentropfen prasselten auf seine jugendliche Stirn und brachten langsam das Gel in seiner Frisur zum Einstürzen. Braune Schmalzlocken fielen ihm ins Gesicht, als der Regen sich stärker über ihn ergoss. Dann ertönte der erste, gewaltige Donner, dessen krachen ihn aus seiner Schockstarre riss.
Rüdiger humpelte mit einer Hand im Schritt zum Haus und schien erst im letzten Augenblick zu bemerken, dass Butler Alfred immer noch mit verschränkten Armen dort vor dem Hintereingang stand, wie ein Wachposten einer Spezialeinheit der Armee.
Alfred hob wieder seine buschige Braue zu einem skeptischen Blick, als wollte er damit seine Verachtung vor Rüdiger ausdrücken, der ihn scheinbar völlig vergessen hatte, obwohl Alfred ständig anwesend war, seit Rüdiger im Alter von drei Jahren bei seiner Tante aufwuchs.
Rüdiger sah ihn mit seinem verzweifelten Milchgesicht an, während ein Blitz in den See krachte und von einem berstenden Donner gefolgt wurde.
„Alfred! Alfred! Bitte, ich brauche Hilfe!“, flehte Rüdiger ihn an, während er auf ihn zuhumpelte. „Ich glaube, ich habe…ich habe meine Tante umgebracht.“
Ein weiterer Blitz schlug irgendwo ein und wurde von einem Donner begleitet. Rüdiger sah den Mann in seinem durchnässten schwarzen Anzug an, wie er völlig regungslos mit verschränkten Armen auf dem Rücken da stand und den Regen an sich abprasseln ließ. Was er allerdings nie zu vor an dem Butler gesehen hat, war ein Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte. Rüdiger betrachtete diese merkwürdige Andeutung eines Grinsens und griff sich dabei mit beiden Händen zwischen die Beine. Der Schmerz war gewaltig.
Sein Gehirn ratterte unter der Qual seiner unsäglichen Hodenschmerzen und versuchte selbstständig herauszufinden, was hier nicht stimmte.
„Bitte, helfen Sie mir, Alfred!“, rief Rüdiger unter Tränen der Verzweiflung.
Die Haare des Butlers hingen inzwischen in grauen, nassen Strähnen an seinem Hinterkopf herunter und er machte keine Anstalten, sich zu rühren. Nur sein angedeutetes Grinsen zeigte an, dass er keine Statue war.
Und war dieses Grinsen nicht irgendwie hinterhältig? Warum in alles in der Welt, lächelte Alfred ihn an, nachdem Rüdiger in einem Akt der blanken Gewalt die Kehle seiner Tante wie eine Coladose zerquetscht hatte?
Rüdiger nahm diese merkwürdigen Dinge wahr, allerdings nur hintergründig. Sein hysterischer, vernebelter Verstand wollte nur eins: Hilfe bei diesem Dilemma, das er selbst nicht begreifen konnte.
„Herr von Memmingen, Sie müssen die Sache irgendwie vertuschen, wenn Sie heil aus dieser Angelegenheit entkommen wollen. Bitte haben Sie aber Verständnis dafür, dass ich mich in die Familienstreitigkeiten meiner Herrschaften nicht einmischen kann“, antwortete Alfred mit einer schrecklichen, kühlen Gelassenheit.
Rüdiger glotzte aus seiner triefenden Wäsche, als wäre er in den letzten paar Minuten in eine groteske Höllenwelt katapultiert worden, die sein letztes bisschen Verstand nicht mehr zu ertragen in der Lage war. Seine braunen Augen schwammen in Tränen und stechende Schmerzen zuckten durch seine Genitalien, wie die Blitze am schwarzen Himmel.
Er drehte sich um und betrachtete den leblosen Körper seiner Tante, der zusammengesackt in dem Gartenstuhl auf der Wiese saß und dem strömenden Regen ausgesetzt war. Ihr Oberkörper war nach vorne gebeugt und die langen, weißen Haare hingen in triefenden Fetzen herab und bedeckten ihr Gesicht. Sie sah aus, wie der Kadaver eines Tieres, das ins Meer gefallen war und später an den Strand gespült werden würde.
Dann sah Rüdiger erneut seinen Butler an und fragte: „Wie? Wie soll ich das vertuschen? Verdammt, Mann, helfen Sie mir doch endlich dabei!“
Der Butler schüttelte nur mit dem Kopf und das Grinsen breitete sich bis zu seinen großen Ohrläppchen aus. Dann endlich rührte er sich und zeigte mit seinem Finger auf den See, dessen Oberfläche inzwischen wie prickelnder Sekt wirkte, - geschuldet dem unablässigen Regen.
Während Alfred mit dem Finger auf den See deutete und lächelte, erhellte ein Blitz in der Nähe die Umgebung und tauchte sein Gesicht kurzzeitig in gleißendes Licht, wodurch er auf Rüdiger wie ein bösartiger Dämon wirkte. Dann krachte es aus den düsteren Wolken und Rüdiger zuckte zusammen.
Er verstand, was Alfred ihm klar machen wollte. Und er wusste, dass sämtliches Betteln und Flehen nichts nützen würde. Alfred wollte ihm nicht helfen.
Kurzzeitig stieg wieder diese unbegreifliche Wut in Rüdiger auf und er dachte darüber nach, es gleich richtig zu machen und diesen schmierigen Butler, den er insgeheim noch nie leiden konnte, ebenfalls ins Jenseits zu schicken. Aber dann gab er diese Idee wieder auf. Mit seinen zerstörten Kronjuwelen hätte er gegen den immer noch kräftigen Herren höheren Alters nichts ausrichten können. Und Alfred schien mindestens genauso wahnsinnig zu sein, wie er selbst.
Rüdiger wirbelte herum und hinkte über den matschigen Rasen zum Leichnam seiner Tante. Der Niederschlag war inzwischen so stark, dass die gesamte Wiese nichts weiter als eine riesige Pfütze war, in der Rüdigers schwarze Lackschuhe versanken, wie in Treibsand.
Als er seine Tante erreichte, machte er sich sofort ans Werk und bemühte sich dabei, ihren Kopf nach vorn gebeugt zu lassen, damit er ihr Gesicht nicht sehen musste. Er packte sie von hinten unter den Achseln und versuchte sie hoch zu hieven, aber die alte Dame war relativ gut genährt, weshalb er sie fallen ließ.
„Verdammte Scheiße! Wie kannst du nur so fett sein, wo du doch nicht mal deine Torten und Kuchen ganz auffrisst und die Reste wegschmeißen lässt?“, schrie er seine Tante an, die nun wie eine tote Seekuh im Gras lag. Schmerz zog sich wie eine glühende Messerklinge durch seine pürierten Eier. „Ah! Verdammt!“
Dann versuchte er erneut, Louise hoch zu hieven. Er packte sie wieder unter den Armen, die schlapp und blass herunterbaumelten, wie zwei schleimige Tentakel. Er schaffte es gerade noch, sie bis auf die Knie aufzurichten, verlor aber dann den Halt und stürzte mit ihr auf den klitschnassen Boden. Nun lag seine Tante auf der Seite und Rüdiger sah ihr weißes Gesicht mit den aufgerissenen, herausquellenden Augen und dem stummen Schrei direkt neben sich. Er schrie selbst, als er in diese verzerrte Fratze blickte und rappelte sich sofort wieder auf, um dem vorwurfsvollen Gesicht zu entgehen. In seiner Verzweiflung sah er noch mal zu Alfred rüber, der wie eine dunkle Silhouette vor dem Hinterausgang im Regen stand und sich scheinbar vor Ekel, oder Trauer die Hand vor das Gesicht hielt.
In Wahrheit hielt sich der Butler die Hand vor dem Mund, weil er das Spektakel voller Amüsement beobachtete und in sich hinein kicherte. „Fabelhaft, einfach göttlich“, murmelte Alfred lachend in seine Hand hinein.
Rüdiger atmete tief durch, versuchte, die Schmerzen in seinen Lenden zu unterdrücken und die Sache ein für alle Mal zu beenden. Er packte seine Tante diesmal an den kleinen Füßen, die an den dicken Waden aussahen, wie Schweinshufen. Sie waren regelrecht in die engen Manolo Blahnik Sandalen hineingequetscht und schnürten ihre wässrigen Altfrauenfüße ein. Dieser Anblick beförderte Rüdigers Zitronentorte beinahe wieder ans Tageslicht, aber er schluckte sie wieder runter und spürte Sodbrennen in sich aufsteigen. Er schleifte den leblosen Körper seiner Tante über die Wiese, weg von dem Kaffeetischen und den umgefallenen Gartenstühlen, hinüber zu dem See, der sich in etwa fünfzig Metern Entfernung befand.
Der Himmel grummelte und donnerte weiterhin unnachgiebig und verwandelte den Tag in finstere Schwärze. Die Regengüsse wirkten wie ein silberner Schleier, wo hindurch man nur Umrisse und Silhouetten erkennen konnte.
Aus Alfreds Sicht sah die Szene auf dem Rasen aus, als würde ein Mann eine Schubkarre rückwärts ziehen. Er sah auf seine Armbanduhr und lächelte selbstgefällig.
Erstaunlicherweise brachte Rüdiger den Weg in sehr kurzer Zeit hinter sich, was Alfred ein wenig in Spannung versetzte.
Er sah, wie der Junge Herr von Memmingen rückwärts in den See ging und seine Beine langsam im aufgewühlten Wasser verschwanden, während er den Körper seiner Tante mit sich zog. Aus der Entfernung konnte Alfred sogar ihren gewaltigen Busen erkennen, der wie Wackelpudding hin und her schwappte.
Bald stand Rüdiger bis zur Hüfte im Wasser und der Körper seiner Tante schwamm wie eine aufgedunsene Wasserleiche an der Oberfläche, mit weit ausgebreiteten Armen und dem Gesicht in den tosenden Himmel gerichtet.
Hinter dem Schleier von Regen war Rüdigers Gesicht nicht mehr zu erkennen, aber er schien zu fluchen, als er mit den Armen ins Wasser schlug und sich die Haare raufte.
Alfred schaute erneut auf die Uhr und hielt sich die Faust zwischen die Lippen. Diesmal nicht, um hinein zu kichern, sondern aufgrund seiner aufkommenden Anspannung.
„Nur noch eine Minute, nur eine Minute“, murmelte er vor sich her.
Dabei griff er in seine völlig durchnässte Hosentasche und holte einen kleinen, schwarzen Kasten mit einem Knopf heraus, auf den er seinen Daumen legte, bereit, zu drücken, sollte Rüdiger sich entscheiden, das Wasser zu verlassen. Alfred ging einige Schritte nach vorn, um nach dem Kabel zu schauen, das er am Ufer des Sees angebracht hatte.
„Hoffentlich funktioniert der Sender noch, lieber Gott. Lass ihn nicht durch die Nässe kaputt gegangen sein“, flehte er den Herrn im Himmel an.
Als hätte dieser ihn erhört, zuckte ein leuchtend purpurner Blitz vom Himmel herab und schlug mit einem gleißenden, schrillen Geräusch in den See ein. Rüdigers Silhouette warf die Arme hoch und zappelte, wie eine außer Kontrolle geratene Marionette, die sich in ihren eigenen Schnüren verfangen hatte.
Alfred riss die Augen auf und lächelte voller Glückseeligkeit. Er ließ das schwarze Kästchen wieder in seine Hosentasche verschwinden, denn seinen Plan B hatte er nicht gebraucht. Alles verlief nach Plan A, wie er nun nach einem Blick auf seine Uhr feststellte.
Er schlug in die Hände, sprang hoch und knallte seine Hacken aneinander.
So plötzlich, wie das Gewitter aufgezogen war, so schnell verflüchtigte es sich auch wieder. Der Donner zog weiter, weg von der Küste, hin zu den Bergen. Aus den Sturzfluten an Regen wurde ein leichter Nieselschauer und die schwarzen Wolken lösten sich langsam auf, als würde man Zuckerwatte in Wasser auflösen.
Alfred beruhigte sich wieder, sah sich nach allen Seiten des riesigen Gartens um, und ging bedächtig in Richtung des Kaffeetischchens. Dabei behielt er den See im Auge, in dem nun zwei reglose Körper trieben, wovon einer nach oben sah, und der andere zum Seegrund.
Aus der Entfernung wirkten sie wie zwei kleine Inseln.
Als Alfred den Kaffeetisch mit den zwei umgekippten Gartenstühlen erreicht hatte, sah er, dass die Zitronentorte nur noch eine zerflossene Pampe war. Er wollte die Überreste eigentlich wegwerfen, als reine Vorsichtsmaßnahme, aber er befand, dass das nicht unbedingt nötig war. Das Nervengift, das er in die Torte gemischt hatte und die beiden Von Memmingens zum Wahnsinn und zur Streitlust brachte, löste sich bei Kontakt mit Wasser auf und würde keine Spuren hinterlassen.
Alfred betrachtete zufrieden die Schleifspuren und Fußabdrücke, die von hier aus zum See führten. Es reizte ihn, sich dem See zu nähern und die Leichen seiner Herrschaften aus der Nähe zu betrachten. Zu gerne hätte er Louises schreckliche Todesfratze aus der Nähe gesehen, aber er widerstand diesem Reiz. Es war besser, wenn nur die frischen Schleifspuren und Fußabdrücke des Jungen und seiner Tante in der Nähe des Sees waren, damit keine Zweifel an Alfreds Unschuld aufkommen würden.
Der Butler schlenderte mit seinem voll gesaugten, schweren Anzug zurück zum Herrenhaus, durchquerte die Küche, den Flur und ging in den Wohnsalon, der mit Schild- und Löwenwappen, türkischen Teppichen, Ritterrüstungen und Hirschgeweihen dekoriert war.
Dabei verlangsamte er seinen Schritt, als er an dem großen Kirschholzschrank mit der Sammlung seltener Stücke, die Hubertus von Memmingen einst von seinen Segelfahrten aus aller Welt mitbrachte, vorbei kam.
Neben gruseligen Holzmasken afrikanischer Stämme, Dolchen aus Indien und steinernen Götzenfiguren aus Südamerika, befand sich auf eines der Regale im Schrank ein vergleichsweise modernes Gerät, das Alfred nun mit einem warmen Lächeln betrachtete.
Er ließ seine behandschuhte Hand zärtlich über das Gerät streifen, als würde er es streicheln. Als Hubertus von Memmingen vor Jahrzehnten dieses Ding von einem Segeltörn nach Japan mitbrachte, wusste keiner der Kunstschätzer, um was es sich genau handelte. Sie vermuteten nur, dass es sich um eine Art Barometer, oder Wetterstation aus dem siebzehnten Jahrhundert handeln müsste, da das kleine Gläschen mit der grünen Flüssigkeit und dem Schwimmer bei Temperaturunterschieden immer ausschlug. Die seltsame Rolle mit den Schriftzeichen, die durch den Druck der grünen Flüssigkeit ständig rotierte, gab aber allen Rätseln auf. Kunstexperten, befreundete Professoren von Hubertus, beauftragte Sprachwissenschaftler mit Kenntnissen der asiatischen Sprachen; sie alle vermochten es nicht, die Bedeutung dieses Gerätes, und vor allem der Schriftzeichen auf der Rolle zu ergründen.
Als Butler Alfred sich damals in seiner Abendfreizeit mit der ominösen Gerätschaft beschäftigte, und die Bücher der hauseigenen Bibliothek bemühte, fand er heraus, um was es sich bei den Schriftzeichen tatsächlich handelte. Die Erklärung hierfür fand er in einem uralten Buch der Rassenkunde, das bereits vor der Nazizeit verfasst wurde. In diesem Buch entdeckte Alfred einen Teil, der sich mit der Urbevölkerung Japans und Sibiriens beschäftigte. Hier fand er die gleichen Schriftzeichen, die sich auf der rotierenden Rolle des seltsamen Gerätes befanden. In nächtelanger Dekodierarbeit und Beobachtung des Wetters fand er heraus, was Experten und Wissenschaftler zum verzweifeln brachte: das Gerät war tatsächlich eine Wetterstation und die Rolle im Holzgehäuse ein Kalender, der minutengenau vorhersagen konnte, wie sich das Wetter verhalten würde, und wann genau und wo ungefähr in der Nähe des Gerätes es blitzen würde.
Bis zum heutigen Tage behielt er dieses Geheimnis für sich und teilte es nur mit dem Gerät, das irgendein Ureinwohner Japans – vielleicht ein Ainu – vor langer Zeit erbaut hatte.
Und als Hubertus von Memmingen in den letzten Tagen seines Lebens Butler Alfred zu sich in den Salon rief, ihm sein Herz ausschüttete und mit einer Bitte konfrontierte, die Alfred nicht sonderlich überraschte, wusste er, dass sich die altertümliche Wetterstation bewähren würde.
An jenem Abend saß der alte Hubertus mit einer Decke über den Beinen auf dem Ledersessel im Salon und umklammerte mit seiner klauenartigen Hand Alfreds Arm.
„Mein getreuer Alfred. Großteil meines Vermögens muss ich meiner Frau vermachen, so, wie es von mir verlangt wird. Hätte ich sie in dem Testament nicht erwähnt, dann hätte sie sofort die Scheidung eingereicht und würde mindestens die Hälfte meines Vermögens bekommen. Sie würde ihr Vermögen wiederum ihrem verkommenen Neffen hinterlassen, wenn sie selbst eines Tages das zeitliche segnet. Ich habe aber meinem Testament eine Klausel zugefügt, die besagt, dass im Falle des Vorzeitigen Todes meiner Frau sämtliches Vermögen in Ihre Hände geht, Alfred.“
Der Butler zuckte damals bei dieser Neuigkeit etwas zurück und die Schamesröte stieg ihm ins Gesicht. Hubertus von Memmingen packte mit seiner dürren Hand fester zu und sah seinen Bediensteten eingehend an.
„Sagen Sie nichts, Alfred. Es ist richtig so. Sie sollten das Alles hier erben. Sie allein! Nachdem mir dieser habgierige Drachen Louise nicht einmal Kinder schenken wollte, sind Sie der Einzige, dem das alles hier gebührt. Sie sind ein guter Mann, Alfred und ich wusste ihre Dienste und ihre Sanftmut immer sehr zu schätzen.
Es ist vielleicht etwas viel verlangt, um was ich Sie nun bitte, und Sie müssen es nicht ernst nehmen, geschweige denn, sich selbst in Schwierigkeiten bringen. Aber: Bitte sorgen Sie irgendwie dafür, dass weder meine kaltherzige Frau, noch ihr missratener Neffenbengel nach meinem Tod alles bekommen wird, wofür mein guter Name steht. Falls Sie dafür ein geeignetes Werkzeug benötigen, sehen Sie sich das kleine Fläschchen an, das ich unter einer losen Diele in der linken, hinteren Ecke meines Büros verstaut habe. Eine Beschreibung mit der Wirkung dieses Teufelszeugs liegt bei. Aber sehen Sie es sich erst nach meinem Tod an, Alfred. Ich glaube nicht, dass wir noch lange darauf warten müssen.“

Alfred tat am heutigen Tag genau, wie ihm geheißen. Und als er die wundersame Wetterstation streichelte, konnte er selbst kaum glauben, dass sein Plan so tadellos funktionierte, wie das Uhrwerk seiner Schweizer Armbanduhr.
„Herr von Memmingen, Ihr letzter Wille wurde erfüllt“, sagte er in den leeren Salon und schlenderte zum Telefon, um die Polizei darüber zu unterrichten, dass seine Dienstherrin gerade von ihrem eigenen Neffen ermodert wurde und er selbst durch einen Blitzeinschlag in den See starb.
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Catalano
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Beitrag29.06.2015 19:16

von Catalano
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Der Ausreißer

Marco legte den Hörer auf und fing an zu weinen. Sein Schluchzen hallte in der kahlen Wohnung erbärmlich wider und fügte seinem Herzen weitere Risse zu. Als er sich bewusst wurde, in welchem Anfall von Selbstmitleid er da gerade zerfloss, weinte er umso mehr.
Vor ihm auf den Tisch lagen ein überquellender Aschenbecher und die Mahnung der Mietbaugesellschaft, die ihm gerade am Telefon mitgeteilt hatte, dass sie eine weitere Verspätung der Mietzahlung nicht akzeptieren würde.
In einer Woche kommt die Kündigung, und dann bin ich obdachlos.

Nachdem dieser Satz seine Gedanken passierte, brach er in noch heftigeres Geheule aus. Marco war für gewöhnlich nicht nah am Wasser gebaut, aber in der letzten Zeit schien sein Leben den Bach runter zugehen. Die Kacke stapelte sich bis unter die Decke, könnte man sagen. Und irgendwann war auch der kleine, robuste Kerl nicht mehr in der Lage, steinerne Härte zu beweisen und das Problem anzupacken. Da gab es schlicht nichts anzupacken. Innerhalb einer Woche hätte er keine dreihundertfünfzig Piepen aufbringen können, um die Mietschuld zu begleichen.
Familie, Freunde? Keiner war mehr da, der ihm helfen konnte. Die einzige Person, mit der er die letzten Jahre verbracht hatte, verließ ihn vor einem Jahr, was ihn immer noch schmerzte, wie er nun im Zenit seines Selbstmitleides erkannte.
Aber wenigstens hatte die Ex Marco einen namenlosen Kameraden gelassen, der ihm Gesellschaft leistete und seinem Kummer stumm beiwohnte.
Was zunächst nach einem Akt der Barmherzigkeit klingt, war in Wahrheit nur eine weitere, von Egoismus triefende Entscheidung, mit der seine Ex sich von den Hässlichen und Schwachen befreite. Marco war zwar nicht hässlich,  aber die letzten Jahre fett und unattraktiv geworden. Sein kleiner Kamerad hingegen war hässlich. Und darüber hinaus eine Missgeburt mit unnatürlichen Makeln, die seine hübschen Kollegen nicht besaßen.
Und wie es nun mal so kam, blieben Marco und sein Freundchen alleine zurück, jeder für sich in seiner eigenen, trostlosen Welt, jeder für sich allein, aber dennoch irgendwie zusammen.

Während seine Tränen versiegten, zerkrümelte Marco die Zigarettenstummel in seinem Aschenbecher, um an die letzten rauchbaren Tabakfetzen zu gelangen, die ihm noch blieben. Er hatte zwar noch ein paar „gute“ Zigaretten, aber die bewahrte er sich für den absoluten Notfall auf. Am besten für den näher rückenden Abend, an dem er irgendwo draußen in der Kälte, in eine Decke eingewickelt, unter einem Baum in der Landschaft liegen, oder sich in irgendwelche Büsche verkriechen würde. Wer weiß? Vielleicht würde er in ein paar Monaten auch ein waschechter Penner sein und in Kartons auf den Straßen der Stadt schlafen, so, wie es sich für einen Obdachlosen gehörte. Dazu fehlte ja nicht mehr viel, wie ihm nun wieder bewusst wurde, als er sich die Kippe mit den bereits gerauchten Tabakresten anzündete.
Nach den ersten paar Zügen keuchte er und trank einen Schluck Wasser aus dem Hahn, was sie ihm zum Glück noch nicht abgestellt hatten. Wenigstens dafür reichte sein letztes Arbeitslosengeld, das ihm für die Folgemonate verweigert wurde.
Dann sah er zu seinem kleinen Freund.
Sonst würde es jetzt schon ganz übel für dich aussehen, mein Freund. Aber keine Bange: es wird sich schon noch jemand finden, der dich aufnimmt. Versprechen kann ich es dir nicht, aber ich versuche es.
Eine andere Stimme in seinem Kopf behauptete: Ach, hör doch auf, du. Du bist ja nicht mal in der Lage, jemanden zu finden, der DICH aufnimmt. Du hast es vergeigt, Marco!

Er bekam einen erneuten Hustenanfall und drückte den widerlichen Stummel aus. Sein Mund schmeckte, als hätte eine Katze hinein geschissen, und er trank wieder Wasser, wovon ihm leicht übel wurde.
Du bräuchtest auch dringend Mal frisches Wasser, mein Freund. Aber ich vermute, dass du es auch noch eine Woche so aushältst, oder?
Sein stummer Kamerad sah ihn nur an und machte seine typischen Lippenbewegungen, die manchmal wirkten, als wollte er Marco Luftküsse zuwerfen.
Dann versteckte er sich hinter dem einzigen Gegenstand, der einen Bruch in seine stumpfe, kontinuierliche Welt zauberte, aber das Gesamtbild dieser Welt noch trostloser wirken ließ.
Als Marco seinen kleinen Freund sah, wie er sich hinter diesem Gegenstand versteckte, kamen ihm wieder die Tränen. Aber diesmal keine Tränen des Selbstmitleides, sondern des puren Mitleides, was ihn ein wenig erfrischte und gleichzeitig müde machte.
Marco legte sich auf sein ranziges Sofa, beäugte noch ein wenig die kahlen Wände und döste.
Am Abend schaltete er den kleinen Röhrenfernseher ein - den er damals aus dem Keller holte, nachdem seine Ex auszog und ihren Flachbildfernseher mitnahm-, sah sich irgendwelche Dokumentationen über das alte Rom und Krokodile an, und schlief dann ein.

Den nächsten Tag begann er mit einer seiner „guten“ Zigaretten. Gerne hätte Marco noch einen Kaffee dazu getrunken (sogar einen, den man in heißem Wasser auflöst), aber für solche Sperenzchen hatte er kein Geld.
Warum eigentlich nicht? Was soll ich mit den letzten paar Kröten denn eigentlich machen? Mir erst einen Kaffee kaufen, wenn ich bald draußen im Regen rumlungere und nicht weiß, wohin mit mir?
Seine andere Stimme sagte ihm besserwisserisch: Sei nicht dumm, Mann! Teil die Kohle ein und kauf dir was zu Fressen, damit du wenigsten die Woche noch überstehst! Nudeln, Weißbrot, Streichkäse, Eier. Gibt es alles für Centbeträge.   

Marco raufte sich die Haare und rieb sich den getrockneten Schlaf aus den Augen, die von dunklen, violetten Ringen eingekreist waren. Er sah an sich hinunter und stellte fest, dass er immer noch eine Wampe hatte, obwohl er die letzten Monate kaum was Vernünftiges gegessen hatte. Stattdessen hatte er sich mit jeder Menge billigem Weißbrot, Nudel und gekochten Kartoffeln voll gestopft, die er auf dem dreckigen Herd zu bereitete, der mutterselenallein in der kahlen Küche ohne Spüle und sonstige Möbel stand. Den einzigen Topf, den er besaß, wusch er im Badezimmer aus.
Gleichzeitig schienen ihm seine Arme verkümmert und schlaff zu sein. Von der Robustheit, die er besaß, als seine Exfreundin noch da war, spürte er selbst nichts mehr. Er war psychisch bereits ein Wrack, und nun  schien ihm auch sein Körper schlapp zumachen.
Wenigstens hab ich noch Fettreserven. Die zögern meinen Verfall um einige Wochen heraus, wenn ich bald draußen in der Kälte vor mich hin vegetiere.

Er sah zu seinem stummen Freund rüber, befürchtete, dass der bereits das Zeitliche gesegnet hätte, und atmete tief durch, als er ihn sah, wie er hinter seinem Versteck hervor kam und nach Essbarem suchte.
An diesem Morgen, wo die Wintersonne so grell durch die Lamellen der Jalousie und dem völlig nackten Balkonfenster schien, hatte Marco ein seltsames Gefühl. Es war eine hintergründige Gefühlsregung, die ihn dazu veranlasste, positiv zu denken, obwohl er wusste, dass es sowieso nichts bringen würde. Aber was hatte er zu verlieren? Retten konnte er sich und seinen Freund innerhalb einer Woche sowieso nicht mehr.
Also ließ er eine Tatsache darüber entscheiden, was er heute tun würde.

Marco griff zu dem kleinen Döschen unter der Behausung seines kleinen Freundes und sah hinein. Dann wusste er, was er tun würde.
Als er das Döschen zurückstellte, betrachtete er seinen stummen Leidensgenossen und staunte über ihn, und teils über sich selbst.
Wie konnte es passieren, dass du so sehr anders aussiehst, als deine Freunde, die nicht mehr hier sind? Aber scheinbar geht es dir gut damit, oder nicht? Also, mir gefällst du.
Die andere Stimme sagte: Mann, Alter! Schaff ihn weg und kümmere dich endlich um dich selbst! Du hast noch eine Woche Zeit. Vielleicht findest du eine Leihfirma, die dich einstellt, oder kannst dir Geld von einem Nachbarn leihen, wenn du lieb fragst. Der von Oben ist doch ganz nett, oder nicht?
Stehst hier und redest mit einem…


Marco zog sich seine ungebügelten, ungewaschenen Klamotten an, packte seine drei Stoffbeutel ein und ging zum Supermarkt.

Als er wiederkam, legte er seine Errungenschaften auf das Tischchen im Wohnzimmer, und zwar so, dass sein kleiner Freund einen Blick darauf werfen konnte. Für die letzten Piepen, die Marco hatte, kaufte er: vier Packungen Nudeln, eine Packung Käse, eine Packung Streichkäse, zwei Dosen weiße Böhnchen, zwei Flaschen billigen Whiskey für sechs neunundneunzig, eine Dose Stopftabak, löslichen Kaffee und eine Dose Futter für seinen Freund.
„Wenigstens an unseren letzten gemeinsamen Abenden gönnen wir uns etwas Gutes, oder?“, fragte Marco seinen kleinen Kumpanen, der ihm zustimmend Luftküsse zuwarf.
Marco gab ihm das Fressen und sah zu, wie sein stummer Freund zu einer Vitalitätsbombe wurde und sich an dem bunten Treiben in seiner Welt labte. Marco hatte das erste Mal seit langem ein kleines Lächeln auf seinen Lippen.
Dann betrank sich Marco mit dem Billigfusel und qualmte wie eine Dampflok, wohl wissend, dass er sich mit den übrig gebliebenen acht Euro eine weitere Tabakdose kaufen konnte.

Es folgten einige Tage, in denen Marco kaum noch mit seinem Freund sprach, ihn nicht einmal ansah. Er gab ihm zu Fressen, fraß selbst, trank, rauchte und schaute Müll im Fernseher, bevor er sich den Rest der Zeit mit Schlafen vertrieb. Sämtliche Gedanken an seine nahende Obdachlosigkeit waren eingefroren, als würde man eine Tiefkühlpizza, derer Mindesthaltbarkeitsdatum bald abläuft, ganz vorne in das Gefrierfach legen, damit sie einem sofort ins Auge fällt, wenn man hineinschaut. Bis dahin isst man andere Dinge.
Und als die Kündigung der Mietbaugesellschaft im Briefkasten lag, und der Hausmeister anrief, um die Wohnungsabnahme zu vereinbaren, war der Tag gekommen, an dem Marco in das Gefrierfach schaute.
Und als er die Tür des Gefrierfachs öffnete, liefen ihm gleich dutzende kalte Schauer über den Rücken und vereisten seine Synapsen, sodass er vernünftig zu denken kaum noch in der Lage war.
Er lief in Panik umher, raufte sich die Haare und dachte darüber nach, den letzten Schluck Whiskey runterzuschütten und einfach wegzulaufen. Aber stattdessen warf er die beiden Flaschen in den Müllbeutel, der im Flur lag.
Schweiß drang ihm aus den Poren seiner Stirn und sein Schädel schmerzte. Seine braunen Haare fielen ihm in fettigen Strähnen vor die Augen und sein Gehirn ratterte angestrengt, um wenigstens den letzten Schritt richtig zu machen.
Er nahm erneut den Hörer in die Hand und rief nacheinander die Telefonnummern an, die er sich vor einigen Tagen aus den gelben Seiten herausgesucht hatte.
Das erste Telefonat verlief erfolgreich. Der Entrümpler und Trödelhändler würde gleich morgen vorbei kommen, und seine paar verbliebenen Habseligkeiten kostenlos herausschaffen. Dafür durfte Marco aber kein Geld für seinen noch guten Kirschholzschrank, die Spielkonsole und die Waschmaschine verlangen, die er lange nicht mehr benutzt hatte.
Die anderen beiden Telefonate verliefen nicht so gut. Die Menschen, die angeblich Wesen in Not aufnahmen, wie sein kleiner Freund es war, hatten angeblich keinen Platz mehr für ihn. Für Marco klangen diese Leute eher so, als hätten sie keine Lust, sich um seinen Freund zu kümmern.
Scheiße! Scheiße! Scheiße! Ich hätte nie gedacht, dass es mich so treffen würde. Fluss, oder Toilette? Das kann ich beides nicht!

Marco kramte am Abend die Flasche mit dem Drittel an Whiskey aus der Mülltüte im Flur, und trank ihn. Er schlief ein und wälzte sich unter wirren Albträumen auf seinem Sofa hin und her.

Der letzte Morgen war erreicht, an dem er die Augen öffnen und die vergilbten Wände seiner kalten Wohnung sehen würde. Er blieb noch einige Minuten so liegen, die staubige Wolldecke wirr um seine Beine gewickelt, und starrte an die Decke.
Er wartete auf die Panik vom Vorabend, aber sie stellte sich nicht ein. Es war die gleiche Situation, als hätte man einen lang erwarteten Zahnarzttermin, oder eine wichtige Klausur vor sich, weshalb man sich am Abend zuvor verrückt macht; und am entscheidenden Tag, weicht alle Panik einer Angst einflößenden Leere, oder Konzentration, die von einem Besitz ergreift und einem das tun lässt, was man tun muss.
Er stand auf, warf einen flüchtigen Blick zu seinem Freund, den er gerade nicht sehen konnte, und wusch sich dann im Bad das Gesicht, bevor er sich anzog.
Das traurige Gefühl von Wehmut kratzte nur leicht an ihm, als er die Wände, die Decken und die einzelnen Räume ansah, in denen er und seine Ex damals so viele Dinge erlebt hatten. Schöne Dinge, und hässliche Streitereien.  
Aber die Wehmut nagte nur leicht an Marco, weil die letzten, einsamen Monate noch so präsent waren und diese Wohnung im Grunde ein Palast der negativen Gefühle war. Hätte er nicht gewusst, dass er noch heute Abend auf der Strasse schlafen musste, dann hätte er auf seinen Auszug mit Freuden entgegengesehen.

Er kramte gerade seine letzten Habseligkeiten zu einem Haufen zusammen, der im Laufe des Tages von dem Entrümpler abgeholt werden würde.
Seinen Rucksack mit den wichtigsten Papieren und einigen Klamotten lag bereits gepackt in der Ecke seines leeren Wohnzimmers.
Dann atmete er tief ein und aus, nahm sich die vorletzte „Gute“ aus der Schachtel, steckte sie an und betrachtete seinen kleinen Freund, der in seiner einsamen Welt herumschwirrte und Marco keine Luftküsse mehr zuwarf, als wüsste er, dass sein großer Freund ihn aufgegeben hatte.
Tut mir leid, Kleiner. Aber ich weiß nicht, was ich tun soll. Und ich bring es nicht übers Herz, dich zu töten.
Marco zuckte zusammen, als es an der Haustür schellte. Er drückte seine Zigarette in dem Aschenbecher aus Alufolie aus und betätigte den Summer.
Nach zwei Sekunden stand der Hausmeister vor der Tür. Ein grauhaariger, schlanker Typ, der sich wahrscheinlich für Indiana Jones, oder Crocodile Dundee hielt, wie er mit seinem Panamahut und der grauen Allzweckweste über der dicken Holzfällerjacke aussah.
Marco begrüßte ihn mit einem beschämten, traurigen Lächeln und bat ihn herein.
Der Hausmeister sah sich bereits bei seinem ersten Schritt in die Wohnung die Decke und die Wände des Flures an, und machte sich irgendwelche Notizen auf seinem Klemmbrett.
„Ich werde mir die Wohnung in Ruhe ansehen und zum Schluss sprechen wir darüber“, sagte der Hausmeister. Marco nickte und verzog sich ins Wohnzimmer, wo er so tat, als würde er noch einige Sachen zusammenräumen.

Es dauerte nicht lange und der Hausmeister kam ins Wohnzimmer. Er machte ohnehin schon ein langes Gesicht, weil die Wohnung, die Marco hinterlassen würde, vergilbt und ungestrichen war.
Als der Hausmeister aber das große Aquarium auf dem kleinen Schränkchen im Wohnzimmer erblickte, riss er die Augen weit auf und sah Marco ungläubig an: „Wie wollen Sie DAS denn hier bis zum Abend herausbekommen?“
„In einigen Minuten kommt ein Entrümpler, der alles mitnimmt, was ich habe. Ich hoffe, dass er das Aquarium auch mitnehmen wird. Und wenn nicht, werde ich es zuletzt rausschaffen“, versicherte ihm Marco beschämt.
„Was ist das für ein Aquarium? Hundertzwölf Liter? Um Achtzehn Uhr muss die Wohnung leer sein, und zwar komplett. Wie wollen sie das ganze Wasser bis dahin ablassen? Geschweige denn, das Aquarium beseitigen? Das schaffen Sie doch nie und nimmer!“, sagte Indiana Jones und deutete dabei mit seinem Kugelschreiber auf das trostlose Aquarium.
„Das krieg ich schon hin“, sagte Marco.

Der Hausmeister ging bedächtig auf den Glaskasten mit dem trüben, grünstichigen Wasser zu und betrachtete ihn. Er ging in die Hocke, um sich den erbärmlich schmutzigen Kiesgrund anzusehen, auf dem eine  kleine Holzwurzel lag und ein einzelner Strauch einer Wasserpflanze sich im Strom der Sauerstoffpumpe hin- und herwiegte.
Gleich wird er mich einen Tierquäler nennen, das fehlt mir jetzt auch noch, dachte sich Marco.

Dann zuckte der Hausmeister ein wenig zurück und betrachtete still und interessiert Marcos kleinen Freund, der hinter der Holzwurzel empor kam und wieder Luftküsse verteilte.
„Für Goldfische brauchen Sie keine Heizung, das sind Kaltwasserfische“, sagte der Hausmeister beiläufig.
„Ich weiß. Der Heizstab ist nicht angeschlossen. Den gab es damals im Set dazu“, antwortete Marco und fragte sich, wann dieses Trauerspiel endlich ein Ende nehmen würde.
Aber dann bemerkte er, dass der Hausmeister zu lächeln anfing und ein erstauntes Gesicht machte, als er seinen Blick zu Marco wendete.
„Wissen Sie eigentlich, dass sie hier einen „Ausreißer“ haben?“
„Einen Was? Ich verstehe nicht ganz.“
„Einen „Ausreißer“. Das sind Goldfische, die mit einer Tigerung und Missbildungen der Augen geboren werden. Wo haben Sie den her?“, fragte der Hausmeister voller Entzückung.
Marco wunderte sich, dass der Hausmeister die grässlichen, schwarzen Flecken auf dem Körper seines kleinen Kameraden als Tigerung bezeichnete. Aber zumindest mit der Missbildung des aufgeblähten Kopfes hatte er Recht.
„Der war damals unter den anderen Fischen, als meine Freun…, ich meine, meine Ex und ich sie in der Zoohandlung gekauft hatten. Das war mal ein schönes Aquarium mit ungefähr zehn Fischen und jeder Menge Pflanzen und so ein Zeug. Und als meine Ex mich verließ, hatte sie die ganzen anderen Fische mitgenommen und die meisten Wasserpflanzen. Nur den Hässlichen wollte sie nicht haben. Aber ich glaube, es war ein Fehler Goldfische zu halten, die gehören nicht in solche kleinen Aquarien.“
Marcos stummer Kamerad war nun an der Scheibe des Aquariums und machte mit seinen Lippen unaufhörlich: „Blubb, Blubb, Blubb.“

Der Hausmeister richtete sich auf und drehte sich zu Marco um. Sein Gesichtsausdruck schien um Welten  freundlicher zu sein, als zu Beginn der Wohnungsbegehung.
„Ich habe einen guten Bekannten, der Goldfische und Kois hält. Von ihm weiß ich, dass Liebhaber für solche „Ausreißer“ viel Geld bezahlen. Diese Missbildungen sind im Grunde eine genetische Mutation, die selten, aber ungefährlich für das Tier sind. Und in Verbindung mit der Tigerung haben diese „Ausreißer“ wirklich Seltenheitswert.“
Crocodile Dundee sah Marco mit einem Ausdruck der Begeisterung an und wartete scheinbar darauf, dass er sich von der frohen Kunde anstecken ließ. Aber Marco rang sich nur ein gequältes Lächeln ab, während seine Augen traurig und müde aus der Wäsche schauten. Der Hausmeister hatte scheinbar vergessen (oder er wusste es schlicht gar nicht), dass der zahlungsunfähige Mieter sich noch am gleichen Abend seinen Hintern in der Kälte irgendeines Parks, oder unter einer Brücke abfrieren würde. Was sollte Marco mit der Neuigkeit anfangen, dass sein kleiner, missgebildeter Freund ein Sammlerstück war, für das sich irgendwelche spießigen Fischliebhaber interessierten?
Davon konnte er sich auch nichts kaufen.
Hausmeister Dundee bemerkte, dass eine schwere Last auf den Schultern des jungen Mannes lagerte, und bemühte sich um ein wenig Kontenance.
Dann sagte er: „Wenn Sie nicht wissen, wohin mit dem Fisch, dann könnte ich meinen Bekannten anrufen und ihn fragen, ob er an dem „Ausreißer“ interessiert ist. Wenn ja, würde ich ihn gleich herzitieren, und vielleicht bekommen Sie dann noch ein paar Taler für den Burschen. Was halten Sie davon?“
Für gewöhnlich spitzte Marco die Ohren, wenn er das Wort „Taler“ hörte, aber nun blieb sein Gesichtsausdruck unverändert – zwei trübe Augen in schwarze Ringe eingefasst, und darunter ein müdes Lächeln.
Wie viel Taler konnte er schon für einen Goldfisch bekommen, selbst, wenn es sich um ein begehrtes Exemplar handelte? Fünfzig, oder vielleicht hundert Piepen? Das wäre schön, würde ihm aber nicht helfen, seine Wohnung zu behalten, oder eine neue Bleibe zu finden.
Trotzdem besser, als gar nichts.
„Wenn das keine Umstände macht, gerne. Ich würde mich freuen, wenn der Kleine in gute Hände kommt.“
Noch während Marco diesen Satz sagte, kramte der Hausmeister sein Handy aus der abenteuerlichen Weste – ein alter Klotz von einem Mobiltelefon, der aus 2002, oder 2003 stammen durfte. Aber das passte zu dem Möchtegernabenteurer eines Hausmeisters.
Marcos Freundchen schien unterdessen das Glas des Aquariums abzuknutschen und glotzte mit seinen übergroßen Fischaugen aus dem verbeulten Köpfen in die Menschenwelt. Marco spürte dieses rührselige Kribbeln in seinem Magen, das ihm die Tränen in die Augen trieb, als er die Niedlichkeit dieses kleinen, einsamen Fisches betrachtete.
Vielleicht bekomme ich noch Geld für dich, kleiner Freund. Aber wichtig ist mir einfach nur, dass du in gute Hände kommst. Außerdem bist du etwas ganz Besonderes, weißt du das eigentlich?          

 Der Hausmeister konnte seinen Bekannten erreichen und begrüßte ihn in überschwänglicher Kumpelmanier. Er hieß Thomas, wie Marco heraushören konnte. Nachdem der Hausmeister Thomas von dem „Ausreißer“ erzählt hatte, sagte er ihm, dass er mit seinem uralten Handy keine Fotos machen konnte. Dann hörte er weiter zu.
Marco verlor sofort das Interesse an dem Telefonat und versank wieder in seine Trauer und Furcht vor der Obdachlosigkeit. Er überlegte sich bereits, wo er hätte hingehen können, wenn er seine Haustürschlüssel endgültig abgegeben hätte.
Vielleicht der Friedhof? Da könnte ich mich verstecken.
Dann drehte sich der Hausmeister zu ihm um und fragte ihn kurz angebunden: „Wie lange haben Sie ihn schon?“
Marco sah auf und musste kurz nachdenken. Dann sagte er: „Seit über einem Jahr, glaube ich.“
Der Hausmeister sprach in sein Handy: „Über ein Jahr.“

Einige Minuten später war das Gespräch beendet und der Hausmeister bat Marco, sich ein wenig zu gedulden. Sein bekannter Thomas würde bald da sein und seinen Goldfisch mitnehmen.
Ein kleiner, aber spitzer Stein fiel Marco vom Herzen. Wenigstens wusste er nun, dass sein kleiner Freund in gute Hände kommen würde. Vielleicht würde dieser Thomas auch das ganze Aquarium mitnehmen und am besten noch selbst das Wasser ausschöpfen, damit Marco selbst sich nicht damit abzuquälen brauchte.
In der Zwischenzeit sah sich der Hausmeister noch ein wenig im Wohnzimmer um und machte sich Kreuze auf seinem Klemmbrett. Er merkte an, dass die Wände und Türzargen ziemlich vergilbt wären, aber er ließ es „gut sein“, wie er sagte.
Dann machte er ein gestelltes, bedrücktes Gesicht und fragte Marco, wo er als nächstes hinziehen würde. Marco  erzählte ihm nüchtern, dass er obdachlos sein würde und keine Ahnung hatte, wohin er gehen sollte. Die gestellte Bedrückung des Hausmeisters wurde nun scheinbar zu einer Echten, oder auch nicht. Jedenfalls war ihm diese Tatsache sichtlich unangenehm, weshalb er sich zum Balkon begab und Marco eine Zigarette anbot, zu der er nicht Nein sagte.
Eine halbe Stunde verging und es klingelte an der Tür. Es war der Entrümpler. Ein kleiner, dicker Mann mit grauen Haaren und einem schwarzen Schnauzbart, der Marco sehr stark an Super Mario erinnerte. Er war in Begleitung eines jungen, drahtigen Typs, der etwa in Marcos Alter war. Es wurde sich darüber geeinigt, dass sie seine guten und seine schlechten Sachen mitnahmen. Dafür verlangte Marco kein Geld für die guten Dinge, die man nicht mal an einer Hand abzählen konnte.
„Was ist mit dem Aquarium?“, fragte Super Mario, aber der Hausmeister mischte sich dezent ein, stellte sich neben Marco und flüsterte ihm - wie ein Anwalt es bei seinem Mandanten tun würde – zu, dass er das Aquarium für den ominösen Thomas aufbewahren sollte. Marco stimmte zu.
Super Mario und sein junger Begleiter hatten nun den ganzen Krempel hinausgeschafft und verabschiedeten sich. Die Wohnung war nun nicht mehr nur kahl, sondern absolut leer, wie damals, als Marco und seine Ex sie voller Glückseligkeit übernommen hatten. An jenem Tag hatte sie ihre Arme um Marco geschlungen und ihm gesagt, wie glücklich sie mit ihm wäre und dann legten sie auf dem Linoleum in Holzoptik eine schnelle Nummer hin.
Marco war gerade im Begriff, wieder in seine Melancholie zu versinken, als es wieder an der Tür läutete. Das war der ominöse Thomas – ein Typ, wie ihn sich Marco bereits bildlich vorgestellt hatte: Unförmiger Körper, rosa Lacoste Polohemd, Harry Potter Visage mit passender Brille, aber um die vierzig bis fünfzig Jahre alt.
Er begrüßte Marco mit einem schlappen Händedruck und stellte sich als Thomas Dickmann vor.
Fetter Dickmann, ging Marco unpassender Weise durch den Kopf und er bat ihn freundlich herein.
Als Harry Potter und Indiana Jones sich im Wohnzimmer begegneten, begrüßten sie sich, wie zwei alte Kumpel, die sie mehr, oder weniger auch waren. Thomas Blick fiel sofort auf das trostlose Aquarium und Marco schämte sich ein wenig für die Art-ungerechte Haltung des Kleinen.
Thomas ging in die Hocke und betrachtete den Goldfisch stumm und eingehend, während sein Hausmeisterfreund unaufhörlich auf ihn einsabbelte, was für ein seltenes Exemplar er doch wäre und wie schön die schwarze Musterung sei, die Marco selbst immer für eine unschöne Missbildung hielt.
Marco war sich sicher, dass der Fischliebhaber sich umdrehen und sagen würde, dass er mit dem hässlichen kleinen Kerl nichts anfangen könnte. Doch der sagte stattdessen: „Nun ja, das ist auf jeden Fall ein hübscher „Ausreißer“, aber so selten sind die leider doch nicht. Ich würde Ihnen hundert Euro bieten, wenn Sie einverstanden sind.“
Der Hausmeister sah ein wenig geknickt aus, als er das hörte und erinnerte seinen Freund, dass diese „Ausreißer“ in Japan, China und den USA doch zu Preisen seltener Kois gehandelt würden.
„Ja schon, aber …der hier ist noch ziemlich klein; ich weiß nicht, wie er noch wachsen wird, oder, ob er überhaupt überlebt, wenn ich ihn umsiedle. Okay, zweihundert kann ich noch zahlen, aber mehr nicht“, sagte Thomas mit einem skeptischen Gesichtsausdruck.
„Das ist okay für mich, wenn Sie das Aquarium gleich mitnehmen. Zweihundert sind ein guter Preis“, sagte Marco.
Sie gaben sich die Hände und schlossen den Deal ab.
Thomas holte einen kleinen Plastikbehälter aus seinem Auto, in den er den kleinen „Ausreißer“ unterbrachte und Marco schöpfte letztendlich doch mit dem Eimer vom Balkon das Wasser aus dem Aquarium.
Nachdem die Wohnung leer war, verabschiedete sich der Hausmeister mit einem betroffenen, besorgten Gesichtsausdruck von Marco. Er sah, dass der junge Mann beinahe den Tränen nahe war, aber helfen konnte er ihm bei seinem Schicksal nicht mehr.
Marco hatte nicht mal die Gelegenheit mehr, seinem kleinen Freund Lebewohl zusagen, der ihm bei seinem traurigen Abstieg in die Obdachlosigkeit wacker Gesellschaft geleistet hatte. Thomas hatte den Fisch bereits weggeschafft, als Marco noch das Aquarium ausschöpfte.

04: 43 Uhr zeigte Marcos Handy an, als er nach zwei Stunden Schlaf wieder aufwachte, weil sich ein spitzer Gegenstand in seine Hüfte bohrte. Er schob die leichte Wolldecke zur Seite, griff unter sich in die Erde und holte einen Stein hervor, den er voller Wut wegwarf. Dann keuchte er sich die Lunge aus dem Brustkorb, die sich innerhalb einer Nacht in eine schleimige, rasselnde Knistertüte verwandelt hatte. Seine Nasenschleimhäute fühlten sich unangenehm trocken und entzündet an und zu allem Überfluss hörte er auch noch ein Geräusch von den Büschen um sich, das ihn Angst einjagte.
Er hatte sich am Abend nach der Wohnungsabgabe zu dem Friedhof in seinem Stadtteil begeben, der mehr Ähnlichkeit mit einem Park hatte, als mit einer Ruhestätte. Dort hatte er sich in die Büsche im hinteren, versteckten Winkel der Anlage verkrochen und mit knurrendem Magen bis auf die Nacht gewartet, die stockfinster war. Dann hatte er sich in seine Wolldecke eingewickelt und versucht zu schlafen, während seine Zähne vor Kälte klapperten.
„Scheiße, jetzt hab ich mir auch noch ne Lungenentzündung eingefangen. Klasse. Ich werde hier verrecken, wenn ich mir kein Hotelzimmer nehme“, murmelte er vor sich hin. Mit den Zweihundert Mäusen, die er hatte, hätte er sicherlich für ein paar Tage ein Zimmer in einem günstigen Hotel bekommen. Aber er wollte das Geld für die wirklich finsteren Zeiten sparen. Leider begannen die finsteren Zeiten bereits in seiner ersten Nacht als Penner.
Das Husten tat weh und der aufkommende Schleim schien schmerzhaft Lungengewebe mit sich zu reißen, als er es herausprustete.
Das unheimliche Knistern in den Büschen um ihn herum verstummte. Marco versuchte sich vorzustellen, dass es sich um einen Vogel, oder um einen Igel handelte, der dort im Unterholz rum kroch. Dann schlief er mit den Gedanken an seine Exfreundin und dem kleinen, stummen Freund wieder ein, bis er um 9:30 Uhr wieder erwachte.
Er hatte sich eine handfeste Erkältung eingefangen, eventuell auch eine Lungenentzündung, wie er dachte, zündete sich aber trotzdem eine „gute“ Zigarette an, die er sich von seinen letzten Kröten gekauft hatte, bevor er tags zuvor zum Friedhof lief.
Plötzlich läutete sein Handy, das er in seinem Rucksack mit den Habseligkeiten verstaut hatte. Für einen kurzen Augenblick stellte er sich vor, dass es sich um seine Exfreundin handeln würde, die ihn nach über einem Jahr plötzlich anrief, weil sie irgendwie – vielleicht durch die Kraft der immer noch nicht erloschenen Liebe – spürte, dass er sich in Schwierigkeiten befand. Aber ein Blick auf das Display seines Handys ließ ihn aus dieser Wunschvorstellung erwachen. Es war die Nummer von Crocodile Dundee, alias Indiana Jones, alias der Hausmeister.
„Ja hallo?“, meldete sich Marco in seinem nun sonnendurchfluteten Busch.
„Gut, dass ich Sie so schnell erreiche. Haben Sie heute gegen Mittag Zeit? Es geht um den Ausreißer“, fragte der Hausmeister.
Marco überlegte kurz, welche Termine er denn so als obdachloser Friedhofsbewohner mit einer Lungenentzündung haben könnte. Dann kam ihm in den Sinn, dass er zum Arzt gehen sollte, vorausgesetzt, seine Krankenversicherung wäre den Monat noch vom Arbeitsamt  bezahlt worden.
„Ja, ich habe Zeit. Worum geht es denn genau? Will Ihr Bekannter sein Geld wiederha…“
„Nein, keine Sorge. Im Gegenteil. Sie werden noch mehr Geld bekommen“, sagte der Hausmeister kühl und sachlich.
Marco saß mit dem Handy am Ohr auf der kalten Erde seines Verstecks, hatte die Wolldecke über seine Beine gelegt und sah aus wie ein paralysiertes Opfer eines Verkehrsunfalls.
„Was soll das heißen?“
„Das besprechen wir dann persönlich. Bitte kommen Sie, es wird ihrer Situation gut tun“, sagte der Hausmeister mit einem vergnügten Unterton, der Marco vor einem Rätsel stellte. Er sagte zu, sich um zwölf in dem Hausmeisterbüro zu treffen.

Als Marco mit seinem Rucksack um die Schulter und rotzender Nase in das Büro eintrat, erblickte er den Hausmeister, der an seinem Schreibtisch saß. Der Fischliebhaber Thomas saß vor dem Schreibtisch auf einem der zwei Stühle und sah Marco erschrocken an.
Der junge Mann, dem er den Fisch abgekauft hatte, sah bereits nach einer Nacht an der frischen Luft aus, wie ein Penner aus dem Bilderbuch. Seine Jeans war an den Knien fleckig von Erde; die Augenringe waren schwärzer, als am Tag zuvor; das Haar zerzaust; er stank nach Rinde, Schweiß und Krankheit.
Dennoch schob Thomas ihm den zweiten Stuhl einladend zu recht, um ihm zu deuten, dass er sich setzen sollte.
Marco setzte sich und bemerkte, dass die Blicke des Hausmeisters und des Fischliebhabers irgendwie schuldbewusst aussahen.
„Was ist denn los?“, fragte Marco verwirrt.
Der Hausmeister lehnte sich nun zufrieden in seinen Bürosessel zurück und  ließ Thomas sprechen.
„Es ist so. Ich möchte mich erstmal bei Ihnen entschuldigen.“
Marco glotzte noch verwirrter aus der schmutzigen Wäsche.
„Der Ausreißer, den Sie mir verkauft haben, ist weit mehr wert, als zwei hundert Euro. Das habe ich leider erst gestern am späten Abend erfahren, nachdem ich recherchiert habe“, teilte ihm Thomas voller Begeisterung mit.
Marco hatte zwar verstanden, was ihm der Fischliebhaber gesagt hatte, aber dennoch stellte er zum Erstaunen der beiden älteren Männer folgende Frage: „Geht es ihm gut?“
Thomas und der Hausmeister sahen sich an und lachten herzhaft.
„Ja, es geht ihm gut. Ich habe ihn in mein Zuchtbecken mit den anderen Goldfischen seiner Größe zusammengetan und sie scheinen sich alle ganz gut zu verstehen. Was ich Ihnen aber sagen will: wir wissen um Ihre Situation. Es wäre weder fair, noch in meinem Interesse, Ihnen nicht das zukommen zu lassen, was Ihnen zusteht. Ich möchte Ihnen für den Fisch etwas mehr Geld geben, als das, was Sie bereits erhalten haben.“
„Wie viel?“
„Der Ausreißer wird noch ein wenig wachsen und in ein paar Jahren wahrscheinlich einen Wert von fünfundzwanzigtausend Euro haben. Jetzt hat er einen aktuellen Wert von circa zehntausend Euro. Ich gebe Ihnen Fünfzehntausend.“
Marco verstand die Welt nicht mehr und fühlte sich veralbert. Nachdem er aber die ernsten Blicke der Herrschaften sah, akzeptierte er das Schicksal, das sich ihm bot.
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Gast







Beitrag30.06.2015 00:08

von Gast
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Hallo Catalano,

ich las gerade  "Der Ausreißer".

Meine Güte, du kannst schreiben!

Zuerst habe ich mir den Umfang deines Textes angesehen und ich wollte schon wieder im Browser auf "Zurück" klicken, doch je mehr ich las, desto weniger wurde mir bewusst, dass ich las. Ich habe alles erlebt, musste mich nicht durch die Wörter quälen. Selten einen so schönen Text gelesen. Alles stimmig, flüssig, einfach grandios! (ein paar Kleinigkeiten sind natürlich dabei, wie etwa Wortwiederholungen, doch diese haben mich nicht sonderlich gestört) Vor allem das Spiel mit dem Happy End hat mir sehr gut gefallen. Ein kleines, schwungvolles "Auf und Ab".

Einfach toll! Ich verbeuge mich!


Vielleicht solltest du mal versuchen, selbst mehr Rückmeldung zu anderen Texten zu geben, damit andere Nutzer zukünftig auch die Lust haben, sich der deinen anzunehmen.

Der Grund für so wenig Rezension sind in meinen Augen die folgenden drei Punkte:

1. deine Texte sind sehr lang
2. die kurzen Abstände, in denen du deine Texte postest
3. die Tatsache, dass du nicht gewillt bist (deiner eigenen Aussage nach) diese Texte zu bearbeiten. Das gibt den anderen Nutzern das Gefühl, dass die gelieferten Vorschläge sowieso für die Katz sein würden.

Auf alle Fälle, sehr, sehr gerne gelesen.

LG
AC
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Catalano
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Beitrag30.06.2015 19:53

von Catalano
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Hallo Ashcloud

ich verbeuge mich vor DIR!
Aus Dank für dein Lesen und für deinen Kommentar.

Und dabei hatte ich gar nicht vorgehabt, "den Ausreißer", hier rein zu stellen, weil ich Story eher für schwach hielt.

Mit deinen Tipps zum Thema Feedback hast du wohl Recht, obwohl ich schon ab und zu auch die Werke anderer kommentiere. Mir fällt es nur etwas schwer, die Werke anderer Hobbyschreiber zu kritisieren, weil ich selbst noch zu lernen habe und vieles eine Sache des Geschmacks ist.
Aber ich sollte das wirklich vermehrt tun.

Zu den drei Punkten:

das stimmt. Nun ist aus diesem Thread eher ein Sammelbecken für meine etwas zu langen Kurzgeschichten geworden, obwohl ich das Anfangs gar nicht vorhatte.
Aber so hat jeder die Möglichkeit, sie zu lesen und Gefallen daran zu finden, oder auch nicht. Und was sollen sie bei mir auf dem PC vergammeln.
Ich möchte diese Geschichten zwar nicht nach bearbeiten, aber mir ist es trotzdem herzlich willkommen, wenn jemand hier schreibt, was ihm gefallen hat, und was nicht. Das hilft mir weiter und ist nicht für die Katz.

Ich bedanke mich für dein tolles Feedback Ashcloud. Ab jetzt sind wir Onlinekumpels. Cool
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Catalano
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Beitrag03.07.2015 22:39

von Catalano
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Eindrücke aus Hansa

Collin sieht Dinge

Collin Astor war Taxifahrer und nicht besonders glücklich mit seinem Job. Als studierter Maschinenbauingenieur gefiel es ihm gar nicht, mit seinen zweiunddreißig Jahren immer noch Leute durch die Gegend zu kutschieren und nichts erreicht zu haben. Aber in dieser Stadt war einfach keine vernünftige Arbeit zu finden, und Katja wollte nicht wegziehen.
Also hing er sich rein und schob bis zu sieben Tage die Woche seine Zwölfstundenschichten, damit Geld in die Kasse kam.
Einen Interessanten Aspekt hatte der Job, wie er fand: Man sah und erlebte viele Dinge, wenn man stundenlang kreuz und quer durch die Gegend fuhr. Aber in letzter Zeit erlebte er Dinge, die ihn gruselten. Mysteriöse Dinge, einige interessant, andere hingegen höchst ominös.

Es war nicht lang her, als er die erste seltsame Beobachtung machte, die ihm zu Denken gab.
Damals bemerkte er das erhöhte Aufkommen von Militärhubschraubern, die er fast täglich, und nächtlich über Hansa und Umgebung kreisen sah. Dicke Apparate, die manchmal einzeln, oder in Zweier- und Dreierformationen ihre Bahnen Richtung Flughafen zogen und wieder wegflogen, ohne dort zu landen. Das war zwar interessant für Collin, aber nicht wirklich von Belang.
Richtig gruselig wurde es, als er nach einem stressigen Arbeitstag Tiefkühlpizzas für sich und seine Freundin aus dem Supermarkt in der nähe seiner Wohnung besorgte. An jenem Abend sah er durch das Fenster eines Aufenthaltsraumes des ARIEL Supermarktes die Silhouette einer seltsamen Gestalt, die mit tentakelartigen Armen hypnotische Bewegungen machte und einen Helm zu tragen schien.
Collin konnte sich keinen Reim auf diese mysteriöse, aber irgendwie banale Beobachtung machen und redete sich ein, dass irgendein Witzbold dort drin seine unlustigen Faxen machte, während Collin draußen stand und seine Stirn an die Fensterscheibe gepresst hielt.
Also verdrängte er diese Sache und speicherte sie in seinem Gedächtnis unter „Unwichtige Dokumente“ ab.

Dann kam der Tag, an dem Collin ernste Zweifel an seinem Verstand hegen musste.
Es war ein Samstagnachmittag und er hatte bereits zehn Stunden seiner Schicht hinter sich. Der Februar war mild und die Sonne schien trüb, genauso, wie den ganzen ausgefallenen Winter zuvor. Das hieß, dass wenige Menschen mit dem Taxi fuhren und lieber zu Fuß gingen. Er hatte nicht viele Fahrten an dem Tag und er vermisste das nervtötende Bimmeln seines digitalen Funksystems, das ertönte, wenn ein Fahrauftrag eintraf. Da er auf Provisionsbasis arbeitete und nur Geld verdiente, wenn er Fahraufträge bekam, war das ein frustrierender Winter für ihn und er ärgerte sich umso mehr über seinen erbärmlichen Job. Und über das Wetter. Es war ein „totes Wetter“, wie er es immer seiner Freundin Katja gegenüber nannte. Die letzten Jahre gab es keine richtigen Winter mehr, die mit prachtvollen Schneefällen aufwarteten. Es gab auch keine richtigen Sommer mehr, sondern nur ein paar schwüle Tage, die trotz blauem Himmel irgendwie grau und tot wirkten. Frühling und Herbst waren nicht mehr zu spüren. Das Wetter war schlicht und einfach unlebendig, monoton und stetig mild.
Und deshalb stand er nun da auf dem Taxiplatz im Stadtteil Voltmingshausen (wo er selbst auch wohnte) und wartete seit zwei Stunden auf den nächsten Auftrag.
Die Sitze seiner Mercedes E Klasse waren bequem, keine Frage. Aber sein Arsch tat trotzdem weh und er fühlte sich nach all den Stunden wie eine verrostete Mumie.
Der Taxiplatz war gleichzeitig ein öffentlicher Parkplatz, der rundherum von kahlen Bäumen und Büschen eingezäunt war, die den Platz von der lauten Hauptsrasse trennten. Im Sommer, wenn das Buschwerk grün und saftig war, konnte man den Parkplatz von der Hauptstrasse gar nicht sehen. Aber jetzt im Februar war von dort sogar der Bunker zu sehen, der an dem Platz grenzte.
Collin stand mit seinem Taxi genau mit Blick auf diesen Bunker, der nichts weiter mehr war, als ein grauer Betonwürfel, der von knorrigen Ästen und Efeuranken belagert wurde.
An der Front des Bunkers befand sich eine kleine Öffnung, die einst ein Fenster gewesen sein mochte, und genau daneben hatte vor langer Zeit mal jemand eine Figur an die Wand gesprayt. Ein gelber Smiley mit einem Strichmannkörper, der eine Hand mit einem ausgestreckten Mittelfinger zeigte.
Collin hatte sich während seiner vielen Male, als er hier stand, bereits daran gewöhnt, den Stinkefinger von dieser Figur gezeigt zu bekommen und konnte es ihr nicht einmal verübeln.
Aber diesmal gab es etwas anderes zu sehen, das ihn aus seinem Ledersitz aufschrecken ließ.
In dem glaslosen Fenster des Bunkers, genau neben dem frechen Graffiti, bewegte sich etwas. Es sah aus, als wäre eine Person in dem Bunker, die dort rumkramte. Sie richtete sich auf, bückte sich, richtete sich wieder auf und schien irgendetwas dort drin zu machen. Im ersten Augenblick erkannte Collin nur die Schultern, den Rücken und die Oberarme dieser Person, die eine seltsame, schmutzig graue Jacke aus scheinbar feuerfestem Material zu tragen schien. Jedenfalls wirkte die Jacke auf Collin so, wie die Overalls von Rennfahrern, oder die Anzüge von Astronauten.
Er fragte sich, wie die Person dort hineingekommen war, denn der einzige Eingang zu dem Bunker war zugemauert, wie er wusste, weil er schon unzählige Male seine Blase an diesem Eingang entleert hatte. Das letzte Mal vor einigen Stunden am Morgen dieses Tages. Und das Fensterchen war zu schmal, als dass sich eine Person hätte hindurchzwängen können.

Und dann riss Collin voller Entsetzen seine Augen auf, als die Person, oder Gestalt, oder was immer sie auch sein mochte, sich vor das Fenster stellte und ihn ansah. Er klammerte sich an das Lenkrad seines Taxis fest und ließ die Kinnlade herabsacken.
Die Gestalt starrte ihn nur für etwa ein bis zwei Sekunden an, bis sie in die innere Dunkelheit des Bunkers verschwand. Aber das war lang genug, um Collin in vollste Verwirrung zu stürzen.
Da, wo der Kopf sein sollte, befand sich so etwas, wie ein gläserner Helm. Es sah aus, als hätte sich jemand mit einem Schrumpfkopf ein Goldfischglas übergestülpt. Das Gesicht in dem Glas war nicht wirklich als Antlitz zu erkennen, aber das, was Collin erkennen konnte, sah furchtbar aus. Eine grüne, ranzige Masse, aus der zwei glänzend schwarze Augen blickten. Förmlich emotions- und ausdruckslos.
Die Oberarme, die in dem grauen, festen Stoff gehüllt waren, schienen zu wabern, zu schlängeln, wie zwei unruhige Würgeschlangen. Oder vielmehr, wie die Tentakel, die er damals im Aufenthaltsraum des ARIEL Supermarktes gesehen hatte. Nun nicht mehr eine Kontur in der Dunkelheit, sondern ein belichtetes Wesen, das im Schein der trostlosen, hellen Februarsonne zu sehen war.
Als die Kreatur verschwand, griff Collin den Zündschlüssel seines Taxis und startete den Motor, um auf dem schnellsten Wege dort weg zu kommen. Seine von Frust über seinen Job geschwängerten Gedanken, bekamen nun eine würzende Prise Angst. Jetzt wurde ihm klar, dass es sich damals nicht nur um einen Witzbold handelte, der seine Faxen in dem dunklen Aufenthaltsraum des Supermarktes veranstaltet hatte. Und obwohl er nicht wusste, warum, zog sein Gehirn Verbindungen zu den Sichtungen der Militärhubschrauber, die in letzter Zeit über Hansa kreisten.

Collin war kein Mensch, der Probleme gerne ungelöst ließ. Er wusste, dass er keine Ruhe gefunden hätte, wenn er nicht jetzt sofort aussteigen und der Sache auf den Grund gehen würde. Es war immer noch helllichter Tag und er war kräftig genug gebaut, um sich mit einem verkleideten Spinner anzulegen, der mit einem Goldfischglas über dem Kopf in irgendwelchen Supermärkten und Bunkern rumlungerte.
Also schaltete er den Motor wieder aus und das nagelnde Geräusch des Dieselaggregates gab Ruhe. Die kreischenden Motoren der Autos von der Hauptstrasse hörten sich für ihn an, als wären sie sehr weit weg, so sehr rauschte das wallende Blut in seinen Ohren. Er stieg aus und ging raschen Schrittes auf den Bunker und den Smiley mit dem erhobenen Stinkefinger zu und versuchte dabei, kräftiger zu wirken, als er war, in dem er seine Brust nach vorne schob und die Schultern zurückzog.
„Hallo! Hallo! Was machen Sie da drin?“, rief er mit  hoffentlich fester Stimme dem Fenster entgegen, an dem er die seltsame Person gesehen hatte. Aber Collin hörte, dass seine eigene Stimme zitterte.
Er näherte sich dem Fenster, sah aus einem Meter Entfernung hinein und konnte nichts als verwitterte Wände und Dunkelheit im Inneren erkennen.
Langsam näherte er sich der kleinen Öffnung auf Kopfhöhe noch weiter, um einen tieferen Blick hineinwerfen zu können. Dann hielt er Inne und fragte sich, was zum Teufel er da gerade tat. Selbst wenn da irgendein Spinner in dem Bunker umherkraxelte und sich gerne als Astronaut, oder Alien verkleidete, was kümmerte es Collin? War doch nicht sein Problem, dachte er sich. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass es sehr wohl sein Problem war, denn immerhin war es das zweite Mal, dass er diese ominöse Gestalt gesehen hatte. Beim ersten Mal hatte sie für ihn extra einen Tanz aufgeführt, als sie mit ihren seltsamen Tentakelarmen Wellen machte. Und jetzt hatte sie ihn angestarrt. Und dieser Blick aus dem undefinierbaren, olivgrünen Gesicht gefiel Collin nicht.
Also schluckte er sein Unbehagen herunter, was ihm nicht wirklich gelang, und hielt seinen Kopf ins das kleine Fensterchen. Jetzt bemerkte er, dass eine ziemlich Schlanke Person, vielleicht sogar ein Kind, sich hätte hindurch schlängeln können. Aber für Collin, der relativ breit und untersetzt war, wäre diese Öffnung tatsächlich zu schmal gewesen. Er konnte den Betonboden im Inneren erkennen, der von Bierdosen, zerbrochenen Flaschen und anderem Unrat übersät war. Scheinbar wurde das kleine Guckloch im Bunker als Mülleimer benutzt. Etwas Interessanteres konnte er nicht erkennen.
Der Raum war klein, etwa zwei Meter breit, und der einzige Durchgang war mit einer massiven Holzplatte abgesperrt. Sie war mit dicken Schrauben fest in das Mauerwerk verankert. Direkt neben dieser Holzplatte befand sich auf Kniehöhe ein kleiner Schacht, der gerade mal so groß war, dass eine Katze hätte hindurchpassen können.
Wie zum Geier ist das möglich?, fragte sich Collin und bekam dabei Herzflattern.
Er ließ seinen ängstlichen Blick mehrmals durch den kleinen Raum kreisen, legte dabei immer mehr seine Stirn in Falten und begann zu schwitzen, als er sich eingestehen musste, dass keiner dort hinein-, oder hinausgelangen  konnte.
Und welche Rückschlüsse ließ diese besondere Tatsache zu?
Dass es keinen Witzbold gegeben haben kann, der sich als kosmischer Besucher verkleidet und ihn von hier aus angestarrt hatte. Und logischerweise war auch die Begegnung im AIREL Supermarkt damals wahrscheinlich keine Realität. Vielleicht hatte Collins Psyche aufgrund der Enttäuschung über sein verkorkstes Leben einfach diese Gestalt herbei halluziniert – sie ihm praktisch vorgegaukelt, wie man so schön sagt.
Und jetzt, wo Collin sich rückwärts vom Bunker entfernte und daran dachte, wie sehr er seine verbitterten Fahrgäste hasste, wie unausstehlich manchmal seine Freundin Katja war, wie nah er manchmal einem Nervenzusammenbruch stand, weil das tägliche Verkehrschaos der Stadt ihn zur Raserei brachte, wie abstrus sein Leben verlief, nachdem er als kleiner Junge aus Schottland hier her zog, um bei seinem Diplomatenvater zu leben, der ihn bis heute noch als Versager betitelte, wurde ihm klar, dass er durchaus den Verstand verlieren konnte.
Aber diese Erkenntnis half ihm nicht weiter, sondern stürzte ihn nur noch mehr in tiefe Panik. Das Wesen am Fenster war so real, so echt. Collin konnte sogar die Furchen in dem verschrumpelten, grünen Gesicht, und die Spiegelung der Bäume in den schwarzen Augen und dem Glashelm erkennen. Wie konnte es sein, dass Halluzinationen solche Details zustande brachten?
Und wenn doch? Wenn das Ding doch…        

Collin stürmte wieder auf das Fensterchen im Bunker zu, stützte sich mit beiden Händen an der Wand ab und streckte seinen Kopf erneut durch die Öffnung hindurch. Er sah sich noch einmal um, konnte nichts weiter als Unrat erkennen und starrte dann den kleinen Schacht an, der sich neben der Holzplatte befand.
Und wenn das Ding dort hindurch verschwunden ist?
Dann antwortete er sich selbst: „Sei nicht albern. Durch diesen Schacht passt nicht einmal Kind!
Und wenn es doch so war? Ich habe mir das nicht eingebildet, auf gar keinen Fall!
„Na dann war dieses Ding nicht von dieser Welt. Und wenn doch, dann auf jeden Fall etwas sehr Gruseliges.“

Trotz der Unheimlichkeit dieser Möglichkeit, erschien sie Collin doch erträglicher zu sein, als die, verrückt zu werden.
Er kannte Menschen aus seiner Vergangenheit, die an Schizophrenie erkrankten und Dinge sahen, die nicht da waren, oder Stimmen hörten, die es nur in ihren Köpfen gab. Aber diese Leute waren komplett verwirrt, erzählten zusammenhangloses Zeug und waren kaum in der Lage, ihren Alltag zu bestreiten. Von solchen Leuten gab es weiß Gott mehr als genug in Hansa.
Es wimmelt hier von Verrückten!
Aber Collin zeigte diese anderen Anzeichen nicht, und sein Gefühl sagte ihm, dass mit seinem Verstand alles in Ordnung war, wenn er auch im Augenblick ziemlich verängstigt und verwirrt zu sein schien.
Als er seine Stirn in die Handfläche legte und seine Gedanken zu ordnen versuchte, bemerkte er einen kleinen Jungen, der mit seinem Kinderrad an der Auffahrt des Parkplatzes stand und ihn beobachtete, als wäre Collin ein Tier im Zoo. Um ein Haar hätte Collin dem Jungen zugerufen, dass er nicht so glotzen sollte. Aber er riss sich zusammen und lächelte ihm bedrückt zu. Er konnte sich vorstellen, dass er wie ein Irrer gewirkt haben musste, wie er da zwischen seinem Taxi und dem Bunker stand und seinen Schädel festhielt, als könnte der jederzeit explodieren.
Der Junge mit dem blonden Pottschnitt sah ihn nur ausdruckslos an und zeigte dann mit dem Finger zu Collins Taxi.
Als Collin seinen Blick dort hin richtete, sah er einen Mann in rotem T-Shirt, der sich durch die Büsche in Richtung Hauptstrasse schlängelte. Er war dunkelhäutig und schien afrikanischer Abstammung zu sein. Dann fiel Collins Blick auf das Taxi, dessen Fahrertür er geöffnet ließ, als er zuvor auf den Bunker zuging.
Oh Scheiße! Meine Einnahmen!
Er lief zu seinem Taxi, sah in das Seitenfach der Fahrertür hinein, in dem er immer seine große, lederne Geldbörse mit den Tageseinnahmen verstaute, und bekam einen Wutanfall.
Er zwängte sich durch die Büsche hindurch, wo zuvor der dunkelhäutige Typ entschwunden war, und konnte ihn nicht mehr entdecken. Vor ihm lag nur die riesige Kreuzung mit den Autos, die dort an der Ampel warteten. Die Leute aus den Autos starrten ihn an, als wäre er ein Wahnsinniger. Mit dem Schweiß auf der Stirn und dem verwirrten Gesichtsausdruck sah er wahrscheinlich auch aus, wie einer.
Er richtete seinen Blick auf die RUN Tankstelle auf der anderen Straßenseite, dann zu dem Park gegenüber; die Voltmingshauser Landstrasse hinunter; die B6 hoch; sogar in den Himmel blickte er.
Aber von dem Mann, der seine Tageseinnahmen aus dem Taxi gestohlen hatte, war nichts mehr zu sehen.
Der kleine Junge fuhr auf seinem Fahrrad die Voltmingshauser Landstrasse entlang und drehte sich einige Male um, um Collin einen vorwurfsvollen, und belustigten Blick zuzuwerfen.
„Kleiner Bastard, scheiß Asylanten, scheiß Wichser, alle miteinander!“, murmelte Collin vor sich her und spürte dabei, wie seine Beine zitterten. Das Gefühl drängte sich ihm auf, dass das ganze Erlebnis ein gut durchdachter Plan gewesen war, um ihm seine Einnahmen zu klauen. Aber das war Unsinn, und das wusste er insgeheim.
Er zwängte sich wieder durch die Büsche hindurch, holte sich dabei auch noch ein paar tiefe Kratzer und setzte sich in sein Taxi.
Er dachte darüber nach, wie er seinem cholerischen Chef erklären sollte, wie es dazu gekommen war, dass er seine Fahrertür offen und die Tageseinahmen im Seitenfach gelassen hatte, obwohl er Collin immer eingeschärft hatte, dass die Tageseinnahmen ständig am Körper zu tragen seinen.
Dann bimmelte sein Funksystem und ein Fahrauftrag erschien auf seinem Display. Das Bimmeln ließ Collin zusammenzucken. Er lehnte den Auftrag ab und bemerkte, dass sich Tränen aus seinen Augen herauspressten, die er hilflos zu unterdrücken versuchte.
Dann sah er durch die Windschutzscheibe zum Bunker mit dem kleinen Fensterchen und dem grinsenden Smiley, der ihm den Mittelfinger zeigte.
Die Tränen liefen in Strömen.
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Catalano
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Beitrag03.07.2015 22:45

von Catalano
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Eindrücke aus Hansa 2

Besucher von Außerhalb

Seit einer Stunde saß Mike in dem kleinen, stickigen Wartezimmer des Polizeireviers Hansa Mitte. An seinem freien Tag hätte er sich Besseres vorstellen können, als hier zu hocken und darauf zu warten, dass er eine Anzeige aufgeben dürfte.
Obwohl nur ein weiterer Mann in dem Wartezimmer saß, und dutzende Polizisten vor der Glastür mit Kaffeebechern in den Händen hin und her liefen und rumblödelten, schien er sich noch länger gedulden zu müssen.
Um sich die Zeit zu vertreiben, versuchte er ein wenig Konversation mit dem anderen Typen im Wartezimmer zu betreiben, der irgendwie angespannt und nachdenklich wirkte. Ein kleiner, untersetzter Kerl mit schwarzen Augenrändern und Schweiß auf der Stirn, der die ganze Zeit zu dem geschlossenen Fenster hinaussah und zu grübeln schien. Mike fragte den Mann diskret, was ihn hierher trieb, und er erzählte knapp, dass er Taxifahrer sei und jemand ihm die Geldbörse aus dem Taxi gestohlen hätte. Dann starrte der Typ wieder zum Fenster hinaus und Mike kapierte, dass er nicht in Plauderlaune war.

Nach weiteren zwanzig Minuten öffnete eine junge, blonde Polizistin die Glastür des Wartezimmers und rief „Mike Berger“ auf.
Nicht schlecht, dachte sich Mike, als er der Polizistin den langen Flur bis zu ihrem Büro folgte und seinen Blick auf ihren uniformierten Hintern ruhen ließ. Die Knarre und der ganze andere Klimperkram an ihrem Gürtel ließen ihren hübschen, trainierten Po besonders sexy wirken.
Mike nahm am Schreibtisch Platz, betrachtete das Namenschild der Polizistin mit der Aufschrift „Ficke“ und konnte sich ein Schmunzeln über ihren anrüchigen Nachnamen kaum verkneifen.
Die Polizistin fragte Mike nach seinem Geburtsdatum und seiner Adresse und tippte diese in ihren Computer ein, bevor sie Papier und Stift zur Hand nahm und fragte: „Okay. Wie kann ich Ihnen helfen? Was ist passiert?“
Mike konzentrierte sich und begann zu erzählen: „Also, vor etwa zwei Stunden habe ich von meinem Wohnzimmer aus gesehen, wie ein Auto beim Ausparken rückwärts gegen meine vordere Stoßstange krachte. Der Fahrer hatte das offensichtlich bemerkt, da er verblüfft nach Hinten sah, aber es schien ihm nichts ausgemacht zu haben, und er fuhr einfach davon. Das ist übrigens schon das zweite Mal in diesem Monat, dass so etwas passiert ist.“
Polizistin Ficke notierte sich diese Angaben auf ihrem Papier. Dabei schüttelte sie ihren streng zusammengebunden Zopf ständig zur Seite, der ihr als goldener Schweif immer wieder über die Schulter nach vorne rutschte. Mike gefiel der Anblick.
Dann sah sie ihn wieder an und fragte: „Ist Ihr Fahrzeug beschädigt worden?“
Mike nickte und erzählte ihr, dass seine vordere Stoßstange nun eine große Delle aufwies, genauso wie die Hintere, die beim vorherigen Mal beschädigt wurde.
„Aber bei dem vorherigen Mal haben Sie keine Anzeige erstattet?“, fragte Frau Ficke.
„Nein. Aber das würde ich jetzt gerne nachholen.“
„War das in beiden Fällen das gleiche Auto, das ihr Fahrzeug beschädigt hatte? Und überhaupt: Haben Sie das Geschehen beim ersten Mal auch selbst beobachtet?“
Mike nickte und sagte ihr, dass es nicht die gleichen Fahrzeuge und Fahrer gewesen waren. Aber eines hatten beide Fahrzeuge gemeinsam. Sie besaßen ortsfremde Kennzeichen mit den Anfangsbuchstaben SE.
Die Polizistin machte ein skeptisches Gesicht und notierte sich diese Angaben. Dann wollte sie von Mike wissen, was für Fahrzeuge das in beiden Fällen waren und wie die Fahrer dieser Autos in etwa aussahen.
Mike begann: „Das Auto, das mir vor knapp einem Monat hinten rein fuhr, war ein schwarzer Golf. Viertürig und wahrscheinlich das aktuellste Modell. Es sah ziemlich neuwertig aus. Der Fahrer war ein ziemlich junger Typ, etwa in meinem Alter, also Mitte bis Ende Zwanzig und er trug eine Brille. Nachdem der Typ mir beim Ausparken hinten auffuhr und die Kurve gekratzt hatte, war ich zwar verärgert darüber, aber ich ließ es gut sein. Mein Auto ist nun auch nicht mehr das jüngste und hat ohnehin diverse Kratzer.
Das Auto, das mir heute hinein donnerte, war ein alter, silberner Opel. Keine Ahnung, was für ein Modell das war, aber jedenfalls ein Kombi. Der Fahrer war ein älterer, kräftig gebauter Herr mit grauen Haaren. Er wirkte irgendwie…, irgendwie ungepflegt, würde ich sagen.“
Die Polizistin notierte sich alles fleißig und hatte bereits ihr erstes Blatt Papier voll geschrieben.
Dann sah sie sich ihr Werk an, überlegte kurz, rümpfte dabei ihr zartes Näschen und eröffnete Mike, dass Anzeigen gegen die beiden unbekannten Fahrer wahrscheinlich keinen Erfolg haben würden, weil er die Kennzeichen der beiden Autos nicht komplett erkannt hatte.
„Ja aber, es kann doch nicht sein, dass mein Auto andauernd als Punchingball missbraucht wird, und die Verursacher unbehelligt damit durchkommen. Irgendetwas muss man doch da machen können, oder?“, sagte Mike mit einem Anflug von Empörung.
Die Polizistin grübelte weiter nach, knabberte dabei an ihrem Kugelschreiber herum - was Mike wieder besonders sexy fand -, und bemühte dann wieder ihren Computer. Sie gab etwas ein und sagte dann: „SE, Kreis Sensenberg. Die Ortschaft liegt etwa zweihundert Kilometer entfernt von Hansa, oben im Norden. Ist schon ziemlich auffällig, wenn zwei Fahrzeuge aus dieser Ortschaft in ihrer Strasse parken. Vielleicht besuchen die Herrschaften dort regelmäßig jemanden und wir könnten sie auf diesem Weg aufspüren. Haben Sie diese zwei Fahrzeuge schon öfters bei Ihnen in der Strasse stehen sehen?“

Die Vesterstrasse, in der Mike wohnte, war eine viel befahrene Durchgangstrasse, die die Stadtteile Voltmingshausen und Buchtingen miteinander verband. Sie war gesäumt von Läden, Schnellimbissen und Wohnhäusern. Jetzt, wo die Polizistin Mike die Frage stellte, ob diese Fahrzeuge öfters bei ihm in der Strasse standen, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Hatte er nicht schon öfters Autos mit Kennzeichen SE in seiner Strasse parken und wegfahren sehen? Aber klar doch. Und handelte es sich dabei immer um die gleichen Autos, womöglich um die, die seinen alten Benz als Punchingball benutzt hatten? Nein. Es waren immer verschiedene, und unterschiedliche Fahrer, die in verschiedenen Gebäuden seiner Strasse ein- und ausmarschierten. Erst gestern Abend hatte er zufällig gesehen, wie ein junges Pärchen, mit Sensenberger Kennzeichen an ihrem Ford Focus, in den Hauseingang neben der Schneiderei ging, die sich genau gegenüber von Mikes Wohnung befand. An anderen Tagen kamen Leute aus anderen Hauseingängen und stiegen in ihre Autos mit Senseberger Kennzeichen ein.
Wo er sich jetzt über diese Tatsachen bewusst wurde, legte er seine Stirn in Falten und fragte sich, was diese Menschen aus dem Kaff, das er nicht kannte, in seiner Wohnstrasse zu suchen hatten.
Er erzählte der hübschen Gesetzeshüterin davon, dass er bereits unzählige Autos mit Senseberger Kennzeichen in der Vesterstrasse gesehen hatte und diese Tatsache nun äußerst merkwürdig fand.
Sie hingegen winkte ab und sagte: „Darüber müssen Sie sich keine Gedanken machen. Was die Unfälle mit Fahrerflucht angeht, müssen Sie jetzt entscheiden, ob sie Anzeigen gegen Unbekannt erstatten möchten. Sie sollten aber davon ausgehen, dass dies zu keinem Ergebnis führen wird. Es sei denn, sie sehen die besagten Fahrzeuge in ihrer Strasse wieder. Wenn diese dann Lackspuren von Ihrem Auto aufweisen, kann man die Fahrer drankriegen. Also, was möchten Sie tun, Herr Berger?“
Mike erkannte in den blauen Augen von Fräulein Ficke, dass sie glücklicher sein würde, wenn der Typ mit der Elvisfrisur vor ihr, keine Anzeigen erstatten würde. Das bedeutete sicherlich weniger, sinnlose Schreibarbeit für sie, dachte sich Mike. Er sah zum Fenster des Büros hinaus, wo die Sonne schadenfroh schien, und dann bekam er eine riesige Lust darauf, seinen freien Tag im BUSTERS zu verbringen und dort ein paar Biere zu kippen. Sämtlicher Ärger über seinen verbeulten alten Benz war verflogen und Frau Fickes nettes Äußeres war nicht ganz unschuldig daran.
„Ach, was soll`s. Bringt ja doch nichts, wie Sie sagen. Ich lasse es mit den Anzeigen bleiben.“
Die junge Polizistin zeigte zwar keine Erleichterung über Mikes Entscheidung, schenkte ihm aber das erste Mal ein sachtes Lächeln, was ihn selbst bis über beide Ohren grinsen ließ.
„Ich gebe Ihnen den Ratschlag, in Zukunft in den Seitenstrassen zu parken. Ich weiß, dass die Vesterstrasse ein viel frequentierter Bereich ist und viele Fahrzeuge dort parken. Da kann es durchaus öfters zu solchen Schäden kommen. Und diese Art von Parkschäden mit Fahrerflucht, klären wir nur zu etwa fünfzig Prozent auf.“
Mike nickte und war sich bewusst darüber, dass er den Rat sowieso nicht befolgen würde. Er hatte schlicht keine Lust, nach seinem Feierabend in irgendeiner Seitenstrasse zu parken und einen Fußmarsch bis zu seiner Wohnung hinzulegen.
Er verabschiedete sich von Frau Ficke und war kurz davor, sie zu fragen, ob sie mal ein Kaffee mit ihm trinken mochte. Aber er riss sich zusammen und ging zum Ausgang des Polizeireviers. Als er am Wartezimmer vorbei marschierte, warf er noch mal einen Blick hinein und stellte fest, dass der eigenbrötlerische Taxifahrer nicht mehr zu sehen war.

Ziemlich warm, für einen Februartag, dachte Mike bei sich, als er auf dem Weg nach Hause im Stau auf der B6 stand. Das Radio dudelte die immer gleichen Charthits ab und er trommelte mit seinen Fingern auf dem Lenkrad rum. Der Stau konnte seine gute Laune nicht trüben, denn er kannte es nicht anders. Obwohl doch, ein wenig hatte sich die Verkehrslage verändert.
Er erinnerte sich, dass damals, als er noch ein Kind war, immer in der Zweit zwischen Sechzehn und Achtzehn Uhr hier Stau herrschte. Die B6 war ein Nadelöhr und die ganzen Pendler, die in Hansa arbeiteten, verließen die Stadt über sie.
Aber seit einigen Jahren stellte Mike fest, dass die B6 nicht mehr nur in der Feierabendszeit, sondern fast immer verstopft war. Genau, wie der Rest von Hansas Straßen.
Aber das machte nichts. Den restlichen freien Tag wollte er nicht mehr griesgrämig sein und er spürte Bereits, wie das kühle Bier seine Kehle hinunter laufen würde. Im BUSTERS würde er die ein, oder andere Partie mit seinen Kumpels pokern und vielleicht würde es ihm gelingen, die Bardame Rebecca endlich rumzukriegen.
Die Blechlawine setzte sich wieder in Bewegung und Mike ließ den alten Benz rollen. Schon an der nächsten Ausfahrt wollte er nach Buchtingen und Voltmingshausen abfahren, weshalb er den Blinker setzte und sich nach einer Lücke umsah. Er sah eine und zog rüber.
Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, zischte ein anderer Mercedes rechts an ihm vorbei und Mike zog seinen Wagen wieder nach links, wo er fast den Transporter neben sich gerammt hätte.
„Bist du bescheuert, du Spinner?!“, schrie er schockiert und wütend aus und spuckte dabei auf seine Windschutzscheibe. Die wieder entdeckte gute Laune ging so eben den Bach runter und der Strahlemann Mike, der negative Stimmungen hasste, wie die Pest, fühlte sich dazu verdammt, seinen freien Tag in Wut und Gram zu verbringen.
So einfach kommst du mir nicht davon, du Spinner! Dir werd ich’s zeigen!
Mike trat das Gaspedal durch und seine alte Mercedes C Klasse beschleunigte träge auf der nun freien Abfahrt. Er konnte den anderen Wagen in der Ferne sehen, wie dieser auf die rote Ampel der Kreuzung Voltminsghausen-Buchtingen zufuhr. Der Fahrer der anderen C Klasse – die neuer und schneller, als Mikes Auto war – hatte es scheinbar ziemlich eilig, denn er raste auf die rote Ampel zu, als ob sie auf grün gestanden hätte.
„Du hast sie doch nicht mehr alle, du Idiot!“, schrie Mike in seinem Wagen vor sich her. Er dachte für einen kurzen Moment, dass der Verkehrssünder tatsächlich die rote Ampel überfahren würde, aber der blaue Mercedes blieb mit quietschenden Reifen dort stehen.
Jetzt hatte auch Mike die Kreuzung erreicht und hielt direkt hinter dem Raser, der ihn um ein Haar hätte verunglücken lassen.
Mike legte seinen Schalthebel auf P, riss die Tür auf und stapfte zu der Fahrertür des anderen Autos. Er hatte die Fäuste geballt und rechnete innerlich damit, dass es durchaus zu einer körperlichen Auseinandersetzung kommen konnte.
Im Rausch der Wut hatte er nicht einmal das Kennzeichen des Fahrzeuges beachtet, sondern nur die Fahrertür anvisiert, vor der er nun stand und gegen die Scheibe hämmerte. Im Hinterstübchen machte sich eine latente Überraschung breit, als er am Steuer des Wagens keinen Mann, sondern eine Frau erblickte, die ihn verdutzt ansah. Sie trug eine modische Sonnenbrille, die sie als Haarreif über die Stirn gezogen hatte, um ihr schwarzes Haar aus dem Gesicht fern zu halten. Mike konnte ihr von Oben herab in den Ausschnitt schauen, in dem er zwei riesige, dicke Milchtüten sah, die auf einem prallen Babybauch ruhten. Die Frau war schwanger, aber das interessierte Mike nicht.
Er schrie mit feuchter Aussprache und gestikulierte wild mit seinen Fäusten: „Haben Sie ne Meise? Müssen Sie so dringend scheißen, dass Sie es so eilig haben, oder was? Sie hätten um ein Haar einen Unfall verursacht, wissen Sie das eigentlich?“
Die Frau wusste das wahrscheinlich, aber ihre Ignoranz schien größer, als ihre Einsicht zu sein. Sie wirkte etwas verängstigt, denn ihr Blick flackerte, als sie den jungen Typ mit der aufgetürmten Gelfrisur, den Tätowierungen an den Armen und den geballten Fäusten neben sich an der Scheibe sah, der vor Wut fast schäumte und sie anschrie.
Sie versuchte Mike, zu ignorieren. Und als die Ampel auf grün sprang, gab sie Gas und raste nach rechts in die Voltmingshauser Landstrasse davon.
Mike blieb mitten auf der Strasse verdutzt und mit offenem Mund stehen, als er das Kennzeichen des davonrasenden Mercedes sah.
SE.

Sämtliche Wut fiel von ihm ab und wich einem seltsam beklemmenden Gefühl der Ratlosigkeit, hinter der er noch etwas anderes spüren konnte.
Seine Fäuste waren immer noch geballt, und die von seiner Arbeit als Metaller strammen Arme wirkten wie zwei angespannte Drahtseile. Er lockerte seinen Körper erst wieder, als die Autos, die hinter seinem alten Mercedes standen, anfingen zu hupen. Er blickte verwirrt zu seinem Wagen und erkannte auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein weiteres Auto mit Senseberger Kennzeichen, dass in Richtung Innenstadt davon fuhr.
Was zum Teufel ist hier los? Was wollen DIE hier?

Das Gehupe der anderen Fahrzeuge nahm zu und der Fahrer hinter seinem Mercedes lugte zum Fenster hinaus und schrie Mike an: „Du blockierst den ganzen Verkehr, du Trottel! Mach, dass du da wegkommst, verdammt noch mal!“
Mike reagierte gar nicht auf ihn. Er stieg in seinen Wagen ein und fuhr in die gleiche Richtung, wie die Dame in ihrem babyblauen Mercedes zuvor. Er bemerkte dabei, wie ihm die Beine anfingen zu zittern und wie dieses Gefühl emporkam, das sich hinter seiner Ratlosigkeit befand. War es Angst?
Ja, so fühlte es sich an. Aber warum diese Angst? Nur, weil ein paar Leute aus irgendeinem Kaff im Norden hier in der Stadt unterwegs waren und ihm das Auto zerbeult hatten? Ihn ohne Absicht fast gerammt hätten?
Deswegen brauche ich doch keine Angst haben.
Aber die hatte er trotzdem.

Als er an dem Mehrparteienhaus ankam, in dem seine Wohnung lag, parkte er seinen Wagen wie üblich vor dem Haus, inmitten vieler anderen, geparkten Autos. Er blieb einen Moment sitzen und beobachtete die anderen Fahrzeuge, in der Überzeugung, weitere Senseberger Arschlöcher zu entdecken. Aber das tat er nicht. Außer einem Fahrzeug aus Frankfurt hatten alle anderen Autos Hansa Kennzeichen mit den Anfangsbuchstaben HHN.
Er blickte in den Rückspiegel und erkannte zwei glasige, weit aufgerissene, braune Augen, die sehr gut zu einem paranoiden Spinner hätten passen können. Und als er an seinen Wutausbruch von vorhin dachte, kam er sich tatsächlich vor, wie einer.
Er schüttelte seinen Kopf, rieb sich die Augen und lächelte.
„Mike, du solltest endlich mal wieder locker werden und dir ein paar Bier genehmigen. Du fängst an zu spinnen!“, sagte er sich selbst.

Als er gerade im Begriff war, auszusteigen und sich auf das BUSTERS zu freuen, fuhr ein kleiner Junge mit blondem Pottschnitt auf seinem Kinderfahrrad an seinem Wagen vorbei und grinste Mike an. Es war ein unangenehmes, wissendes Grinsen, das Mike ganz und gar nicht gefiel. Die hintergründige Angst, die weiß der Teufel woher kam, gab ihm den Rest.
Er stieg wieder in seinen Wagen, suchte sich eine Nebenstrasse, die einige Gehminuten weit weg von seiner Wohnung lag, und lief im Laufschritt nach Hause, anstatt zu seiner Lieblingskneipe, wobei er sich ständig umsah, als würde er verfolgt werden.
Die Leute sind doch alle bekloppt hier in dieser Stadt. Es wimmelt hier von verrückten, es wimmelt hier von verrückten…es wimmelt hier von Verrückten…
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Catalano
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Beitrag09.07.2015 15:14

von Catalano
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Erlebnisse eines Idioten

Heute bin ich nach Mäkdonnellts gegangen und hab ein Hamburger gegessen. Der Hamburger schmeckte sehr gut und ich war hungrich. Dann bin ich rausgegang und wieder rein. Als ich rausgegang war, viel mir ein, das ich mein Pottmone drinne vergessen habe. Als ich dann wieder reinging, war das Pottmone verschwunden weil es jemand geklaut hatte. Dann hab ich den Kasierer gefragt, ob er meine Geldbörse gesehen hätte und er sagte nein sagte er.
Er sagte dann „Ja, ich hab ihr Pottmone gesehn. Es lag da auf den Tisch und ein Mann hat es genommen und ist dann rausgelaufen. Der hatte ne Klatze“ sagte der Kassierer.
Dann wurde ich wütend und bin rausgelaufen umd den mann mit der Klatze zu verfolgen, aber der vuhr mit seinem Auto weg.
Dann bin ich mit mein fahrad hinterher gefahren. Als ich ausstieg, als der mann mit dem Auto an einer Ampel warten musste, hab ich gesagt „ich will mein Pottmene wieder haben“
Aber der mann mit der Klatze sagte nein und fuhr weg. Er sagte dann, das er nicht von einem Pottmone wusste.
Also wollte ich ihn schlagen aufs Maul, aber er fuhr dann einfach weg und ich viel hin, wodurch ich mir wegetan habe.
Aufeinmal worde ich sauer, und meine ganzen Kräfte kamen aufeinmal wieder, weil ich sauer wurde.
Ich bin ihm wieder auf dem Fahrad gefolgt bis hin zu seinem haus.
Dann hab ich in beobeobachtet.
Ich hatte gesehn, wie er sich er brot gegessenn hatte und mein Pottmonee auf dem tisch lag und der mann lachte wie ein teufel.
„Damit kauf ich mir was schönes“ hattte der mann gesagt. Und da worde ich erst recht wütent. Ich hab die scheibe eingeschlagen und hab den mann angegreift, und dann hat er fast geheult und dann hab ich ihn angeschriehn „was wolltest du mit mein Pottmene machen? Warum hast du es mir geklaut“ Und dann wollte der mann mich schagen aber ich bin weggeschprung, und dann hab ich ihn die fresse polliert.
Später hab ich erfahrn, das der mann im krakenhaus lag und im kummer lag. Das hatte ich ja nicht gewollt, aber er wollte es ja nicht anders. Wenn man mich wütend macht und unfär behandelt, dann werde ich wütend.
Ich werde sauer, wenn ich wütend bin.
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Catalano
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Beitrag12.07.2015 21:55

von Catalano
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Scheinwelt
Ein Einblick

Schon bevor Ale seine erste „heftige Beobachtung“ gemacht hatte, war er psychisch nicht gerade das, was man als topfit bezeichnen würde.
Er hatte einen Tag zuvor seinen zweiunddreißigsten Geburtstag – den er nicht gefeiert hatte, genauso wenig, wie alle anderen sieben Geburtstage zuvor – und litt unter depressiven Verstimmungen. Verkorkste Beziehungen, einige Jahre der Drogensucht, die letzten Jahre allabendlicher Alkoholkonsum, eine Freundin, die ihn schon mehrmals betrogen hatte, kein Job. Das war alles, worauf er in seinem Alter zurückblicken konnte.
Und als Ale völlig in sich gekehrt mit seiner Freundin ins BONRATS ELEKTRONIKS wollte, um ihr den lang ersehnten Tablet PC zu kaufen, war er fasst davon überzeugt, jetzt auch noch seinen Verstand verloren zu haben.

Ale und Jenni hatten ihren schäbigen Corsa auf dem großflächigen Parkplatz des Elektrofachgeschäftes geparkt und trotteten zum Eingang des Gebäudes. Er mit gesenktem Kopf und trauriger, blasser Miene; sie mit einem Glitzern der Vorfreude in ihren großen, braunen Augen. Dennoch versuchte sich Jenni ihrem Freund anzupassen und tat so, als sei auch sie deprimiert. Wenn man ihr eins lassen konnte, dann war es ihre Fähigkeit, Loyalität vorzuspielen. Im Grunde nichts anderes, als Taktgefühl zu zeigen, fand Ale.
 
Neben dem Haupteingang befand sich ein großes Fenster, wo hindurch man den Verkaufsraum des Ladens und die Kassen sehen konnte.
Als Ale gerade an dem Fenster vorbeiging und seinen Kopf zur Seite drehte, erblickte er für eine Sekunde – oder vielleicht auch nur einen Bruchteil einer Sekunde – eine Situation, die er nicht auf Anhieb verstand.
Etwa eine handvoll Kunden, zwei Kassiererinnen und drei Verkäufer in ihren blauen Hemden mit dem Firmenlogo BE auf der Brust standen wie eingefrorene Eisstatuen da und bewegten sich nicht, bis Ale sie richtig ansah. Erst dann erwachte die Szene zum Leben und die Verkäufer wirbelten umher, die Kassiererinnen scannten die Wahren der Kunden, die an den Kassen standen, und alles wirkte wieder vollkommen normal.
Ale blieb mit skeptischem Blick vor dem Fenster stehen und versuchte in seinem Schädel zu ordnen, was er da gerade erlebt hatte. Er versuchte sich einzureden, dass er sich die Starre der Personen im Inneren des Ladens nur eingebildet hätte. Aber ein Blick in Jennis Gesicht verriet ihm, dass er mit seiner heftigen Beobachtung nicht alleine war. Auch ihr war sämtliche Farbe aus dem Gesicht gefallen und ihr Mund stand offen. Und obwohl sie zunächst zugab, dass die Situation auch auf sie wie die Szene aus einem Film gewirkt hatte, bei dem Schauspieler auf Kommando ihre eingeübte Rolle spielen, bestritt sie später, das Gleiche gesehen zu haben.
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Catalano
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Beitrag13.07.2015 22:32

von Catalano
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Habe mir so einige meiner älteren Geschichten nochmals durchgelesen und stümperhafte Fehler gefunden, die mir bei den ersten (mehreren) Nachbearbeitungen vorher gar nicht aufgefallen waren.

Teilweise Fehler bei den Zeiten und unglückliche Formulierungen. Ich bin erstaunt und niedergeschlagen zugleich, wie sehr man immer noch dazuzulernen hat; wie hart es ist, locker zu schreiben und gleichzeitig penibel auf die Korrektheit der Grammatik und Sprache zu achten.

Gleichzeitig gerate ich derzeit fast in Verzweiflung, weil mein Hobby des Schreibens zu einer sinnlosen Angelegenheit wird, die keine Früchte trägt.
Auch wenn ich es nicht darauf anlege, ein erfolgreicher Autor zu werden, so würde ich doch gerne meinen ersten, fertigen Roman in den Händen halten. Wenn auch nur für mich allein. Die Freude darüber wäre schon Frucht genug.  
Aber bis auf mehrere halbfertige Romane, die auf meiner Festplatte gespeichert sind, befinde ich mich nun in einer Sackgasse.

Ich habe das Gefühl, als ob mein Gehirn seit einigen Tagen (oder gar Wochen) leer gefegt ist. Oder besser gesagt, als ob es eine durchgebrannte Glühbirne wäre, die kein Licht mehr erzeugt, obwohl sie vorher tadellos funktioniert hatte.

Ich hatte immer die wildesten Ideen, Fantasien und skurrilsten Erlebnisse, die sich in meinem Kopf zu ganzen Geschichten zusammengefügt hatten. Die Kurzgeschichten waren nur Schreibübungen, um mich auf meinen ersten, fertiggestellten Roman vorzubereiten.

Aber jetzt, wo ich einen neuen Roman beginnen möchte, scheint mit alles abhanden gekommen zu sein. Ich starre seit Tagen in meiner Freizeit auf den leeren Monitor, beobachte das Blinken des Cursors, denke nach. Und es passiert nichts. Die paar Einfälle, die mein Gehirn produziert, scheinen mir langweilig und unausgegoren zu sein.
Die halbfertigen Romane, die ich bereits begonnen hatte, widern mich vor Stümperhaftigkeit an und ich habe das Interesse an den Themen verloren, über die ich dort schrieb.

Das ist wirklich eine ganz furchtbare Gefühlslage. Ob bald von alleine Linderung eintritt?
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Kopfkino
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Beitrag14.07.2015 11:30

von Kopfkino
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Hallo Catalano,

Selbstkritik ist gut, ja. Aber auch dabei Maß halten. Du siehst,  dass du dich verbessert hast - gut! Hab in ein paar Geschichten reingelesen und fand, dass du das ziemlich gut machst. (Bin derzeit etwas eingespannt,  deshalb leider nur dieser kurze Hinweis. )

Sie kommen wieder,  die Ideen, die verrückt -bizarren Einfälle. Nur nicht auf Befehl. Wenn man lange von ihrer Anwesenheit verwöhnt war, fällt ihr Fehlen umso mehr auf.

Ich habe selbst bisher nicht versucht, die Inspiration anzulocken, doch die Vorschläge dazu sind bestimmt auch dir geläufig. Bei  mir hat mich auszukotzen oft schon gereicht.

Drücke die Daumen, dass es nur eine kurze Durststrecke bleibt.

Edit: starr nicht den leeren Bildschirm an, das hilft nichts. Dahin geht's erst mit der Idee bitte. Vielleicht Musik,  Bilder oder anderes konsumieren statt Geblinke
Grüßle Kopfkino
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Catalano
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Beitrag15.07.2015 19:12

von Catalano
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Danke Kopfkino für deine Worte.

Wie ich mir nun auch eingestehen muss, beschäftigen mich alte und neue Lebensprobleme, die mich von meinem Hobby ablenken. Daran wird es wohl auch teilweise liegen.

Nun habe ich seit einiger Zeit etwas bemerkt, was mich beschäftigt und nicht gerade freudig stimmt.
Ich liebe Horror, Mystery und Thriller. Mitunter auch Krimis.
Allerdings habe ich vor einigen Zeiten herausgefunden, dass es mir liegt, Liebes- und Erotikgeschichten zu schreiben. Und dabei hasse ich Romanzen und Schnulzen.

Seit langer Zeit habe ich sogar völlig ausgefüllte Geschichten zu dem Thema im Kopf, die teilweise aus meinen Erlebnissen bestehen.
Es juckt mir in den Fingern, diese zu Papier zu bringen. Aber ich stehe nicht auf sowas.

Was soll ich daraus machen?
Zeit und Mühe in eine Romanze investieren, obwohl ich Romanzen nicht mag?
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Kopfkino
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Beitrag16.07.2015 10:10

von Kopfkino
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Hey Catalano,

vielleicht muss das 'Zeug ' einfach raus? Wenn ich eine Szene nicht fertig habe, kann ich mir manchmal die Nächste nicht gut ausmalen.

Ich würde es als Nebenprojekt anlegen. Da packst du alles Zeug, das dir nicht passt in Texte. Gar nicht überarbeiten außer du findest es wieder erwarten wert. Manchmal kommen neue Ideen, wenn man etwas ganz anderes macht. wink

Und wer weiß, vielleicht lässt sich aus solchen Zeugsprojekten ja eine gute Szene für etwas anderes gewinnen?

Grüßle Kopfkino
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Catalano
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Beitrag28.09.2015 22:32

von Catalano
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Die Frau

Jetzt:

Da ist sie wieder. Da ist sie, diese Frau, die seit dreiundzwanzig Jahren in den staubigen Ecken meines Hirns rum spukt – nicht immer, aber immer mal wieder. Eine Kindheitserinnerung, die nicht der Realität entsprungen zu sein scheint, sondern meiner Fantasie. Aber sie ist echt, sie war echt. Und das, was sie getan hat, war auch echt, da bin ich mir jetzt sicher.
Da steht sie an der Kasse und räumt ihren spärlichen Einkauf in ihren Jutebeutel: Eine Tiefkühllasagne, zwei Flaschen billigen Wodka, eine Flasche Wein und fünf Schachteln Discounterzigaretten. Inzwischen hat sie eine kleine Säuferwampe und tiefe Furchen um die immer noch glänzenden, braunen Augen, aber ihr Hintern und die Beine sind immer noch klasse.
Ob sie sich an mich erinnert?
Sie bezahlt den Kassierer, blickt mir kurz in die Augen und verlässt dann den Laden.

Damals:

Mein bester Freund Mike und ich waren zehn Jahre alt und hockten in unserer Höhle, die nichts weiter war, als ein großer Rhododendron, der neben einer Garagenwand wuchs. Vom Gehweg sah man nicht, dass sich hinter dem tiefgrünen Blattwerk ein Hohlraum verbarg, in dem man sich verstecken konnte. Aber vom Inneren des Busches aus sah man alles, was sich auf dem Gehweg und der Strasse abspielte.
Mike und ich hatten uns dort aus Brettern und Ziegelsteinen kleine Sitzgelegenheiten gebaut, auf denen wir saßen, uns über Kinderthemen unterhielten und ab und zu heimlich Zigaretten pafften, die Mike aus der Schachtel seines Vaters gemopst hatte.
An einem Tag im Sommer rauchten wir eine Lucky Strike das erste Mal auf Lunge und Mike musste trocken kotzen, während ich mir die Lunge aus dem Leib keuchte.
Ich erinnere mich noch genau an Mikes dünnes Wieselgesicht, wie es aschfahl wurde und sein Mund kontrahierende Bewegungen machte, ohne, dass etwas da raus kam, außer Rotze.
Nachdem wir die verdammte Kippe im Erdboden ausgedrückt und uns wieder eingekriegt hatten, bemerkte ich auf dem Gehweg neben unserer Höhle eine Frau, die ziemlich eilig auf hochhackigen Stiefeln dort entlang marschierte. Das Geräusch ihrer auftrumpfenden Stöckel hallt noch heute in meinem Ohr wider, wenn ich mir die Begebenheit ins Bewusstsein rufe: TOCK, TOCK, TOCK.
„Boah, ist die geil“, sagte Mike, als auch er endlich Notiz von dieser Dame nahm.
Auch wenn wir noch Kinder waren, hatten wir unlängst Geschmack an weiblicher Attraktivität gefunden und diese Frau war auf dem ersten Blick von unserem Gestrüpp aus aufreizend: schwarze lange Haare, ein lederner Minirock, wie sie in den Neunzigern modern waren, ein glitzerndes, enges Oberteil, knallrote Lippen und pralle Busen. Der erste Anblick dieser Frau rief in meinem Kinderhirn das Wort sexy auf.
Aber irgendwas an dieser Frau war seltsam.
Sie ging so gekrümmt, als hätte sie Schmerzen, und der Blick aus ihrem orientalischen Gesicht schien irgendwie böse, oder zumindest mies gelaunt zu sein.
Als sie auf Höhe unserer Höhle war, blieb sie stehen, ließ den Bügel ihrer Handtasche von der nackten Schulter gleiten, hielt ihre Handtasche in der Hand und schaute sich hastig um; sie scannte mit ihrem sexy verwirrten Blick die Büsche entlang der Garagenwände ab und dieser Blick erstarrte genau in unsere Richtung. Für einen kurzen Moment hielt ich vor Angst den Atem an, weil ich mich ertappt fühlte. Mikes Wieselgesicht und seine heruntergeklappte Kinnlade zeugten vom gleichen Gefühl.
Konnte man uns doch von der Strasse aus sehen? Und wenn ja: was wollte diese offensichtlich verwirrte, aufgetakelte Frau von uns?
Aber meine Bedenken sollten sofort aufgeklärt werden – scheinbar wirkte der Rhododendron nicht nur auf Mike und mich einladend, um ungestört Geschäfte zu vollziehen.
Die attraktive Frau in dem Discooutfit kam direkt auf unsere Höhle zu, sah wahrscheinlich die kleine Lücke im Buschwerk, die wie ein Eingang wirkte, und drängte sich in unser Heiligtum. Erst dann sah sie uns.

Wir mussten wie zwei idiotische Wellensittiche auf einer Vogelstange gewirkt haben, wie wir da auf unseren Brettern saßen und die Frau mit großen Kinderaugen angestarrt haben.
Jedenfalls starrte sie uns zunächst erschrocken an, um kurz darauf genervt mit den braunen Augen zu rollen.
„Habt ihr kein Zuhause, oder was?“, fragte sie uns ohne weiteres, ging bis zur Garagenwand, streifte sich den Minirock hoch und hockte sich hin. Erst in späteren Jahren wurde mir bewusst, dass diese Frau keine Unterwäsche trug.
Mike und ich waren zwei Eissäulen mit offenen Mündern, die einer scharfen, nach Alkohol riechenden südländischen Frau beim Pinkeln zusahen. Hautnah. Diese Frau hat uns besucht, um vor unseren Augen zu pissen, dachte ich mir, und Mike womöglich auch.
Während ihr Urin auf den schwarzen Erdboden platschte, wanderten meine Augen zwischen ihre Beine, um einen Blick auf das zu erhaschen, was ich bislang noch nicht verstanden hatte. Aber ich konnte nichts erkennen.

Bis zu dieser Zeit hatte Mike vor unserem gemeinsamen Kumpel Boris und mir immer behauptet, dass Frauen aus dem Po pinkeln und in eben diesen gebumst werden würden. Aber ich hatte da immer eine andere Vermutung.
Und nach ein paar Sekunden sollte meine Vermutung sowohl bestätigt, als  auch verneint werden. Ja: Frauen Pinkeln nicht aus ihren Polöchern. Und nein: Frauen haben nicht einfach nur ein Loch zwischen den Beinen, sondern mehr.

Der gequälte Blick der Frau, die ich damals trotz ihres seltsamen Verhaltens sehr hübsch fand, löste sich mit dem letzten Prasseln des Urins auf. Sie lächelte nicht, kniff aber auch nicht mehr die rot lackierten Lippen zusammen.
Sie ging aus der Hocke in die Gerade, sah uns beiden, schockierten Kindsköpfe an und sagte dann: „Was glotzt ihr so, ihr Spasten? Habt wohl noch nie ne Fotze gesehen, was?“

Nein. Das hatte ich tatsächlich nicht. Und Mike wohl auch nicht. Wir hatten zwar in Mikes Vaters Pornoheftchen manchmal Hintern und Titten gesehen, aber noch nie eine …
Und bis dahin hatte ich eigentlich immer noch keine Fotze gesehen, weil ich zwischen ihren Beinen immer noch nichts erkennen konnte.
Außerdem wendeten wir unsere Blicke beschämt ab, nachdem die Frau mit den rassigen schwarzen Haaren uns als Spasten bezeichnet hatte. Sie wirkte irgendwie fies und unberechenbar.
Und dann geschah das, was ich Zeit meines Lebens nicht mehr vergessen konnte. Die wirklich unangenehme, die irgendwie traumhafte Sache.

Anstatt ihren Rock runter zu ziehen, kam sie auf ihren Stöckelstiefeln auf mich zu (sie schien ohnehin die ganze Zeit mehr auf mich fixiert zu sein, als auf Mike, der am Rand der Höhle saß). Während sie auf mich zukam, blickte ich ehrfürchtig nach oben und sah zwischen ihren Beinen endlich etwas, das wie ein dunkelbrauner Schlitz aussah.
Genau vor meinem Gesicht drehte sie sich um, beugte sich mit dem Oberkörper nach vorne, drückte mir ihren Hintern ins Gesicht und rieb ihre Genitalien mehrmals an meiner Nase und meinem Mund auf und ab. Sie drückte mir regelrecht ihre Muschel ins Gesicht und ihre Pobacken bedeckten meine blassen Gesichtsbacken.

„Das wirst du dir merken, du kleiner Pisser“, sagte sie, nachdem sie mit ihrer seltsamen Aktion fertig war, sich zu mir umdrehte und ihren Rock zurechtrückte. Alkoholgestank drang zwischen ihren roten Lippen hinab zu mir.
Ohne uns weiter zu beachten, verließ sie unsere Höhle und stolzierte entspannt auf ihren hochhackigen Stiefeln auf dem Gehweg davon.

Mike sah mich an, als währe ich gerade eben von einem Laster überfahren wurden, und so ähnlich fühlte ich mich auch.
Meine Lippen waren feucht und schmeckten nach Salz, als ich sie mit der Zunge beleckte.  Nase und Stirn waren ebenfalls feucht und ich hatte diesen schwitzigen Geruch in der Nase, der mir späterhin irgendwie gefiel. So roch Sex also.

Am Abend dieses Tages, der so langweilig begonnen hatte und eine neue, eindringliche Erfahrung mit sich brachte, lag ich im Bett, eingepackt wie eine Mumie in meiner Bettdecke und zurückgezogen in mein tiefstes Ich.
Das Gefühl der Scham, das sich kurz nach meiner Bekanntschaft mit der Möse einer fremden, erwachsenen Frau eingestellt hatte, wich allmählich und bereitete Platz für die Freude an der Sünde. Der schwitzige Geruch von Sex lag mir immer noch in der Nase und strömte durch meinen Körper bis hin zu meinen Kinderlenden; dort entstand eine kleine Latte unter meiner Bettdecke.
Und ehe ich mich in diesen freudigen Erinnerungen verlieren konnte, sah ich wieder das hübsche, arrogante Gesicht dieser Frau vor meinem inneren Auge, und ihre knallroten Lippen sagten: „Das wirst du dir merken, du kleiner Pisser.“
So, ein kleiner Pisser war ich also, und nicht nur das. Als Spasten hatte sie uns auch noch bezeichnet.
Die Scham überkam mich wieder, mein Kinderkörper rollte sich unter der Bettdecke zu einem Haufen Elend zusammen und ich schlief mit Gedanken an Zeichentrickfilme ein.

Jetzt:

„Na? Bin ich immer noch ein kleiner Pisser?“
Die Frau sieht mich verstört an, als ich sie das auf dem Parkplatz des Discounters frage.
„Obwohl, eigentlich hast du doch vor unseren Augen gepisst. Eigentlich bist du die kleine Pisserin, oder nicht?“
Ich weiß, ich sollte es einfach gut sein lassen; die Vergangenheit ruhen lassen. Menschen verändern sich, genauso, wie ich mich mehrmals geändert habe. Wahrscheinlich weiß diese Säuferschlampe sowieso nicht mehr, was sie damals getan hat.

Sie mustert mich eingehend, schwingt ihren vollen Jutebeutel von der rechten zur linken Hand und hebt dann fragend eine ihrer schwarzen Augenbrauen.
„Wovon redest du? Ich habe keine Ahnung, was du meinst“, sagt sie.
Ich blicke ihr zwischen den immer noch gut geformten Schenkeln in engen Jeans und deute mit dem Kinn dort hin. „Deine Möse war mal in meinem Gesicht. Ich weiß, wie du schmeckst.“
Sie zuckt zurück und schluckt. „Keine Ahnung, was du von mir willst“, sagt sie erschrocken.
„Sogar dein Arschloch war in meinem Gesicht. Du hast mir wortwörtlich deine Genitalien vor die Nase gerieben, hast mich und meinen Kumpel als Spasten bezeichnet und mich als kleinen Pisser. Aber vielleicht hast du dir in den Jahrzehnten dein Hirn so weg gesoffen, dass du dich nicht mehr daran erinnerst.“

Der Blick ihrer immer noch hübschen, alten Augen sinkt zu Boden, dann nach rechts, dann nach links. Ihre nicht mehr roten Lippen – etwas faltig um die Grübchen – verziehen sich zu einem schmalen Schlitz.
Dann starrt sie mich an, deutet ein gestelltes Lächeln an und sagt: „Du verwechselst mich. Lass mich in Ruhe, ja?“

Ich lasse sie in Ruhe und beobachte, wie sie davon stolziert. Zwar nicht mehr auf hochhackigen Stiefeln, sondern auf weißen Turnschuhen, aber irgendwie genauso, wie damals, auf dem Gehweg vor unserer Höhle.
Sie dreht sich noch einmal zu mir um. Ängstlich, als würde ich ihr möglicherweise hinterherlaufen und sie in einer dunklen Ecke umbringen können.
Ich schaue ihr hinterher, betrachte ihren Hintern, der für eine Säuferin ihres Alters immer noch knackig ist, und richte dann meinen Blick auf den Boden.

Dann kriecht ein weiteres Spukgespenst aus dem staubigen Kerker meiner Kindheitserinnerungen.
„Was ist eigentlich mit Mike? Was macht mein alter, bester Freund heutzutage so?“

Ich gehe nach Hause, gebe bei Facebook den Namen Mike Müller ein und finde ihn.

Zwei Wochen später habe ich wieder einen besten Freund.
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Catalano
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Alter: 40
Beiträge: 136



C
Beitrag19.02.2016 22:12

von Catalano
Antworten mit Zitat

Bobring

13. April, 12:45 Uhr

Tomaso sitzt am Computer und zögert. Das letzte Mal, als er im E Mail Fach seiner Freundin rumschnüffelte, hatte er erfahren, dass sie ihn betrog. Das ist sechs Jahre her.
Würde er jetzt das Gleiche noch mal erleben? Ihr Verhalten in letzter Zeit spricht dafür. Die Frage ist, ob sie wirklich so dumm ist, noch mal fremdzugehen und dazu noch per E Mail mit einem potentiellen Lover widerliche Nachrichten austauscht.

13. April, 13:00 Uhr

Sie ist tatsächlich noch so dumm. Hat nichts dazugelernt. Selbst ihr Passwort ist dämlich einfach. Es lautet BOBRING1984.
Tomaso findet nur eine verdächtige Mail, aber die hat es in sich. Sie stammt vom selben Tag.
Ich weiß, ich sollte dich nicht per Mail, oder WhatsApp anschreiben. Aber ich wollte unbedingt noch etwas loswerden. Der Abend gestern mit dir war echt der Hammer, und ich kann es kaum erwarten, dass wir uns am Donnerstag wieder sehen, Babe. Wink Mein Ding glüht n…

14. April, 2:30 Uhr

Tomaso wälzt sich auf dem Sofa hin und her, während Annas Schluchzen einem sonoren Schnarchen gewichen ist.

14. April, 21: 42 Uhr

Das Paar hat sich gerade auf dem Sofa geliebt, auf dem Tomaso letzte Nacht seinen dicken Körper hin und her gewälzt hatte. Annas schwarze Locken kitzeln seine Nasenspitze, und aus ihren dunklen Augen quellen Tränen.
„Es tut mir so leid.“
„Ich weiß, Schatz. Vergessen wir die Sache.“

Donnerstag, 21: 45 Uhr

Annas Smartphone zeigt über ein Dutzend verpasste Anrufe an. Dazu mehrere WhatsApp Nachrichten. In der Letzten beleidigt dieser andere Typ Anna als verlogene Schlampe und droht damit, Tomaso alles zu erzählen.
Einen kurzen Moment lang ist Tomaso versucht, diesen Arsch anzurufen und ihm zu sagen, dass er die Finger von seiner Freundin zu lassen hat, bleibt aber standhaft.
„Kein Kontakt mehr zu diesem Typen! Reagiere ja nicht auf seine Nachrichten und Anrufe.“
„Klar. Mache ich nicht. Niemals mehr.“
„Solche Spinner können nämlich zu einer ernsten Gefahr werden, genau, wie der letzte Kerl, mit dem du mich damals betr…“, er spricht den Satz nicht zu Ende.
Der letzte Kerl, mit dem Anna Tomaso betrogen hatte, entwickelte sich zu einem Stalker, den sie nur losgeworden sind, in dem sie zwei Mal umzogen.

„Ich liebe dich. Dass du mir noch mal einen solchen Fehltritt verzeihst, ist echt unglaublich. Ich weiß gar nicht, wie ich dir beweisen soll, dass… .“
Tomaso legt seiner Freundin den Zeigefinger auf die Lippen und küsst sie anschließend.
Dann streicheln sie Bobring.


18. August, 10:00 Uhr

Anna und Tomaso staunen über die Waldhütte, die sie sich für das Wochenende gemietet haben. Sie verfügt sogar über einen Kamin. Sie küssen sich.

18. August, 23:10 Uhr

Das Lammfell, auf dem sie liegen, ist weich und flauschig, und das Feuer spendet ihnen wohlige Wärme. Tomaso findet das Knistern, das die verkohlenden Holzscheite von sich geben, irgendwie appetitlich. Er steht auf, geht in die Küche und holt noch ein Stück Käse, das das Camp seinen Gästen als Begrüßungsgeschenk hinterlässt. Dann füttert er damit seine Freundin. Ihre schlanke Figur verkraftet das schon.

19. August, 2:30 Uhr

Anna erwacht aus einem unruhigen, weingetränkten Schlaf, weil sie ein Grummeln hört. Dann rüttelt sie den dicken Leib ihres Freundes. Sie flüstert. „Tom, wach auf. Wach auf.“
„Was ist denn?“
„Bobring knurrt.“
„Ach ja?“, Tomaso bemüht sich gar nicht erst, die Augen zu öffnen. „Um uns herum ist Wald. Wahrscheinlich hat er nur etwas von dort gehört. Schlaf weiter, Schatz.“
„Nein. Er steht direkt neben dir.“
Tomaso reißt die Augen auf. Er dreht sich zur Seite und sieht die Umrisse von Bobrings dickem Schädel. Einzig seine Augen glänzen in der Schwärze der Nacht. Der Hund knurrt Tomaso an.  
„Bist du bescheuert?“ Tomaso springt aus dem Bett, packt sich das Fell am dicken Hundehals und schleift Bobring vor die Tür, wo der Hund die restliche Nacht verbringen wird.

20. August, 18:35 Uhr

Anna verbarrikadiert sich im Bad. Heiße Tränen laufen ihr über die Wangen und Blut strömt aus ihrem Unterarm.
Tomaso hämmert gegen die Tür und verlangt Einlass. Er hat immer noch das Fleischermesser in der Hand.

20:15 Uhr

Die Polizei macht Fotos von dem blutigen Haufen, der aussieht, als wäre ein Mensch mit einem Tier verschmolzen. Der Körper eines Rottweilers liegt leblos auf einem Fettsack, der immer noch ein Messer in der rechten Hand hält. Auch der hat seinen letzten Atemzug hinter sich.
Anna liegt mit einem Schock und einer Schnittwunde im Krankenhaus.
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Katha1
Geschlecht:weiblichGänsefüßchen


Beiträge: 23
Wohnort: Bayern


Beitrag20.02.2016 17:24
schöne Kurzgeschichte
von Katha1
Antworten mit Zitat

Deine Geschichte gefällt mir sehr gut. Spannend und fesselnd. Ich habe auch die Wertungen gelesen und kann nichts dazu fügen außer:
Ist im ersten Absatz die Zeitform stimmig? Es handelt sich um Gedanken des Protagonisten, aber ich bin nicht sicher, ob das Präsens hier richtig ist. Darüber bin ich gestolpert.

Ganz liebe Grüße,
Katha
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Catalano
Geschlecht:männlichLeseratte
C

Alter: 40
Beiträge: 136



C
Beitrag20.02.2016 20:31

von Catalano
Antworten mit Zitat

Hi Katha

danke fürs lesen.

Wo genau meinst du, ist die Zeit form nicht stimmig?  Hab jetzt nichts gefunden, was du meinen könntest.

Und wo sind die Gedanken des Protagonisten? Meinst du das kursiv Geschriebene? Das ist die E Mail, die dieser andere Typ seiner Freundin geschickt hat.

Und welche Wertungen meinst du?
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