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Ragnarök - Auf der Suche nach Thule


 
 
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marcel1982
Geschlecht:männlichErklärbär
M

Alter: 42
Beiträge: 4
Wohnort: Lienzingen


M
Beitrag08.04.2014 05:38
Ragnarök - Auf der Suche nach Thule
von marcel1982
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Wie im Vorstellungsthread erwähnt, hier nun das erste Kapitel meines Romans.

Vorneweg zum Roman: Geplant ist nicht nur ein Buch, sondern mehrere Bände.

"Ragnarök - Auf der Suche nach Thule" ist dabei der Eröffner und erzählt vom Beginn Ragnaröks und wie die Hauptperson Widar nach einer langen Odyssee schließlich Thule findet und nach Asgard gelangt, wo er seinen Vater trifft.

Falls es hier mit der Formatierung etwas schlecht leserlich ist, der kann auch auf meinem Blog lesen, da ist es denk ich etwas leserfreundlicher.


Formáli (Prolog)

Gellend heult Garm
vor Gnipahellir:
es reißt die Fessel,
es rennt der Wolf.
Vieles weiß ich,
Fernes schau ich:
der Rater Schicksal,
der Schlachtgötter Sturz.

Hrym fährt von Osten,
er hebt den Schild;
im Riesenzorn
rast die Schlange.
Sie schlägt die Wellen;
es schreit der Aar,
Leichen reißt er,
los kommt Nagelfar.

Der Kiel fährt von Osten:
es kommen Muspells
Leute zum Land;
Loki steuert.
Mit dem Wolfe zieht
die wilde Schar;
Byleipts Bruder
bringen sie mit.

Surt zieht von Süden
mit sengender Glut;
von der Götter Schwert
gleißt die Sonne.
Riesinnen fallen,
Felsen brechen;
zur Hel ziehn Männer,
der Himmel birst.


Ran

1 Der hölzerne Drachenkopf wippte bedrohlich in den Wellen, tauchte ein in schäumendes Nass und schoss wenige Augenblicke später wieder in die Höhe. Der Wind peitschte und Regen ergoss sich wie aus reißenden Wasserfällen über das Schiff. Blitze zuckten durch den Nachthimmel und das Donnergrollen spielte seine unbarmherzige Melodie vom Ende der Welt. Die Männer hatten größte Mühe, die Segel einzuholen und die Dunkelheit setzte ihnen zusätzlich zu.
Das Unwetter kam aus dem Nichts, meterhohe Wellen spielten mit dem Drachenschiff, als sei es ein Spielzeug. Widar und seine Mannen wurden schon das ein ums andere Mal von einem Unwetter auf hoher See überrascht, doch so schlimm wie diesmal hatte es sie noch nie erwischt. Mehrere Ruder waren bereits geborsten und auch die Segel begannen bereits an mehreren Stellen zu reißen.
Sie waren vom Kurs abgekommen, das wusste Widar als er diesen Abend in den Sternenhimmel blickte, doch er konnte sich nicht erklären warum. Bis am Vortag die Sonne unterging, waren sie auf Kurs. Von Südnorwegen kommend, hatten sie die Färöer gerade passiert. Die See war ruhig und der Wind stand günstig. Sie gerieten in eine dichte Nebelwand und als der Nebel langsam nachließ, war alles – anders. Die Sternbilder waren ihm völlig unbekannt.
Der Nebel dauerte nur eine knappe halbe Stunde an. Er war dicht, sehr dicht. Widar vermochte seine Hand nicht mehr vor Augen zu sehen. Die Stimmen, die Schritte der Seemänner klangen gedämpft, wie von weit her. Selbst seine eigenen Schritte waren Widar fremd, sie klangen wie das ferne Trampeln auf Holzdielen in der obersten Etage eines mehrstöckigen Hauses.
Weit konnten sie im Nebel nicht gefahren sein, dafür war die See zu ruhig, fast schon zu ruhig. In der halben Stunde spürten Widar und seine Mannen nicht den Hauch eines Windes.
Nach dem Nebel kam der Sturm. Es waren keine fünf Minuten vergangen, als die Sterne unter einer schwarzen Wand verschwanden. Orkanböen setzten dem Schiff zu. Der Wind peitschte mal von Osten, mal von Norden, mal von Westen, dann wieder von Süden, als ob die Götter in die Schlacht zogen, die letzte Schlacht, und selber nicht wussten in welche Richtung sie marschieren sollten. Riesige Flutwellen türmten sich auf und schienen das Schiff jede Sekunde mit in die Tiefe zu reißen. Und dann kam der Regen. Mit einer Minute schien mehr Wasser vom Himmel zu fallen, als in den 50 Jahren zuvor, die Widar bisher auf der Erde weilte. Eine schier unendliche Schar an Blitzen entlud sich im Meer und ließ es kochen.
„Achtung!“ schrie Eirik, Widars jüngerer Bruder, aber es war zu spät. Ein wuchtiger Blitz, der gnadenlose Hammer Thors, ließ den Mast brechen und riss mehrere Männer mit in die Fluten. Das Wasser gierte nach den Ertrinkenden. Die Wikinger waren tüchtige Seemänner doch schwimmen hatte keiner von ihnen gelernt. Selbst wenn sie es könnten, das Meer schien lebendig und war geradezu bedacht, einen jeden von ihnen zu verschlingen. Hilfeschreie übertönten für Bruchteile die brausenden Fluten und das bedrohliche Donnergrollen, bevor sich ihre Lungen endgültig mit Wasser füllten und Ran sie in ihr Reich holte.
Der Orkan legte noch einmal zu, als ob er jetzt mit aller Gewalt endlich den Rest des Schiffes in den Fluten versinken wolle. Eine Welle nach der anderen schwappte über die Reling und verwandelte das Deck in einen reißenden Fluss. Keiner der Wikinger konnte sich noch gerade halten, die gesamte Mannschaft geriet in blanke Todesangst. Jeder versuchte sich irgendwie geduckt an irgendetwas festzuhalten, doch die hereinbrechenden Wassermassen waren zu stark und so forderte Ran weiteren Tribut unter den Seemännern.
Auch die Blitze hatten ihr Ziel gefunden und bombardierten unablässig das Schiff. Holz zersplitterte, fing Feuer. Kleinere und größere Stücke schossen durch die Luft und verletzten jeden lebensgefährlich oder tödlich, den sie trafen.
Ein gewaltiger Blitz traf den Drachenkopf, zerfetzte ihn in tausende Holzsplitter und riss ihn vom Bug. Ein größeres Stück traf Widar an der Schläfe, er taumelte, konnte sich nicht mehr halten. Das Letzte, an was er sich erinnern konnte, war der entsetzte Blick seines Bruders und dann nur noch Wasser, endlose Weiten des schäumenden, mörderischen Nass.

2 „Wach auf!“, eine ruhige, weibliche, aber dennoch befehlende Stimme, klang in Widars Ohren. Sie erweckte in ihm Gefühle einer transzendentalen Weisheit, die schon vor Anbeginn der Menschheit auf dieser Welt weilte. Er öffnete die Augen. Die Sonne schien fast im Zenit und erschwerte es ihm zunächst, irgendetwas an seiner Umgebung zu erkennen. Blinzelnd erkannte er allmählich Einzelheiten. Er lag auf einem großen Stein, der wohl eine Art Opferaltar darstellen sollte. Seltame Runen waren in ihm eingraviert, die zwar denen ähnelten, die er aus seiner Heimat kannte, aber dennoch einen ganz anderen Klang verhießen. Sie sprachen von längst vergangenen Äonen, längst vergessenen Zeiten. Um den Altar herum wuchsen vereinzelte Grashalme und Widar vermochte gar zu erkennen, wo einst Priester oder Hexenmeister ihre einstudierten Pfade entlangschritten. Welche Zeremonien oder Opferungen hier wohl abgehalten wurden, dachte er sich.
Riesige aufgerichtete Steine standen im Kreis einige Meter entfernt um den Altar. Widar kannte aus Erzählungen seines Onkels, dass es in Britannien einen Tempel namens Stonehenge gab, der dem hier wohl ähneln musste. Er selbst war noch nie auf dieser Insel. Dass es sich nicht um Stonehenge handeln konnte, war ihm aber bewusst. Dafür stand die Sonne zu hoch am Horizont.
Im Norden – zumindest dachte Widar, dass es Norden war – und Osten grenzte ein Wald an den Tempel. Es waren prächtige, riesige Bäume. Die größten Stämme wuchsen bis zu hundert Meter in die Höhe, ehe sich über ihnen die Kronen pilzartig ausbreiteten, und erreichten Durchmesser von fünf und mehr Metern. Die Nadeln waren nicht spitz und dünn, wie er sie aus seiner Heimat kannte, sondern wirkten eher wie Leder. Widar hatte noch nie einen Baum dieser Art gesehen. An den dicken Stämmen konnte er aber erkennen, dass es sich um sehr alte Bäume handeln musste.
Richtung Süden lichtete sich der Wald und eine grüne, hügelige Landschaft mit nur noch vereinzelten, kleineren Laubbäumen, Sträuchern und Büschen verlor sich am Horizont. An einigen Stellen wich das saftige Grün grauen und weißen Felsformationen.
In westlicher Richtung ging es ein paar hundert Meter leicht bergab, bevor ein riesiger See auf schneebedeckte Gipfel eines majestätischen Gebirges traf. Die See war ruhig und klar und zeichnete ein exaktes Spiegelbild der Berge. Vielleicht täuschten ihn seine Augen, aber Widar vermochte eine große Burg im Gebirge zu erkennen.
Er versuchte, seinen Blick auf sie zu konzentrieren. Allmählich entdeckte er Einzelheiten. Im Zentrum stand ein prächtiges, hellgraues Gebäude mit vier sehr hohen Türmen in seiner Mitte. Er konnte es schlecht abschätzen, aber sie mussten hunderte Meter in den Himmel ragen und liefen am oberen Ende sehr spitz zusammen. Neben diesen Haupttürmen gab es noch mehrere kleine Türme, die Wachtürmen ähnelten und eine begehbare Plattform besaßen. Solche Wachtürme standen auch entlang einer Mauer, die einen weitläufigen Kreis um das Hauptgebäude bildete. Dutzende kleinerer Nebengebäude konnte er erkennen und alle besaßen den selben, hellgrauen Farbton.
Er musste wieder an die Stimme denken,die ihn geweckt hatte. Wo kam sie her? Erst jetzt fiel ihm auf, dass er wider erwarten trocken war. Langsam kamen die Erinnerungen hoch, an den Sturm, an sein Schiff, an seine Männer und an sein Ertrinken. Er wusste, dass Ran die Ertrunkenen in ihr Reich holt, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er in ihrem Reich gelandet ist.
„Da hast du recht.“, schreckte ihn dieselbe alte, weise Stimme aus seinen Gedanken, „Und wenn du hier Wurzeln schlagen willst, tu dies, damit ist aber weder dir noch uns geholfen.“
Widar richtete sich auf und schaute sich noch einmal genauer um. Am linken Rand seines Blickfeldes erkannte er einen schemenhaften Umriss, der sogleich er ihn entdeckte, wieder verschwand. Er wandte seine Augen exakt in die Richtung, woher der Schatten kam, doch da war nichts außer den riesigen Steinen und dem Wald im Hintergrund. Jetzt, wo er seinen Blick auf diese Stelle konzentrierte, erkannte er einen winzigen Trampelpfad in den Wald hinein.
Was blieb ihm schon anderes übrig? Er wusste weder wo er war, noch warum er hier war. Und schon gar nicht konnte er sich erklären, was auf seinem Schiff passiert war. Er entschloss sich, dem Pfad zu folgen, was sollte ihm auch großartig passieren? Er musste entweder träumen oder tot sein, dessen war er sich jetzt bewusst.
Widar richtete sich auf und setzte seine Füße auf den Boden. Brennender Schmerz durchzog seine rechten Zehen. Sofort tat er zwei unbeholfene Schritte nach vorne, verlor sein Gleichgewicht und stürzte kopfüber nach vorne. Er drehte sich um, schaute erst auf seinen rechten Fuß, dann auf den Altar, dann auf den Boden vor dem Altar. Sein rechter Schuh lag auf dem Stein und davor ragten einige Brennesseln empor. Er wischte sich den Dreck aus dem Gesicht, stand auf und trat mit schmerzverzerrter Grimasse erneut an den Altar, um seinen rechten Schuh anzuziehen.
Als Widar den Wald betrat überkam ihm ein kurzes Gefühl der Übelkeit. Die Sonne schien es mit einem Mal eilig zu haben und wanderte binnen Sekunden Richtung Westen, um hinter den Bergen unterzugehen. Mit der Dunkelheit kam die Kälte.
„Beeile dich, der Wolf ist hinter dir her!“, schrillte die ihm mittlerweile bekannte Stimme in seine Ohren. Panik machte sich in Widar breit, es konnte sich nur um Fenrir handeln. Wenn er nicht in Rans Reich gelandet war, dann konnte es sich nur um Asgard handeln und wenn Fenrir befreit wurde, war ihr aller Ende gekommen, Ragnarök kündgte sich an!
Ohne in überstürztes Rennen überzugehen, legte Widar jetzt einen schnelleren Schritt ein. Der Vollmond schien am Himmel, die dichten Kronen der Bäume ließen jedoch kaum Licht durch. Der alte Trampelpfad war nur schemenhaft zu erkennen und viele Steine verhießen viele Stolperfallen.
Widar folgte dem Pfad bereits seit zwei Stunden, ohne eine Pause einzulegen. Er war trotz aller Vorsicht das ein ums andere mal fast gestolpert. Es kam ihm vor, als ob er seit Tagen unterwegs war. Er war erschöpft. Sein Tempo hatte sich mittlerweile drastisch reduziert und er schritt eher gemächlich denn gehetzt durch den Wald, der mit jeder Minute dichter zu werden schien. Wenigstens seine Augen hatten sich so gut an die Dunkelheit gewöhnt, dass er Einzelheiten erkennen konnte.
Die Bäume waren nicht mehr dieselben, strahlten nicht mehr diese majestätische, alte Kraft aus. Nadelbäume, wie er sie aus seiner Heimat kannte, beherrschten mittlerweile den Wald. Sie schienen krank und morsch. Mehrere umgestürzte Stämme hatten ihm bereits den Weg versperrt und zu kleineren Umwegen gezwungen.
Wie ein Erdbeben drang das Heulen eines Wolfes durch das Dickicht. Widar wusste sofort, wer es war und dass er seine Witterung aufgenommen hatte. Und dass er nur noch ein paar Hundert Meter von ihm entfernt sein konnte. Widar zwang sich kurz innezuhalten, um nicht in neuerliche Panik zu geraten und all seine Kraft zu sammeln, dann rannte er los. Er konnte eine Lichtung erkennen, sie leuchtete trotz der Dunkelheit in diesem verfluchten Wald wie eine Kerze in einem dunklen Raum.
Widar stolperte über mehrere Steine und am Boden liegende Äste, konnte aber jedesmal sein Gleichgewicht halten. Er hörte den Atem Fenrirs hinter sich näher kommen, konnte den Blick spüren, diesen kalten Blick, der nichts anderes verhieß als ewige Dunkelheit, ewige Qualen.
Dann geschah es. Widar stolperte erneut, verlor sein Gleichgewicht und fiel der Länge nach auf den Boden. Sein rechtes Knie traf auf einen Stein und sein Körper durchzog sich mit Schmerzen. Nichts davon nahm Widar wahr, er geriet endgültig in Panik. Nur noch von seinen Instinkten getrieben vergaß er den Schmerz. Sich in die Höhe stemmend, begann er bereits wieder, zu rennen. Etwas kaltes, schwarzes schnappte nach seinen Beinen, wo sie sich noch vor Bruchteilen einer Sekunde befanden.
Er spürte die Enttäuschung, aber zugleich Entschlossenheit dieses Monstrums hinter ihm. Es setzte zum alles entscheidenden Sprung an, jetzt wird es ihn erwischen. Jetzt gibt es kein zurück mehr. Jetzt sind Widars letzte Sekunden gezählt.
Mit einem letzten Satz trat Widar auf die Lichtung, scharfe Zähne packten ihn an der linken Hand, wollten ihn an sich reißen. Er stürzte rücklings ins Gras, sein linker Arm schrie vor Schmerz. Sein Herz raste, verlor sich im Takt, setzte aus, um dann wie das Grollen eines Donners zurückzuschlagen. Kein Schmerz war so real, so intensiv, wie in diesem Moment. Aber gleichzeitig spürte er, dass er in Sicherheit war. Fenrir würde ihm nicht auf die Lichtung folgen.
Widar sackte in die Knie. Er drehte sich um und sah den Wolf. Finstere, nach Blut dürstende Augen inspizierten ihn. Diese Schlacht hast du gewonnen, aber ewig vor mir wegrennen kannst du nicht, schienen sie ihm zu sagen. Fenrir schnaufte, der Atem stieß in dunstigen Wolken aus seinen Nasenlöschern. Diese erste Begegnung mit Fenrir kostete Widar drei Finger, die noch aus dem Maul des Wolfes ragten.
Völlig erschöpft fiel Widar in einen tiefen Schlaf.

3 Er träumte von seiner Kindheit, sah den heimatlichen Bauernhof am Rande eines majestätischen, von gewaltigen Bergen umgebenen Fjordes. Es war ein trüber Morgen im Spätherbst, der Regen schien nicht aufhören zu wollen. Dichte, dunkle Wolken bedeckten das Firmament. Der Bauernhof lag etwas abseits eines kleinen Dorfes. Von der Haustür aus konnte man den gesamten Fjord überblicken, der sich zwischen den Bergen seinen Weg westwärts Richtung Meer bahnte. Östlich erstreckte sich ein kleines, fruchtbares Tal. Mehrere Bauernhöfe hatten sich hier vor einer halben Ewigkeit zu einer Siedlung zusammengetan. Aus der einst losen Bauernsiedlung wuchs über die Jahrzehnte ein kleines Fischerdorf. Den Ortskern direkt am Wasser bildete ein bescheidener, zentraler Platz, umringt von den chaotisch angeordneten einfachen Holzhütten der Fischer. Vier Anlegestellen boten genug Platz für die 13 Fischerboote. Am Rande des Tals lagen die Bauernhöfe.
Es gab zwei Verbindungen zu den näher gelegenen Ortschaften. Die Beschwerlichere führte östlich über die Berge durch dichte Nadelwälder. Soweit sich Widar erinnern konnte, nahm nur selten jemand diesen Weg. Die Dorfältesten wurden nie müde, ihre alten Geschichten über diesen Bergpfad zu erzählen, auf dem es spuken soll. Der einfachere Weg führte übers Wasser.
Jedes Frühjahr, wenn der Schnee langsam zu tauen begann, kamen Drachenschiffe aus den größeren Siedlungen, um unter den jüngeren männlichen Nachkommen Freiwillige für abenteuerliche Wikingfahrten zu gewinnen. Und jedes Jahr im Spätherbst erwartete jeder im Dorf sehnsüchtig die Wiederkehr der Drachenschiffe, besonders die Mütter der Abenteuerlustigen. Es geschah nicht selten, dass eine Mutter vergeblich auf ihren Sohn wartete. Kam er dann doch, brachte er oft reiche Beute aus fernen Ländern mit.
Der junge Widar saß gerade bei Tisch, als sein Onkel Andri die Haustür hereingestürmt kam. Zwei Drachenschiffe wurden gesichtet, die verlorenen Söhne kehrten endlich heim.
Widar kannte weder seinen Vater noch seine Mutter. Wer sein Vater war, wusste niemand. Seine Mutter verschwand spurlos, als er noch ein Baby war. So übernahmen Andri und seine Frau die Erziehung. Er war gerade sechs Jahre alt, für sein Alter aber schon ziemlich reif und im Moment die einzige Hoffnung für den Bruder seiner Mutter.
Andri war ein alter Seefahrer, ein echter Wikinger. Er war der zweitälteste Sohn seines Vaters. Seine drei jüngeren Brüder starben früh bei Wikingfahrten, sein älterer Bruder starb kinderlos im Alter von 33 Jahren bei einem Feuer. So erbte er aus heiterem Himmel den Bauernhof seiner Eltern. Vor dieser Tragödie konnte er sich nicht vorstellen, seine restlichen Tage als einfacher Bauer zu fristen. Sein Traum war es, bei einem Raubzug durch das Schwert zu sterben und von den Walküren nach Walhall geleitet zu werden. Entsprechend mies gelaunt war der Endvierziger die meiste Zeit.
An diesem Morgen aber war er voller Sorge. Außer seinem Ziehsohn Widar gab es nur noch seinen ältesten Sohn Björn. Björn sollte den Bauernhof erben, sollte nie auf Wik gehen. Aber Björn war ein Sturkopf und schmuggelte sich immer wieder auf eines der Wikingerschiffe. Wie sein Vater einst, so verlor auch Andri früh seine drei jüngsten Söhne. Bei aller Trauer war er dennoch stolz, dass sie es in die Schar der Einherjer geschafft hatten. Aber bei allem Stolz auf den Mut seiner Söhne fürchtete er auch, dass die Linie seiner Ahnen mit ihm endete, wenn Björn nicht wieder heimkehrte.
Dem jungen Widar war es nicht gegönnt, sein Frühstück aufzuessen, Andri packte ihn an der Schulter und schleifte ihn mit raus in den Regen. Seine Tante eilte wenige Schritte hinter den beiden hinterher.
Alle Bewohner versammelten sich auf dem Dorfplatz, sehnsüchtig die Rückkehr ihrer Söhne und Brüder erwartend.In der Eile dachten die wenigsten an warme Kleidung. Es schien aber niemanden etwas auszumachen, die Freude auf ein baldiges Wiedersehen verdrängte die Nässe und die Kälte.
Beide Schiffe waren noch zu weit entfernt, um Einzelheiten ausfindig zu machen. Die Farbe der Segel verriet aber, dass es zwei der drei Drachenschiffe waren, die ein halbes Jahr zuvor an selber Stelle in See stachen.
Das Wasser wurde unruhiger. Der Wind nahm zu, aus einem lauen Westwind entwickelte sich langsam, aber sicher ein Sturm. Auch der Regen ging in Schnee über.
Etwas stimmte nicht mit den beiden Drachenschiffen. Je näher sie kamen, desto bewusster war sich Widar, dass etwas völlig falsch an ihnen war. Kein Leben ging von ihnen aus, sie wirkten kalt und leer. Ihre Segel bewegten sich mit dem Wind, aber das schien das einzig Lebendige an ihnen zu sein. Schatten huschten über die Decke.
„Vater, etwas stimmt da nicht!“, flehte Widar seinen Onkel an. Bei aller Strenge war Andri doch wie ein Vater für Widar, und so nannte er ihn auch.
Andri machte eine heftige, auffordernde Geste mit seiner Hand, still zu sein. Er sah die Gefahr nicht kommen. Das Wetter konnte sich hier im äußersten Norden Norwegens schnell ändern. Auch das entfernte Donnergrollen schien ihm normal zu sein. Er erwartete gebannt die Heimkehr Björns, seines letzten gebliebenen Sohnes.
Die beiden Schiffe näherten sich dem Dorf mit recht erstaunlichem Tempo. Ein Blitz zuckte vom Himmel und ließ die Segel des rechten Drachenschiffes lichterloh in Flammen aufleuchten. Die Frauen aus dem Dorf schrien auf, die Männer starrten paralysiert auf die Tragödie, die sich anbahnte.
Das rechte Drachenschiff stand in Flammen, orientierungslos schwenkte es erst nach rechts, dann nach links. Niemand im Dorf außer Widar bemerkte diese perfekte Inszenierung.


4 Warme Sonnenstrahlen weckten Widar. Seine linke Hand schmerzte und tat ihr übriges, ihn in die Realität zurückzuholen. Noch immer suppte Blut aus der frischen Wunde. Drei Finger hatte er bei Fenrirs Attacke verloren. Lediglich Daumen und kleiner Finger zeugten davon, dass dieser blutverkrustete Stumpf bis vor wenigen Stunden eine Hand war.
Die Lichtung kam ihm kleiner vor, als er sie noch von der Nacht in Erinnerung hatte. Eigentlich war es auch keine Lichtung, sondern eine Lücke im Wald. Eine alte Holzhütte, die außer einer Tür keine Fenster zu besitzen schien, stand wenige Meter vor ihm. Rings um die Hütte wuchsen Brombeersträucher. Das Dach war mit Moos bedeckt und die dunkelbraunen Holzplanken rotteten vor sich hin. Trotz des ausladenden äußerlichen Eindrucks strahlte sie eine angenehme, positive Wärme aus. Der Wald schien wenige Schritte von der Hütte entfernt einfach aufzuhören. Spärliches Gras und einige Felsbrocken bedeckten die Lücke.
Widar war übel. Er hatte eine Menge Blut verloren und seit Tagen nichts richtiges mehr gegessen. Aber er war in Sicherheit. Fenrir setzte ihm letzte Nacht zu, hatte ihn fast erwischt, aber er lebte noch. Einen kurzen Augenblick lang genoss er das Gefühl des Triumphs.
Er wusste, wen er in der Hütte antreffen würde. Er richtete sich auf, begutachtete nochmal seinen linken Armstumpf mit den zwei Fingern und betrat die alte Holzhütte.

5 „Hallo Widar. Schön, dass wir uns endlich kennen lernen.“, wurde Widar von der altbekannten Stimme begrüßt, als er die Tür hinter sich schloss. Die alten Holzdielen knarzten unter seinem Gewicht. In der Hütte war es dunkel, ein einziges, kleines Fenster an der linken Wand spendete kaum Licht. Widars Augen brauchten einige Momente, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.
Die Hütte machte einen größeren Eindruck, als sie von außen schien. Süßlicher Geruch von gebratenem Fleisch lag in der Luft. In die Wand auf der gegenüberliegenden Seite der Tür war ein Kamin eingebaut, der noch bis vor wenigen Augenblicken gebrannt haben musste. Das Holz glimmte leicht rötlich und über ihm hang ein Kessel. Links und rechts vom Kamin standen Regale mit allen möglichen Gläsern, die Gewürze und sonstiges Kochutensil beinhalteten. Auf der Fensterseite war mit Heu ein provisorischer Schlafplatz hergerichtet. Rechts von Widar stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Er war gedeckt mit zwei Tellern, auf denen zartes, saftiges Fleisch dampfte. Ran stand hinter dem Tisch.
Für eine Riesin ist sie echt klein, dachte sich Widar. Sie schien seine Gedanken gelesen zu haben und lächelte. Ihr Gesicht war mit Falten übersät und ihr langes, krauses Haar glänzte rötlich. Über einer schneeweißen Bluse trug sie ein langes, schwarzes Kleid, bestickt mit verschiedenen roten Mustern, die ihn an die seltsamen Runen vom Opferaltar erinnerten.
„Du hast viele Fragen, aber du hast auch seit Tagen nichts richtiges mehr gegessen, also setz dich.“, forderte sie ihn auf, „Nach dem Mahl werde ich dir deine Fragen beantworten.“
Beide setzten sich und aßen. Soweit er sich erinnern konnte, war eine Mahlzeit nie so köstlich wie diese. Es war Wildgulasch mit Zwiebeln, Pilzen und Preiselbeeren. Ran musterte ihn aufmerksam, sprach aber kein Wort.
Erschöpft von den ganzen Strapazen des Vortags und mit gesättigtem Magen stand Widar wie in Trance auf, begab sich zum Schlafplatz und legte sich auf das Heu. Er begann sofort zu Träumen.

6 Widar fliegt durch Schwärze. Nichts ist vor ihm, kein Licht, keine Gefühle, keine Wärme, keine Kälte, nur ewige Finsternis, frei von allem Empfinden. Die Schwärze ist allumfassend, erstreckt sich bis in die unendlichen Weiten seiner Seele. Widar versucht sich zu erinnern. Wo kommt er her? Wer ist er? Er kennt seinen Vater nicht und seine Mutter verschwand, als er noch ein Baby war. Er hatte sie noch einmal gesehen, doch die Erinnerung daran verschwimmt, als er sie greifen will. Er wuchs bei seinem Onkel Andri auf einem Bauernhof auf. Seinem Onkel war es vergönnt, ein mächtiger Wikingeranführer zu werden, erbte er doch früh den Bauernhof seiner Eltern. Eine Fügung des Schicksals war es gewesen, dass Widar den verwehrten Weg Andris einschlagen konnte. Er hatte viele Länder gesehen, nicht immer waren es Raubzüge. Oft trieben sie einfach nur Handel, wie in Miklagard, einer gewaltigen Stadt im Süden zwischen zwei Kontinenten. Er trat die Reise nach Miklagard in schwedischer Gefangenschaft an, als Rudersklave. Zurück kam er als stolzer Wikingeranführer. Er fliegt weiter.
Plötzlich entdeckt er etwas vor sich. Es ist zunächst nur ein winziger Punkt, aber je näher Widar kommt, desto größer wird der Punkt. Er leuchtet rot und warm, er kommt näher. Die Wärme breitet sich in Widar aus, weckt angenehme Gefühle. Er denkt wieder an seine Mutter. Er hatte sie noch einmal gesehen, das weiß er. Sie hatte ihm bei dieser letzten Begegnung etwas Wichtiges mit auf den Weg gegeben, aber er kann sich nicht mehr daran erinnern. Es waren die letzten Atemzüge seiner Mutter, doch die Erinnerung daran ist verschlossen. Widar weiß, dass er eines Tages den Schlüssel zu dieser einen Erinnerung finden wird.
„Das ist Feuerheim.“, dringt Rans Stimme an sein Ohr. Widar fliegt weiter, Feuerheim kommt näher. Aus der Wärme wird Hitze, Schweißperlen tropfen von Widars Stirn. Er fliegt weiter. Berge, aus denen flüssige Lava quillt, kann er erkennen. Die Rinnsäle voll Lava bilden ein Netz von kleinen Äderchen, die sich zu größeren Venen verbinden und schließlich in einem breiten Strom, der sich im Nichts verliert, enden. Die Hitze wird allmählich unerträglich, Widar fühlt sich wie in einer Sauna. Er fliegt weiter. Funken stieben aus der Lava. Widar wird Zeuge, wie sich aus den Funken Sonne, Mond und Sterne bilden. Sowohl die Sonne, als auch der Mond und die Sterne schwimmen mit der Lava, langsam, aber unaufhaltsam, dem Nichts entgegen. Bevor Widar verbrennt, verlässt er Feuerheim und fliegt in die entgegengesetzte Richtung.
Die Temperatur sinkt, es ist wieder erträglich. Widar fliegt weiter, zurück in die Dunkelheit. Die Wärme streift er ab, so wie jedes Gefühl an Feuerheim. Es bleibt die Erinnerung an ein flammendes Inferno, das trotz seiner feindlichen Hitze ein Ort ist, der Leben erschafft.
Widar entdeckt einen neuen Punkt aus der Ferne näher kommen. Dieser leuchtet weiß. Widar fliegt weiter, es wird kälter. Erneut muss er an seine Mutter denken. War sie nicht schon tot, als er sie das letzte mal sah? Ein kalter Schauer läuft ihm über seinen Rücken. Er denkt an seine letzte Fahrt, seine Männer. Er denkt an alle seine Raubzüge, an all die Toten. Mutige Männer, aber auch unschuldige Frauen, denen er mit seinem Schwert den Lebensfaden durchtrennte.
„Das ist Eisheim.“, erklärt ihm Rans Stimme. Widar erkennt schneebedeckte Berge. Er fliegt weiter, fängt an zu frieren. Die Täler zwischen den Bergen sind mit Eis bedeckt, kilometerdicken Eisschichten. Widar fliegt weiter. An seinem Bart setzen sich Eiskristalle ab, sein Atem gefriert. Er entdeckt eine Quelle auf dem höchsten Berg. Ein eisiger Fluss bahnt sich seinen Weg den Berg hinunter, spaltet sich auf. Er erkennt jetzt, dass es elf Täler sind, die von der Quelle genährt werden und sich in alle Himmelsrichtungen zwischen den Bergen ausbreiten.
„Dies sind die elf Flüsse des Eliwagar.“
Widar fliegt weiter und folgt einem der Eisströme, bevor er erfriert. Er lässt Eisheim hinter sich, die Temperatur steigt. Eis wandelt sich in Wasser und fließt einem Abgrund entgegen. Der Abgrund ist gigantisch. Die große Christenstadt aus dem Süden – Widar hatte sie einmal gesehen – würde mehrfach hineinpassen. An seinem Rand stürzen sich elf riesige Wasserfälle in die Tiefe.
„Das ist Ginnungagap, alle elf Flüsse des Eliwagar enden in ihm.“
Widar fliegt weiter, bis zu dem Rand des Abgrunds. Er schaut hinunter. Die Wasserfälle verlieren sich kilometerweit unter ihm in einem schäumenden Meer.
Wie aus dem Nichts taucht eine Gestalt auf, ein Riese, bekleidet nur mit einer einfachen, braunen Stoffhose. Sein Oberkörper wirkt athletisch, strahlt pure Kraft aus. Nichts als das Böse blitzt in seinen Augen. Von seinem Gesicht hängt ein mannshoher Bart bis in Brusthöhe. Ein rot glühendes Schwert hält er mit seiner rechten Hand bedrohlich in die Höhe. Widar erstarrt vor Angst. Er kann sich nicht mehr bewegen, seine Gedanken kreisen wild umher. Spürte er nur Panik bei der Begegnung mit Fenrir, ist die Furcht vor diesem Riesen eine, die man nicht in Worte fassen kann. Der Riese holt mit seiner rechten Hand aus, schneidet mit seinem Schwert durch die Leere. Eine gewaltige Feuerkugel schießt den Abgrund hinunter in das schäumende Meer. Als sie das Wasser berührt, scheint alles um Widar in einer gewaltigen Explosion zu enden.


7 Widar erwachte aus seinem Traum, der nicht wirklich einer war. Von draußen hörte er Vögel zwitschern. Dem Stand der Sonne zufolge – sofern er es durch das kleine Fenster deuten konnte – musste es bereits später Nachmittag sein. Ran saß noch immer auf dem selben Stuhl und machte eine einladende Geste, sich zu ihr an den Tisch zu gesellen.
„Was war das für ein Traum?“
„Dies war kein Traum. Es war eine Vision vom Beginn unser aller Welten. Surt war schon damals mächtig. Einer Torheit seinerseits haben wir es zu verdanken, dass wir sind, wer wir sind.“, begann Ran, „Er war schon immer da. Als Eliwagar seine Frucht des Lebens in die unendliche Leere ausbreitete, wollte er es stoppen. Sein Feuer aber war es, das noch fehlte, um Ymir zu erwecken.“
„Wer ist Ymir?“, fragte Widar.
„Ymir hatte sechs Köpfe. Er war der erste Reifriese und Vater sowie Mutter zugleich für alle anderen Reifriesen dieser Welt. Ymir war, entfacht durch Surts Feuer, böse. Als er schlief, entwuchs aus seinen Achselhöhlen ein Sohn und eine Tochter. Wir wissen nicht mehr, wie sie hießen, aber sie zeugten ebenfalls einen Sohn, Bergelmir. Bergelmir und seine Frau waren die einzigen Überlebenden des Blutstroms.“
„Blutstrom?“
„Ja, der erste Krieg zwischen den Göttern und den Riesen. Die Götter erschlugen fast alle Riesen. Die, die überlebten kamen im Blutstrom um. Als Odin Ymir tötete, formten die Götter aus Ymir die Welt, wie wir sie heute kennen. Ymirs Blut überschwemmte alles. Aus dem Blut formten sich die Meere, die du auch heute noch befährst.“
Ran stand auf, ging zum Kamin und tauschte den Kessel mit einer Teekanne aus. Links neben dem Kamin lagen ein paar Zündhölzer. Ran nahm eins und entfachte damit das Feuer. Angenehme Wärme erfüllte sofort die alte Holzhütte, das unregelmäßige Knistern weckte heimische Gefühle in Widar und er musste sofort an seine Mutter denken. Er wartete, bis sich Ran wieder gesetzt hatte, bevor er seine nächste Frage stellte.
„Was ist mit meiner Mutter?“
„Das wirst du noch früh genug erfahren, mehr kann ich dir leider nicht sagen. Aber alle deine Fragen zu deiner Mutter wirst du beantwortet bekommen.“
Widar war sichtlich enttäuscht, hatte er sich doch erhofft, mehr über seine Mutter zu erfahren, zumal er in letzter Zeit wieder öfter an sie denken musste. Ran lächelte ihn an. Ihr Lächeln war echt und ermunterte ihn. Er wusste, dass er nahe dran war, dieses Geheimnis endlich zu lüften.
Rans Gesicht verfinsterte sich. Sie blickte voll Sorge durch Widar hindurch.
„Hüte dich vor Surt, Widar. Er ist hinter dir her. Er und Muspells Söhne sind auf dem mächtigen Schiff Nagelfar in deiner Welt aufgebrochen, um dich zu suchen. Sie hatten dich bereits entdeckt und sind deiner Fährte gefolgt. Wir mussten es so aussehen lassen, als seist du ertrunken.“
„Wer ist Wir?“
„Thor, dein Vater Odin und ich.“
Widar schaute ungläubig. „Mein Vater ist Odin?“, er konnte und wollte es nicht glauben. Er hatte nie erfahren, wer sein Vater war, und Ran schien fast beiläufig zu erwähnen, sein Vater sei Odin gewesen. Seine Nackenhaare bäumten sich auf, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, Adrenalin schoss durch seinen Körper und sein Herz raste. Widar stand kurz davor, in einen Schock zu verfallen.
Er erinnerte sich an die Geschichten aus seiner Heimat, die er von den Dorfältesten gehört hatte, als er noch ein kleines Kind war. Sie erzählten von einem Menschensohn Odins und dem Beginn Ragnaröks, dem Untergang der Welt.
„Ja, du bist der menschliche Sohn Odins, von dir wird das Schicksal Mittelheims und aller anderen Welten abhängen.“, fuhr Ran fort, „Aber hattest du es nicht schon immer gewusst?“
Jetzt, wo es Ran erwähnte, fügte sich das Puzzle für Widar zusammen. Ja, er hatte es immer gewusst, dass er anders war. Tief in seinem Innersten hatte er es immer gewusst. Er war reifer als gleichaltrige Kinder. Er kannte keinen, der es bereits so früh wie er zu einem mächtigen Wikingeranführer geschafft hatte. Er spürte wichtige Ereignisse kommen und wusste bereits im Vorfeld das Ergebnis wichtiger Entscheidungen. Er hatte diesen sogenannten sechsten Sinn, der ihm unter anderem in Miklagard das Leben rettete.
Das Wasser in der Teekanne fing an zu kochen. Ran stand auf und bereitete zwei Tassen zu. Es war ein seltsames Gebräu von tiefroter Farbe und bitterem Geschmack. Widar hatte noch nie solch einen Tee getrunken, meinte aber, sich erinnern zu können, von solch einem Tee schon einmal in Miklagard gehört zu haben.
Wieder einmal las Ran seine Gedanken: „Du irrst, Widar. In der Großen Stadt hattest du Schwarzen Tee getrunken, er war gesüßt mit Honig und eine andere Sorte, als ich dir anzubieten habe. Aber an die Große Stadt erinnerst du dich gerne zurück, nehme ich an?“
Es war eine rhetorische Frage. Ohne Zweifel erinnerte sich Widar gerne zurück. Er war als Sklave nach Miklagard gekommen. Dort traf er das erste mal seinen Bruder Eirik und nach zwei Jahren in dieser Stadt kehrte er als Wikingeranführer in seine Heimat zurück.
„Was ist mit der Sonne und dem Mond?“
„Später, Widar, später. Du bist erschöpft und solltest ruhen.“, befahl ihm Ran. Erneut stand Widar wie unter Hypnose auf und begab sich zu seiner Schlafstelle.

8 Widar befindet sich wieder am Abgrund. Eliwagar ist versiegt. Der Abgrund ist nicht mehr gefüllt mit Wasser, eine üppige Graslandschaft durchzieht jetzt Ginnungagap. Hier und da ragen Felsbrocken in die Höhe. Sie glänzen weiß, wie Kristalle, aber Widar ist zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen. Er entschließt sich zu springen.
Widar springt tief, der Fall dauert lange, er wird immer schneller. Er entdeckt den schlafenden Ymir. Und er entdeckt eine Kuh, sie leckt an einem der Steine. Irgendetwas befindet sich in dem Stein, es sieht aus wie ein Mensch oder ein Riese, zumindest ist diese im Stein eingeschlossene Gestalt kleiner als Ymir.
Widar fällt noch immer, hat den Boden noch lange nicht erreicht. Nach und nach erkennt er mehr.Die Felsbrocken sind riesige Salzkristalle. Die Kuh leckt an dem Kristall mit der eingeschlossenen Gestalt, sie leckt sie frei. Die Haare der eindeutig männlichen Gestalt ragen bereits aus dem Salzkristall heraus.
Hier und da erkennt Widar weitere Riesen, die scheinbar ziellos umherirren. Sie sind eindeutig Nachkommen Ymirs.
Der Boden kommt näher, zu nahe.


9 Kurz vor dem Aufprall erwachte Widar. Wolfsgeheul dröhnte bedrohlich von draußen herein. Es war bereits dunkel geworden und Ran war offensichtlich nicht in der Hütte. Widar stand auf und tastete sich behutsam zur Tür. Sein Innerstes schrie vor Anspannung. Er sollte in der Hütte bleiben, nicht hinaustreten. Doch da war noch irgendetwas in ihm, was ihn zwang, die Tür zu öffnen und ins Freie zu gehen.
Er öffnete die Tür und schritt auf die Lichtung. Der Vollmond spendete genug Licht, um die paar Meter bis zum Wald zu überblicken. Es war still geworden, selbst der Wind schien den Atem anzuhalten. Widar wusste, dass Fenrir nicht weit entfernt sein konnte, er spürte ihn.
Langsam und leise bewegte sich Widar an den Waldrand. Er hatte eine ungefähre Ahnung, in welcher Richtung er Fenrir finden würde. Kurz hielt er inne und überlegte sich, nochmal zur Hütte zurückzukehren, um irgendetwas, was man als Waffe gebrauchen könnte, mitzunehmen, entschied sich dann aber doch dagegen. Diese Nacht würde ihm der Wolf nichts tun, das spürte er.
Er betrat den Wald.
Bereits nach wenigen Schritten drang kaum noch Mondlicht durch das Dickicht. Er hatte Mühe, sich durch die von spitzen Nadeln übersäten Äste zu kämpfen und fragte sich ernsthaft, wie er es die letzte Nacht überhaupt geschafft hatte, dabei noch zu rennen. Erst jetzt fiel im auf, dass es nicht der selbe Weg war. Letzte Nacht war der Weg eben und trotz aller Hindernisse schien er noch regelmäßig benutzt zu werden. Dieser Weg aber ging leicht bergauf und war schon lange in Vergessenheit geraten.
Widar kämpfte sich weiter. Die spitzen Nadeln zerkratzten sein Gesicht. Er war jetzt vielleicht hundert Meter von der alten Holzhütte entfernt, doch noch immer gab es kein Zeichen von Fenrir. Auch die Stille schien absolut, abgesehen von den unter Widars Schritten brechenden Ästen und denen, die sein Gesicht streiften. Es war nach wie vor Windstill und auch der Wolf hatte nicht noch einmal aufgeheult.
Vielleicht war es eine Falle? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Bisher konnte sich Widar immer auf seine Instinkte verlassen. Andererseits galt dies aber nur für seine Welt. Er hielt kurz inne und konzentrierte sich auf die Schwärze vor sich. Er konnte absolut nichts erkennen. Das Dickicht der Äste wucherte zu wild und zu dicht. Selbst bei Tageslicht musste es unmöglich sein, weiter als ein paar Meter zu blicken.
Widar wollte bereits aufgeben und zur Hütte zurückkehren, als das Heulen des Wolfes erneut an seine Ohren drang. Es klang näher, er war auf dem richtigen Weg. Aber da lag noch etwas in dem Heulen. War es Schmerz? War es Verzweiflung? Es war das Wehklagen eines uralten Geschöpfes, das sich seiner Sterblichkeit bewusst wurde und sein nahendes Ende kommen sah.
Bestätigt, auf dem richtigen Weg zu sein, aber auch voller Angst, dass es sich doch um eine Falle handeln könnte, tastete sich Widar weiter durch den dichten Wald. Es waren nur noch wenige Schritte, da versperrte eine Felswand seinen Weg. Er inspizierte die Wand und erkannte, dass sie nicht allzu hoch sein konnte. Das Mondlicht drang bis zum oberen Ende, das vom Boden etwa vier Meter in die Höhe ragte. Langsam und nach geeigneten Halten suchend kletterte er die Wand empor.
Er kletterte soweit, dass er über den Rand blicken konnte und machte noch zwei Schritte zur Seite, bis er einen geeigneten Halt fand, um über den Rand zu schauen, ohne Gefahr zu laufen, durch eine Unachtsamkeit aus dem Gleichgewicht zu geraten und in die Tiefe zu fallen.
Eine kleine, steinige Ebene bot sich seinen Augen, bevor die Felsen erneut in die Höhe schossen. Nichts schien auf dieser Ebene zu wachsen, nicht einmal Moos oder einfachste Gräser. Widar hob sich den letzten Absatz empor, stemmte sich in die Höhe und schaute sich am Rand dieser winzigen Einöde noch einmal genauer um. Er entdeckte eine Höhle nicht weit entfernt. Auf leisen Sohlen schlich er näher an sie heran, bis er Einzelheiten aus ihrem Inneren erkennen konnte. Am Rand der Höhle blieb er stehen und spähte hinein. Er sah Fenrir, der mit einem winzigen Faden an seinen vier Pfoten gefesselt war. Es war kein normaler Faden, das erkannte er. Der Faden musste härter als Eisen sein und hielt Fenrir in Schach. Der Wolf starrte teilnahmslos in die Leere.
„Du solltest nicht hier sein!“, herrschte Ran Widar an.
Ran trat aus einer dunklen Ecke der Höhle hervor. Voll Mitleid schaute sie auf den Wolf. „Geh jetzt. Fenrir wird dir im Moment nichts tun.“

10 Die Sonne weckte Widar. Die Sonnenstrahlen fielen durch das kleine Fenster direkt auf Widars Gesicht. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie er wieder in die alte Holzhütte gekommen war. Ran war nicht in der Hütte, doch Widar hörte Geräusche von draußen. Den Schlaf aus seinem Gesicht reibend, stand er auf und ging zur Tür hinaus. Die kleine Lichtung erstrahlte wie an einem warmen Frühlingsmorgen.
Ran pflückte Brombeeren in einen kleinen Bastkorb. „Du hättest nicht zu der Höhle gehen sollen.“, tadelte sie Widar, ohne sich die Mühe zu machen, sich zu ihm umzudrehen oder gar ihre Tätigkeit zu unterbrechen.
„Was hast du mit Fenrir zu tun?“ Widar legte ein wenig zu viel Feindseligkeit in seine Worte und bereute dies schon in dem Moment, als er sie aussprach.
„Urteile nicht zu früh, Widar. Fenrir ist der Sohn meiner Schwester Angurboda.“, fing Ran an, zu erklären. „Loki verführte sie einst und zeugte mit ihr einen Sohn, Fenrir den Wolf, und zwei Töchter, Jörmungand – in deiner Welt besser bekannt als die Midgardschlange – und Hel, die Göttin des Totenreiches.“
Widar dachte einen Moment über die Worte nach. Blut ist dicker als jede Feindschaft, dachte er sich. Aber Ran selbst war ja auch eine Riesin und damit Feind der Götter.
„Da hast du vollkommen recht.“, stimmte Ran zu.
Warum sprach er überhaupt, wenn sie doch seine Gedanken lesen kann, fragte sich Widar. Ran lächelte verschmitzt.
„Aber bedenke: Nicht alle Riesen sind schlecht und nicht alle Götter gut. Es war der Ase Loki, der Zwietracht brachte und Wolf und Schlange zeugte. Wer hätte es damals wissen können, dass gerade Loki, Odins engster Begleiter und Weggefährte, ihn verraten würde und die Saat für den neuerlichen Krieg zwischen Göttern und Riesen streute? Auch haben nicht wir diesen Krieg begonnen. Es war Thor, der mit dem Blutvergießen begann.“
Ran hielt kurz inne. Sie blickte in den blauen Himmel, als suche sie nach irgendetwas. Keine einzige Wolke war zu sehen. Sie legte das Bastkörbchen zur Seite und fuhr fort: „Zeiten ändern sich und auch Feinde werden zu Verbündeten und Freunde zu Feinden. Nagelfar hat seine Segel gesetzt, die Zeichen stehen schlecht. Ragnarök hat begonnen und nichts wird mehr sein, wie es war, weder hier noch andernorts. Sowohl die Asen als auch wir sind uns unserer Sterblichkeit bewusst geworden. Wenn man seit Äonen auf dieser Welt weilt, verliert man jegliches Gefühl oder Mitleid zu euch Sterblichen. Jetzt wissen wir, dass auch wir nicht ewig sein werden. Gerade für die Götter war es eine schmerzliche Erfahrung, als Hödur – von Loki angestiftet – Odins Sohn Balder tötete. Balder weilt jetzt in Hels Reich. Du wirst deinem Halbbruder noch begegnen – aber nicht als Toter.“
Wieder eine kleine Pause, dann machte Ran eine einladende Geste mit ihrer Hand Richtung Hütte: „Aber jetzt komm rein, ich weiß, du hast noch viele unbeantwortete Fragen.“
Widar folgte Ran in die Hütte. Beide setzten sich an den Tisch, um ihr Palaver fortzuführen. Ran verzichtete dieses mal darauf, das Feuer zu entzünden, um Tee oder Essen zuzubereiten.
„Du hast in deinen Visionen gesehen, wer der Urahn der Riesen war. Es war Ymir. Er war nur etwas älter als Buri, der Großvater Odins. Er war es, den die Kuh Audhumla aus dem Salzkristall leckte.“
„Wie kam es, dass Götter und Riesen zu Feinden wurden?“, fragte Widar.
„Ymir trug Surts Feuer in sich. Er war von Anfang an gegen Buri. Beide gingen sich zwar meist aus dem Weg, aber Buris Enkel – Odin, Vili und Vé – hatten irgendwann genug von dem ständigen Streit. Du musst wissen, damals waren die Asen in der Unterzahl, derer gab es nur die drei, während schon dutzende Riesen in Ginnungagap lebten. Die drei töteten einen Riesen nach dem anderen und irgendwann kam es zum Kampf zwischen Ymir und Odin. Odin erschlug Ymir und ganz Ginnungagap wurde von Ymirs Blut überflutet – der große Blutstrom. Einzig Bergelmir und seine Frau überlebten von den Riesen und flüchteten nach Jötunheim. Aus Ymir formten Odin, Vili und Vé deine Welt, Mittelheim. Aus dem Blut erschufen sie die Meere, aus dem Fleisch die Erde, aus den Knochen die Berge, aus den Zähnen Steine und Felsen und aus seinen Haaren die Bäume.“
„Was ist mit Vili und Vé? Ich habe noch nie von beiden gehört.“, unterbrach Widar.
„Sie sind spurlos verschwunden, nachdem sie mit ihrem Bruder Odin die Welt erschaffen hatten. Niemand weiß, was mit ihnen geschehen ist. Einige sind der Meinung, Odin hätte sie getötet, um für sich allein den Rang des Königs unter den Göttern zu beanspruchen.“
„Und was passierte mit der Sonne und dem Mond, als sie in dem Lavastrom dem Nichts entgegentrieben?“
„Dies, mein Lieber, kann ich dir leider nicht sagen.“, wich Ran aus.
Widar fragte sich, was der Grund dafür war.
„Das wirst du noch früh genug erfahren.“, Ran lächelte ihn ein wenig verzweifelt an.
Widar war etwas enttäuscht. Einerseits versprach Ran ihm, seine Fragen zu beantworten, andererseits vertröstete sie ihn.
„Ich weiß, diese Frage ist dir wichtig. Schau in dein Innerstes. Was fühlst du, wenn du an Sonne, Mond und Sterne denkst, wie sie dem Nichts entgegenströmen?“
Widar fühlte nichts als eine verschwommene Mischung aus Angst, Leere und Untergang, aber auch Hoffnung, Licht und neuem Mut. Er konnte diese Gefühle nicht so recht einordnen.
„Die Zukunft all unserer Welten liegt bei dir, aber auch die Vergangenheit liegt in deinen Händen, Widar!“
„Warum gerade bei mir?“
„Weil du Odins Sohn bist!“, antwortete Ran etwas barsch auf seine naive Frage.
Ran mochte noch so alt und wissend sein. Umso schwerer fiel es ihr aber, sich in einen Menschen zu versetzen, dessen Leben zu kurz ist, um wirkliche Weisheit zu erfahren. Wie sollte sie auch wissen, dass Widar seine Gefühle nicht richtig deuten konnte, trotzdem er der Sohn des Weisesten aller Götter ist? Dass er es ist, der nicht nur das Schicksal aller neun Welten entscheidet, sondern auch, ob es überhaupt zu solch einer Blüte kommt, wenn er in Feuerheim versagt und die Gestirne in das Nichts stürzen?
Widar dachte einige Augenblicke nach. Er konnte es noch immer nicht so recht glauben, dass er der Sohn Odins ist, trotz aller Indizien.
„Was ist mit Surt? Wer ist er? Wo kommt er her?“
„Surt war schon immer da. Er ist das Böse schlechthin, auch wenn wir es ihm zu verdanken haben, dass es uns alle gibt – Riesen, Götter, Menschen, Alben, Zwerge, Trolle, Pflanzen und Tiere. Du erinnerst dich an die Kuh Audhumla? Auch sie war eine Schöpfung Surts. Wo er herkommt, weiß nur er selbst. Widar, du musst wissen, es gibt Welten jenseits unserer neun Welten. Es gab Tore in diese anderen Welten, doch sie sind schon so lange verschlossen, wie es Surt gibt. Ob sie sich jemals wieder öffnen, weiß selbst Surt nicht. Du solltest auch wissen, Surt war nicht immer Böse. Auch er kann ein gutes Herz haben. Aber die verflossenen Erinnerungen an andere Welten, die ihn regelmäßig in Albträumen heimsuchen, machten ihn zu dem, der er jetzt ist.“
„Andere Welten?“, Widar konnte sich nicht wirklich vorstellen, was Ran damit meinte.
„Ja, es gibt sie. Eisheim und Feuerheim sind Zeugen dieser Welten. Als du sie gesehen hast, fühltest du dich nicht eher Feuerheim hingezogen, obwohl es das Reich Surts ist? Niemand kennt die Wesen, die Eisheim erschufen. Oder hast du dich nicht immer gefragt, warum die Menschen im Süden andere Götter verehren, dass sie nur einen einzigen Gott besitzen, egal, ob sie ihn nun Allah, Jahwe oder Jehova nennen? Und hast du dich nicht damals in der Großen Stadt, Miklagard, gefragt, warum Menschen einen Krieg beginnen, nur weil sie an den selben Gott glauben, ihn aber anders nennen? Widar, diese Menschen sind nicht schlechter oder besser als du. Aber sie alle sind vergiftet von Surts Albträumen. Sie verleugnen nicht nur die Asen- und Wanengötter, auch uns Riesen verleugnen sie. Sie haben Visionen von Surts Erinnerungen gehabt und glauben nun, Surt sei ihr Gott. Auch sie hatten früher deinen Vater verehrt, nannten ihn nur anders: Wodan, Zeus, Jupiter, Ra, Anu, Marduk, Assur, um nur ein paar Namen zu nennen.“
Ran legte eine kurze Atempause ein, um ihre Worte bei Widar wirken zu lassen, zudem betrafen ihre nächsten Worte Widar direkt. Sie wollte nicht, dass er noch über das zuvor Gesagte nachdenkt.
„Und eines ist wichtig für dich, Widar. Du wirst sehr bald in deiner Welt auf ein Volk treffen, das kennt keine Götter, das kennt nur Geister. Dies ist aber einerlei, Götter wandeln als Geister in deiner Welt, es ist das Gleiche. Sie werden dir feindselig begegnen, doch sie sind das letzte Volk, das noch nicht von Surt vergiftet wurde. Du musst ihre Herzen gewinnen. Handle klug und sie zeigen dir den Weg nach Thule. Dort wirst du das Geheimnis deiner Mutter lüften und dort wirst du deinen Vater treffen.“
In Widar keimte Hoffnung, dass er bald endlich wissen würde, was ihm seine Mutter in seiner Erinnerung gesagt hatte, die ihm verwehrt blieb – dass er endlich Klarheit bekommen würde über diesen schwarzen Fleck in seiner Seele, der sich ihm nicht öffnete, so sehr er sich auch anstrengte. Diese Hoffnung verschwand rasch, als er das letzte Mal in seinem Leben Ran sah. Sie schaute ihn voller Sorge an. Ihr Gesicht drückte Verzweiflung aus, Bitterkeit, Ungewissheit, ob er der Aufgabe gewachsen war, die sein Schicksal ihm so unerbittlich zutrug.
Was er nicht wissen konnte, Ran verschwieg ihm etwas. Sie konnte es ihm nicht sagen – nicht jetzt, nicht hier, nicht irgendwo. Auch wenn es Odins dringlichste Bitte war, sie konnte es nicht. Das sollte sein Vater schön selber machen.


1. Milli ræðu (1. Zwischenrede)

Was gibt’s bei den Asen?
Was gibt’s bei den Alben?
Surt rastet nicht,
sucht Odins Sohn;
Segel setzend
braust er gen Süden.
Nagelfars Schatten
verdunkelt die Welt.

Im Reiche Rans
denkt Widar zu Ruhen.
Ratzeit kommt,
Weilzeit folgt.
Der Rater Schicksal
ist ungewiss;
Schatten rasen voraus -
wisst ihr noch mehr?

Wellen brechen,
Widar erwacht;
wie ein Traum
war die letzte Nacht:
Bei Thursen
fand er sich wieder;
fast tötete ihn
der Wolf.

Ohnmacht umhüllt
Ods Sohn;
das Opfer erbringt
die Riesin nicht.
Gen Westen geht
die Reise voran;
noch weiß er
sein Schicksal nicht.

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Tinlizzy
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Beitrag09.04.2014 16:00

von Tinlizzy
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Hallo,

tut mir leid, aber ich habe eigentlich gar keine Zeit, auf dein 1.Kapitel im Ganzen einzugehen. Ich hoffe, da hilft dir noch ein nettes Forumsmitglied weiter. Ich wollte eigentlich nur kurz in deine Geschichte reinschauen, bin aber gleich über dein Wikingerschiff gestolpert. Obgleich rein gar nichts vom Segeln verstehe, bin ich mir ganz sicher, dass die Wikinger in Langschiffen mit einem Segel unterwegs gewesen sind. Nenne mich ruhig einen Korinthenkacker, aber wieso holen die erfahrenen Seebären das Segel nicht ein, bevor der Sturm so richtig beginnt?  Ich würde es einholen, damit es nicht zerreißt und dadurch dürfte das Schiff auch leichter zu steuern. Ist das Segel bei einem so wilden Sturm futsch, müssen die Bengels sehr viel rudern. Außerdem, wie kompliziert kann es sein, ein Segel einzuholen?

Ich meine, dass ist jetzt mir beim Lesen aufgefallen und wenn mir das als wasserscheue Landratte auffällt, ist das nicht gut!!!
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marcel1982
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Beitrag09.04.2014 20:11

von marcel1982
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Hallo.

Eigentlich steht es an 2 Stellen, dass der Sturm plötzlich auftrat.

Ich sehe da also kein Problem.

LG, Marcel
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MosesBob
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Beitrag10.04.2014 09:57

von MosesBob
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Hallo marcel und herzlich willkommen im dsfo! smile

Das Eingangsszenario ist interessant und bietet reichlich Stoff für Spannung und Brisanz. Sei mir nicht bös, aber den Prolog habe ich übersprungen, weil er meinen sprachlichen Geschmack nicht trifft. Die Geschichte lässt sich flüssig lesen, das gefällt mir. Was mir weniger gefällt, ist der Hang zum Theatralischen. Beispiele: "Das Wasser gierte nach den Ertrinkenden" oder der allseits beliebte Klischee-Hammer: "... dafür war die See zu ruhig, fast schon zu ruhig". Schmunzeln musste ich über den gnadenlosen Hammer Thors, aber je nach Zielgruppe und Genre würde ich das durchwinken. Was mir hingegen wirklich zu denken gibt, ist die Atmosphäre, die du mit dem ersten Kapitel entrollst. Du schreibst sehr passiv, und trotz des Unwetters gelingt der Einstieg in deine Geschichte nur schleppend: Es kommt keine Spannung auf. Ich fühle mich nicht mitgerissen. Ich habe eine Theorie, woran das liegt. Da ist zum einen die passive Schreibweise. Ich werde nicht sofort in die Rolle einer bestimmten Person hineinverfrachtet, was es mir schwer macht, einen persönlichen Bezug zu finden. Klar ist das machbar. Man muss nicht gleich einen Protagonisten an die Hand bekommen, um mitfiebern und Atmosphäre atmen zu können. Doch gerade dieses Unwetter-Szenario lechzt meiner Meinung nach regelrecht danach. Ich stelle mir vor, in die Rolle einer Person zu schlüpfen, die unter zuckenden Blitzen und berstenden Masten über die regennassen Planken schlittert, vielleicht damit beflissen, eines der Segel einzuholen.

Ein zweiter Kritikpunkt ist die einheitliche Satzgestaltung gleich am Anfang. Schau mal:

marcel1982 hat Folgendes geschrieben:
Der hölzerne Drachenkopf wippte bedrohlich in den Wellen, tauchte ein in schäumendes Nass und schoss wenige Augenblicke später wieder in die Höhe. Der Wind peitschte und Regen ergoss sich wie aus reißenden Wasserfällen über das Schiff. Blitze zuckten durch den Nachthimmel und das Donnergrollen spielte seine unbarmherzige Melodie vom Ende der Welt. Die Männer hatten größte Mühe, die Segel einzuholen und die Dunkelheit setzte ihnen zusätzlich zu.
Sie waren vom Kurs abgekommen, das wusste Widar als er diesen Abend in den Sternenhimmel blickte, doch er konnte sich nicht erklären warum.

Ist zu erkennen, worauf ich hinausmöchte? Deine ersten Satzanfänge sind absolut identisch: Der Drachenkopf wippte, der Wind peitschte, Blitze zuckten, die Männer hatten, sie waren. Da fehlt die Agilität, die Abwechslung. Und dann kommt noch die Rückblende hinzu, die sich wie ein Fremdkörper ins Nest setzt. Das alles zusammen macht ein eigentlich vielversprechendes Eingangsszenario zu einer leider recht leblosen Aneinanderreihung von Geschehnissen. Bitte nicht missverstehen: Mir muss nicht gleich vor lauter Spannung die Mütze wegfliegen. Was ich mir wünsche und was ich hier vermisse, ist eine Erzählweise, die weniger dick aufträgt (auf mich wirkt das immer ein bisschen gespreizt und überschwänglich) und stattdessen mehr mit dem Tempo der Ereignisse verwächst.

Wie stellst du dir die Wirkung deines Einstiegs vor? Welche Stimmung möchtest du erzeugen?

Viele Grüße,

Martin


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Das Leben geht weiter – das tut es immer.
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Die letzte Stimme, die man hört, bevor die Welt untergeht, wird die eines Experten sein, der versichert, das sei technisch unmöglich.
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Der Weise lebt still inmitten der Welt, sein Herz ist ein offener Raum.
(Laotse)
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UtherPendragon
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Beitrag10.04.2014 10:51

von UtherPendragon
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Hallo Marcel!

Eigentlich ein interessantes Szenario.

Ich bin gerade mobil unterwegs und auf deinen Thread gestoßen, daher kann ich keine Detailkritik abgeben. Das Gedicht ist aus der Edda, oder?

Was mir aber neben den Segeln gleich negativ aufgefallen ist, ist der ins Wasser tauchende Drachenkopf. Wenn du dir die Konstruktion eines Langschiffs einmal näher zu Gemüte führst, wirst du feststellen, dass das komplette Abtauchen den Untergang des Schiffs bedeuten würde.

Und ob Wikinger wirklich mehrstöckige Häuser kannten? Ich denke, die gab es, aber der Vergleich ist trotzdem unglücklich.
Später vllt mehr
MfG
Uther Pendragon


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marcel1982
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Beitrag11.04.2014 02:44

von marcel1982
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Vielen Dank für die konstruktive Kritik.

LG,
Marcel

@UtherPendragon: Ja, der Prolog ist aus der Völuspa (Edda).
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marcel1982
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Beitrag23.04.2014 03:41

von marcel1982
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Vor allem nochmals vielen Dank an Martin.

Ich habe dem ersten Kapitel nochmal ein Kapitel voran gestellt, auch mit dem Zweck, dass der Leser sich besser in Widar rein versetzen kann.

Ich hatte leider die letzten Wochen zu viel auf Arbeit zu tun, so dass ich noch nicht ganz fertig bin, aber ein kleiner Vorgeschmack:

1
Widar hatte wieder geträumt. Wie jedes Mal konnte er sich nicht mehr wirklich an den Ausgang seines Traumes erinnern, dabei erschien er ihm so unsagbar wichtig. Aber so sehr er sich auch anstrengte, die Erinnerung war einfach nicht mehr da, obwohl er diesen Traum schon so oft hatte. Und genau deswegen war Widar hier.

Diesen Winter war das Boknafjord eisfrei gelieben, überhaupt hatte sich dieses Jahr der Winter in Nord-Jæren nicht blicken lassen. Lediglich die Berge im Osten waren von Schnee bedeckt. Überall entlang der Küste machten sich norwegische Wikinger, die teilweise weit angereist waren, bereit für Eroberungs-, Entdeckungs- aber auch Handelsfahrten. Die meisten Schiffe hatten ohne Zweifel die britische Insel als Ziel für ihre Raubzüge auserkoren. Aber da gab es noch die, die ihr Glück mit einem Neuanfang auf Island suchen wollten, sei es nun freiwillig oder weil das Þing entschieden hatte: Norwegen verlassen oder Tod. Und dann gab es noch die Abenteurer, die von einer neuen Insel im Westen erfuhren, einer äußerst grünen und fruchtbaren Insel namens Grönland. Unter den Abenteurern befand sich auch Widar.

Widar hatte mittlerweile sein fünfzigstes Lebensjahr erreicht. Tiefschwarzes, schulterlanges Haar bedeckte seinen Kopf, sein Gesicht war gezeichnet von Falten und einigen Narben und er trug für gewöhnlich einen recht ungepflegten Einwochenbart – Dreitagebart konnte man es nicht mehr nennen. Auch wenn er mittlerweile ein angesehener und mächtiger Wikinger war, so lag in seinem Gemüt doch kein Bisschen Überheblichkeit oder Arroganz, dafür hatte er zu viel erlebt. Der Durst nach Met war aber auch bei ihm stark ausgeprägt.

Auf dem Bauernhof seines Onkels war Widar aufgewachsen. Der Bauernhof war Teil eines kleinen Fischerdorfes, am Beisfjord gelegen. Weder seinen Vater, noch seine Mutter hatte Widar kennen gelernt. Das stimmte nicht ganz, seine Mutter hatte er einmal gesehen, im zarten Alter von sechs Jahren. Aber so sehr sich Widar auch anstrengte und sich an sie erinnern wollte, die Erinnerung an jenen Tag vor vierundvierzig Jahren war aus seinem Gedächtnis gelöscht und sie nagte so sehr an seinem Gewissen. Er litt viel und oft darunter. Da half ihm oft der Met, wenngleich der Trunk ihn nicht selten aggressiv machte.

Das britische Festland hatte Widar nie betreten, aber er war weiter gereist als die meisten seiner norwegischen Gefährten. Irland, Island, Normandie, Portugal, all das kannten auch die meisten anderen, erfahrenen Wikinger, aber in seiner Zeit als schwedischer Sklave verschlug es ihn gar bis nach Miklagard.

In Konstantinopel – wie Miklagard von den Byzantinern genannt wurde – traf er das erste Mal auf seinen Halbbruder Eirik. Zusammen mit ihm verteidigte er die Große Stadt gegen die Araber – fast alle seine Narben stammten aus jener Zeit. Für ihren Mut wurden beide mit der Freiheit belohnt und mit dem nächstbesten schwedischen Handelsschiff kehrten beide zurück nach Skandinavien. Während es den Draufgänger Eirik zurück nach Norwegen verschlug, blieb Widar im Dienste der Waräger und trieb zumeist Handel mit den slawischen Völkern entlang der Flüsse Wolga, Dnjepr, Don, Wolchow, Düna und Newa. Auch als Söldner für die Kiewer Rus machte er sich für einige Jahre einen Namen.

So recht glücklich war Widar in dieser Zeit nie gewesen, ihn drängte es aufs offene Meer, er wollte Abenteuer erleben. Nicht die Art von Abenteuer, die die meisten seiner norwegischen Landsleute befriedigte, indem sie britische Klöster oder Dörfer ausraubten, die Männer und Kinder töteten und die Frauen verschleppten. Nein, er wollte entdecken.

...

5
Am Schiff herrschte das reinste Chaos. Drei Männer der Crew lagen tot auf dem Deck, vom Schwert erschlagen. Die Wunden waren frisch und noch immer suppte Blut aus ihnen. Die restliche Crew versammelte sich an Land in großem Abstand zum Schiff um Ole. Auf dem Deck stand Lars – Widar meinte sich zu erinnern, dass sein Name Lars war – mit seinem Schwert in der Hand. Er schaute wild um sich, schnitt mit dem Schwert unkoordiniert durch die Luft. Sein Gesicht drückte keinerlei Gefühle oder Bewusstsein aus, er schien wie in Trance oder unter Hypnose. Aus mindestens einem Dutzend Wunden strömte Blut. Normalerweise müsste er tot sein, dachte sich Widar.

„Was ist passiert?“, Widar richtete seine Frage direkt an Ole.

„Ich wehß nicht. Wir waren gerade fertig mit dem Verstöhen des Proviants, da fiel Lars in Ohnmacht. Als er wieder öhfstand, griff er sofort die Männer um sich an. Dreh sind tot, aber er lebt noch immer! Ich habe ihm mehn Schwert direkt ins Herz gestoßen, aber er lebt! Glünklicherwehse ist er uns nicht vom Schiff herunter gefolgt.“ *

Widar zog sein Schwert und schritt entschlossen zu seinem Schiff. Lars hörte auf, wild mit seinem Schwert um sich zu schlagen und fixierte Widar mit seinen Augen.

„Keinen Schritt weiter, oder ich töte dich!“

Es war keine Drohung, dessen war sich Widar bewusst, und ihm war klar, dass es egal war, ob er weiter ging oder nicht, Lars wollte ihn töten.

„Was willst du?“, fragte Widar.

„Deinen Tod!“, Lars fiel in schallendes Gelächter, „Du Sohn einer Hure wirst mich nicht aufhalten! Dein Vater wird sterben! Alle werden sterben! Ich werde EUCH ALLE töten!“

Lars sprang vom Deck und hechtete zu Widar. Sein Schwert verfehlte Widars Ohr um Haaresbreite. Widar duckte sich, hob sein Schwert und wehrte im letzten Moment einen tödlichen Hieb gegen seine Kehle ab. Lars schien wie von Sinnen, er musste längst tot sein, betrachtete man seine Wunden. Statt dessen prasselten seine Schwerthiebe auf Widar. In geduckter Haltung, sein Schwert vor sich haltend, wich Widar Schritt für Schritt vor Lars zurück. Hätte er nur nicht so einen Schädel vom Vortag, dachte sich Widar.

Die Breitseite des Schwertes traf Widars Schläfe. Ihm wurde schwarz vor Augen, er taumelte, konnte sich nicht mehr halten und fiel der Länge nach auf den Boden. Lars setzte sofort nach und stieß mit seinem Schwert Richtung Widars Herz. Widar wehrte sich verzweifelt, hob mit letzter Kraft sein Schwert und gab dem Stoß im letzen Moment eine andere Richtung.

Ole erwachte endlich aus seiner Starre und kam Widar zur Hilfe. Hätte er noch einen Augenblick länger gezögert, wäre Widar von den Walküren nach Walhall geleitet worden und Ragnarök wäre entschieden. Mit seinem Schwert durchtrennte er den Unterleib von Lars.

Lars röchelte, spuckte Blut, und kippte nach hinten.

Widar konnte sich mühsam wieder aufrichten und trat vor den sterbenden Lars. Er empfand Mitleid mit ihm. Da war kein Hass, kein Zorn, nein, das konnte nicht Lars gewesen sein. Er hatte ihn nie wirklich kennen gelernt, aber er wusste, dass Lars ein aufrichtiger und ehrlicher Wikinger war. Für einen Wikinger besaß Lars sogar sehr viel Mitgefühl. Nie hatte er eine Frau auf einem Raubzug vergewaltigt, nie hatte er ein Leben hinterrücks ausgelöscht, er ließ seinem Gegner immer die Chance, sich zu wehren. Keinem Kind hatte er jemals die Kehle durchgeschnitten.

Der Blick in seinen Augen wurde wieder klar, in dem Moment, wo Lars starb. Mit seiner rechten Hand deutete er Widar, näher zu kommen.

Widar duckte sich über Lars, hielt sein Ohr direkt über seinen Mund. Mit seinem letzten Atemzug hauchte Lars Widar die Worte in sein Ohr: „Verzeih mir. Ich wollte dich nicht töten. Surt nahm Besitz von mir... wenn du ihn töten willst... nicht in dieser Welt... du musst... seine Welt... nur da ist er verwundbar.“

Lars hörte auf, zu atmen. Die Walküren warteten bereits auf ihn und begleiteten ihn nach Walhall. Bald würde er an Widars Seite kämpfen und dann würde er sich opfern, für Widar, für die Menschheit!


* Ole ist Schwede, daher ist die Sprache auch etwas entfremdet. Ich versuche dabei, so gut es geht, den unterschiedlichen Dialekt zwischen Ost- und Westnordisch auf Deutsch darzustellen.

Eine historische Kritik möchte ich vorneweg gleich mal entkräften: Der Roman spielt etwa um das Jahr 900/950 rum, da gab es keinen arabischen Feldzug gegen Konstantinopel. Es ist aber Fantasy, es kommen noch Alben, Zwerge, Trolle im weiteren Verlauf. Daher nahm ich mir die Freiheit, aus der (historisch wirklich stattfindenden) bulgarischen Belagerung eine arabische zu machen. Zudem benötige ich die Araber und den Islam noch im weiteren Verlauf.

LG,
Marcel
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UtherPendragon
Eselsohr
U


Beiträge: 402



U
Beitrag26.04.2014 14:23

von UtherPendragon
Antworten mit Zitat

Hallo Marcel!

Das ist wirklich cool. An manchen Stellen hätte ich schreibtechnisch Änderungen vorgenommen, wäre ich an deiner Stelle und die Selbstwahrnehmung der Wikinger hat noch eine Spur von historischer Naivität.

Dafür ist die Geschichte originell und konsequent umgesetzt. Ich würde weiterlesen.

LG
UtherP


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