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Die Kirschblüte


 
 
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Meg
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Alter: 33
Beiträge: 127
Wohnort: kleine Insel in der Karibik... *träum*


Beitrag03.12.2007 20:05
Die Kirschblüte
von Meg
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Okay, also das war mal wirklich ein Experiment. Wahrscheinlich sollte ich das besser nicht mal hier posten, wenn schon ich die Geschichte ziemlich merkwürdig finde, obwohl ich ja weiß, was ich mir dabei gedacht habe. Aber irgendwie will ich doch wissen, was andere davon halten...

Lautlos fiel die weiße Pracht auf das kleine Grab unter dem Kirschbaum und auf das noch kleinere Mädchen davor. Kirschblütenblätter bedeckten den winzigen Grabhügel, ein durchscheinender Schleier auf der schwarzen, frischen Erde. Elfenflügelgleich schwebten sie in getragenen Menuetten oder wirbelten wild und ausgelassen, Pirouetten aus weißer Seide, getanzt zu stummer Musik.
Das kleine Mädchen trug sein schönstes Kleid und eine Schleife in den lockigen Haaren. Fein gemacht, wie es sich für eine Beerdigung gehörte. Über seine sommersprossigen Wangen kullerten Tränen, die im hellgrünen Frühlingslicht des Baumes glitzerten wie flüssige Smaragde, und tropften auf seine gefalteten Händchen.
Eine einzelne Blüte saß vorwitzig auf seiner Nasenspitze, festgeklebt von einer verirrten Träne, und wartete darauf, dass der Wind sie zurück zu den anderen brachte. Doch der alte Knabe, der sie so oft geneckt hatte, ließ heute auf sich warten.
Träne um Träne tropfte auf den kleinen Erdhügel und keine einzige konnte den Kummer des kleinen Mädchens besänftigen. Mit jeder Träne wurde das Grab schwärzer.
Wie ein Windhauch drang plötzlich ein Wispern in seine Gedanken, ein helles kaum hörbares Stimmchen: „Was hast du denn, Kleines?“
Das Mädchen wischte sich überrascht eine Träne von der Wange und blickte suchend umher.
„Hier bin ich Kleines, auf deiner Nase!“, flüsterte das Stimmchen erneut. Ein wenig verdutzt schielte sie nach unten und tastete an ihrer Nase entlang, bis das Stimmchen protestierte: „Autsch! Erdrück mich doch nicht!“ Empört schüttelte die Kirschblüte ihre Blätter und Staubbeutel aus. Die geröteten Augen des Kindes waren zu großen, staunenden Wasserlachen geworden, aber wenigstens war der Tränenfluss versiegt. Als sie sich seiner Aufmerksamkeit sicher war, holte die Kirschblüte tief Luft und schrie aus voller Kehle: „Du brauchst nicht weinen, Kleines. Du kannst dir doch einen neuen Hund holen, einen süßen, tapsigen Welpen!“ Diese Worte lösten einen erneuten Sturzbach smaragd schillernder Tropfen aus. Das war nun nicht, was die kleine weiße Blüte beabsichtigte hatte. Sie wollte trocknen um zu den anderen zu gelangen, mit ihnen durch die sonnenflirrende Luft fliegen und Tango mit dem Frühling tanzen, nicht noch nasser und klebriger werden. Also versuchte sie es ein wenig anders. „Er war nicht einfach nur ein Hund für dich, oder?“, rief sie und versuchte trotz der Lautstärke taktvoll zu klingen. Das Mädchen schüttelte zaghaft den Kopf.
„Er war bestimmt ein wunderbarer Freund!“
„Mein bester“, flüsterte es kaum hörbar. Die Staubblätter der weißen Blüte auf seiner Nase wippten mitfühlend.
„Schau, Kleines“, wisperte das Stimmchen wieder, „das ist trotzdem kein Grund so verzweifelt zu sein. Nimm dir ein Beispiel an meinen Brüdern und Schwestern: Sie fallen dem Boden entgegen und doch schwirren sie ausgelassen umher und singen, als gäbe es kein Ende.“
„Du bist ja komisch“, schniefte das kleine Mädchen, aus dessen Augen schon etwas weniger Tränen kullerten, „sie singen doch überhaupt nicht!“
„Natürlich tun sie das“, widersprach die Blüte, „du hörst sie nur nicht. Unsere Stimmen sind zu leise für eure laute Welt.“
Verwundert neigte das Kind den Kopf zur Seite: „Aber ich kann dich doch hören.“
Als sie antwortete, schien die Stimme nachdenklich: „Nun ja, ich muss auch sehr laut schreien, damit du mich hörst. Aber es ist trotzdem verwunderlich... soviel ich weiß haben wir seit der Zeit der letzten Feen mit keinem menschenähnlichen Wesen mehr gesprochen.“
„Gibt es denn wirklich Feen?“ fragte das Mädchen und ein Glanz, der nicht von Tränen herrührte, mischte sich in seine traurigen Augen. „Erzählst du mir von ihnen?“
Hätte die Blüte einen Kopf gehabt, hätte sie ihn betrübt geschüttelt, doch so wedelte sie nur ein wenig mit ihren Blütenblättern. „Tut mir leid, Kleines. Die Letzten von ihnen sind schon vor Jahrhunderten verschwunden. Deshalb weiß ich auch nicht viel über sie.“
„Und warum konntet ihr mit den Feen reden, aber nicht mit Menschen?“ wunderte sich das kleine Mädchen. Die Antwort der Kirschblüte kam mit Verzögerung, so als müsse sie erst darüber nachdenken: „Das konnten sie nicht, normalerweise. Soweit ich weiß gab es nur wenige Ausnahmen. Einige der Feen hatten einen besonderen Bezug zu manchen Blüten, so eine Art Seelenverwandtschaft, und fanden einen Weg mit ihnen zu sprechen.“
„Heißt das“, fragte das Kind mit zaghaft strahlenden Augen, „dass wir auch Seelenverwandte sind? Heißt das, dass wir Freunde sind?“
Das Mädchen brauchte die Antwort der winzigen Kirschblüte auf seiner Nase nicht erst abzuwarten, um sie zu kennen, denn echte Freunde wissen, was der andere denkt, ohne es zu hören.
Die letzten Blüten des alten Baumes fielen sanft und lautlos auf das kleine Grab, aller Schwung und alle Lebensfreude waren von ihnen abgefallen, jetzt wo das Ende plötzlich so nah war. Doch noch immer war die Luft erfüllt von ihren Pollen und etwas des gelben Pulvers kitzelte das kleine Mädchen in der Nase. Und wie das Schicksal es wollte, kehrte gerade in dem Moment, als das Kind laut nieste, der Wind zurück und trug die weiße Blüte, gelöst vom Schwung des Niesers, davon, fort von der eben neugewonnen Freundin, mitten hinein ins Nirgendwo.
Fassungslos starrte das kleine Mädchen der Kirschblüte hinterher, versuchte noch, sie zu fangen. Erfolglos.
Ein leiser Schluchzer stahl sich über seine Lippen, dann noch einer. Jeder weitere Laut, der zu folgen versuchte, wurde schon im Ansatz von einem Schwall heißer Tränen erstickt. Von Verzweiflung geschüttelte rannte das Kind zurück ins Haus, durch die hallenden, leeren Gänge in sein Zimmer. Es warf sich auf sein Bett und weinte sich den Schmerz von der Seele, der doch nicht weniger werden wollte. Ganz allein lag es da, stundenlang, mit niemandem, der es tröstete. Kein weiches Fell, an das es sich schmiegen konnte, keine kalte Schnauze, die es liebevoll anstupste und keine warme Zunge, die die Tränen von seinem Gesicht schleckte. Nur eine winzige weiße Blüte klebte noch unbemerkt an der Fensterscheibe und beobachtete das Szenario, die Blütenblätter welk und traurig, und hätte sie Tränen gehabt, so hätte sie sicherlich auch geweint.



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Nihil
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Beitrag03.12.2007 22:47

von Nihil
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Hallo Meg!
Im Großen und Ganzen ist dir hier ein sehr gefühlvolles und sprachlich gutes Märchen gelungen. Als Leser fühlt man mit dem armen Mädchen wirklich mit, das gleich zwei schwere Abschiede in so kurzer Zeit hinnehmen musste. Nichts kann sie trösten, und diese Melancholie in einem Kinderherzen ist wirklich sehr anrührend.
Dennoch hat die Geschichte ein paar Schönheitsfehler, wie ich finde. Der Anfang ist mir metaphorisch ein wenig zu dick aufgetragen. Das ist wie mit Schminke. Ein wenig davon, kann Falten verschwinden lassen und den Teint verschönern, zu viel davon wirkt künstlich und unecht. Das zweite Problem hat deine Einleitung. Sie ist mit Bildern, Personifikationen und Vergleichen vollkommen überladen, deswegen sind diese Stilmittel gar nichts Besonderes mehr und stören nur. Ich habe mal alles markiert, was darin vorkommt.
Zitat:
Lautlos fiel die weiße Pracht auf das kleine Grab unter dem Kirschbaum und auf das noch kleinere Mädchen davor. Kirschblütenblätter bedeckten den winzigen Grabhügel, ein durchscheinender Schleier auf der schwarzen, frischen Erde. Elfenflügelgleich schwebten sie in getragenen Menuetten oder wirbelten wild und ausgelassen, Pirouetten aus weißer Seide, getanzt zu stummer Musik.
Das kleine Mädchen trug sein schönstes Kleid und eine Schleife in den lockigen Haaren. Fein gemacht, wie es sich für eine Beerdigung gehörte. Über seine sommersprossigen Wangen kullerten Tränen, die im hellgrünen Frühlingslicht des Baumes glitzerten wie flüssige Smaragde, und tropften auf seine gefalteten Händchen.
Eine einzelne Blüte saß vorwitzig auf seiner Nasenspitze, festgeklebt von einer verirrten Träne, und wartete darauf, dass der Wind sie zurück zu den anderen brachte. Doch der alte Knabe, der sie so oft geneckt hatte, ließ heute auf sich warten.
Träne um Träne tropfte auf den kleinen Erdhügel und keine einzige konnte den Kummer des kleinen Mädchens besänftigen. Mit jeder Träne wurde das Grab schwärzer.

Ich will gar nicht sagen, dass die Vergleiche und Bilder hier schlecht sind, aber die schiere Masse erdrückt. Vor allem der Vergleich in den letzten Zeilen, das mit jeder Träne schwärzer werdende Grab, halte ich für sehr gelungen. Anderes wiederum ist schief; so will mir beispielsweise der Vergleich mit dem frühlingsgrünen Licht des Baumes nicht recht passen. Außerdem fände ich es ganz reizvoll, wenn die Kirschblüten in einem wunderschönen Licht dargestellt würden, bei dem Mädchen aber von Anfang an nur die Melancholie und Trauer beschrieben wird. Das ist am Anfang alles zu blumig, die Trauer ist wie ein Krokuss unter einer Schneedecke versteckt, und selten hat jemand Lust, danach zu suchen.
Zitat:
Diese Worte lösten einen erneuten Sturzbach smaragd schillernder Tropfen aus. Das war nun nicht, was die kleine weiße Blüte beabsichtigte hatte. Sie wollte trocknen um zu den anderen zu gelangen, mit ihnen durch die sonnenflirrende Luft fliegen und Tango mit dem Frühling tanzen, nicht noch nasser und klebriger werden.

Hier haben wir zum einen wieder den "schiefen" Vergleich mit den Smaragden. Führ dir zum anderen mal vor Augen, wie egoistisch die Kirschblüte hier ist. Die interessiert sich kein bisschen für die Trauer des Mädchens! Damit kontrastiert der Schluss, ohne das erklärt wird, warum die Kirschblüte plötzlich mitleidig wird.
Zitat:
Nur eine winzige weiße Blüte klebte noch unbemerkt an der Fensterscheibe und beobachtete das Szenario, die Blütenblätter welk und traurig, und hätte sie Tränen gehabt, so hätte sie sicherlich auch geweint

An sich ist das hier wirklich berührend und tief, aber durch die Vorgeschichte und fehlende Entwickung, die auch in einem kurzen Märchen nicht fehlen darf, wirkt das auf mich leider recht flach.
Außerdem:
Zitat:
Das Mädchen brauchte die Antwort der winzigen Kirschblüte auf seiner Nase nicht erst abzuwarten, um sie zu kennen, denn echte Freunde wissen, was der andere denkt, ohne es zu hören.

Ich habe es so interpretiert, dass das Mädchen sich so innig einen neuen Freund wünscht, dass es gar nicht bemerkt, dass die Blüte sie in gewisser Weise nur ausnutzen will, bzw. schnell von ihr fort zu ihren richtigen Freunden möchte. Legt man es so aus, ist das eine unglaublich traurige und packende Stelle, die dir wirklich einzigartig gut gelungen ist! Sollte das aber ernst gemeint sein, gilt, was ich vorher schon geschrieben habe, umso mehr. Warum der plötzliche Wandel?
Im Übrigen kannst du dir den Absatz über die längst ausgestorbenen Feen sparen. Ein Vergleich reicht da, wie du es bereits im Absatz gemacht hast, aber die relativ lange Geschichte trägt gar nichts zur Geschichte selbst bei, was in einer kurzen Erzählung nicht geschickt ist.

Korrigiere die Mäkel und ich bin rund um zufrieden! Aber auch so ist das Märchen schon sehr gut gelungen, finde ich, auch wenn noch an einigen Stellen der Feinschliff fehlt.

- Ganymed
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Meg
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Beitrag05.12.2007 14:48

von Meg
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Oh Mann, danke, du hast mir echt geholfen. Immer wenn ich die Geschichte überarbeiten wollte, konnte ich nie genau sagen, was mich eigentlich stört. Aber jetzt wo du's sagst...  Wink Ich werd mich also sobald ich mal wieder etwas mehr Zeit hab (muss grad drei Monate Schule nachholen) dranmachen und der Welt zeigen, was der Kirschblüte so durch ihr kleines Köpfchen geht. Und auch das Make-up etwas dezenter machen...
lg, Meg


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Nihil
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Beitrag05.12.2007 16:47

von Nihil
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Hallo Meg!
Ich freue mich, dass meine Kritik dir geholfen hat und warte gespannt auf die überarbeitete Version! Die neue Version würde ich sogar meinem kleinen Neffen vorlesen, wenn ich ihn ins Bett bringe. ;)

- Ganymed
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Meg
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Beitrag05.12.2007 21:23

von Meg
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Ohhh... *dahinschmelz*... das war das süßeste Kompliment, das ich je für eine Geschichte gehört hab (vorallem, da sie ja noch gar nicht fertig is). Da muss ich mich ja wirklich anstrengen...  angel

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Beitrag14.12.2007 18:05

von Meg
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Sodala, hier wäre dann mal die überarbeitete Version. Ich hoffe, die Sichtweise der Kirschblütewird jetzt klarer. Ich hab den ersten Absatz nicht wirklich gekürzt, weil ich es einfach nich übers Herz gebracht hab, nichtmal zu Gunsten des Perfektionismus.  Embarassed

Lautlos fiel die weiße Pracht auf das kleine Grab unter dem Kirschbaum und auf das noch kleinere Mädchen davor. Kirschblütenblätter bedeckten den winzigen Grabhügel, ein durchscheinender Schleier auf der schwarzen, frischen Erde. Elfenflügelgleich schwebten sie in getragenen Menuetten oder wirbelten wild und ausgelassen, Pirouetten aus weißer Seide, getanzt zu stummer Musik.
Das kleine Mädchen trug sein schönstes Kleid und eine Schleife in den lockigen Haaren. Fein gemacht, wie es sich für eine Beerdigung gehörte. Über seine sommersprossigen Wangen kullerten im Halbschatten des Baumes schimmernde Tränen und tropften auf seine gefalteten Händchen.
Eine einzelne Blüte saß vorwitzig auf seiner Nasenspitze, festgeklebt von einer verirrten Träne, und wartete darauf, dass der Wind sie zurück zu den anderen brachte. Doch der alte Knabe, der sie so oft geneckt hatte, ließ heute auf sich warten.
Träne um Träne tropfte auf den kleinen Erdhügel und keine einzige konnte den Kummer des kleinen Mädchens besänftigen. Mit jeder Träne wurde das Grab schwärzer.
Wie ein Windhauch drang plötzlich ein Wispern in seine Gedanken, ein helles kaum hörbares Stimmchen: „Was hast du denn, Kleines?“
Das Mädchen wischte sich überrascht eine Träne von der Wange und blickte suchend umher.
„Hier bin ich Kleines, auf deiner Nase!“, flüsterte das Stimmchen erneut. Ein wenig verdutzt schielte sie nach unten und tastete an ihrer Nase entlang, bis das Stimmchen protestierte: „Autsch! Erdrück mich doch nicht!“ Empört schüttelte die Kirschblüte ihre Blätter und Staubbeutel aus. Die geröteten Augen des Kindes waren zu großen, staunenden Wasserlachen geworden, aber wenigstens war der Tränenfluss versiegt. Als sie sich seiner Aufmerksamkeit sicher war, holte die Kirschblüte tief Luft und schrie aus voller Kehle: „Du brauchst nicht weinen, Kleines. Du kannst dir doch einen neuen Hund holen, einen süßen, tapsigen Welpen!“ Diese Worte lösten einen erneuten Sturzbach schimmernder Tropfen aus. Das war nun nicht, was die kleine weiße Blüte beabsichtigte hatte. Sie wollte trocknen um zu den anderen zu gelangen, mit ihnen durch die sonnenflirrende Luft fliegen, und nicht noch nasser und klebriger werden. Also versuchte sie es ein wenig anders. „Er war nicht einfach nur ein Hund für dich, oder?“, rief sie und versuchte trotz der Lautstärke taktvoll zu klingen. Das Mädchen schüttelte zaghaft den Kopf.
„Er war bestimmt ein wunderbarer Freund!“
„Mein bester“, flüsterte es kaum hörbar. Die Staubblätter der weißen Blüte auf seiner Nase wippten mitfühlend.
„Schau, Kleines“, wisperte das Stimmchen wieder, „das ist trotzdem kein Grund so verzweifelt zu sein. Nimm dir ein Beispiel an meinen Brüdern und Schwestern: Sie fallen dem Boden entgegen und doch schwirren sie ausgelassen umher und singen, als gäbe es kein Ende.“
„Du bist ja komisch“, schniefte das kleine Mädchen, aus dessen Augen schon etwas weniger Tränen kullerten, „sie singen doch überhaupt nicht!“
„Natürlich tun sie das“, widersprach die Blüte, „du hörst sie nur nicht. Unsere Stimmen sind zu leise für eure laute Welt.“
Verwundert neigte das Kind den Kopf zur Seite: „Aber ich kann dich doch hören.“
Die Kirschblüte stutzte. Als sie antwortete, war ihre Stimme nachdenklich: „Nun ja, ich muss auch sehr laut schreien, damit du mich hörst. Aber es ist trotzdem verwunderlich... Es sei denn...“ Hätte die Blüte einen Kopf gehabt, hätte sie ihn zweifelnd geschüttelt, doch so wedelte sie nur ein wenig mit ihren Blütenblättern.
„Es sei denn, die Geschichten sind wahr.“
„Welche Geschichten?“ fragte das Mädchen und ein Glanz, der nicht von Tränen herrührte, mischte sich in seine traurigen Augen. „Erzählst du sie mir?“
„Tut mir leid, Kleines. Ich weiß nicht viel darüber. Nur dass – vor langer Zeit – manche meiner Brüder und Schwestern mit einigen Menschenkindern sprechen konnten.“
„Ehrlich? Und warum geht das heute nicht mehr?“, wunderte sich das kleine Mädchen. Die Antwort der Kirschblüte kam mit Verzögerung, so als müsse sie erst darüber nachdenken: „Das weiß ich nicht,“ gab sie schließlich zu, „Es waren auch damals nur Ausnahmen. Diese Blüten konnten auch jeweils nur mit einem Menschen reden. Die beiden hatten aus unerklärlichen Gründen eine ganz besondere Beziehung. Sie waren... Seelenverwandte...“
„Heißt das“, fragte das Kind mit zaghaft strahlenden Augen, „dass wir auch Seelenverwandte sind? Heißt das, dass wir Freunde sind?“
Die Kirschblüte gab keine Antwort.
Den flehenden Blick des Kindes auf sich gerichtet und ihrer eigenen Blütenblätter sehnsüchtig nach der Sonne ausgestreckt, fand sie keine Antwort. Stille verdichtete den Schatten, doch das Mädchen wartete geduldig und hoffnungsvoll.
Die letzten Blüten des alten Baumes fielen sanft und lautlos auf das kleine Grab, aller Schwung und alle Lebensfreude waren von ihnen abgefallen, jetzt wo das Ende plötzlich so nah war. Doch noch immer war die Luft erfüllt von ihren Pollen und etwas des gelben Pulvers kitzelte das kleine Mädchen in der Nase. Und wie das Schicksal es wollte, kehrte gerade in dem Moment, als das Kind laut nieste, der Wind zurück und trug die weiße Blüte, gelöst vom Schwung des Niesers, davon, fort von dem ersten Wesen, das sie, die winzige Kirschblüte, brauchte, mitten hinein ins Nirgendwo.
Fassungslos starrte das kleine Mädchen der Blüte hinterher, versuchte noch, sie zu fangen. Erfolglos.
Ein leiser Schluchzer stahl sich über seine Lippen, dann noch einer. Jeder weitere Laut, der zu folgen versuchte, wurde schon im Ansatz von einem Schwall heißer Tränen erstickt. Von Verzweiflung geschüttelte rannte das Kind zurück ins Haus, durch die hallenden, leeren Gänge in sein Zimmer. Es warf sich auf sein Bett und weinte sich den Schmerz von der Seele, der doch nicht weniger werden wollte. Ganz allein lag es da, stundenlang, mit niemandem, der es tröstete. Kein weiches Fell, an das es sich schmiegen konnte, keine fechte Schnauze, die es liebevoll anstupste und keine warme Zunge, die die Tränen von seinem Gesicht schleckte. Nur eine winzige weiße Blüte klebte noch unbemerkt an der Fensterscheibe und beobachtete das Szenario, die Blütenblätter welk und traurig, und hätte sie Tränen gehabt, so hätte sie sicherlich auch geweint.


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Gabi
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Wohnort: Köln


Beitrag15.12.2007 01:03

von Gabi
Antworten mit Zitat

Ich find die Idee total süß. Als Kirschblüte ein kleines Kind zu trösten.
Genial!
Ich finde, dies ist eine super Geschichte, die man den Kindern vorliest oder erzählt, wenn ein geliebtes Haustier stirbt.

L.G.
Gabi
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