18 Jahre Schriftstellerforum!
 
Suchen
Suchabfrage:
erweiterte Suche

Login

Jetzt erhältlich! Eine Anthologie von und mit unseren Usern. Jetzt bestellen! Die erste, offizielle DSFo-Anthologie! Lyrikwerkstatt Das DSFo.de DSFopedia


Deutsches Schriftstellerforum Foren-Übersicht -> Antiquariat -> Lebenslinien - Ein Kurzgeschichtenband
Feuerfliege

 
 
Neues Thema eröffnen   Dieses Thema ist gesperrt, Du kannst keine Beiträge editieren oder beantworten.
 Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen  « | »  
Autor Nachricht
Schatten
Geschlecht:männlichEselsohr

Alter: 44
Beiträge: 426
Wohnort: Dort wo der Vogel Phoenix sich zum sterben niederlegt


Lebenslinien - Ein Kurzgeschichtenband
Beitrag12.02.2010 20:34
Feuerfliege
von Schatten
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

    Sandy Dumkin, erfolgreiche Schriftstellerin und Mittdreißigerin in den besten Jahren, saß wie jeden Freitagabend an ihrem Laptop im Wohnzimmer und durchforstete ihr E-Mailpostfach. Und wie jeden Freitagabend resignierte sie: Keine Post angekommen. Dabei hatte ihre beste Freundin Amber doch erst vor kurzem versprochen, wieder öfter zu schreiben. Was ist bloß mit ihr los, fragte sich Sandy nervös. Sie wusste was jetzt auf sie zukam. Ihr neuester Roman, der ungeduldig auf sie wartete. Doch große Lust verspürte sie nicht, an ihm weiter zu arbeiten. Insgeheim hatte sie gehofft, dass Amber schreiben würde, damit sie sich ganz auf die E-Mail konzentrieren und den Roman vorerst links liegen lassen konnte. Doch daraus wurde nichts. Hektisch schloss sie ihr Mailprogramm und holte mit einem Klick ihre Textverarbeitung hervor. Sie war gerade an einer mehr als heiklen Stelle angekommen. Ihre Protagonistin, die ausnahmslos hübsch und attraktiv war, hatte gerade eine Affäre mit einem gut aussehenden Mittdreißiger. Sie hatte auffallend rotes Haar, welches Schulterlang und wellig war. Die Nase voller kleiner Sommersprossen und niedliche Grübchen, die ihre natürliche Schönheit unterstrichen, wenn sie lachte. Ganz bewusst hatte sie sich dazu entschlossen, sich selbst in dieser Person abzubilden. Das war schließlich das einfachste was man tun konnte. So brauchte man nur in den Spiegel zu blicken. Der attraktive Mittdreißiger in ihrem Roman hatte rassiges schwarzes, ebenfalls Schulterlanges Haar, markante Gesichtszüge und war groß und breitschultrig. Ein großer Fehler, denn sie hatte damit ein Ebenbild ihres Ehemannes gemalt, welcher vor etwa einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben kam. Ein Grund mehr, sich davor zu drücken und sich lieber mit etwas anderem zu beschäftigen. Doch dafür war es jetzt zu spät. Die Erinnerungen an ihn übermannten sie wieder. Sie wusste sich keinen anderen Ausweg als das Programm zu schließen, den Laptop zuzuklappen und wieder einmal dem holographischen Zimmer - dem so genannten 'Hollowroom' einen Besuch abzustatten. Wie so häufig in der letzten Zeit, wenn sie mit ihren Gefühlen nicht fertig wurde.
    Das Zimmer wurde von einer fest verschlossenen automatischen Schiebetür vom Rest der Wohnung getrennt, welche sich nur nach Eingabe einer bestimmten Nummernreihenfolge öffnen lies. Sandy gab den Code ein ohne darüber nachzudenken. Die Wohnung hatte sie erst seit sie mit ihrem Ehemann in diese Gegend gezogen war. Es war etwas mehr als ein Jahr her. Doch den Hollowroom hatte sie seit seinem Tod so oft benutzt, dass sie den Sicherheitscode nun auswendig konnte. Der Raum war sehr klein, fast beängstigend winzig. Er maß keine zwölf Quadratmeter. Doch die Tatsache dass selbst jetzt, im Jahre zweitausendeinhundertfünfzig, nicht alle Wohnungen mit einem solchen Raum ausgestattet waren, machte ihn zu etwas besonderem. Es hatte schon etwas für sich, eine der wenigen Wohnungen bewohnen zu dürfen, die über diesen Luxus verfügte.
    Sandy drückte auf ein paar der Knöpfe, die rechts von der Tür in der Wand eingelassen waren, tickte ein paar mal mit dem Zeigefinger auf den Monitor daneben, und schon veränderte sich der gesamte Raum wie durch Zauberhand. Vom tristen Metallicblau in ein sattes braun, bis hin zu einer realistischen Baumstruktur. Schließlich verwandelte sich der Raum in ein klassisches Wohnzimmer der Endsiebziger. Ein typisches Sofa, ein Tisch und selbst eine weiße dickbäuchige Tischlampe war unter anderem vertreten. Man konnte meinen, in diesem Raum hätte die Zeit still gestanden.
    Sandy begutachtete das Ambiente und nickte zufrieden. Sie fuchtelte noch ein wenig am Computerterminal herum und setzte sich schließlich Gedankenverloren auf das Sofa und wartete. Plötzlich ging die fiktive Tür des Wohnzimmers auf und herein kam ihr Ehemann Jeremy. Er lächelte.
    “Ich habe dich vermisst”, sagte Sandy mit einem gequälten Lächeln.
    “Ich liebe dich!”, erwiderte Jeremy. Es klang echt und aufrichtig. Doch Sandy wusste es besser. Sie hatte das holographische Ebenbild ihres Mannes darauf programmiert, es zu sagen und auch zu meinen. Sie seufzte tief. Jeremy fragte darauf besorgt, ob es ihr gut ginge und es ihr an etwas fehle. Sandy antwortete nicht. Nur zu gut wusste sie, dass ab jetzt alles nur eine Frage von 'Aktion - Reaktion'-Situationen war.  Sie konnte jetzt aufstehen und ihn anschreien, einfach so, ohne Grund. Und der Boardcomputer würde daraufhin komplizierte Berechnungen durchführen und ihren Computerehemann darauf abstimmen. Er würde genau das tun, was in solch einer Situation angebracht währe. Nichts davon war real, rein gar nichts. Es machte Sandy traurig. Und ohne sich dagegen wehren zu können, fing sie an zu schluchzen. Wie sie es vorausgesagt hatte, wurde aus Holo-Jeremy plötzlich ein besorgter und zutiefst ergriffener Musterehemann. “Was ist mit dir, Schatz? Stimmt etwas nicht?”
    Sandy spürte eine seltsame Mischung aus großer Wut und entsetzlicher Trauer. “Nein, es ist nichts.”
    Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab und versuchte gefasst zu wirken. Ich darf auf keinen Fall weiterheulen, sonst denkt der Computer noch, er müsse mir helfen. Alles, bloß nicht wieder anfangen zu weinen, dachte Sandy. Sie schluckte ihre Trauer herunter und versuchte sich an einem Lächeln. Seltsamer Weise gelang es ihr ganz gut, worauf der Boardcomputer sofort ansprang. Das besorgte Gesicht von Jeremy verschwand augenblicklich, als hätte es jemand aus seinem Gesicht gewischt. Statt dessen grinste er sie fröhlich an.

Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Skype Name
Schatten
Geschlecht:männlichEselsohr

Alter: 44
Beiträge: 426
Wohnort: Dort wo der Vogel Phoenix sich zum sterben niederlegt


Lebenslinien - Ein Kurzgeschichtenband
Beitrag12.02.2010 20:36

von Schatten
pdf-Datei Antworten mit Zitat

    Es hatte etwas von einem Psychopathen, dachte Sandy verbittert. Aber dagegen machen konnte sie auch nichts, das waren eben die Tücken der Technik. Die moderne Technologie konnte heutzutage alles als Hologramm darstellen. Lebensecht, nach den Originalen nachempfunden. Aber eben nicht perfekt imitiert. So etwas konnte man noch nicht replizieren. Doch Sandy war sich sicher, auch das Problem würde man mit der Zeit beseitigen. Doch für Heute hatte sie genug.
    Gerade wollte sie sich aufsetzen und ohne einen Abschiedsgruß den Raum verlassen, als für einen kurzen Moment ein rotes Licht den gesamten Raum erfüllte. Etwa zwei Sekunden später das selbe durchdringend rote Licht zwei Mal kurz hintereinander.
    “Es hat geklingelt. Ich gehe dann mal”, sagte sie knapp und ging ohne sich umzusehen. Denn dank der hermetisch abschließenden Schiebetür, die keinen einzigen Laut weder herein noch heraus lies, war es unmöglich so etwas wie eine normale Türklingel zu hören. Doch dank der Lichthupe, wie sie umgangssprachlich genannt wurde, konnte man erkennen wann jemand zu Besuch kam.
    Sandy hörte, kaum dass sie den Holo-Raum verlassen hatte, ein stürmisches Klingelkonzert, welches ihr ungebremst entgegen schallte. “Ich komme ja schon. Ich bin ja schon da, verdammt.”
    Wütend öffnete sie die Tür mit Schwung, so das sie ihr fast aus der Hand geglitten währe. Sie staunte nicht schlecht, als eine schmale Gestalt, etwa eins zweiundsiebzig groß mit Schulterlangen glatten schwarzen Haaren vor ihr stand, sie fröhlich angrinste und sich mit den Worten entschuldigte: “Hallo Sandy. Gott sei Dank geht es dir gut. Ich hatte mir schon Sorgen um dich gemacht. Tut mir leid, dass ich so stürmisch geklingelt habe. Aber du hast wohl nicht reagiert.”
    “Amber, was …”, entwich es ihr erstaunt, “Was machst du denn hier?… Außerdem,… wie kannst du annehmen, dass ich nach zwei Sekunden die Tür erreiche um dir zu öffnen?” grinste sie.
    Sie umarmten sich beide und Sandy bat ihre beste Freundin Amber herein.
    Beide nahmen sie im Wohnzimmer auf dem roten Sofa platz. Und noch bevor Sandy etwas sagen konnte, bemerkte sie, wie Amber ihre Freundin auffällig musterte. Sandy wich ihrem Blick aus und schaute statt dessen betreten zu Boden, als ob sie etwas zu verbergen hatte.
    “Hast du geweint?”, wollte Amber ohne Umschweife von ihrer Freundin wissen. Amber war schon immer direkt auf den Punkt gekommen. Es war ihre Art, sich nicht lange mit unsinnigem Geschwafel aufzuhalten. Sie hatte nichts über für diese - wie sie es nannte - unnötige Luftverschwendung. Statt dessen gerade heraus zu sagen und zu fragen was einem passte oder nicht. Sandy jedoch war diese Situation peinlich. Sie wusste selbst nicht genau, warum sie wegen jeder Kleinigkeit gleich in Tränen ausbrach. Eine Vermutung hatte sie, aber war es nach all der langen Zeit wirklich noch so?…
    “Selbst wenn ich geweint hätte, was würde das ausmachen?”, fragte Sandy ausweichend.
    “Du kannst ihn nicht vergessen, stimmt’s?”
    Wieder einmal war Sandy den Tränen nahe. Diesmal sah es nicht aus, als könnte sie es zurück halten. Es war einfach zu schmerzhaft für sie gewesen. Die Nachricht dass ihr Mann in einen Unfall auf der Autobahn verwickelt war und praktisch noch am Steuer ihres Wagens starb, trieb sie damals fast in den Wahnsinn. Warum hatte sie ihn fahren lassen? Sie wusste doch nur zu gut, wie glatt und gefährlich diese Strecke damals war. Es hatte in den letzten Nächten ununterbrochen geschneit und geregnet. Unfallfrei durch diese Eiswüste zu kommen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Und dann auch noch mit ihrem Wagen, der eigentlich in die Werkstatt gehörte. Sie hatte ihn auf dem Gewissen.
    “Weißt du was, Schwester?”, durchbrach Amber ihre Gedankengänge, “Du brauchst dringend frische Luft und zwar Literweise. Komm einfach mit mir mit. Wir machen einen kleinen Stadtbummel, ja?”
    Sandy hatte kein Bedürfnis, sich in das wilde Nachtleben zu stürzen. Sie fühlte sich nicht danach. Allerdings wollte sie auch nicht Zuhause hocken, Däumchen drehen und ständig an ihren Ehemann denken. Und selbst wenn, er hatte jetzt auch nichts mehr davon, dass sie sich für ihn innerlich kaputt machte. Kurz entschlossen willigte sie ein, mit ihrer Freundin Amber ein paar Blocks zu umrunden. Was sollte schon großartig passieren? Sich in einer Bar oder Disco amüsieren konnte und wollte sie nicht. Aber ein bisschen um die Häuser ziehen konnte wohl nicht schaden um auf andere Gedanken zu kommen.
    “Warte nur kurz, Sandy. Ich muss mein Handy laden. Das kann ich doch bei dir, oder?”
    Sandy hatte nichts dagegen, musterte das alte Ding jedoch argwöhnisch. Es war eines der wenigen alten Modelle, die schon bereits vor zehn Jahren Auslaufmodelle gewesen waren. Ein angestaubtes Relikt aus einer längst vergangenen Zeit, als telefonieren noch chic und ein Handy noch Statussymbol war. Inzwischen ging gar nichts mehr ohne Handy und Laptop. Sie waren sogar fast ein Bestandteil eines guten Jobs. Immer wieder kam es in den Firmen, egal welche es war, beim Bewerbungsgespräch zu der alles entscheidenden Frage nach einem Handy und einem Laptop. Wer das Pech hatte, weder das eine noch das andere zu besitzen, durfte nicht mit einer Einstellung rechnen - vor allem, wenn in der Stellenausschreibung ausdrücklich darauf hingewiesen wurde. Es war vergleichbar mit dem Zusatz, dass ein PKW unabdingbar war, wie es damals Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts der Fall war. Wenn darauf hingewiesen wurde, hatte man früher ohne einen Führerschein und PKW keine Chance. Es gefiel den wenigsten, aber machen konnte man nichts dagegen.


_________________
Wir haben genau eine Gehirnzelle die wir uns alle teilen.
Keine Ahnung wer sie Heute hat.
Zitat: Evil Jarred / Bloodhoundgang
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Skype Name
Schatten
Geschlecht:männlichEselsohr

Alter: 44
Beiträge: 426
Wohnort: Dort wo der Vogel Phoenix sich zum sterben niederlegt


Lebenslinien - Ein Kurzgeschichtenband
Beitrag12.02.2010 20:38

von Schatten
pdf-Datei Antworten mit Zitat

    “Sag’ bloß du hast das alte Ding immer noch?”, feixte Sandy höhnisch. Sie musste grinsen.
    “Dieses ‘alte Ding’, wie du es nennst”, meinte Amber schnippisch, “hat mir bisher gute Dienste geleistet. Zeig’ mir nur eines dieser neumodischen Teile, die nicht nach vier Monaten kaputt gehen.”
    Sandys Grinsen wurde breiter. “Wenn du es innerhalb von vier Monaten Dauereinsatz ständig mit dir herum schleppst und dem armen keine einzige Pause gönnst, passiert das zwangsläufig, meine Liebe.”
    Natürlich zielte Sandy ganz bewusst auf Ambers kleines Problem, immer und überall erreichbar zu sein, und wenn es um vier Uhr Nachts war, oder unter der Dusche. Es passte Amber gar nicht, dass jemand von ihrer kleinen Neurose wusste. Konnte aber auch nichts dagegen machen. Sie musste wohl oder übel damit leben, dass sie ständig von ihrer Freundin damit aufgezogen wurde. Sie seufzte tief.
    Ohne ein weiteres Wort zu verlieren holte sie aus ihrer Handtasche den Netzstecker, verband das eine Ende mit ihrem alten Handy und steckte den Stecker in die Dose, die sich praktischerweise hinter dem Sofa in der Ecke befand. Vorsichtig legte sie ihr Handy auf die breite Fensterbank.
    “Komm schon, Nörglerrella. Es wird immer später.” Amber stand bereits an der Wohnungstür.
    “Jaaa, ich bin ja schon da”, sagte Sandy gehetzt, “Jetzt warte doch auf mich, ich muss mir nur die Schuhe zubinden. Und ich brauche auch meine Handtasche.”
    Schließlich war sie soweit und Sandy hakte sich bei Amber ein. Sie schauten einander an und grinsten. Fröhlich lachend stolzierten beide wenig später aus dem Haus.
    Doch was keine der beiden mehr mitbekam war, dass Ambers altes Telefon plötzlich zu blinken anfing. Leichte Stromstöße erschütterte das Gehäuse und kurz darauf kam es zu einem Spannungsabfall. Die Monitore an den Wänden, sowie das Innere des Holographieraumes flackerte kurz und heftig auf. Wenige Augenblicke später schien sich alles wieder beruhigt zu haben. Nur im Holo-Raum war etwas geschehen. Jeremy, den Sandy vergessen hatte abzuschalten, stand mitten im Raum. Er schaute auf und in seinen Augen flackerte es. Etwas in ihm war erwacht.


_________________
Wir haben genau eine Gehirnzelle die wir uns alle teilen.
Keine Ahnung wer sie Heute hat.
Zitat: Evil Jarred / Bloodhoundgang
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Skype Name
Schatten
Geschlecht:männlichEselsohr

Alter: 44
Beiträge: 426
Wohnort: Dort wo der Vogel Phoenix sich zum sterben niederlegt


Lebenslinien - Ein Kurzgeschichtenband
Beitrag12.02.2010 20:39

von Schatten
pdf-Datei Antworten mit Zitat

    “Und du denkst, ich gehe jetzt mit dir da rein?”, moserte Sandy. Sie hatte so gar keine Lust, sich ausgerechnet in diesem Schuppen abzureagieren, geschweige denn zu amüsieren. Denn das Tanzlokal in das Amber ihre Freundin schleppen wollte, gehörte zu den angesagtesten Discotheken der Stadt. Es war laut, eng und auch etwas stickig. Doch Amber gab nicht nach. Sie zog Sandy einfach hinter sich her. “Jetzt hab dich nicht so, Sandy. Da drin finden wir schon einen Mann für dich. Dann kannst du endlich aufhören um Jeremy zu trauern.”
    Sandy war sauer. Nicht nur dass Amber sich über ihren ausdrücklichen Wunsch hinwegsetzte, sie nicht in einen lauten und zudem überfüllten Tanzschuppen zu schleppen. Nein, sie glaubte allen ernstes auch noch, dass sie einen neuen Mann bräuchte. Den sie zudem auch noch hier drinnen finden sollte. Dagegen zu protestieren war jedoch zwecklos. Sie standen bereits mitten im Geschehen.
    Übermäßig laute Technomusik dröhnte aus den großen Wandboxen über ihnen, während sich auf der Tanzfläche an die hundert Leute schamlos gegenseitig ihre Tanzschritte und Moves vorführten. Für Sandy, die eigentlich aus diesem Alter längst raus war sich die Seele aus dem Leib zu zappeln, sah es so aus, wie ein neuzeitlicher Brauch seine Paarungsbereitschaft zu signalisieren. Sie musste unwillkürlich grinsen. Und dass ihre Freundin Amber offenbar dazu gehörte, sich vor so vielen jungen Menschen - kaum einer von denen war über zwanzig - zum Affen zu machen, amüsierte sie zusätzlich. Nichts desto trotz gefiel es ihr hier nicht. Es war einfach zu laut. Und das machte sie ihrer Freundin klar. Zumindest versuchte sie es, doch gegen den Lärm konnte sie kaum anschreien. Also bedeutete sie ihr mit einer eindeutigen Geste, dass sie den Laden wieder verlassen wollte. Und Amber lief ihr erstaunt hinterher.
    “Was ist denn los mit dir? Kaum sind wir drin, schon drängst du wieder nach draußen.”, beschwerte sich Amber.
    “Weißt du, Amber, wenn du es nötig hast zappelnde und zu gedröhnte Teenies abzuschleppen ist das dein Bier. Ich hingegen ziehe es vor, mein Umfeld sauber vorzufinden.”
    Amber gab auf. Sie seufzte tief und meinte schließlich: “O.k. o.k., wo willst Du denn hin?”
    Das hörte sich schon besser an. Zwar hatte Sandy keine Lust mehr und wollte im Grunde nur noch nach Hause um die Füße hochzulegen und etwas hirnlose Unterhaltung im Fernseher zu betrachten, aber sie konnte schlecht ihre Freundin Amber einfach so sitzen lassen. Also überlegte sie kurz und meinte dann: “Lass’ uns ins >Rasputin<gehen>Rasputin< ein, welches wirklich keine Wünsche offen lies.
    “Du meine Güte”, staunte Amber, “Die haben den ganzen Laden umgemodelt!”
    Und es war tatsächlich kaum noch etwas vom alten Flair übrig geblieben, den das Rasputin einst versprüht hatte. Nahezu alles, die alten arabischen Wandteppiche, die Deckenleuchten im Shisha-Stil, die schönen Mahagonitische und sogar die unlackierten Bücherregale mit allerlei Sachbüchern darin, all das war verschwunden. Statt dessen sah es aus wie in einem Operationssaal. Kaltes grünlich-blaues Licht wurde regelrecht in den Raum geschmissen. Kantige Tische und Stühle waren in strahlendem weis gehalten, die das seltsame Licht zu verstärken schienen. Hier lässt es sich wunderbar operieren,… oder sterben, dachte Sandy. Genau der richtige Ort um seine Lebensversicherung abzuschließen.
    “Na wunderbar”, stöhnte sie. “Mir ist ganz plötzlich schlecht. Ich muss nach Hause.”
    “Nichts da, Schwester”, sagte Amber scharf, “Denk daran, es war Deine Idee hierher zu kommen. Du wolltest dich hier in dieser Leichenhalle amüsieren. Also werden wir auch genau das tun.”
    Widerwillig folgte Sandy ihrer Freundin zur breiten Bar die fast den gesamten hinteren Teil des Raumes einnahm. Sie bestellten für sich jeweils eine Bloody Mary und einen Calypso. Und gegen alle Erwartungen dauerte es nicht lange, bis sie von einem freundlich wirkenden Mann angesprochen wurden. Er hatte kurze schwarze Haare, einen gepflegten Dreitagebart und sah mit seinem Designeranzug aus wie ein Model aus einer dieser Fashionzeitschriften.
    “Guten Abend, die Damen. Darf ich ihnen Gesellschaft leisten?” Seine tiefe sonore Stimme wirkte beruhigend und angenehm. Vielleicht einen Tick zu unterwürfig, dachte Amber bei sich.
    “Natürlich, gern” lächelte Amber zuckersüß.
    Ganz Gentleman, setzte er sich auf den Barhocker neben Amber, statt sich zwischen sie zu drängen. Nachdem er sich mit Namen vorgestellt hatte war es zunächst eine einfache Frage - Antwort-Runde. Jeder erzählte jedem ein bisschen was aus seinem Leben. Dann erzählte der Dreitagebart-Mann namens Ray dass er das alte Ambiente dieses Lokals vermisse, was Sandy hellhörig werden lies. Denn auch sie vermisste den alten Rasputin-Flair aus schöneren Tagen. Doch nachdem Amber eher beiläufig nach seinem Job fragte, war alles mit einmal Mal vorbei. Er sagte, er währe Versicherungskaufmann. Und das in dem Moment, als Sandy aus ihrem Glas trank. Ein großer Fehler, wie Ray zu spüren bekam. Denn schon hatte er den Großteil der blutigen Marie auf seinem Anzug und in seinem Gesicht.
    Sandy bekam einen Lachkrampf der so heftig war, dass sie sich nicht einmal für ihre Springbrunnenqualitäten entschuldigen konnte und statt dessen hustend und lachend auf dem Damenklo verschwand. Das Lokal war zwar nicht voll, aber auch nicht leer genug um diese Szene überspielen zu können. Ein paar der Leute drehten sich um. Einer von denen schüttelte nur den Kopf. Ray, der sich mit seiner Krawatte verzweifelt den Drink aus dem Gesicht wischte, war erstaunt und verwundert, aber auch sauer. Denn solch einen teuren Anzug reinigen zu lassen konnte ihn locker dreihundert Dollar kosten. Geld, dass er lieber in eine neue Krawatte gesteckt hätte.
    Derweil sich Sandy und Amber auf dem Damenklo prächtig amüsierten. Sie lachten lauthals und ohne Rücksicht auf eventuelle Zuhörerinnen. Für sie war diese Szene nichts für das man sich schämen musste. Der Schuldige war ganz klar Ray. Er hätte einen anderen Beruf oder ein besseres Lokal nehmen sollen. Für Amber und Sandy stand fest, dass dieser Abend, auch wenn er etwas kurz geraten war, dennoch besser zu Ende ging als zuerst vermutet.
    Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten und ihr Make Up aufgefrischt war, wollten sie sich beide bei Ray entschuldigen. Im Grunde konnte er ja nichts dafür, dass er berufsbedingt so unglaublich gut zum Ambiente des Rasputin passte. Vermutlich hätte sich Sandy auch bei einem Totengräber vor Lachen ausgeschüttet. Doch das war nebensächlich, denn von Ray fehlte plötzlich jede Spur.
    “Wo ist denn unser kleiner Versicherungsvertreter hin?”, fragte sich Amber ratlos.
    “Du, ich glaube den haben wir vergrault”, lächelte Sandy verschmitzt. “Ist aber auch egal, ich muss jetzt eh nach Hause.”
    “Och nein, geh’ noch nicht, Sandy”, bettelte Amber, “Der Abend ist doch noch jung und er hat gerade so toll angefangen. Tu’ mir das nicht an.”
    Doch Sandy lies sich nicht beirren. Sie war todmüde, hatte scherzende Beine und war einfach nicht mehr in der Stimmung noch einmal so etwas wie das gerade erlebte durchzumachen. Sie wollte nur noch eines: Nach Hause und dort sofort in ihr Bett fallen. Selbst für ein entspannendes heißes Bad war sie zu müde. Sie wollte einfach nur noch schlafen.
    Ihrer Freundin gefiel es gar nicht, allerdings wusste sie dass man Sandy in solch einer Lage nicht mehr umstimmen konnte. Selbst wenn man hartnäckig war brachte es nichts außer einer Abfuhr. Daher verabschiedeten sich die beiden voneinander und versprachen sich gegenseitig, am nächsten Tag mal anzurufen.


_________________
Wir haben genau eine Gehirnzelle die wir uns alle teilen.
Keine Ahnung wer sie Heute hat.
Zitat: Evil Jarred / Bloodhoundgang
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Skype Name
Schatten
Geschlecht:männlichEselsohr

Alter: 44
Beiträge: 426
Wohnort: Dort wo der Vogel Phoenix sich zum sterben niederlegt


Lebenslinien - Ein Kurzgeschichtenband
Beitrag12.02.2010 20:40

von Schatten
pdf-Datei Antworten mit Zitat

    In ihrer Wohnung, die sie gerade noch so mit letzter Kraft aufschließen konnte, erwartete sie, wie sie zu hoffen wagte, ein schönes weiches Bett. Doch es sollte anders kommen als gewollt.
    Sandy stellte ihre Handtasche auf dem Wohnzimmertisch ab und bemerkte aus den Augenwinkeln das vollständig aufgeladene Handy ihrer Freundin Amber. Mist, wir haben ihr blödes Handy vergessen, dachte sie verstimmt. Doch das konnte ja noch bis Morgen warten. Sie würde Amber anrufen und ihr sagen, dass sie ihr Handy bei ihr abholen konnte. Sandy drehte sich gerade in Richtung Schlafzimmer um und hatte auch schon fast die Tür erreicht, als sie ein bläuliches Schimmern bemerkte, welches vom Computerterminal des Holo-Raumes abgestrahlt wurde.
    Nahezu hypnotisiert ging sie langsam und vorsichtig auf die Tür zu und staunte nicht schlecht, als sie bemerkte, dass das zuletzt gestartete Programm immer noch ablief. Sie fasste sich an den Kopf und strich sich durch ihr feuerrotes Haar. “Oh man, ich Trottel habe vergessen das Programm zu beenden.” Sie streckte ihre Hand nach dem Terminal aus, um die Abschaltsequenz einzugeben, als die Tür mit einem unerwarteten Ruck öffnete. Sandy erschrak und stolperte einen Schritt rückwärts. Sie hatte doch noch gar nichts berührt. Die Tür hatte sie auch nicht unabsichtlich geöffnet. Etwa eine Fehlfunktion?
    Ängstlich, aber doch neugierig bewegte sie sich langsam auf den weit geöffneten Holo-Raum zu. Sie wusste nicht was sie erwartete, aber die Tür einfach wieder schließen und ins Bett gehen konnte sie nun auch nicht mehr. Sie musste wissen was da passiert war. Vielleicht war auch einfach nur die Garantie der Technik abgelaufen, oder ein Kurzschluss hatte für diese Fehlfunktionen gesorgt.
    Vorsichtig lugte sie um die Ecke, konnte jedoch nichts ungewöhnliches erkennen. Es schien alles normal abzulaufen. Der Raum hatte keine Risse, und Funken konnte sie auch nicht erkennen. Das einzige was sie nach einiger Überlegung nicht verstand war, dass ihr Holo-Jeremy nicht mehr da stand, wo sie ihn zuletzt verlassen hatte. Normalerweise stoppte das Programm automatisch, wenn sich niemand mehr im Raum befand. Offenbar doch eine kleine Störung der Matrix. Und noch während Sandy der Tür zugewandt im Raum stand, sagte jemand unerwarteter Weise und ohne Vorwarnung hinter ihr: “Hallo. Schön dich wieder zu sehen!”
    Sie drehte sich abrupt um die eigene Achse und währe vor Schreck fast umgefallen, wenn Jeremy sie nicht aufgefangen hätte. Das auftauchen von Jeremy kam so unerwartet, dass sie zunächst an einen Überfall glaubte und sich mit Händen und Füßen wehrte. Ihre Müdigkeit war damit Geschichte. Doch Jeremy lächelte nur und sagte mit seiner sanftesten Stimme: “Beruhige dich, es ist alles in Ordnung.”
    “Oh Gott”, keuchte Sandy, “Du bist das! Ich hatte Angst, ich werde ausgeraubt.” Ihr Herz klopfte, als wollte es jede Sekunden aus der Brust springen.
    Jeremy lächelte immer noch als könnte er damit den Weltfrieden auslösen. Für Sandy hatte dieses Lächeln nichts roboterhaftes mehr an sich, was ihr für den Bruchteil einer Sekunde komisch vorkam. Normalerweise lächelte Jeremy nicht so … >natürlich<. Andererseits konnte der Schock so groß gewesen sein, dass die Sinne durcheinander kamen. Sie wusste es nicht.
    “Weißt du was, Jerry? Ich bin hundemüde Ich muss ins Bett.” Sie befreite sich kurzerhand aus seiner zugegebenermaßen angenehmen Umarmung und ging ohne zu zögern auf die immer noch weit geöffnete Tür zu. Dass sie noch hundemüde war, war glatt gelogen. Doch wozu sollte sie einem Hologramm ehrlich gegenüber sein? Es bestand aus nichts weiter als Schaltkreisen und Computercode.
    “Warte!… Geh’ nicht, …bitte”, flehte Jeremy.
    Dieser Widerspruch kam so überraschend, dass Sandy ihm den Gefallen tat und tatsächlich inne hielt. War es normal, dass ein Hologramm auf einen der unzähligen Schlüsselsätze wie: ’Ich gehe ins Bett’ anders reagierte als sich abzuschalten? Eigentlich sollte nichts dergleichen von einem leblosen Stück Technik kommen. Jedenfalls nicht solch eine Bitte. Langsam drehte sie sich zu ihm um.
    “Was wirst du tun, wenn du diesen Raum verlässt?”, fragte Jeremy und sah sehr traurig drein. “Wirst du mich abschalten?… Wann wirst du wiederkommen?”
    Sandy Dumkin war keine Frau die man so leicht schocken konnte. Bei Horrorfilmen gähnte sie meist und in nervenaufreibenden Situationen war sie trotz Anspannung oft Herr über sich selbst. Sie hatte mehrere Jahre Kampfsport Erfahrung, daher konnte sie von sich behaupten überlegen zu sein. Doch auf diese Fragen war sie nicht gefasst. Wie konnte ihr ein lebloses Ding wie Holo-Jerry nur solche Fragen stellen? Das war nicht normal. Spätestens jetzt war sie überzeugt davon, dass hier einige Fehlfunktionen für ungeahnte Situationen sorgten, die schleunigst repariert werden mussten.
    “Was?… Wie… kannst du nur solche Fragen stellen? Du bist nicht real. Du bist…”
    “Ein Hologramm?”, beendete Jeremy ihren Satz.
    Nun war Sandy vollkommen verwirrt. Seit wann wusste ein Hologramm was es selbst war? Wie konnte dieses … dieses Ding so viel über sich selbst wissen? Das war zuviel des Guten. Sandy streckte ihre Hände schützend vor sich aus, als wollte sie verhindern dass Jeremy sie anfiel.
    “Weißt du was, Jerry?“, sie ging langsam rückwärts, “Mir fällt gerade ein, dass ich etwas auf dem Herd vergessen habe. Ich … Ich muss los!”
    Sandy drehte sich blitzartig um und lief was ihre Beine hergaben. Sie achtete nicht mehr auf seine Rufe, sein Flehen, dass sie doch bitte wieder zurück kommen solle und dass er ihr alles erklären könne. Sie hatte nur noch Angst. Eine unerklärliche Panik zog sie weg von ihm, weg von diesem künstlichen Etwas, dass ihren geliebten Mann darstellte.


_________________
Wir haben genau eine Gehirnzelle die wir uns alle teilen.
Keine Ahnung wer sie Heute hat.
Zitat: Evil Jarred / Bloodhoundgang
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Skype Name
Schatten
Geschlecht:männlichEselsohr

Alter: 44
Beiträge: 426
Wohnort: Dort wo der Vogel Phoenix sich zum sterben niederlegt


Lebenslinien - Ein Kurzgeschichtenband
Beitrag12.02.2010 20:43

von Schatten
pdf-Datei Antworten mit Zitat

    Es war nun mittlerweile fast fünf Uhr Morgens. Seit sie in ihr Bett geflüchtet war, lag sie dort hellwach und überlegte.
    An Schlaf war für sie eh nicht mehr zu denken, dafür war sie zu aufgewühlt. Und daher dachte sie noch einmal so nüchtern und abgeklärt wie es ihr möglich war, über das Geschehen nach. Die Fehlfunktionen, für die sie Jeremys Verhalten hielt, hatte sie keine Erklärungen. Doch nachdem sie sich beruhigt hatte, musste sie einsehen dass Jeremy nicht zu einem Monster mutiert, und ihr Verhalten ihm gegenüber reichlich kindisch gewesen war. Auch wenn er sich merkwürdig verhalten hatte. So ganz anders als sonst. Angst brauchte sie vor ihm jedoch nicht zu haben. Und diese Einstellung trieb sie schlussendlich auch wieder aus dem Bett. Sie musste einfach heraus finden, warum sich Holo-Jeremy so merkwürdig ‘Menschlich’ verhielt. Gedacht getan, mit einem Ruck stand sie wieder auf.
    Weniger als einen halben Meter vor der verschlossenen Holoraum-Tür kam sie abrupt zum stehen. Plötzlich hielten Zweifel sie wieder von ihrem Vorhaben ab, in den Holoraum zu stürmen und Jeremy mit Fragen zu löchern, die sich gewaschen hatten. Insgeheim hatte sie Angst, sich ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen. Sie fragte sich sogar, warum sie den Holoraum überhaupt betreten hatte. Warum in aller Welt hatte sie nach so langer Zeit ausgerechnet dieses Programm gestartet?
    Es half alles nichts, sie gab sich einen kräftigen inneren Ruck und stand auch schon mitten im Raum. Er hatte sich kein bisschen verändert. Wie auch, das Programm lief ja immer noch. Nur Jeremy fehlte.
    Sandy machte sich Sorgen. Hatte Jeremy sich vielleicht aus Frust selbst gelöscht? Doch bevor sie diesen Gedanken zu Ende denken konnte, stand er auch schon hinter ihr. Diesmal hatte sie ihn herein kommen hören. Und er hatte, zu ihrer Verwunderung, einen wunderhübschen Blumenstrauß bei sich, den er Sandy feierlich übergab. Wieder hatte er dieses verführerische Lächeln auf den Lippen, welches sie unwillkürlich an ihren verstorbenen Mann erinnerte. Doch so wie ihr Jeremy immer vorging, so stürmisch und leidenschaftlich dass ihr kaum Zeit zum Atmen blieb, so still und zurück haltend war der Jeremy, der nun neben ihr saß. Er glich ihrem toten Ehemann bis auf die letzte kleine Lachfalte. Und doch wirkte Holo-Jeremy eher wie ein verunsichertes ängstliches Kind, welches darauf wartete, dass etwas passierte. Er grinste Sandy verlegen an, gerade so als ob sie beide sich hier zum allerersten Kuss verabredet hatten und Jeremy nun verlegen darauf wartete, dass sie den ersten Schritt tat. Sandy war bei diesem Gedanken belustigt und hätte Jeremy fast gefragt, ob er denn auch an die Kondome gedacht hatte. Als dieser plötzlich mit ernster Miene auf den Boden schaute und nachdenklich schien. Es vergingen fast drei Minuten, bevor er sie wieder mit einem weiteren Blick würdigte.
    “Ich habe nachgedacht, Sandy”, meinte Jeremy bedeutungsschwanger und setzte sich auf, “Wir wissen beide, dass ich nicht echt bin. Ich bin ein einfaches Hologramm. Zwar eines, dass mit dem Gesicht deines toten Ehemannes herum läuft, aber -”
    “Bitte”, sprach Sandy dazwischen, “Bitte erwähne nie wieder meinen Ehemann. Ich weiß selbst dass er tot ist, dazu brauche ich deine Bestätigung nicht.” Sie fühlte ihre alte Trauer wieder in ihr aufsteigen. “Es tut mir leid, Sandy”, sagte Jeremy reuevoll. Zu ihrer Verwunderung klang es mehr als echt. “Jeremy war ein wundervoller Mann. Liebenswert, warmherzig. Voller Güte und Leidenschaft. Und darüber hinaus sah er auch noch verdammt gut aus!” Holo-Jeremy fuhr sich gekünstelt durch die Haarpracht.
    Trotz ihrer Trauer um ihren geliebten Jeremy, musste sie über diesen letzten Ausspruch lachen. Ja, ihr Jerry hatte all das und noch viel mehr was sie einst an ihm geliebt hatte. Vor allem war auch sein Humor eine liebenswerte Eigenschaft, die ihr besonders im Gedächtnis geblieben war.
    “Ich vermisse ihn so sehr”, sagte sie mehr zu sich selbst.
    Jeremy kam langsam auf sie zu, immer näher und näher. Doch statt zurück zu schrecken blieb sie ungerührt stehen. Sie empfand seine plötzliche Nähe zu ihrer eigenen Verwunderung als angenehm. Schließlich stand er so dicht bei ihr, dass sich fast ihre Nasenspitzen berührten.
    “Meine kleine Feuerfliege”, sagte er sanft und streichelte ihr durch ihr gelocktes rotes Haar. Eine Berührung die in ihr eine wahre Explosion auslöste. Es war sehr lange her, dass sie jemand auf diese Weise berührt hatte, schon viel zu lange. Auch, dass sie jemand >Feuerfliege< genannt hatte. Es war ihr alter Kosename den sie bei ihrem ersten Zusammenprall mit Jeremy aufgedrückt bekam. Sie wollte in die Bibliothek um für ihr Referat zu recherchieren und Jeremy kam gerade aus dieser heraus. Sandy schaute zu ihm und merkte nicht dass sie falsch auf die Stufe trat und weg rutschte. Geradewegs in seine Arme. “Nanu, wohin so eilig, Feuerfliege?”, war das erste was er spontan von sich gab. Kein Zweifel dass er mit ‘Feuer’ auf ihre auffallend roten Haare abgezielt hatte. Da war es um beide geschehen.
    “Das was ich für dich empfinde sollte nicht sein, Jerry”, hauchte sie, kurz bevor er sie küssen konnte. Jeremy stemmte sich nicht dagegen und trat einen Schritt zurück. “Ich weiß, was du empfindest ist nicht für mich bestimmt, Sandy. Die Liebe die du tief in dir drin spürst gilt einem Mann namens Jeremy. Aber das macht nichts” Von einer auf die andere Sekunde grinste Holo-Jeremy verschwörerisch, “Dafür wurde ich erschaffen.”


_________________
Wir haben genau eine Gehirnzelle die wir uns alle teilen.
Keine Ahnung wer sie Heute hat.
Zitat: Evil Jarred / Bloodhoundgang
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Skype Name
Schatten
Geschlecht:männlichEselsohr

Alter: 44
Beiträge: 426
Wohnort: Dort wo der Vogel Phoenix sich zum sterben niederlegt


Lebenslinien - Ein Kurzgeschichtenband
Beitrag12.02.2010 20:45

von Schatten
pdf-Datei Antworten mit Zitat

    Sandy sah drein als hätte man ihr versucht, den Sinn des Lebens in einer fremden Sprache zu erklären. “Ich verstehe nicht ganz.”, meinte sie verwirrt.
    “Dann lass es mich dir zeigen”, sagte Jeremy und holte mit seinem rechten Arm weit aus, so als wollte er Sandy die große weite Welt zeigen und ihr erklären, dass alles was sie sah nun ihr gehörte. Und wie auf ein stummes Zeichen hin setzte angenehm leise Musik ein. Der Song war OWL City mit Fireflies, ein uralter Song der Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts (zweitausendzehn) oft gespielt wurde. Der Raum in dem beide standen verwandelte sich. Aus dem Wohnzimmer wurde urplötzlich ein offenes Gelände. Unter ihr einfacher Rasen, über ihr der unendlich weite und klare Sternenhimmel. Sandy staunte nicht schlecht, als sie das zugegebenermaßen erstaunliche Spektakel mit ansah. Mit offenem Mund und staunendem Blick verfolgte sie, wie einige Sterne am Firmament zu blinken und schließlich zu vibrieren begannen. Kurz darauf vibrierten alle Sterne am klaren Nachthimmel, so als wollten sie im Einklang mit dem Lied eine Formation bilden. Und wie auf ein geheimes Zeichen, setzten sich einige von ihnen ab einem gewissen Zeitpunkt, den der Song vorzugeben schien, in Bewegung. Wie Sternschnuppen fielen sie fast in Zeitlupe vom Himmel. Zeitversetzt fielen nacheinander alle Sterne auf diese Weise gen Boden, und bildeten so ein Feuerwerk der besonderen Art. Ein wahrhaftig schönes und beeindruckendes Naturschauspiel, fand Sandy, die den Blick nicht von dieser Pracht losreißen konnte. “Sandy?”, gab Holo-Jeremy zaghaft von sich, als wollte er die Stimmung nur ungern zerstören.
    Es fiel ihr unsagbar schwer, sich von dieser visuellen Pracht zu trennen, selbst für einen Moment. Und doch gelang es ihr, auch wenn sie immer mal wieder verstohlen hinauf sah.
    “Sandy, ich… Wir wissen beide, dass ich nur ein schlechtes Imitat dessen bin, was ich darstellen soll. Und dennoch wurde ich von dem echten Jeremy erschaffen, um dich daran zu erinnern was ich war, was Er war.” Er machte eine kurze Denkpause, bevor er ihr wieder in die Augen sah und weiter sprach: “Ich wurde von Jeremy programmiert, um die Liebe in dir, die du immer noch für ihn empfindest, nicht gänzlich absterben zu lassen. Ich …”
    Weiter kam Holo-Jeremy nicht, denn Sandy hatte ihm bereits ihre Lippen auf seine gedrückt. Der Kuss schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, doch dann lies Sandy nach, schaute Jeremy tief in seine kobaltblauen Augen und sagte: “Du hast deinen Auftrag erfolgreich abgeschlossen”, und lächelte.
    “Ich bin nur ein einfaches Programm. Aber deine Liebe ist echt. Solltest du jemals daran zweifeln, kannst du jederzeit zu mir zurück kommen.”
    Sandy küsste ihn noch einmal und genoss anschließend das romantische Treiben am Himmel. Sie setzte sich auf die Bank hinter ihr, während Jeremy sich wortlos auflöste.

    Am nächsten Tag saß Sandy gegen Mittag wieder an ihrem Laptop. Sie hatte den Anfang ihres Liebesromans vor sich. Doch dieses mal wusste sie was zu tun war. Sie las einige Stellen darin und löschte sie konsequent. War sie sich früher nicht sicher, in welcher Richtung sich der Roman entwickeln sollte, war sie nun fest davon überzeugt, dass aus der Affäre zwischen ihrer Protagonistin und dem attraktiven Mann nun mehr werden sollte. Es sollte die Geschichte ihres Lebens werden.


_________________
Wir haben genau eine Gehirnzelle die wir uns alle teilen.
Keine Ahnung wer sie Heute hat.
Zitat: Evil Jarred / Bloodhoundgang
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Skype Name
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:   
Neues Thema eröffnen   Dieses Thema ist gesperrt, Du kannst keine Beiträge editieren oder beantworten.
Seite 1 von 1

Deutsches Schriftstellerforum Foren-Übersicht -> Antiquariat -> Lebenslinien - Ein Kurzgeschichtenband
Du kannst keine Beiträge in dieses Forum schreiben.
Du kannst auf Beiträge in diesem Forum nicht antworten.
Du kannst Deine Beiträge in diesem Forum nicht bearbeiten.
Du kannst Deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.
Du kannst an Umfragen in diesem Forum nicht teilnehmen.
In diesem Forum darfst Du Ereignisse posten
Du kannst Dateien in diesem Forum nicht posten
Du kannst Dateien in diesem Forum nicht herunterladen
 Foren-Übersicht Gehe zu:  


Ähnliche Beiträge
Thema Autor Forum Antworten Verfasst am
Keine neuen Beiträge Lebenslinien - Ein Kurzgeschichtenband
Wichtig: [Handlung & Rezensionen] zu 'Feue...
von Schatten
Schatten Lebenslinien - Ein Kurzgeschichtenband 2 12.02.2010 20:47 Letzten Beitrag anzeigen

EmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungBuchEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungBuch

von Jenni

von d.frank

von Keren

von Mana

von Mika

von fancy

von hobbes

von Tiefgang

von Rike

von Nina C

Impressum Datenschutz Marketing AGBs Links
Du hast noch keinen Account? Klicke hier um Dich jetzt kostenlos zu registrieren!