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Adventskalender 2023: Die Fensterchen

 
 
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Mercedes de Bonaventura
Geschlecht:weiblichMetonymia

Alter: 40
Beiträge: 1254
Wohnort: Graz


Beitrag22.12.2023 02:00
lichten
von Mercedes de Bonaventura
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Empfehlung

von Mercedes de Bonaventura
lichten



Ich wartete. Nur in Pullover und Hosen stand ich auf dem Balkon im dritten Stock meiner Wohnung in der Nygatan 27 und blickte auf den belebten Slottstorget Platz, der gefüllt war mit frohmütigen Menschen. Es hatte weit unter null Grad. Mir war kalt.
„Glänzende Lichter da und dort“, sagte der Junge Tom, „überall.“ Zumindest das Kind war so klug gewesen, sich Mütze und Jacke anzuziehen.
Stolzen Schrittes gesellte sich Herr Klas zu uns. „Zwei. Eins. Drei. Vier. Sieben. Elf“, sagte der Mann mit Rauschebart. Den roten Mantel warf er gebieterisch über die Seite zurück und enthüllte seine weißen Unterhosen.
„Warum ein Ziegenbock, Tore Löfegren?“, fragte der Junge und zeigte auf den Slottstorget Platz. Ich wusste es nicht.
Tom reichte mir einen Teller mit Hafermilchbrei. Ich trank. Es schmeckte grauenhaft. Geradezu widerlich. Nur um das Kind nicht zu kränken schluckte ich, bis mein Magen streikte.
„In die Sonne. In die Sonne. Wir sinken“, Herr Klas holte einen faustgroßen Stein hinter dem Rücken hervor, schleuderte ihn gegen den Nachthimmel.
„Tore Löfegren?“, sagte Tom leise. „Tore Löfegren?“, wiederholte er. Der Junge zeigte auf den Kamin im Wohnzimmer. Auf ein kleines Holzkästchen, das davor lag.
„Das ist nicht meines.“
„Aber es muss Tore Löfegren gehören. Nur Tore Löfegren wohnt hier. Ein Geschenk für Tore Löfegren, vielleicht?“, fragte Tom, der hineingegangen war und meinen halbvollen Hafermilchbreiteller auf den Tisch stellte. Ich folgte ihm.
„Wer sollte mir etwas schenken wollen?“
Darauf schien der Junge keine Antwort zu wissen. „Tore Löfegren muss es öffnen!“
„Mehl und Messer. Der Admiral“, rief Herr Klas.
Ich hatte wenig Lust das Spektakel vor dem Haus zu verpassen, also bückte ich mich rasch nach dem Ding. Es war warm. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Zögerlich hob ich den Deckel an. Erst verstand ich nicht, was ich sah. Glaskugeln? Mein Gehirn bekam es nicht zu fassen. Dann begriff ich. Es waren Augen. Zwei Augen mit blauer Iris. Echte Augen.
Ich japste, meine Arme schüttelte der Ekel. Holzkästchen und Augen flogen durch die Luft, landeten im kalten Kamin.
Ein fragender Blick von Tom, doch ich war unfähig zu sprechen. Der Junge nahm den Schürhaken aus der Halterung und stocherte damit in der Asche.
„Rüben zählen. Gedeih! Gedeih!“, Herr Klas steckte seinen Kopf zur Tür herein.
Das Kind betrachtete was es freigelegt hatte. „Oh!“, gab es von sich, „Lucys Augen.“
„Lucys Augen?“
„Die Luft erstickt. Ein Messer. Beeilung! Käsegrün. Tut Tut.“
„Sie vermisst sie bestimmt“, Tom hob die Augen auf. Mir wurde übel. Sachte tippte Herr Klas gegen die Glasscheibe der Balkontür.
„Tore Löfegren muss sie zurückbringen!“ Der Junge hielt mir die Augen hin. Ich tat einen Schritt rückwärts. Erneut klopfte es. Diesmal heftiger.
„Wer ist Lucy?“, fragte ich.
Tom sah sich um, und flüsterte: „Lucy Lucy.“
Unmöglich. Ich schüttelte den Kopf: „Auf keinen Fall! Das kann nicht sein. Lucy Lucy ist…!“
Ein lautes Klirren unterbrach mich. Herr Klas hatte die Scheibe der Balkontür zerbrochen.
„Wir sind nicht. N kann nicht gleich n · NA sein. Wir werden!“, sagte er.
Doch nicht das Glassplittermeer auf dem Boden lockte mich nach draußen. Es war der hell flackernde Lichtschein, ein in rote Farbe getauchter Slottstorget Platz. Der Ziegenbock war entzündet worden. Ich hatte es verpasst.
„Er will Lucys Augen.“  
Ich verstand nicht, was Tom meinte.
Da bewegten sich die glimmenden Hufe des Tieres. Langsam drehte es sich in Richtung der Nygatan 27, senkte die in Flammen stehenden Hörner.
„Sie werden wärmer“, sagte der Junge, und zeigte auf Lucys Augen.
Kurz zögerte ich. Das Ungetier schnaubte furchteinflößend.
Und ohne weiter darüber nachzudenken steckte ich mir Lucys Augen in die Hosentasche.
„Weg hier. Lauft!“, sagte ich und rannte los.
Ich stürmte die drei Stockwerke hinunter, auf die mit Schnee und Eis bedeckte Nygatan. Tom und Herr Klas folgten mir. Die Norra Rådmansgatan entlang bis zum Rathaus. Links in die Kyrkogatan hinein, hetzte weiter geradeaus bis zur Hattmakagatan, wo ich ungebremst gegen eine Wand aus Menschenkörpern prallte. Versteinerte Männer und Frauen reihten sich stumm aneinander, blickten über uns hinweg. Ihre Haare brannten lichterloh. Es schien sie nicht zu stören.
Vergeblich versuchte ich mich zwischen eine Frau mit feuerrot flackender Perücke und einen jungen Mann im T-Shirt, dessen Fellmütze loderte, zu drängen. Sie rührten sich nicht. In der Hattmakargatan gab es kein Weiterkommen für uns. Ich schwitzte.
„Feuerziegenbock!“, sagte Tom. Das Monster war gewachsen. Mindestens fünf Meter. Die Straße füllte sich mit Rauch.
Ich sah, wie der Junge in die Knie ging und auf allen vieren durch die Beine einer der Umstehenden kroch.
„Aber der Äther? Der Äther!“
„Der muss warten“, sagte ich zu Herrn Klas, packte seinen Arm und zerrte ihn mit zu Boden.
Durch ein Labyrinth aus Waden, über vereiste Pflastersteine, schlitterten wir von der Hattmakagatan zur Norra Strandgatan bis zum Fluss Gavleån.
„Über den Steg!“, rief ich den beiden zu, während der gewaltige Feuerschein an den Hauswänden entlang uns folgte.
Am Sjöfartsmonumentet in der Mitte des Flusses durchfuhr ein stechender Schmerz meine rechte Seite. Ich holte die Augen hervor. Meine Finger brannten. Mir fiel nichts Besseres ein, und ich zog Schuhe und Socken aus und füllte meine Taschen mit Schnee, steckte die Augen in die Socken und die Socken in die Hosentaschen.
„Wir brauchen ein Boot“, sagte Tom, doch ich wusste, dass es dafür zu spät war. Der Ziegenbock hatte uns eingeholt. Hinter uns prasselte es laut.
„Tore Löfegren“, flüsterte der Junge und zeigte auf meine qualmende Kleidung. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Mein Herz raste. Doch kampflos wollte ich nicht aufgeben. Vom Fluss her stiegen Nebelschwaden auf, die uns einhüllten.
Ich deutete Tom und Herrn Klas hinter dem Sjöfartsmonumentet in Deckung zu gehen. Mit weit ausgebreiteten Armen drehte ich mich zu dem Riesenvieh, gab ein animalisches Brüllen von mir und warf mich gegen das Tier. Ich rang mit den Flammen, die mir den Pullover versengten, trat gegen brennende Strohballen, riss an ihnen. Beißender Rauch überall. Es roch nach verbranntem Haar.
Jemand zog an mir. Mich heraus aus dem Feuer. Meine schmelzende Haut erstarrte in der kühlenden Kälte. Ich stieß mit voller Wucht gegen das Geländer des Stegs, wurde über die Absperrung gehoben. Und mit einem Mal fiel ich. Und ich schrie. Oben war unten, unten gab es nicht mehr, alles war dunkel, nur ich glühte. Der Aufprall auf dem eisigen Gavleån zerriss meine Haut und brach mir meinen Willen. Einmal noch einatmen, dann ließ ich los und es geschehen.
Etwas packte mein Bein, zerrte mich mit sich unter Wasser, immer weiter, tiefer. Meine Lunge zersprang. Ich wurde herumgewirbelt.
„Tore Löfegren!“, sagte Lucy Lucy, die in ein fließendes Gewand gehüllt, im Fluss schwebte. Ihr langes blondes Haar erleuchtete die Dunkelheit. Lucy Lucy war schön wie eh und je. Unversehrt. Vollkommen. Sie hatte ihre Augen wieder.
Ich streckte meine Hand nach ihr aus, doch bekam ich nur einen glitschigen Stein zu fassen.
Mit dem Gesicht im Schlamm fand ich mich am Ufer des Gavleån wieder. In einer kleinen Bucht. Eine zerstörte Feuerstelle. Ein zerbrochener Holztisch davor. In der Ferne Lichter. Ich war immer noch in Gävle. T-udden Naturreservat. Mühsam zog ich mich hoch. Ich fror.
Zwei Gestalten kamen über den schmalen Kiesweg entlang auf mich zu. Es war Tom, zusammen mit Herrn Klas.
„Tore Löfegren. Tore Löfegren!“, rief der Junge freudig.
Das Zittern wurde schlimmer. Ich war nackt.
Herr Klas nahm seinen roten Mantel ab und hängte ihn mir über die Schultern.
„Barba decet virum“, sagte er, drehte sich um, und trug seine weißen Unterhosen in die Nacht davon.
Der Junge Tom reichte mir Hafermilchbrei. Ich setzte den Teller an den Mund und trank die wärmende Mahlzeit. Es schmeckte süßlich, nach Honig, Zimt und Mandeln. Das Kind lächelte. Es winkte zum Abschied und ließ mich alleine zurück.
Als der Himmel über mir explodierte und es Glitzerstaub in bunten Farben regnete, sank ich mit dem leeren Teller in Händen in den feuchten Sand. Ich wollte mehr.


_________________
"Every secret of a writer's soul, every experience of his life, every quality of his mind is written large in his works."
(Virginia Woolf)
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Longo
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Alter: 34
Beiträge: 890



L
Beitrag23.12.2023 09:28

von Longo
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Dreiundzwanzigster, morgens

Mit Leander auf dem Arm auf den Friedhof neben dem Bahnhof -
Vorne an den Urnengräbern vorbei,
ich begrüße bekannte Gesichter.

Ganz links Martin mit Zigarette in der Hand,
schaut betrübt nach links,
daneben Reinhold und sein Schwiegervater Oskar
mit der großen Fliegerbrille,
Marco hat die Augen geschlossen.

Weit hinten ist das Grab von meiner Oma;
sie sitzt auf der alten, weißen Gartenbank,
schwarzer Mantel, Stock und sie freut sich.
Leander setze ich vor dem Grab ab und sage:
„Schau, das ist das Grab deiner Uroma Maria,
sie freut sich, dich auch mal zu sehen.
- Frohe Weihnachten Maria.“
Leander schaut auf das Grab und ist sich
einen ganz kleinen Moment unsicher,
dabei blicke ich auf meine Armbanduhr
und sage: „Unser Zug kommt gleich“.
Danach machen wir unsere erste gemeinsame Zugfahrt in die Berge.


Dreiundzwanzigster, abends

Geschenke eingepackt,
mit Tesa zugeklebt.
Für den Kleinen einen siku LKW,
Für die Ehefrau was von Douglas.
Dabei wollten wir uns gar nichts schenken,
noch nicht mal diesen einen Kuss
von vor zehn Jahren,
Glühwein im Bauch,
Rotation im Hirn,
Ich bin besoffen, sagte ich,
Und du: Merkt man gar nicht.
Nun trinken wir nur einen Glühwein,
denn morgen ist Heiligabend
und Schwiegermutter kommt.



MFG Longo
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HansGlogger
Geschlecht:männlichKlammeraffe
H

Alter: 65
Beiträge: 614
Wohnort: Bayern


H
Beitrag24.12.2023 01:06
Ankunft am Heiligen Abend
von HansGlogger
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Ankunft am Heiligen Abend

Heiligabend gegen achtzehn Uhr klingelt es an der Haustüre. Ich öffne, vor mir steht ein Paar, die Frau sehr jung, mit Kopftuch und hochschwanger, der Mann, etwas älter, trägt einen Vollbart mit ersten grauen Spitzen.
»Wir sitzen hier in der Stadt fest und finden kein Hotel mehr. Können Sie uns helfen?«, fragt sie. Ich biete an, sie mit dem Auto heimzufahren. Geht nicht, sie wohnen Hunderte von Kilometern entfernt, sagen sie. Bahnhof? Die Lokführer streiken, kein Zug fährt mehr.
»Wie sind Sie denn hier gelandet?«, frage ich.

»Wir hatten einen Termin beim Finanzamt. Mein Verlobter besitzt eine Zimmerei, schon seit Generationen in der Familie, und wir wollen sie dieses Jahr, noch vor der Hochzeit, in eine GmbH umwandeln. Das Finanzamt hat uns zu den Unterschriften persönlich einbestellt. Dummerweise ist der Firmensitz immer noch hier und mein Verlobter und ich mussten in die Stadt seiner Vorväter zurückkehren. Als wir endlich fertig waren, kam die Nachricht vom spontanen Streik. Alle Hotels sind ausgebucht oder wegen Personalmangels geschlossen«, erklärt sie weiter.
»Dann kommen Sie erst mal rein«, antworte ich, »Sie können ja versuchen, Freunde oder Verwandte in der Nähe anzurufen.« Meine Frau bittet sie an den Tisch, vollbesetzt mit den Familien unserer Kinder, und bietet ihnen Essen an, das sie gerne annehmen.

»Wir kennen niemand hier. Können wir vielleicht bei Ihnen über die Nacht bleiben?«, fragt die Fremde schüchtern.
Wir haben absolut keinen Platz, alle Räume sind mit den Besuchern belegt. Aber da ist das Gartenhaus.
»Dieses Jahr habe ich einen alten Stall meiner Oma umgebaut. Da steht ein breites Bett. Ich habe Strom und Wasser rüber gelegt, Heizung gibt es und ein kleines Bad ist auch eingerichtet. Früher war es ein Stall für Hühner und Ziegen, jetzt ist es ein richtiges Gästehaus. Das könnte ich Ihnen anbieten. Das Motorrad meiner Oma steht noch dort, das schieben wir raus«, antworte ich. Die beiden strahlen mich an.

»Vielen tausend Dank für Ihre Gastfreundschaft. Wir heißen übrigens Maria und Josef«, erwidern sie.
»Alles andere hätte mich auch gewundert«, gebe ich zurück.
Sie essen mit uns, reden nicht viel und betrachten lächelnd die Enkel, die jauchzend Geschenke auspacken.
Nach dem Familienmahl löschen wir das Licht und singen im Kerzenschein „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Draußen schweben riesige Schneeflocken langsam zu Boden.
»Schnee an Weihnachten. Das ist ein Wunder«, sage ich in die andächtige Stille hinein.
»Es wird ein weiteres geschehen, noch in dieser Nacht, ein unendlich größeres«, antwortet Maria leise.
Die Kinder schlafen nach und nach, ermattet von Freude, auf dem Teppich ein. Der Hund schnarcht schon länger mit vollem Bauch vor sich hin. Die beiden stehen auf, bedanken sich mehrmals und bitten mich, ihnen ihre Unterkunft zu zeigen.

Es fällt kein Schnee mehr, am klaren Himmel sehen wir einen außergewöhnlich hellen Stern, der direkt über der Hütte leuchtet. Ich deute stumm auf ihn.
»Eine scheinbare Vereinigung von Jupiter und Saturn, eine Konjunktion. Sie kommt selten vor, alle zwanzig Jahre im Durchschnitt. Etwa alle vierhundert Jahre geschieht dies dreimal in einem einzigen Jahr. Wir hatten eine dreifache Konjunktion um das Jahr eins herum«, erklärt Josef.
Ich betrachte fast ehrfürchtig den Stern.
»Dieses Jahr übrigens auch«, sagt Maria.
Josef und ich schieben das Motorrad aus dem Stall. Lachend zeige ich auf eine alte Futterkrippe für die Ziegen.
»Die Krippe wäre da, mit Heu und Windeln kann ich leider nicht dienen.«
»Windeln wird er nicht benötigen«, antwortet Maria schmunzelnd.
»Sie haben ein Handy. Rufen Sie mich jederzeit an, wenn Sie etwas brauchen«, sage ich zum Abschied und gebe ihnen meine Visitenkarte.
Das Telefon lege ich neben das Bett, stelle es auf laut und schaue noch kurz im Internet, was als Ersthelfer bei einer plötzlichen Geburt zu tun wäre, bis der Rettungswagen eintrifft. Doch nachts bleibt es völlig ruhig.

Früh am nächsten Morgen lasse ich den Hund in den Garten, damit er sein Geschäft verrichte. Er hebt das Bein, wittert Richtung Hütte, rennt hin, bellt und kratzt aufgeregt an der Türe. Nach mehrmaligem Rufen trottet er zu mir zurück. Er will nicht ins Haus, sondern stößt mich immer wieder mit der Schnauze an. Schließlich zerre ich ihn in das Wohnzimmer. Dort kratzt er winselnd an der Terrassentür. Nach einer Viertelstunde gebe ich seinem Drängen nach. Er stürmt zur Hüttentür und kratzt wieder an ihr. Ich klopfe behutsam an. Eine Männerstimme fordert mich zum Eintreten auf.

Drei Personen sitzen am Campingtisch in der Mitte des Raumes: Maria, Josef und ein Unbekannter, Anfang dreißig, lange Haare, Vollbart. Er trägt eine Art Tunika aus Wolle, die von einem Ledergürtel zusammengehalten wird, darunter ein Gewand aus Leinen. In der Mitte des Tisches steht eine große Holzplatte voller orientalischer Köstlichkeiten. Daneben ein Korb mit Fladenbrot und ein Tonkrug. Marias Umstandskleid hängt lose an ihrem Bauch. Ich schaue, ob auf dem Bett ein Kissen liegt, das sie vielleicht darunter trug. Nichts. Vielleicht ein Luftballon? Schnell trete ich einen Schritt zurück und stehe zum Rückzug bereit an der Türe. Der Hund drängelt an mir vorbei zum Fremden, stößt ihn mit der Schnauze an, bis er ihn streichelt. Dann lässt er sich zu seinen Füßen nieder. Noch nie habe ich das bei ihm gesehen, sonst ist er gegen Fremde immer zurückhaltend und misstrauisch.

»Wer sind Sie, bitte? Und wo ist das Kind?«, frage ich.
»Es ist kompliziert. Er gehört aber zu uns«, sagt Maria.
»Sehr kompliziert! Das mit dem Kind auch«, ergänzt Josef.
Der Unbekannte steht auf und hebt beide Arme wie zum Segen.
»Fürchte dich nicht! Ich verkünde dir eine große Freude, ich bin gekommen, der Welt Frieden zu bringen«, begrüßt er mich.
Haben die was geraucht? Tief ziehe ich die Luft ein, rieche den Duft der Speisen und meine, den wohlbekannten Geruch frischen Heus wahrzunehmen, der auch vom Gewand des Fremden ausgehen könnte.
»Lasse dich nieder, iss und trinke mit uns«, lädt er mich ein. Maria leert den Krug bis zur Neige in den Becher auf dem freien Platz am Tisch.
»Wir haben keinen Wein mehr!«, sagt sie und reicht dem Vollbärtigen den Tonkrug. Der füllt ihn am Wasserhahn auf.
»Eigentlich muss ich gleich zurück. Meine Familie wartet.«
»So nimm einen Bissen Brot und trink einen Becher Wein. Du wirst erzählen können, dass du bei unserem ersten Morgenmahl dabei warst«, erwidert er. Ich setze mich auf den freien Stuhl, reiße ein Stück Fladenbrot ab und trinke aus dem einfachen Tonbecher den besten Wein, den ich je gekostet habe.
»Wenn ich euch zum Bahnhof oder sonst wohin bringen soll, gebt mir bitte Bescheid!«, sage ich.
»Danke. Wir haben schon ein Taxi bestellt«, erwidert Maria.
»Fahren die Züge wieder?«
»Unser Weg führt zum Flughafen«, antwortet sie.
»Wohin geht denn die Reise?«

»Nach New York zur UNO. Heute noch werde ich die Weltherrschaft übernehmen und meiner Herrschaft wird kein Ende sein. Heute noch werden alle Kriege enden. Heute noch werden Hunger oder Durst für immer vorbei sein«, antwortet der Unbekannte.
»Dein Wort in Gottes Ohr!«, erwidere ich trocken.
»Der war gut!«, rufen Maria und Josef und lachen laut.
»Na hoffentlich wird er bei der Ankunft nicht sofort verhaftet. Die verstehen dort keinen Spaß«, sage ich.
»Das wird nicht geschehen. Warte nur! Heute Abend werden Internet, TV-Sender und Radiostationen unter der Flut der Meldungen aus aller Welt zusammenbrechen. Sehen und hören werden ihn trotzdem alle. Und nun gehe hin in Frieden«, antwortet Josef. Ich stehe auf und rufe den Hund, der hebt nur kurz den Kopf.
»Lass ihn hier bis wir aufbrechen!«, sagt der Fremde.
Eine Stunde später fährt das Taxi vor. Maria und Josef gehen voran. Mit einfachen Ledersandalen an den nackten Füßen stakst der Fremde hinter ihnen durch den Schnee, wie ein Storch, der den Zug seiner Artgenossen in den Süden verpasst hat.
Weltfriede und genug Nahrung für alle. Das wäre ein guter Anfang vom Ende der Menschheitsgeschichte. Möget Ihr Erfolg haben, rufe ich ihnen in Gedanken nach.


Anmerkungen
Hier einige Bibelstellen und andere Texte, auf die die Geschichte Bezug nimmt. Die Quelle ist teilweise Wikipedia.

Zum ersten Teil bis zum morgendlichen Treffen in der Hütte.

Weihnachtsevangelium nach Lukas

„Es geschah aber in jenen Tagen, dass Kaiser Augustus den Befehl erließ, den ganzen Erdkreis in Steuerlisten einzutragen. Diese Aufzeichnung war die erste; damals war Quirinius Statthalter von Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete. Es geschah, als sie dort waren, da erfüllten sich die Tage, dass sie gebären sollte, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.“  Lk- 2,1–7

Zimmerei
Josef war nach dem biblischen Bericht Zimmermann.

Zum Titel und dem zweiten Teil

Advent (lateinisch adventus „Ankunft“), eigentlich adventus Domini (lat. für Ankunft des Herrn), bezeichnet die Jahreszeit, in der die Christenheit sich auf das Fest der Geburt Jesu Christi, Weihnachten, vorbereitet. Zugleich erinnert der Advent daran, dass Christen das zweite Kommen Jesu Christi erwarten sollen.

Begrüßung des „Fremden“ nach Lk- 2,8–14
8 In dieser Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde. 9 Da trat ein Engel des Herrn zu ihnen und die Herrlichkeit des Herrn umstrahlte sie und sie fürchteten sich sehr. 10 Der Engel sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll. … 13 Und plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach: 14 Ehre sei Gott in der Höhe / und Friede auf Erden / den Menschen seines Wohlgefallens.

Weihnachtsstern
https://de.wikipedia.org/wiki/Stern_von_Betlehem#Konjunktionstheorien
Meiner Herrschaft wird kein Ende sein
Nach dem Großen Glaubensbekenntnis

Wasser zu Wein
Die Hochzeit zu Kana ist die erste Wundererzählung aus dem Neuen Testament. Sie berichtet davon, wie Jesus von Nazaret auf Bitte Marias hin als Gast einer Hochzeitsfeier Wasser in Wein verwandelte (Joh 2,1–12 EU).

Gehe nun hin in Frieden
Mit den Worten „Gehet hin in Frieden“ beendet der Priester die Messe.


_________________
Wenn keiner ja sagt, sollt ihr's sagen.
Wenn keiner nein sagt, sagt doch nein.
Wenn alle zweifeln, wagt zu glauben.
Wenn alle mittun, steht allein.
Lothar Zenetti, Was keiner wagt
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