Der Flug des Kolibri

[etcetera]

Ok, um meinen miesen Lyrik-Beitrag im Einstand wieder gut zu machen, habe ich mein kleines Kästchen aufgemacht und ein ernsthafteres Verslein herausgesucht.Es heißt:

Der Flug des Kolibri

Wenn ich hinaus schaue
Schaut sie herein
Frage nicht wer
Oder ob es irgend etwas gäbe,
Das wichtig sei
Oder sinnvoll
In diesem einen Moment
Unverrückbar im Zustand der Ruhe
Eingebettet in der Ewigkeit
Kein Oben, kein Unten  
Kein Vorher, kein Nachher.
Alle Dinge, so wie sie wirklich sind,
Für immer bleiben sie
Verankert im Geheimnis,
Zwischen mir und dem Ort,  
An dem ich alles weiß
Und doch nichts mehr zu wissen brauche.
-

[Pickman]

Schööön! Ein Liebesgedicht?

[etcetera]

Hermetische Lyrik – so wie ich sie interpretiere - hat immer eine verborgene Bedeutung, die sich nur dem Unbewußten erschließt. Wenn es sich dir als Liebesgedicht offenbart, berührt es eben genau das in dir.
Genauso könnte ein anderer darin eine Andeutung von Erkenntnis – Selbsterkenntnis - finden.
Ganz gleich, was sich einer Person erschließt, es ist immer völlig richtig.
Auch, wenn die Intention eine völlig andere ist, es ist immer das wahr, was jemand darin liest. Allerdings – die Bedeutung kann sich im Laufe der Zeit ändern, genauso, wie sich jemand in seinem Leben ändert.

Mir kam es in einer kleinen Hütte in Patagonien in den Sinn. Eines Morgens, zitternd vor Kälte und einer Decke über der Schulter, schlürfte ich einen Kaffee und schaute zum Fenster hinaus. Plötzlich brauste ein winziges Vögelchen heran und blieb mit wild flatternden Flügeln genau vor dem Fenster in der Luft stehen. Auf Augenhöhe und vielleicht eine Armlänge voneinander entfernt, nur eine einfache Scheibe aus Glas zwischen uns, starrten wir uns gegenseitig an. Es erschien mir, wie ein richtiges Wunder, denn dieser winzig kleine Vogel, angestrahlt vom Licht der aufgehenden Sonne, funkelte in herrlichen Farben von glänzendem Grün und feurigem Rot,umschlungen von glitzerndem Gold, wie ich es noch nie gehen hatte. Es war einer dieser Momente, der das Leben wie ein großes Geheimnis erscheinen läßt. Liebe? Mit Sicherheit, ja!

[Pickman]

Danke, etcetera, das erklärt, was der Titel mit dem Gedicht zu tun hat.

Da der Kolibri aber - grammatikalisch gesehen - maskulin ist, müsste dann in der zweiten Zeile nicht stehen schaut er herein?

[etcetera]

Kommt auf die Perspektive an!

Allerdings, was ich dazu gesagt habe, war nur eine Vorgeschichte, dazwischen liegt eine lange Assoziationskette.

Bei den Ureinwohnern Südamerikas wird der Kolibri als Botschafter der Liebe, des Lichts und auch der Hoffnung verehrt. In erster Linie sieht man in ihm einen Boten des Himmels oder auch des Jenseits. Der Flug des Kolibri verbindet somit das Überirdische mit dem Irdischen. Vielleicht ist es hilfreich, wenn man das weiß...?
Hermetische Lyrik kann etwas Wunderbares an sich haben, unterliegt jedoch immer der Gefahr, kaputt interpretiert zu werden, weshalb ich sie normalerweise auch nicht veröffentliche (lediglich als Handschrift - das hier war eine Ausnahme)

Belassen wir es einfach bei deiner ersten, intuitiven Interpretation, diese gefällt mir sehr!

[Pickman]

Na gut

[Janus]

Hallo etcetera!

schönes Gedicht! Gerne gelesen und gerührt. Dann noch einmal gelesen, nach deiner Anmerkung gegenüber Pickman und noch einmal gefreut. Gute Lyrik.

Beste Grüße
Janus

[Dörte]

Dankeschön. Ich musste das Gedicht jetzt mehrfach lesen und es gibt wunderbar die Stimmung dieses Momentes wieder mit einer tiefen Wahrheit eingebettet. Danke für dieses wundervolle Beispiel klarer und gleichzeitig geheimnisvoller Sprache!

[etcetera]

Freut mich, daß es Euch gefällt. Danke für die netten Kommentare!