An alle mit Todessehnsucht

[Tisssop]

Denk an die Geburtsschreie deiner Mutter
Denk ans erste Lächeln auf deinem Gesicht
Fühl die Perlen deiner ersten Liebe
Spüre wie jemand über dein Herz wacht

Wo ist das Kind in dir verschwunden?
Unter welcher Kruste entflieht es dem Mut?
Ein Selbstmörder tötet einen Fremden
Eine Selbstmörderin tötet eine Fremde

Im eiskalten Tageslicht eine Leiche
Der Himmel matt und wolkenschwer
Eine Sekunde vernichtete ein Wunder
Dieses Wunder wirst du gewesen sein

Ein Verschollener den manche liebten
Entflohener im Käfig des Zweifels
Das ewige Mädchen von nebenan
Vertrieben ins Gefängnis der Ängste

Fühl in dir das Wunder deines Lebens
Eine Sekunde trennt dich vom Tod
Ein Selbstmörder tötet einen Fremden
Eine Selbstmörderin tötet eine Fremde

[BlueNote]

Ich glaube, die Empathie für Selbstmörder erreicht mit 30 ihren Höhepunkt. Bei mir hält sich das Opfer/Täter-Gleichgewicht so etwa die Waage. Dass ein Selbstmörder einen Fremden tötet, ist ein guter Gedanke. Deswegen die Reprise. Handwerklich also gut gemacht.

Wenn ich an die Geburtsschreie meiner Mutter, oder an das erste Lächeln in meinem Gesicht (so etwa mit 28) denke, denke ich: dann vielleicht besser gar nicht geboren (erspart auch den für das Umfeld unangenehmen Selbstmord). Mein Nachbar hat sich in den letzten Tagen erschossen. Ich habe sogar den Schuss gehört und die eiskalte Tageslichtkälte für einen Moment gespürt. Aber viel schreiben möchte ich darüber nicht. Ich glaube, ich mag keine Literatur, die sich mit Selbstmord beschäftigt.

[WSK]

Und was ist jetzt die Aussage?
Ein Selbstmörder soll ein schlechtes Gewissen haben und für andere weiterleben?
Oder er soll erkennen, dass sein Leben ein Wunder ist, und gefälligst glücklich sein?

Auf mich wirkt das Gedicht vorwurfsvoll und belehrend.
Und das ist das Letzte, was ein lebensmüder Mensch gebrauchen kann ...

[Babella]

Zeigt für mich vor allem Unerfahrenheit. Schon "Selbstmord" ist ein äußerst fragwürdiges Wort.

Menschen, die aus dem Leben gehen, tun das nicht, weil sie Tod so toll finden, sondern weil sie keinen Ausweg wissen oder weil es objektiv keinen gibt (siehe z. B. Herrndorf "Arbeit und Struktur": Wer ihn im Anschluss in dieser Weise als "Selbstmörder" verunglimpft, ist merkbefreit). Welche Mutter hat ihr Kind gefragt, ob es zur Welt kommen möchte?

Das erste Lächeln im Leben ist lang vorbei. Die erste Liebe auch, und vielleicht ist die Liebe des Lebens auch schon verstorben. Weißt du's?

Ich weiß nicht, was die Absicht des Gedichts ist, aber es wird niemandem helfen, der nicht weiter weiß mit seinem Leben oder es nach reiflicher Überlegung selbst beenden will.

[Tisssop]

@BlueNote: Mein Beileid für deinen Nachbarn. Danke fürs Feedback.

Liebe Grüße
Max