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Davids Lachen - Eine Weihnachtsgeschichte

 
 
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writingdarkness
Gänsefüßchen
W


Beiträge: 21
Wohnort: Wien


W
Beitrag23.12.2006 14:15
Davids Lachen - Eine Weihnachtsgeschichte
von writingdarkness
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Vorwort:

Mit dieser Geschichte knüpfe ich lose an die längere Kurzgeschichte: Walden schreibt an. In der Geschichte ging es um die beiden Jungs Josh Sandler und David Summerfield, deren Eltern im Hügelland unterhalb des Glacierparks in Montana Lodges betreiben. Die beiden Pferdenarren finden eines Tages heraus, wie der National Book Award Preisträger Robert Walden (Es gibt keine UFOs über Montana, Patricks  Landing) seine Geschichten für die Ewigkeit präpariert. Diese Weihnachtsgeschichte, in der die beiden Jungs wieder auftauchen, spielt zwei Jahre später.

Das Lächeln war David fremd. Ebenso fremd wie so manches andere an seinem Körper. Lächeln, dachte er, ist wie ein  Dieb, der nachts in fremde Häuser einsteigt. David lachte nicht ? nicht mehr. Würde man ihn fragen, warum er nicht mehr lächelte, würde er zu Boden sehen, mit den Schultern zucken und vielleicht murmeln: ?Weil es unangemessen ist.?
Er saß am Schreibtisch vor dem großen Fenster und sah in die frühe Dämmerung hinaus. Im Zimmer hinter ihm war nur wenig Licht. Und Josh Sandler, sein bester Freund, sein einziger Freund.
Die letzten Gäste kamen vom Skifahren zurück. Die zwei weißen Jeeps spuckten eine Horde lachender und glücklicher Familien aus. David sah ihnen von seinem Zimmer aus zu, das im ersten Stock der Lodge seiner Eltern war. Der Wohntrakt der Familie Summerfield war der halbe erste Stock der Lodge.Im anderen Teil dieser Etage hatten sie drei Zimmer für Saisonpersonal eingerichtet.
Im Lauf der Jahre war es hier immer wohnlicher geworden, schöner und heimeliger. David hatte ein sehr großes Zimmer für sich allein, einen modernen PC unter dem Tisch, einen Glasscreen auf dem Tisch. Wenn er nicht in der Schule war oder Besuch von Josh hatte, surfte er im Internet oder chattete. Aber heute war Josh hier, saß still auf Davids ungemachtem Bett und hatte die Hände im Schoß. Bis eben hatten sie Schach gespielt, mit uralten, holzgeschnitzten Figuren ? ein Geschenk von Josh´s Vater zu Davids achtzehnten Geburtstag vor einem halben Jahr.
Die Gäste verschwanden unten im Haus. Sie würden nun auf ihre Zimmer gehen, sich duschen, umziehen und später zum Abendessen in den großen Saal kommen. Heute gab es Hackbraten mit Röstkartoffel und grünem Salat. David wandte sich vom Fenster ab, griff in die Räder und drehte sich zu Josh um: ?Wirst du heute mit mir essen?? Josh sah ihn bedauernd an und hob die Schultern: ?Heute geht?s nicht. Ich muss Paps helfen, die Lieferung Bierfässer in den Keller zu schaffen. Das schafft er nicht mehr allein. Es ist die letzte Lieferung vor Weihnachten, also ziemlich viel. Ich muss eh schon los.?
?Schon gut.? David sah an sich herab, zu seinen verhassten dünnen Beinen, die in einer zu großen Jeans steckten, zugedeckt mit einer Steppdecke mit einem indianischen Muster. Seine Mutter hatte ihm die gemacht. Josh stand auf, ging zu David, umarmte ihn und strubbelte seine Haare, lächelte ihn an: ?Ok, tschüss dann. Wir sehen uns gleich morgen in der Früh.?
David nickte. Josh ging. Und als Josh schon bei der Tür war, sie öffnete und leise hinausgehen wollte, fragte David: ?Wieso bist du eigentlich noch mein Freund? Mit mir ist nichts mehr los. Mit mir kann man nichts unternehmen ...?
?Blödsinn Dave, Blödsinn. Die Rollstuhlrennen mit dir durchs Haus sind erste Sahne, echt.?
?Du hast meine Frage nicht beantwortet.?
Josh drehte sich um und schenkte David ein warmes Lächeln. Er holte Luft, verzog das Gesicht zu einer übetriebenen Grimasse der Nachdenklichkeit und sagte dann: ?Als wir beide beschlossen, Freunde zu sein, habe ich kein Formular unterschrieben, wo es etwas Kleingedrucktes gibt. Zum Beispiel, dass ich nicht mehr dein Freund sein darf, nur weil du ein Krüppel bist. Du warst mein Freund, bevor  Lightning dich abwarf, und du bist es jetzt. Und du wirst es bleiben. Weißt du, ich liebe dich. So oder so.?
David verzog das Gesicht und murrte: ?Werd mir hier nicht schwul, Alter.? Ein verdächtiger Schimmer erschien in seinen Augen. Josh strich mit seinen Daumen über die feuchte Haut unter den Augen: ?Und du werd mir hier nicht rührselig, Alter.? David stieß Josh´ Hände weg und fuhr sich mit dem Unterarm übers Gesicht: ?Drauf geschissen. Also bis morgen, ok??
?Klar.?

Josh ging raus, klappte die Tür hinter sich zu und David konnte Josh´ Schritte auf dem alten Holzboden knarren hören. Jetzt die Stufen ... Und jetzt die Seitenür neben dem Stall. David hörte das grp grp grp von Joshs Stiefeln, das Knarren der Stalltür. Ein leises Wiehern. David schwang den Rollstuhl herum und manövrierte sich seitlich am Schreibtisch vorbei zum großen Fenster. Josh führte Gordon am Zaumzeugs aus dem Stall, schloss die Tür und schwang sich mit jugendlicher Leichtigkeit in den Sattel. Er setzte sich die Rollhaube auf, nahm das Zaumzeugs und dirigierte den dunkelbraunen Hengst mit der Leichtigkeit langjähriger Übung zum gereinigten Kiesweg, der die Lodge von Davids Eltern mit der Deerhunter Lodge von Joshs Eltern verband. Eigentlich könnte Josh zu Fuß gehen, aber er liebte das Pferd. Er liebte es, auf seinem Pferd zu reiten.
David erinnerte sich, wie sehr er es geliebt hatte, auf Lightning auszureiten, an der Seite seines besten Freundes über die hügeligen Weiten des nördlichen Montana zu reiten. Sein Gesicht verkrampfte sich, als er sah, wie Josh im Dunkel jenseits der letzten Straßenlaterne verschwand. Er kämpfte mit aller Macht dagegen an. Aber er verlor. Er begrub das Gesicht in den Händen und schluchzte verkrampft, bis ihn seine Mutter zum essen holte.

Die Familie Summerfield aß seit jeher im Speisesaal mit den Gästen. Sie hatten einen großen, runden Familientisch etwas abseits, beim Eingang zur Küche. Früher gab es hier drei Sesseln am Tisch. Jetzt nur noch zwei. Sein Vater hatte sich nach Joshs Unfall viel Mühe gegeben, seine eigene Erschütterung zu überspielen, in dem er im Haus allerhand Veränderungen durchführte, um seinem siebzehnjährigen Sohn das Leben so leicht wie nur möglich zu machen. Aber als alles getan war, was er machen konnte, distanzierte er sich von Josh. Er wurde nicht unhöflich zu ihm, noch schränkte er irgendwie seine Liebe zu ihm ein. Er schränkte nur den Kontakt etwas ein, hatte immer etwas zu tun. Trost und familiäre Wärme floss David in erster Linie von seiner Mutter zu. Abgesehen davon, dass ein hübscher, langhaariger Bursche im Rollstuhl auch die mütterlichen Instinkte junger Mädchen weckte, die sie regelrecht darum rissen, ihn bemuttern zu dürfen. Da war es auch schon zu recht unschönen Situationen gekommen. Zum Beispiel, als ein Mädchen ihre Pflegerolle übertrieb und sich an Davids Hose zu schaffen machte, um ihn mit der Hand zu befriedigen. Seit dem Unfall im November letzten Jahres konnte David nicht nur seine Beine nicht mehr bewegen, er bekam auch keine Erektion mehr. Laut Ärzten das bedauerliche Nebenergebnis eingeklemmter Nervenbahnen. David hatte deren Gerede nie verstanden. Er hatte nur kapiert, was es für ihn bedeutete. Es bedeutete: Nie mehr reiten, nie mehr laufen. Für immer auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein und nie mehr einen hoch kriegen. Und das war für einen Siebzehnjährigen das reinste Fegefeuer mit Topreihung auf dem Weg zur Hölle.
Seine Mutter saß ihm am Tisch gegenüber. Sein Vater war in der Küche und half dem Koch, das Essen für die Gäste zuzubereiten. David mochte das leise Stimmgemurmel im Speisesaal. Er mochte es, beim Fenster hinauszusehen, wenn der Schnee herabrieselte ? so wie jetzt. Er dachte: Josh hat es sicher noch nach Hause geschafft, bevor es zu schneien begann. Der ist schnell. Er bemerkte, dass ihn seine Mutter ansah. Obwohl er sie liebte, innig liebte und auch wusste, dass sie ihn liebte, konnte er diesen sorgenvollen Blick nicht ausstehen. Er rührte in den  zermantschten Röstkartoffeln, schob sich etwas in den Mund. Sie sah ihn noch immer an. Genervt fragte David: ?Was??
Seine Mutter zuckte fast unmerklich zurück, bemühte sich um ein Lächeln und fragte leise: ?Du hast ein so schönes Gesicht, David. Ich frage mich, wann du wieder lächeln willst. Dein Lächeln überstrahlt einfach ...?
?Wenn du mir neue Beine vorbeigebracht hast, Mama. Und wenn ich wieder reiten kann und laufen. Und das Werkzeug, um vielleicht mal Vater zu werden, was das betrifft. Dann werde ich lächeln, bis mir die Sonne aus dem Arsch scheint.?
Den Rest des Abendessens verbrachten sie schweigend. Und natürlich war es David aufgefallen, wie sehr er seine Mutter verletzt hatte und wie sehr sie kämpfte, nicht vor ihm zu weinen. Er schämte sich, aber er konnte es auch nicht zurücknehmen. Das verbot ihm sein Stolz, sein dummer, bockiger Teenagerstolz.
Nachdem er als Geste der Entschuldigung sein und ihr Gedeck auf seinem Schoß gestapelt und in die Küche zum Abwaschen gebracht hatte, bevor sie das tun konnte, rollte er in den gemütlichen Fernsehraum, in dem zwei Familienväter saßen und sich die Übertragung eines Handballspiels ansahen. Sie grüßten ihn mit angenehmer Lässigkeit. Der Raum war im Rancherstil eingerichtet und wirkte durch die großen und schweren Sitzmöbel urig und heimelig. Links im Kamin prasselte ein kleines Feuer.
David knackte sich eine Dose Coke und sah desinteressiert dem Spiel zu. Er sah den Sportlern zu ? wie sie liefen und sprangen. Seine Blicke wanderten immer wieder wie magnetisch zu den tanzenden Flammen im Kamin. Die Wärme, die von dort ausging, erfüllte ihn mit stiller Nachdenklichkeit. Dann schaute er an sich hinunter, zu den dünnen Stöcken, dem letzten Rest seiner einstmals sportlichen Beine. Da dachte er: Es tut mir leid, Jesus, es tut mir so leid, was ich zu Mama gesagt habe. Ich wünschte, ich könnte wieder lächeln, alleine nur, um sie lächeln zu sehen. Das wünsche ich mir so sehr.

Es war am 12. November geschehen. Josh und David waren auf Lightning und Gordon unterhalb des Glacierparks von Waldens Farm zurückgeritten. Sie hatten eine kurze Pause am Gedenkschild für Patrick Fletcher gemacht, einem Jungen, der hier vor zwei Jahren von Jugendlichen misshandelt und mit Stacheldraht an einen Begrenzungspfosten gefesselt worden war. Robert Walden hatte ihn gefunden und alles getan, was er tun konnte. Es war zu wenig gewesen: Patrick Fletcher starb an seinen Verletzungen auf dem Weg ins Krankenhaus des Glacier Airport Hospitals.
Sie hatten ihre Hauben abgenommen und taten das, was man wohl am besten als jugendliches Beten bezeichnen könnte: Nachdenklichkeit gepaart mit Dankbarkeit, gesund und am Leben zu sein. Es war schon dunkel, als sie weiter ritten. Auf der Strecke zur Great Sky View Lodge der Summerfields gab es ein paar aus dem Boden ragende kleine Felsen, die ziemlich glatt waren. Es hatte in diesem Jahr zwar noch nicht geschneit, die Temperatur allerdings fiel gegen Abend  auf minus acht Grad.
Davids Pferd Lightning geriet auf einem dieser Felsen außer Tritt, scheute und warf David in hohem Bogen ab. David prallte mit dem Rücken auf einen etwa dreißig Zentimeter hohen Felsgrat. Er bildete sich ein, sogar gehört zu haben, wie die Lendenwirbel brachen. Später dachte er, er hätte dies gesund überstehen können. Aber Lightning, der wie bescheuert wieherte und versuchte, auf den Beinen zu bleiben, rutschte abermals aus und brach sich beide Vorderläufe. Josh war inzwischen geistesgegenwärtig von Gordon abgesprungen und versuchte Lightning zu beruhigen. Doch das half nichts. Lightning schlitterte auf den zwei hinteren Läufen nach rechts zu David und kippte um. Er stürzte mit voller Wucht auf Davids Beine und begrub sie unter sich. David fühlte sich in diesem Moment wie außer sich. Er dachte, völlig ruhig zu sein. Nur Josh schrie: ?Oh mein Gott, Oh mein Gott, David, hörst du mich, David??
David dachte, er sei ganz still, fast heiter. Aber in Wirklichkeit schrie er mit kindlich hoher Stimme: ?Ich spür meine Beine nicht mehr! Um Himmels Willen, ich spür meine Beine nicht mehr! Da ist nichts mehr, Hilfe!??
Als sie sich beide etwas beruhigt hatten, David war fast bewusstlos, schwang sich Josh auf Gordon und ritt zur Summerfield Lodge, um Hilfe zu holen.
In dieser Nacht wurde David nicht nur zum Krüppel, er musste auch zusehen, wie sein Vater Lightning den Gnadenschuss gab, wie sich sein Pferd zum letzten Mal aufbäumte und starb.

Weihnachten kam. Vier Gastfamilien blieben über die Feiertage und erfüllten die Lodge mit Leben und Frohsinn. Kinder tollten herum, die Erwachsenen tranken Glühwein oder stapften am Waldrand entlang, der das südliche Ende des Glacierparks markierte. In den klaren Nächten schimmerten die schneebedeckten Weiden und Hügel in einem sanften, graublauen Licht, der Mond war klar umrissen, und die Sterne funkelten. In diesen Nächten zog sich David den Norwegerpullover an, setzte sich die Haube auf und rollte auf dem Rollstuhl die Rampe hinunter, an den Stallungen vorbei zu einem freien Feld, um dort eine oder zwei Zigaretten zu rauchen. Manchmal auch einen Joint; eigentlich  jede Nacht.
In der Nacht zum vierundzwanzigsten Dezember kam er früh zurück, bugsierte den Rollstuhl in sein Zimmer und hievte sich aufs Bett. Zehn Minuten später kam seine Mutter, geheimnisvoll lächelnd, und half ihm, die Jeans und die Socken auszuziehen. Er hatte oft versucht, das allein zu machen, konnte sich aber nicht so weit bücken. Sie deckte ihn zu, küsste ihn auf die Stirn. Sie drehte das Licht ab, klappte die Tür hinter sich zu und ging.
Josh war heute den ganzen Tag nicht bei ihm gewesen, und er fragte sich, ob Josh vielleicht nicht doch die Schnauze voll hatte, sich um seinen verkrüppelten und mieselsüchtigen Freund zu kümmern. Es gab genug Mädchen hier, Josh sah blendend aus, und war charmant bis in die Haarspitzen.
David verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte die vom Mondlicht beschienene Weite jenseits seines Fensters an, bis ihm die Augen zufielen. Er dachte noch: Frohe Weihnachten, Mum, Paps, Josh, Gordon, und Lightning im Himmel. Ich liebe euch alle.
Dann schlief er ein.

Er träumte, er würde nackt auf einem schneeweißen Pferd ohne Sattel über die schneebedeckte Prärie reiten, er, ein siebzehnjähriges Ausrufezeichen hinter den Worten: Jugend, Leben und Gesundheit. Ihm war eiskalt, aber das war gut, denn es war sinnlich und echt. Er merkte es nicht, aber in dieser Nacht, und kurz bevor er die schönste Überraschung seines jungen Lebens erfuhr, lächelte er im Schlaf. Und sein kleiner toter Freund rührte sich. Nicht viel, nur ein bisschen, aber doch. Faul und müde und eindeutig nicht tot.
Zuerst dachte David, dass er das nur träumte. Es konnte nicht wahr sein, das war zu abgedreht: Josh stand in seinem Zimmer. Er hatte das kleine Leselicht auf dem Schreibtisch aufgedreht. Er hatte seinen Daunenanorak an und die dicke Wollmütze auf. David rollte herum und rieb sich die Augen: ?Josh? Was zum Geier soll das jetzt wieder??
Josh lächelte ihn liebevoll an und flüsterte, in dem er den Zeigefinger an die Lippen legte: ?Überraschung, Alter.? Er schlug Davids Decke zurück, machte keine weiteren Umstände, untergriff David, und klaubte ihn aus dem Bett wie eine Frucht. David legte automatisch seinen Arm um Joshs Hals, was ihn aber nicht daran hinderte zornig zu flüstern: ?Überraschung? Was für eine verdammte Überraschung? Ich hasse Überraschungen.? Josh küsste David sachte auf die Wange und antwortete leise lächelnd: ?Das wird dir gefallen, echt.? Und bevor David wach genug war, um sich wirklich nachhaltig zu wehren, beutelte Josh ihn in seine Sachen: dicke Socken, Jeans, langärmeliges Unterleibchen, Sweatshirt. Dann hob er ihn hoch und trug ihn auf seinen Armen hinunter. Er trug ihn aus dem Haus und zu den Stallungen. Dabei erzählte er: ?Erinnerst du dich noch an die Weihnachtskarte, die du mir voriges Jahr an Heilig Abend in die Hand gedrückt hast, nein? Ich schon. Ich glaube nämlich, dass man immer etwas schenkt, was einem auch selbst gefällt. Auf der Weihnachtskarte war eine alte Tanne auf einem schneebedeckten Feld, über und über mit Lichtern und Glitzerzeugs ...?
David erinnerte sich. Er hatte die Karte ausgesucht, weil sie ihn an etwas erinnerte, woran er sich nur ganz dunkel erinnern konnte. Er musste noch ein kleines Kind gewesen sein; sein Vater war stolz auf die Anbauten der Lodge und er hatte einen Weihnachtsbaum draußen geschmückt. Weil es ? wie er sagte ? zu schade sei, diesen Prachtkerl umzuhacken. Sie hatten das nur einmal gemacht ? Weihnachten draußen zu feiern. Könnte es sein, dass ... Josh wusste, wie sehr er damals glücklich gewesen war? Aber David wollte jetzt nicht glücklich sein; es gab keinen Grund, glücklich zu sein, keinen einzigen verdammten Grund. ?Lass mich auf der Stelle runter, du Depp, oder ich ...?
?Was? Willst du mich in den Arsch treten? Halt dich fest, David, und los gehts.? Josh rempelte mit der linken Schulter die Stalltür auf und trat mit David auf den Armen in das warme, heutrockene Halbdunkel. Leises Wiehern war zu hören. David bekam es mit der Angst. Er legte seine rechte Hand an Joshs Wange und zwang ihn so, ihn anzusehen: ?Was hast du vor? Weißt du nicht, was du mir antust? Ich dachte, ich bin dein Freund, du bist mein Freund und du wüsstest, ach ...?
Josh lächelte ihn unwiderstehlich an, als er antwortete: ?Ich weiß, Dave ich weiß. Vertrau mir, vertraue mir einfach, ok??
Josh hebelte mit dem Ellenbogen eine Box auf. Er schwitzte. In der dunklen Box konnte man ein leises Scharren und Schnauben hören. Josh setzte David auf einem Heuballen ab und lehnte ihn vorsichtig an die Holzwand, damit er nicht runterrutschte. Er verschwand etwas tiefer im Dunkel und David hörte ihn dort mit Zaumzeugs rumoren. Er flüsterte: ?Ich kann auf keinem Pferd sitzen, Herrgottnochmal. Ich kann nicht ...?
?Kannst du doch.? kam es aus dem Dunkel zurück und Josh führte eine strahlend weiße Stute an den Zügeln nach vor. Sie senkte den Kopf und schnupperte an Davids Jacke. Dann nickte sie zweimal, so, als ob sie mit dem, was sie da gerochen hatte, einverstanden sei. Da erst sah David, was für eine merkwürdige Vorrichtung auf den Rücken der Stute geschnallt war. Es sah aus wie eine Mischung aus einem Sattel und einem kleinen Sofa mit Beinstützen. Josh keuchte: ?Mach dich leicht, Amigo. Du hast zwar nur fünfundsechzig Kilo, aber ich bin ja auch nicht der Muskelprotz vom Jahrmarkt. Geht?s los??
?Was geht los? Josh, ich kann das nicht! Bring mich zurück auf mein Zimmer, jetzt!?
?Nichts da. Du hast dich zulange versteckt, da oben auf deinem Zimmer. Oder am Ende des Weges, wo du heimlich nachts kiffst. Das muss ein Ende haben, und zwar jetzt.?
?Ich kann nicht mehr reiten, Josh, zum Teufel, ich kanns nicht mehr.?
?Du kannst.?
David begann zu fluchen, dann zu wimmern. Josh trug ihn weiter hinten eine kleine Treppe hinauf, die David noch nicht kannte. Die musste Josh gebaut haben. Sie war grob gezimmert, und endete etwa eineinhalb Meter über dem Boden als Zugang zu einer Art Rampe aus altem Bauholz. David kämpfte sich aus Joshs Armen frei und rollte sich auf der Rampe zur Seite. Er starrte ihn wütend an und fauchte: ?Weißt du eigentlich, was du mir da antust? Selbst wenn ich mich da irgendwie oben halten kann, drei Schritte von dem Pferd, und ich liege wieder unten. Und das wird mir erst recht ... ach Scheiße! Wieso tust du mir das an? Ich hasse dich, Josh. Ich hasse dich!?
Josh ließ sich nicht beirren und lächelte David aufmunternd an: ?Ich habs selbst zusammengebastelt. Ich habs mit mir selbst ausprobiert und mit einer Strohpuppe ...?
?Strohpuppe??
?Ja. Das klappt perfekt. Komm jetzt. Das ist erst der Anfang der Überraschung. Da kommt noch viel mehr.?
?Du bist ein Spinner, Josh. Und du meinst, ich könnte da drauf sitzen??
Josh nickte und gab David zu verstehen, seinen Arm um seinen Hals zu legen. David sah ihn grimmig, aber nicht mehr wütend an, und legte seinen Arm um Josh Schulter. Dabei raunte er: ?Wenn uns wer sieht, meine Güte, fehlt nur noch das Brautkleid. Stell dir bloß mal das Gerede vor. Nicht nur, dass er schwul ist, jetzt heiratet der noch einen Krüppel.? Josh lachte schallend und hob David auf das merkwürdige Liegesofa auf dem Rücken des Pferdes, das geduldig an der Seite der Rampe stand und leise wieherte. Und wider Erwarten saß es sich ganz komfortabel auf dieser Vorrichtung. Die Stute reagierte auf das Gewicht mit beachtlicher Ruhe und Ausgeglichenheit. Josh sah Davids fragenden Blick und erklärte: ?Das ist Thornrose. Mein Vater hat sie mir geschenkt. Und ich schenke sie dir. Er weiß es und findet das gut. Ich trainiere seit zwei Monaten mit ihr. Sie ist geduldig wie eine Negermutti.?
?Negermutti? Echt, jetzt haben wir es amtlich! Du bist meschugge. Aber komplett.?
Josh schwang sich auf sein Pferd, griff nach dem Zaumzeug von Thornrose und lächelte leise. Denn: war da nicht eine Spur Humor in Davids Stimme gewesen? Er gab David die Zügel in die Hand und ritt ein paar Meter voraus. Dann drehte er sich auf dem Sattel halb um, sah zu David und nickte ihm aufmunternd zu: ?Na? Was ist? Kommst du??
David machte: ?k k k.? Und Thornrose reagierte wie ein gut getunter Sportwagen, wenn man aufs Gas tippt. Die Stute reagierte auf den leisesten Zug am Zaumzeugs. David wollte es nicht wahrhaben, aber als er hinter seinem Freund auf dem Rücken dieser wunderschönen Stute aus der Stallung ins Freie ritt, und als er sah, wie wunderbar und unermesslich der Mond sein geborgtes Licht auf die schneebedeckten Hügel Montanas warf, schlich sich ein leises Kitzeln in seine Seele. Der erste Hauch von einem Gefühl, dass Glück sehr nahe kam. Aber noch traute er der Sache nicht ganz. Die Sitzvorrichtung könnte rutschen, die Stute könnte scheuen, ausrutschen. Einmal schon war das Josh passiert, und es war glimpflich ausgegangen. Dann war es ihm passiert, und es war ganz und gar nicht gut ausgegangen. Oh nein Sir, davon kann ich ihnen ein Lied singen, heilige Scheiße zum Quadrat!
Aber die windstille und sternenklare Nacht berauschte ihn über alle Maßen. Ihm fror, aber auch das war gut. Josh ritt voraus und er folgte ihm. Sie ritten am Ufer des zugefrorenen Sees entlang, an dem die Lodges ihrer Familien standen, und dann weiter nach Norden, vom Seeufer weg und hinauf zur Waldgrenze des Glacier Parks. Er rief leise: ?Josh, wohin zum Geier bringst du mich?? Josh zeigte ihm den Finger und zuckte mit den Schultern. Dann rief er zurück: ?Es ist Weihnachten. Vertrau mir einfach.?
Und David dachte, dass er genau das tat: Er vertraute Josh. So ritten sie gemächlich durch den gefrorenen Schnee. Nur das Schnaufen und Schnauben der Pferde war zu hören. Und ihr Tritt im harten Schnee. Die Landschaft war im Licht des Mondes klar umrissen. Es war windstill und der Sternenhimmel über ihnen unermesslich und verschwenderisch mit Juwelen besetzt. David fragte sich, wieso er sich so sehr dagegen gesträubt hatte, sich je wieder auf den Rücken eines Pferdes zu setzen. Er wusste es: Die Angst war ebenso klar umrissen wie der Waldrand, dem sie sich näherten ? ein Scherenschnitt unter dem klaren Nachthimmel. Er hatte Angst, wieder daran Gefallen zu finden, auszureiten. Aber nicht zu können. Aber bitte wer rechnete schon mit dem Erfindungsreichtum von Josh Sandler? Wer mit seinem Fleiß und Eifer? Wer im Namen Gottes mit seiner Freundschaft? David wusste es, und gab sich die Antwort: Ich hätte es wissen müssen. Es war die ganze Zeit da; er war die ganze Zeit da. Und ich habs nicht gesehen, weil ich blind sein wollte, David Summerfield, Krüppel und hauptberuflich Arschloch vom Dienst.
Er sah es schon von Weitem, aber er verstand es nicht. Sie erreichten eine Hügelkuppe. In der Ferne war Licht, dass warm war, und nicht vom Himmel kam. Im Gegenteil, es schien von unten zu kommen, von der Senke hinter dem nächsten Hügel. Gleich hinter dem Wald gab es eine Lichtung am Lake McDonald, dem südlichsten großen See des National Parks. David wollte es nicht wahrhaben, aber die freudige Erregung kräuslte seine Mundwinkel, und seine Augen blickten lebendig. Josh, der etwa fünfzig Meter voraus war, erreichte die Hügelkuppe, stoppte das Pferd und drehte sich im Sattel zu David um. Als er neben ihm war, sagte er: ?Das ist nur für uns. Du und ich, ok??
David nickte, wandte den Blick von Josh ab und sah in die lang gezogene Vertiefung. Die Senke war etwa zwanzig Meter tief in einem flach abfallenden Gelände. Sie war etwa dreihundert Meter lang. Unten brannte ein in Stein eingefasstes Lagerfeuer, hoch und hell. Und daneben stand eine etwa drei Meter hohe Blautanne, über und über geschmückt mit Lametta, Kristallen und hunderten Kerzen. In der völligen Windstille war der Schein der Kerzen ein lautloser harmonischer Ton aus Licht und Wärme, Lebensfreude in C-Dur. David sah Josh gerührt an und flüsterte: ?Meine Fresse, Alter. Das ist ... echt krass.?
Josh klopfte ihm auf die Schulter und fragte: ?Riechst du das??
David nickte, obwohl er zuerst nicht wusste, wonach es roch. Als er es hatte, verstärkte sich das verräterische Gekräusel an seinen Mundwinkeln. Es war der Geruch der Tannennadeln, die von den Kerzenflammen aufgeheizt, ihren Weihnachtsgeruch abgaben. Sie ritten langsam nach unten. Rechts hinter dem Weihnachtsbaum sah David, dass Josh dort das Gegenstück zu der kleinen Tribüne aufgebaut hatte, über die er ihn in der Stallung auf die Stute gehoben hatte. Erst jetzt kam ihm in den Sinn, wie schwer das für Josh gewesen sein musste. Josh war schlanker und schmächtiger als er. Wie viel Mühe hatte er wohl auf sich genommen, um all das zu ermöglichen? David dirigierte die Stute zu der Tribüne, Josh sattelte ab und lief um das roh gezimmerte Ding und die Treppen hoch. Er bückte sich, unterfasste David, und hob ihn aus der Sitzvorrichtung. Er stöhnte, als er sich aufrichtete, und er taumelte, als er mit David in den Armen die Treppe hinunter polterte. David sah, dass zwischen Lagerfeuer und Weihnachtsbaum ein paar Strohsäcke arrangiert waren. Josh fiel auf die Knie und David rollte aus seinen Armen in die weiche, stichelige und staubtrockene Umarmung der Strohsäcke. Der Heugeruch kitzelte ihn in der Nase und er nieste leise. Josh ging um die Strohsäcke herum und zauberte einen alten Radiorekorder hervor. Er blinzelte David zu und sagte: ?Ich habe ein paar Weihnachtsoldies ausgegraben. Der Radiorekorder ist von meinem Dad; ein echt vorsintflutliches Ding. Hör mal: inklusive Kasettengeiere.? Er tippte auf die Play Taste und Bing Crosby sang: I´m dreaming of a white christmas ...
Josh hockte sich vor David hin, legte die Daumen an seine Mundwinkel und zog sie ein wenig nach oben. Dabei sagte er beschwörend: ?Komm, mach es. Ich weiß, dass du es kannst. Oder ich schwöre dir, ich kitzle dich, bis du dich anscheißt, so wahr mir Gott helfe. Mach schon!?
David schubste Josh weg. Josh kippte nach hinten und landete mit einer unbeholfenen Drehung auf dem Hintern. Und er sah aus den Augenwinkeln, wie Davids Mundwinkel nach oben gezogen wurden. Und diesmal erreichte dieser flüchtige Ansatz eines Lächelns auch die Augen. Josh stand auf, putzte sich den Schnee von der Jeans und ging hinter das Lagerfeuer. Er bückte sich, kramte ein wenig herum. Dann schnellte er hoch und hielt triumphierend eine Thermosflasche in die Luft: ?Glühwein nach Hausrezept. Und hier: Weihnachtsplätzchen, halleluja, amen!?
Jetzt lachte David. Es fühlte sich fremd in seinem Gesicht an, als würde er Muskeln spüren, von denen er nicht wusste, dass es sie gibt. Oder die er einfach vergessen hatte. Aber es fühlte sich so goldrichtig an. Josh schnitt eine Grimasse, streckte die Zunge heraus und verdrehte die Augen.

Es kam von ganz unten. Es kam wie ein Zug durch einen Tunnel, es war hell, es war schön und es war echt. Zuerst gluckste David nur. Dann kicherte er und schlug sich die Hand vor den Mund. Dann brach es aus ihm heraus wie ein Güterzug der Heiterkeit, und erfasste seinen ganzen Leib. Er schrie vor Lachen. Josh lächelte ihn ungläubig an und wischte sich eine Träne aus den Augen. Thornrose wieherte leise, stapfte einmal auf und kam dann auf sie zu getrottet. Sie blieb vor David stehen und senkte den Kopf bis sie sein linkes Bein mit der Nüstern berührte. Sie schnaubte. Dann leckte sie über den Jeansstoff.
?Josh, hast du ihr das beigebracht? Meine Fresse!? Josh schüttelte ungläubig den Kopf und stellte sich neben Thornrose, um ihr den Hals zu tätscheln: ?Ich schwöre, David, ich schwöre dir, ich hab nichts damit zu tun, echt nicht!?
?Na klar, wers glaubt wird selig.? David gluckste. Dann verstummte er und sah Josh mit großen Augen an, dann sah er an sich entlang zu seinen dünnen Beinen, die von der Stute abgeleckt wurden.
?Josh? Ich, äh, ich ...?
?Ja, was??
?Josh, das kitzelt.?
?Was??
?Heilige Scheiße, das kitzelt. Und jetzt brennts. Das ist heiß!? Davids Beine zuckten. Er versuchte, die Hüfte so zu verdrehen, dass die Beine zur Seite rutschten, rutschte aber aus. Thornrose leckte über seinen Schoß und wieherte. Josh packte sie am Zaumzeugs und zog sie nach rechts. Aber Thornrose stupste ihn mit dem Kopf sachte an. Dann schüttelte sie sich, und wandte sich wieder David zu. Davids Lächeln war von Schmerz unterwandert. Plötzlich zogen sich seine Beine nach oben, bis sie angewinkelt waren. David starrte Josh an, dann das Pferd und wieder Josh: ?Das war ich nicht. Irgendwie schon, aber ich, ich weiß nicht wie ...?
Thornrose schien David aufmerksam zu beobachten, mit einer liebevollen Aufmerksamkeit, die er bisher nur bei Lightning erlebt hatte. Thornrose schien zufrieden zu sein mit dem, was sie sah, schüttelte sich, wieherte und trabte zurück zu Gordon, der die ganze Szene ungerührt beobachtet hatte. Neben ihm angekommen, steckte die beiden Pferde die Köpfe zusammen und unterhielten sich schnaubend.
Josh schraubte die Thermoskanne auf, Bing Crosby düdelte weiter. Er schenkte eine Plastiktasse für sie voll und gab sie zuerst David: ?Fröhliche Weihnachten David. Ich bin froh, dass ich nicht meine Seele vekauft habe, um dich je wieder lächeln zu sehen. Denn dann wäre ich vermutlich jetzt in der Hölle.? David nahm ihn den Drehbecher aus der Hand, nippte am Glühwein und obwohl ihm zum Weinen zumute war, lächelte er, blies den aufsteigenden Dampf aus der Tasse in den Nachthimmel über dem Hügelland und sagte leise: ?Fröhliche Weihnachten Josh. Fröhliche Weihnachten, Pferde. Fröhliche Weihnachten, alle ... ach komm her Josh und lass dich knuddeln!? Josh kam der Aufforderung sofort nach und nahm David in die Arme, wiegte ihn, streichelte sein Haar. Dann spürte er, wie ihm David einen Kuss auf den Mundwinkel gab. Er sah ihn an, sah ihm in die feuchten Augen, und bevor er etwas sagen konnte spürte er, wie ihm David das Knie in den Hintern rammte.
?Dave, wirst du jetzt schwul oder was??
David grinste übermütig, stieß Josh sanft von sich und sagte: ?Das nicht Alter. Aber soll ich dir was sagen? Ich spüre meine Beine wieder. Weiß der Himmel wieso, aber ich spüre meine gottverdammten Beine wieder. Und das tut ein bisschen weh. Aber es tut gut weh, wenn du verstehst, was ich meine ...?
?Kannst du sie bewegen, herrje nochmal, kannst du sie rühren??
David verzog das Gesicht und flüsterte: ?Ich versuchs mal. Hoffentlich erinnern sich die blöden Dinger, dass sie zu mir gehören. Schau mal.? Er deutete mit dem Kinn auf seine Füße. Sie bewegten sich.
?Mach das nochmal.?
David drehte die Füße vorsichtig nach links und nach rechts. Josh verzog das Gesicht, packte David unter dem Arm und zog ihn hoch. David schrie: ?Was machst du, bist du verrückt?? Josh schnaufte: ?Ich und der ganze komische Abend, total gaga. Steh jetzt, David. Du kannst es. Lach und steh. Steh!?
Für einen kurzen Moment waren die Schmerzen so schlimm, dass David pfeifend Luft einzog. Dann legte sich der Schmerz und er erkannte, was es in Wirklichkeit war: Es war das Gribbeln von Muskeln, die durchblutet wurden. Es erinnerte ihn an das Gefühl, das er als Kind gehabt hatte, wenn er vom Spielen im Schnee heimkam und die kalten Füße an den Ofen drückte. Dieses herrliche Kribbeln und Brennen. Josh ließ nach, bis Davids ganzes Gewicht auf den Beinen ruhte. Josh blieb in Stellung, um zu helfen, falls es nötig sein sollte. David stand stocksteif da, starrte zum Feuer und dann weiter hoch, wo sich die Funken in den Nachthimmel drehten. Dann machte er einen steifen Schritt nach vor. Es klappte. Er stürzte nicht. Er lachte, gluckste und verzog das Gesicht. Dann rief er leise: ?Josh??
?Ja??
?Es klappt. Es ist ein Wunder, ein echtes Wunder, Prädikat besonders wertvoll, heilige Scheiße. Ich stehe. Ich gehe, Wahnsinn ohne Ende!?
Josh lachte und fuhr sich mit den Händen an den Kopf, pusselte an der Wollhaube herum, wusste nicht, was er mit den Händen machen sollte ? sie waren aufgeregt wie flatternde Raben.
David machte noch einen Schritt und noch einen. Dann fiel er seufzend auf die Knie, schrie leise auf.
?Was??
?Na, es tut weh. Von den Zehen bis zum Arsch. Verdammt, ich hab vergessen, dass ich einen Arsch habe.?
Josh lachte hysterisch, stürzte zu David und umarmte ihn wieder. Er flüsterte ihm ins Ohr: ?Du brauchst jetzt so ne Dings, wie heißt das, Therapie oder so. Wo du wieder gehen lernst, du brauchst ...?
?Brauch ich nicht. Ich weiß im Prinzip wie es geht. Es tut nur weh, weil diese faulen alten Stöcke seit einem Jahr nichts mehr gearbeitet haben. Gib mir ein paar von deinen Keksen, ich hab Hunger.? Josh stand auf und holte die Dose mit den Weihnachtsbäckereien.
Er fragte ihn: ?Schaffst du es bis zu den Strohsäcken? Ohne einen wahnsinnsdramatischen Sturz hinzulegen? Hier holen wir uns nur nasse Eier.? David nickte: ?Hilf mir hoch.? Josh packte David, zog ihn hoch und David legte seinen Arm um Joshs Schultern. Schritt für Schritt, sehr langsam und sehr vorsichtig gingen sie auf die aufgeschichteten Strohsäcke zu. Hinter ihnen wieherten die Pferde zustimmend. ?Apropos Eier?, kicherte David atemlos und mit schmerzverzerrtem Gesicht, ?die spüre ich auch wieder!?
Josh ließ David auf die Strohsäcke rutschen und schnaufte übertrieben dramatisch: ?Ein Wunder, meine Damen und Herren aus Santa Claus Wunderladen: David Summerfield spürt seine Eier wieder, Jubel!?
David lachte schallend, warf sich in die Kissen und strampelte mit den Beinen, obwohl das irre weh tat.
Am klaren Himmel verglühte eine Sternschnuppe.

Später ? viel später ? hatten sie gemeinsam die Kerzen am Weihnachtsbaum ausgemacht, das Lagerfeuer gelöscht. Dann hatten sie die klobige Sitzvorrichtung von Thorndales Rücken geschnallt.
Sie wussten nicht, wie ihnen geschah. Schmerz und Trauer waren gegangen wie Diebe in der Nacht, die keine Beute machen konnten. Das Lächeln war geblieben und signalisierte Bereitschaft, noch sehr lange zu bleiben.

Und noch viel später ritten sie im allerersten Schimmer des vierundzwanzigsten Dezember nebeneinander zurück zu den Lodges, David auf dem nackten Rücken von Thorndale, an der Seite des besten Freundes aller Zeiten. Seine Beine spannten und brannten wie Feuer. Und das Lächeln schlich sich in sein Gesicht, um zu bleiben.

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Nagini
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N
Beitrag24.12.2006 11:28

von Nagini
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Ich finde die Geschichte sehr schön. Eigentlich besteht bei geschichten dieser Art schnell die Gefahr, dass es ins Kitschige abrutscht, aber diese hier tut das mMn nicht  Smile
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writingdarkness
Gänsefüßchen
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Beiträge: 21
Wohnort: Wien


W
Beitrag28.12.2006 11:09

von writingdarkness
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Vielen Dank für Deinen netten Kommentar.

Die Gefahr, kitschig zu werden, war natürlich da. Ich habe versucht, das zu umschiffen, in dem ich meine Prots einfach jugendlich sein ließ und aus ihnen nicht weise, moralisierende Weihnachtselfen machte *brrr*.

lg/writingdarkness


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